55. Wortschatzübungen 1. Gegenstand Das Vokabellernen ist eine komplexe Aufgabe (Scherfer 1994a). Müssen doch für jedes Lexem seine Eigenschaften der Aussprache, der Morphologie, der lexikalischen Kategorie, der Bedeutung und der situationsangemessenen Verwendung (Register u.a.) ebenso gelernt werden wie diejenigen, welche seinen Gebrauch im Kontext mit anderen Lexemen regeln, d.h. seine Valenzeigenschaften und Kollokationsbeschränkungen. Ferner muss es in verschiedene lexemübergreifende Strukturierungen des mentalen Lexikons wie u.a. Paradigmen (teil)identischer Graphem- oder Phonemfolgen, morphologischer/grammatischer Klassen, Wortbildungsmuster, morphologischer, semantischer, stilistischer, sachlicher Felder und centres d'interet, hierarchischer (Hyponymie, Par-onymie), gegensätzlicher (Antonymie, Komplementarität, Konversion), synonymischer, reihender, skalarer und zyklischer Natur eingegliedert werden (Aitchison 1995). Für den Fremdspra-chenlerner erhöht sich diese Komplexität noch dadurch, dass die Grundlage des Erwerbsprozesses sein gesamtes vorhandenes lexikalisches Wissen (also auch das der Ausgangssprache) bildet, in das : er die ihm neuen lexikalischen Einheiten/Strukturen integrieren muss, und zwar so, dass er sie im Gedächtnis fixiert, für das Verstehen mündlicher und schriftlicher Äußerungen/Texte, für das Sprechen, Schreiben und Vermitteln zwischen zwei Sprachen/Kulturen abrufbar hält und anwenden kann. Wenn man Übung definiert als „eine Handlung des Lernenden, in deren Verlauf er identische oder ähnliche Sachverhalte wieder und wieder lernt, um sie zu behalten und für den eigenen produktiven Umgang zur Verfügung zu haben" (Schwerdt-feger 1995, 223), dann sind Wortschatzübungen Aufgaben, welche bestimmte lexikalische Strukturbereiche, darauf bezogene Aspekte des Lernens und die dafür geeigneten Lernerstrategien und Arbeitstechniken zum Inhalt haben. 2. Stand der Erkenntnis Die zentrale Frage, ob eine stark gelenkte, (vor)-strukturierte Art der Wortschatzarbeit, für die das Lernmaterial hinsichtlich der lexemübergreifenden Strukturen der mentalen Repräsentation aufbereitet wird, oder eine „freie" (ausgehend von authentischen Texten und Lernaktivitäten) am effektivsten ist, harrt noch einer Antwort (Scherfer 1999). Selbst wenn man annimmt, dass sich die mentalen Strukturen weitgehend unabhängig von der Form des Inputs nach eigenen Regeln des Lernprozesses herausbilden, sind die Schüler für ihre eigenen Lernaktivitäten auf Anregungen aus dem existierenden Übungsrepertoire angewiesen. In letzter Zeit ist eine Konzentration der Didaktik auf die Wortschatzarbeit zu beobachten. Es liegen entsprechende Lehrwerke älteren und neueren Datums vor (Doye 1980; Gairns/Redman 1990). Die Erarbeitung von Übungstypologien erweist sich auf Grund der oben skizzierten Komplexität als schwierig (Neuner/Krüger/Grewer 1981; Segermann 1992; Scherfer 1994b). 3. Formen der Wortschatzübungen Was die Form der Wortschatzübungen angeht, kann aus dem gesamten Repertoire geschöpft werden, das von der Fremdsprachenmethodik sowohl für die verschiedenen sprachlichen Strukturebenen als auch für die unterschiedlichen Fähigkeitsund Fertigkeitsaspekte erarbeitet wurde. Sie können das Üben der Aussprache der neuen Vokabeln, bestimmte ihrer grammatischen oder semantischen Eigenschaften in den Vordergrund stellen. Sie können unter kommunikativen, interaktiven, kreativen oder interkulturellen Gesichtspunkten 5 5. Wortschatzübungen 281 konstruiert werden. Sie können auf das Hör- oder Lese verstehen, auf das Schreiben oder auf die mündliche Kommunikation abzielen (Art. 57, 58, 59 und 61). Das Spezifikum der Wortschatzübungen besteht darin, den Lernern eine neue lexikalische Form oder einen neuen Inhalt zur Versprach-lichung vorzugeben. Dies kann geschehen durch a) visuelle Hilfsmittel (auch: Bearbeitung von Schemata, Graphen, Tabellen etc.), b) Angabe der Bedeutung in der Ausgangssprache, c) ziel- oder ausgangssprachliche Paraphrasen, d) Ausnutzen des Weltwissens (Beile 1987; 1991). 4. Wortschatzübungen als Lernaufgaben Für Wortschatzübungen ist vor allem das Einüben des Erkennens und Verstehens der neuen lexikalischen Einheiten/Strukturen, (darauf aufbauend) deren Behalten und deren Gebrauch zentral. a) Übungen zum Erkennen und Verstehen Dieser Übungstyp aktiviert das Vorwissen der Lerner, um die Integration des neuen Wissens zu erleichtern. Bereits bei der Texteinführung kann durch die „Sandwichtechnik" (Butzkamm/Esch-bach 1985), d.h. durch Einbettung der neuen Strukturen in einen ausgangssprachlichen Text auf bestimmte Eigenschaften derselben aufmerksam gemacht werden. Ferner führen diese Übungen die Schüler dahin, auf der Basis ihrer vorhandenen (mutter- und fremdsprachlichen) Sprachkenntnisse (Wortbildungsschemata, Internationalismen, typische grammatische Kontexte, Regeln für den Aufbau und die Gliederung von Texten) und seines Weltwissens die Vokabeln selbstständig zu erschließen (inferencinß, Carton 1971; „potentieller Wortschatz", Lübke 1984; „Vokabelraten", Clarke/ Nation 1980). b) Übungen zum Behalten Das Behalten ist ein gradueller Prozess, der von einem zunächst groben, globalen Verständnis zu einem immer genaueren, analysierterem fortschreitet. Dabei werden die neuen lexikalischen Informationen der verschiedenen Strukturebenen in die entsprechend vorhandenen L2- und Ll-Wissensbereiche eingegliedert, oft auch unter Rückgriff auf geeignetes Weltwissen. Für ein erstes Behalten scheint das Auswendiglernen von zweisprachigen Vokabelgleichungen (Paarassoziationslernen) sowie bestimmte Abwandlungen davon (einsprachige Vokabellisten 282 Peter Scherfer mit Definitionen und/oder Erklärungen, Listen von Vokabeln in typischen Kontexten) notwendig und erfolgreich zu sein. Übungen zur Integration der neuen Strukturen in das bereits vorhandene L2-Wissen fördern das Memorieren durch Analysieren. Insbesondere für die sprachlichen Formen bietet sich der Einsatz von Mnemotechniken („Eselsbrücken"; Sperber 1989) an; für die sonstigen Lexemeigenschaften darüber hinaus alle Arten von Zusammenstellungen und Systematiken, in denen die neuen Vokabeln mit bekannten, auf Grund ihrer phonologischen, morphologischen, syntaktischen, kollokationellen Ähnlichkeiten/Verwandtschaften und ihrer semantischen Relationen in Form von Listen, Diagrammen, Graphen, Feldstrukturierungen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Da im Lernerlexikon die L2-Informationen auch in mehr oder weniger direkter Vernetzung mit den LI-Strukturen gespeichert werden, empfehlen sich für das korrekte Behalten Übungen zum Erkennen und Verstehen lexikalischer Kontraste. Diese fauxamis kommen auf allen Strukturebenen vor (Schwarze 1983). Schließlich kann das vertiefte Behalten durch Wortschatzübungen gefördert werden, welche bestimmte Arten des menschlichen Denkens aktivieren, wie u.a. die Möglichkeiten des abstrahierenden, taxonomischen, analogischen und schließenden Denkens sowie der Bildung von Assoziationen (Rohrer 1985). c) Übungen zum Gebrauch von Vokabeln Beispiele für Wortschatzübungen, die zum freien Gebrauch führen sollen, sind für die mündliche Produktion u.a. Dolmetschübungen, Erklärungen (z.B. von ausgangssprachlichen Texten wie Hinweistafeln, Spielanleitungen, Bade-/Hausordnungen etc.) in der Zielsprache, kommunikatives Hinbzw. Herübersetzen (Beile 1991) und mehr oder weniger gelenkte Rollenspiele, Dialogübungen o.a., welche den Handlungsaspekt von Sprache besonders berücksichtigen (Vielau 1977). Für den schriftlichen Ausdruck eignen sich die bekannten Verfahren der gebundenen bzw. freien Textproduktion (Lückentexte, Textproduktionen mit Hilfe von Schlüsselwörtern, Resümees, Beantwortung von Fragen zu einem Text, Ausfüllen von Sprechblasen in comics, Bildbeschreibungen, Nacherzählungen, Briefe, eigene Geschichten etc.). 5. Wortschatzübungen als metasprachliche, metakognitive Aufgaben Wortschatzübungen dieses Typs zielen auf das Bewusstmachen (und damit auf die auf bewusster Reflexion beruhende Verarbeitung) bestimmter lexikalischer Eigenschaften - vor allem auch unter kontrastiven Gesichtspunkten - und bestimmter Aspekte des Lernprozesses sowie auf das Aufzeigen bestimmter Strategien zur lexikalischen Selbsthilfe. Sie ergänzen die Übungen, die in Kapitel 4 aufgeführt sind, und verbessern die dort angestrebten Fähigkeiten/Fertigkeiten und Lernleistungen erheblich. Sie sind daher nicht losgelöst von ihnen, sondern in Kombination, Integration mit ihnen anzuwenden. a) Übungen zum Bewusstmachen lexikalischer Eigenschaften Ein erster Schritt zum Bewusstmachen lexikalischer Eigenschaften besteht im Erklären von Vokabeln (De Florio-Hansen 1994). Die entsprechenden Erklärungsmuster, das Bilden und Verstehen von Paraphrasen, das Erkennen und Verarbeiten lexikalischer Kontraste sollten ebenso bewusst gemacht werden, wie die sprachstrukturellen Zusammenhänge, welche den in 4 b) genannten Übungen zu Grunde liegen. Übersetzungen sowie das Formulieren von Erklärungen und die Konstruktion von Lernaufgaben bilden gute Möglichkeiten des Übens metasprachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten. b) Übungen zum Bewusstmachen von Lernprozessen Diese Wortschatzübungen bestehen vor allem darin, die Schüler ein Lerntagebuch führen zu lassen, in dem sie ihre Lernwege und -Schwierigkeiten aufschreiben, ihre Lernstile mit denen anderer vergleichen und z.B. mit Hilfe von entsprechenden Fragebögen, auf Faktoren ihres Lernprozesses aufmerksamen gemacht werden. Hierzu zählen ferner alle Übungen, mit denen Lerntechniken explizit vermittelt werden (Rampillon 1996; Art. 71). c) Übungen zur lexikalischen Selbsthilfe Hierzu gehören einerseits das Üben der Kommunikationsstrategien für das Ausgleichen des defizitären L2-Wissens wie vereinfachte Themenbehandlung, Paraphrasierung, Bitten um Hilfestellung und Gebrauch nonverbaler Mittel (wie Gestik, Mimik etc.) und andererseits des Ge- 56. Grammatikübungen 283 brauchs fachbezogener Arbeitsmittel (ein- und zweisprachige Wörterbücher und alle Arten von Wortschatzsystematiken). Die Schwierigkeiten der Wörterbucharbeit ergeben sich aus den häufig vorkommenden Polysemien (wie finde ich welche Lesart?). Bei bestimmten Phrasen und bei idiomatischen Ausdrücken muss der Schüler lernen, unter welchem Wort nachzuschauen ist. Bei Derivaten muss der Stamm, bei unregelmäßigen Formen die Basisform erkannt werden (Scholfield 1982). Literatur Aitchison, J. (1995), Words in the Mind. An Introduction to the Mental Lexicon, Oxford/New York. Beile, W. (1987), „Wortschatzübungen in englischen Lehrwerken der Sekundarstufe I", in: anglistik & englischunterricht, 32, 61-86. Beile, W. (1991), „Interlingual exercises for intercultural communication", in: Der fremdsprachliche Unterricht -Englisch, 1, 22-30. Butzkamm, W./Eschbach, S. 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