Blick, zurück, nach vorn 401 Fiktion als geschützter Freiraum Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen. (Albert Einstein) Im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht wird nicht ausschließlich einer Analyse des Wirklichen, Faktischen gehuldigt, sondern die Konstruktion von Möglichkeit tritt in den Vordergrund. Unterricht vollzieht sich über weite Strecken in der Möglichkeitsform, Die aphoristischen Sätze des bekannten Regisseurs Peter Brook verdeutlichen die Chance, die das Handeln in der Fiktion bedeutet: "In evcryday life, 'if is a fiction, in ihe theatre 'if is an experiment. In everyday life, 'if is an evasion, in the theatre 'if is the truth." (zitiert nach bolton 1984, S. IV) Ein Experimental- bzw. Freiraum steht zur Verfügung. Darin können Lehrer und Schüler zum Ausdruck bringen, was sie - in der Auseinandersetzung mit einem Thema - innerlich bewegt. Was im Experimental- und Frei räum der Fiktion aus dem Zusammenwirken verschiedenster Phantasien Träume, Wünsche, Hoffnungen szenisch entsteht, wird nicht gemessen an' der Norm der Wirklichkeit, sondern zu einer eigenen, gültigen Wahrheit. Denn nicht nur das Nachstellen der Alltagsrealität (wie etwa in Planspielen) sondern gerade die bewußte Verfremdung der Wirklichkeit setzt nachhaltig wirksame Lernprozesse in Gang, die zu einem Neuverstehen von Wirklichkeit führen (vgl. die Unterrichtssequenz zu Grunsel/Graunsel in Kap. VIII). Lehrer und Schüler arbeiten in fiktiv geschützten Kontexten. Während sie sich darin bewegen, entstehen vielfältige Situationen, in denen verbal und nonverbal intensiv gehandelt wird. Beim Spielen einer fiktiven Figur veröffentlichen sie zwar ihr Selbst, aber nicht direkt, sie haben einen Identitätsschutz (vgl. NEELANDS 1984, S. 83). In den Worten des Lehramtstudierenden Matthias U., der schriftlich über seine Erfahrungen in einem Dramapädagogik-Seminar reflektiert: Im Seminar war es meine Rolle, durch die ich selbst sprechen konnte, ohne mich preisgeben zu müssen. ... Wichtig ist aber hierbei der Schutz des klaren Kontextes. (meine Hervorhebung) «,«!.■■ tt\ s (Matthias U.) 402 Kapitel IX Konstruktion von Bedeutung Im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht wird vor allem verkörpernd gelehrt und gelernt. Die (mögliche) Wirklichkeit wird leibhaftig inszeniert. In die Inszenierungen von Lehrer und Schülern gehen Bedeutungen ein, die einem Thema, einer Situation bzw. Person zugeschrieben werden; Bedeutungen, die in einem interaktiven Prozeß zwischen Lernern bzw. Lernern und Lehrer ausgehandelt werden. Die gemeinsame Erzeugung bzw. Konstruktion von (dramatischer) Bedeutung, bei der intensive Sprachlernprozesse ausgelöst werden, ist der Kern der dramapädagogischen Lehrkunst: "Making meaning is ... what our work should be about. So the question we need to address has to become: How can we be experiencing and/or manipulating dramatic form to create such meaning? The answer to this question must be central to our practice ... As arts practitioners we argue that the engagement of a group of people with an issue through the art form creates knowledge which is unique. The interaction between art form, content and those who seek to create new meaning gives rise to the potential for significant understandings, which will exist only because of that exploration." (clark/goode 1991, S. 10) Was in diesem Zitat ausgedrückt ist, läßt sich im Rückblick auf die Unter-nchissequenz zu einem Max Frisch-Text (vgl. Kap. VIII, 1) illustrieren: Ein literarischer Text wird in besonderer Weise inszeniert, eine pantomimische Handlung wird durch chorisches Sprechen untermalt bzw. begleitet. Durch die besondere (mszenierungs-)iwm, mit der am CTextAlnhalt gearbeitet wird, entsteht eine Atmosphäre bzw. Wirkung: Eine besondere Bedeutungsqualität des Textes wird sieht- und hörbar. Derartige Inszenierungen können z.B. bewirken, daß einzelne Akteure und Zuschauer sich der ästhetischen Kraft der Fremdsprache, die sie lernen bzw. unterrichten erst bewußt werden. Das folgende Schema von OTOOLE / HASEMAN (1988, S. xii) veranschaulicht nochmals, wie in Gestalteten Szenischen Improvisationen (vgl. z.B. die Unterrichtssequenz zu Grünsel/Graunsel in Kap. VIII) dramatische Bedeutung konstruiert wird: blick zurück. nach vorn 403 which together create the whole experience of [ dramatic meaning Abb. 78: Die Bauelemente der pädagogischen Kunstform Drama Uhrer und Schüler bestimmen einen Ausschnitt aus dem Bere,ch wirklich oder möglicher menschlicher Erfahrung und legen Sttuauon Rollen und Bezwungen (situations, roles, re.aüonships) zwischen den Personen fest Das Handeln wird vorangetrieben durch eine Spannung (tensron), dre I „zulertken ist auf ernen möglichst spezifischen Aspekt (focus) der ausge- 404 Kapitel IX wählten, zeitlich und örtlich/räumlich genau fixierten Situation (time/ place). Die "Injektion einer Spannung" bringt die als fiktive Personen handelnden Lerner/Lehrer in eine innere und äußere Bewegung (movement), aus der heraus eine (Körper-)Sprache entsteht (language), die, indem sie auf symbolische Verdichtung zielt, eine besondere Wirkung bzw. Atmosphäre (mood) erzeugt. Das auf symbolische Aussage gerichtete, kreative Handeln von Lernern/Lehrern mündet in eine einzigartige Erfahrung, in die Konstruktion einer besonderen dramatischen Bedeutung (dramatic meaning). Produktive, rezeptive und reflexive Spracharbeit Die Spracharbeit im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht veranschaulicht das folgende Dreieck: Reflexion Produktion Rezeption Abb. 79: Inszenierung von fremdsprachlichen Lernprozessen Wenn Schüler (und Lehrer) als Produzenten im Unterricht eine Inszenierung vorbereiten und präsentieren, verwenden sie u.a. linguistische, paralinguistische, mimische, gestische und proxemische Zeichen151, um Bedeutung zu konstruieren bzw. symbolisch zu vermitteln. Welche Zeichen dominieren, hängt ab von der Art der jeweiligen Inszenierung. Die Anwendung der Inszenierungstechnik Pantomimisches Doppeln verlangt bei- Vgl. FiSCHER-LlCHTES Übersicht über die im Theater verwendbaren Zeich Einleitung, S. 6. blick zurück. nach vorn 405 spielsweise nach körperbezogenen Zeichen, während in einem fiktiven Telefongespräch (s. Abb. 80) - die Teilnehmer sitzen Rücken an Rucken und haben keinen Blickkontakt - primär linguistische und parahnguistische Zeichen zu Bedeutungsträgern werden. Abb. 80: Ausländische Studierende führen ein fiktives Telefongespräch Als Rezipimten konzentrieren sich die Lerner (und Lehrer) darauf, die verschiedenen Zeichen, die in einer Inszenierung gesetzt werden, bzw. die durch die Kombination dieser Zeichen erzeugte Bedeutung hörend und sehend zu verstehen. Die Schüler (und Lehrer) machen - durch ihre aktive Mitwirkung an einer Inszenierung oder als zuschauende, beobachtende Teilnehmer - im Unterricht eine neue Erfahrung. Diese Erfahrung wird, denn sie basiert auf der Kreativität der Unterrichtsakteure, in Reflexionsphasen zum genuinen Sprechanlaß: Die Akteure interessiert, wie sie wirkten und ob sie ihrer Intention gerecht wurden, die Zuschauenden möchten klären, was ihnen unklar blieb. In einem Metagespräch sozusagen wird die Produktion und Rezeption der jeweiligen Inszenierung aufeinander bezogen. 406 Kapitel IX Die kreative Erarbeitung einer situations-, text- oder themenbezogenen Inszenierung steht im Zentrum der Unterrichtsarbeit. Die Fremdsprache ist in der Regel nicht der explizite Gegenstand des Unterrichts, vielmehr wird die Fremdsprache verwendet und geübt, während Inszenierungen vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet werden.152 Daß dabei "Fehler" gemacht werden, wird als natürlicher Vorgang betrachtet. Ja, gerade die sprachliche Risikobereitschaft und die Fähigkeit, mit wenig (sprachlichen) Mitteln viel auszudrücken - Kennzeichen eines erfolgreichen Sprachenlerners (vgl. Prinzipien von KNIBBELER, S. 215 f.) - wird in szenischen Improvisationen bewußt gefördert. Ein Lehramtstudierender zieht aus seiner Selbsterfahrung mit dramapädagogischen Methoden in diesem Zusammenhang folgende plausible Schlußfolgerung: Verbessere ich als Lehrer nun jegliche Art von Fehler, so zerstöre ich jeden Ansatz zur interaktiven Kommunikation. Die Schüler bekommen Angst, im Gespräch Fehler zu machen. Doch genau das muß vermieden werden. Fehler sind ein ganz wichtiger Bestandteil von Kommunikation. Durch das Mißverstandenwerden ist der Sprecher gezwungen, sich anders auszudrücken. Er muß Gesprächsstrategien gemäß seiner Sprachfähigkeiten finden. So lernt er auch, eigenständig mit einer Sprache umgehen zu können. Der dramapädagogische Unterricht ist ein handluiigsorienüener Unterricht, der die Schüler anregen und befähigen soll, sprachliche Kommunikations- und Erwerbsprozesse autonom handelnd zu gestalten. Meine Rolle als Lehrer heißt dabei "Handlungspartner". Interaktive Arbeit bedeutet, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterrichten. Matthias U. Durch die sorgfältige Beobachtung von szenischen Improvisationen kann die Lehrperson Sprachstandsdiagnosen vornehmen. Indem sie "Fehler" (gedanklich) mitnotiert, kann sie diese in Reflexionsphasen thematisieren bzw. dramapädagogische Übungen vorbereiten, mit denen in nachfolgenden Stunden an ausgewählten Sprachproblemen gearbeitet wird. Grundsätzlich sollten auch einzelne Schüler oder Lernergruppen "Beobachtungsaufgaben" bekommen, die den Blick - über körpersprachliche, inhaltliche etc. Aspekte hinaus - auf die Form des sprachlichen Ausdrucks lenken. 152 Natürlich können beispielsweise bestimmte Vokabeln oder grammatische Strukturen zum Thema gemacht werden. Die (Ein-)Übung dieser Vokabeln/Strukturen erfolgt im dramapädagogischen Ansatz aber in spielerischer Weise (s. meine Beispiele in Kap. IV). 407 blick zurück nach vorn_______________________ Die Inszenierungsarbeit stellt insofern hohe Ansprüche an die Lerner, als sie das gesamte Spektrum ihrer persönlichen Fähigkeiten mit ins Spiel bringen müssen. Das schließt insbesondere ihre körpersprachhche Ausdrucksfähigkeit ein, ihre auf fremdsprachenunterrichtliche Fertigkeiten bezogenen Fähigkeiten im Sprechen, Hörverstehen, Schreiben und Leseverstehen und darüberhinaus Kompetenzen, die im üblichen Fremdsprachenunterricht leicht aus dem Blick geraten, z.B. methodische bzw. Inszenierungskompetenz, Vergleichskompetenz, Beobachtungskompetenz, Problemlösungskompetenz, Aushandlungskompetenz (vgl. dazu den Teil "Zum Zusammenspiel der Fertigkeiten" auf S. 344-350). Daß das freie Sprechen im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht einen besonders hohen Stellenwert hat, ist in dieser Arbeit mehrfach belegt worden. Das kann bei einer Arbeitsweise, die auf einen hohen Grad von (körperlicher) Interaktion zwischen den Teilnehmern bzw. zwischen Teilnehmern und Lehrer setzt, nicht verwundern. Denn gesprochene Sprache wird eher mit Lebendigkeit und Bewegung assoziiert, geschriebene Sprache hingegen eher mit Zustand und Statik. Ein wesentlicher Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache besteht darin, daß durch die Art und Weise des Sprechens subtile Bedeutungen konstruiert werden können, die ein schriftlicher Text nicht unmittelbar freigibt. Formuliert in den parteiischen Worten eines bildenden Künstlers: "Das gesprochene Wort dagegen erscheint mir viel anschaulicher und wirkungsvoller als das geschriebene, da es durch Stimmlage und Tonfall, ein wenig Husten, Grimassen, durch eine ganze Mimik eben, belebt wird. Die geschriebene Sprache scheint mir ein schlechtes Werkzeug zu sein. Als Instrument der Mitteilung vermittelt sie vom Gedanken nur die Leiche: das, was vom Feuer als Schlacke übrigbleibt". (Jean DU-buffet 1980, S. 66) Mancher Schriftsteller würde hier Widerspruch anmelden, doch Dramatiker, die über die Möglichkeiten und Grenzen ihres Mediums nachgedacht haben, würden voraussichtlich der Sichtweise von George Bernard SHAW viel abgewinnen: "There are fifty ways of saying Yes, and five hundred of saying No, bul only one way of writing them down", (zit. nach McRae 1985, S. XI) In jedem Falle verweisen die Überlegungen der Künstler auf die vielfältigen, subtilen Möglichkeiten, sprechend Bedeutung zu signalisieren, und ihre in bildhafter Sprache geschriebenen Sätze helfen erklären, warum im 408 Kapitel IX dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht paralinguistischen Elementen besondere Beachtung geschenkt wird. Die besondere Förderung der Sprechfertigkeit in einem dramapädagogischen Unterrichtskonzept trägt dazu bei, einen Defizit-Zustand in der Fremdsprachendidaktik zu beheben, denn die gesprochene Fremdsprache ist bislang ein eher vernachlässigter Untersuchungsgegenstand (vgl. ADDISON / VOGEL 1989). Fremdsprachenunterricht wird leicht(fertig) assoziiert mit "Bedeutungsentsprechung": es wird davon ausgegangen, daß ein fremdsprachliches Wort seine Entsprechung hat in der Muttersprache und umgekehrt.153 Daß Wörter keine "fixierte Bedeutung" haben, sondern Wortbedeutung aus dem Boden vorgängiger Erfahrung erwächst, kann, insbesondere bei Abstrakta, mittels dramapädagogischer Methoden vortrefflich bewußt gemacht werden. Ein simples Beispiel aus dem Sprachunterricht: Ich forderte die Kursteilnehmer (ausländische Studienbewerber) dazu auf, innerhalb von einer Minute - in Kleingruppen - das Wort Unterricht zu verkörpern, d.h. in Form eines Standbildes zu zeigen, was sie unter diesem Wort verstehen. Es entstanden natürlich unterschiedliche Bilder (= Bedeutungen): > eine Gruppe zeigte, wie ein Lehrer mit strenger Miene und demonstrativer Geste auf sein schummelndes Schüleropfer deutet; ► eine andere Gruppe zeigte einen Schüler, der den Arm hochstreckt, um die Aufmerksamkeit des Lehrers zu erheischen; doch der Lehrer nimmt das Zeichen nicht wahr. Die von den Teilnehmern geformten Bilder spiegelten ihre Unterrichtserfahrungen. Diese wurden zum Anlaß einer Verständigung über Bedeu-tungsnuancierungen und damit zum Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines Wortfeldes, Aus der sprachlichen in die bildliche Symbolisierungs-form zu wechseln hat den Vorteil, daß den Lernern der Bedeutungsgehalt eines Wortes sichtlich klarer und damit ihr Sprachbewußtsein bzw. ihr Sinn für sprachliche Präzision geschärft wird. Daß diese "Entsprechungslogik" aber sehr enge Grenzen hat, ist z.B. in Projekten tut Bedeutungsanalytischen Praxisforschung von müller (1984) aufgezeigt worden. Blick zurück nach vorn 409 Handlungsorientierung Und da zeigte sich denn stets, was Goethe sagt: "Das Wort ist gut, aber es ist nicht das Beste. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste." Und dieser Geist des Handelns oder der handelnden Darstellung des Wortes brachte allen, selbst den schwächsten Kindern mehr Klarheit als alle Menschen- und Engelszungen zusammen hätten bewirken können. (Gottfried hausmann) Im Laufe der vorangegangenen Kapitel habe ich gezeigt, daß Lehrende und Lernende im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht zu Konstrukteuren von Handlungssituaüonen. werden. Mit Hilfe entsprechender Inszenierungstechniken werden fiktive Kontexte geschaffen, die so konstruiert sind, daß die Beteiligten nicht anders können als (körperlich) zu handeln. Und aus der Handlung heraus formiert sich die (fremde) Sprache: "Die Handlung ist der Tiegel, in welchem der Mensch Wort wird, Wort werden muß. Das heißt nun aber, daß ich den Menschen im Drama in Situationen zu bringen habe, die ihn zum Reden zwingen", (dürrenmatt 1991, s. 48) Wie im alltäglichen Handeln "erzwingt" die Situation die Sprache - verbale und nonverbale: die innere Bewegung drängt in äußere Bewegung, der Körper kommt ins Spiel. Der "Verkopfung" des Fremdsprachenunterrichts wird entgegengewirkt und damit fortgesetzt, was frühe Pioniere einer unterrichtlichen Inszenierung von Fremdsprache begonnen haben (vgl. Kap. IV). Wie der brasilianische Regisseur boal, der im Rahmen von Alphabetisierungsprojekten in Südamerika über den Einsatz von Theater(techniken) den Weg zur Sprachfindung ebnete, gehe ich davon aus, daß das Theater Ausdrucksformen bietet, die von jedem verwendet werden können, unabhängig davon, ob er künstlerische Fähigkeiten besitzt oder nicht (vgl. Boal 1989, S. 42). boals Inszenierungskonzept unter dem Titel "Poetik der Unterdrückten" kann m.E. den Hintergrund abgeben für einen dramapädagogischen Unterricht, der zur Handlungsfähigkeit in fremdkultureller/-sprachlicher Umgebung führen soll. Sein Konzept zielt darauf ab, 410 Kapitel IX "den Zuschauer, das passive Wesen im Theater zum Subjekt zu machen, zum Akteur, zum Veränderer der dramatischen Handlung. Aristoteles begründete eine Poetik, in der der Zuschauer eine Figur ermächtigt, für ihn zu denken und zu handeln. Bei Brecht ermächtigt der Zuschauer eine Figur, stellvertretend für ihn zu handeln; das Recht zu denken behält er sich selbst vor, oftmals im Gegensatz zur Figur. Im ersten Fall wird "Katharsis" erzeugt, im zweiten Fall ein Bewußtwerdungsprozeß eingeleitet. Die Poetik der Unterdrückten will die Handlung selbst. Der Zuschauer ermächtigt keine Figur, stellvertretend für ihn zu denken noch für ihn zu handeln, im Gegenteil, er selbst übernimmt die Hauptrolle, verwandelt die anfanglich vorgegebene dramatische Handlung." (BOAL 1989, S. 43) Im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht ist die Grenze zwischen Zuschauen und Handeln fließend; obwohl Lerner anfangs mehr oder weniger große Probleme damit haben, aus der gewohnten Zuschauer/Zuhörer-Rolle in die neue Rolle von Akteuren zu wechseln. Das belegen z.B. Ausschnitte aus Erfahrungsberichten von Lehramtstudierenden im Anschluß an ein Dramapädagogik-Seminar: Um ehrlich zu sein, es bedurfte bei mir, aber ich glaube auch bei den meisten anderen, einer gewissen Eingewöhnungszeit. Es dauerte eine Weile, bis man in der Gruppe ein eigenes Selbstbewußtsein fand und frei agieren konnte. Gleichzeitig fand eine Gewöhnung an die 'warm-ups' statt, man bewegte sich selbstverständlicher und lockerer. Auch die Skepsis gegenüber vielen Übungen fiel weg. Am Anfang fand man sich doch das eine oder andere Mal in Situationen, wo man plötzlich neben sich stand und sich beobachtete und sich fragte: 'Was machst du hier eigentlich?' Doch diese Skepsis gegenüber der praktischen Arbeit legte sich ebenso wie die gegenüber der theoretischen Seite. (Nils O.) Was auch ungewohnt an der Seminarsituation war, ist die Tatsache, daß ich am Anfang oft glaubte, es ginge dabei um Selbstdarstellung. Es ging mir darum, mich möglichst vorteilhaft und möglichst vollständig darzustellen. Im Laufe der Zeit habe ich diesen inneren Druck verloren. Ich glaube, das kann ich auch bei meinen Kommilitonen beobachten. ... Mir ist aufgefallen, daß ich im Laufe der Zeit angefangen habe, mit den vorgegebenen Rollen bzw. Situationen mehr zu experimentieren, (Ina P.) Mit anderen Worten, es war immer eine eigene, kreative Mitarbeit in Form von gedanklicher Vorbereitung und szenarischer Darstellung gefordert. Eine solche Leistung, zu der auch eine ganze Menge Mut und Selbstvertrauen gehört, hätte ich nicht erbringen können, wenn mir meine Spielpartner fremd geblieben wären. So hielt ich mich Blick zurück nach vorn 411 am Anfang auch an Susann und Nils, die ich schon vorher kannte, wenn es um Partnerarbeit ging. Nach einer gewissen Zeit, als ich alle etwas besser kennengelernt hatte, gab es dieses Problem eigentlich nicht mehr, im Gegenteil, ich hatte gerade Spaß daran, mit den mir noch etwas Unbekannteren zu arbeiten und konnte sie so besser kennenlernen. Durch dieses ständige Sich-Austauschen wuchs der Kurs auch sehr schnell zu einer Gruppe zusammen. (Matthias U.) Die Zitate bestätigen, daß eine Gewöhnung an die handlungsorientierte Arbeitsweise stattfindet. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß die Lehrperson auf ein entspanntes Lehr-/Lernklima hinwirkt und eine Spielbereitschaft behutsam herstellt (s. meine Darstellung der Sensibilisierungsphase in Kap. VI). Am Ende eines persönlichen Lernprozesses steht die Befreiung aus der Zuschauer-Rolle: Ich habe gelernt, daß ich selber 'Drama' machen kann, anstatt immer nur zuzuschauen. Habe Ängste überwunden, mich darzustellen und damit etwas von mir zu erzählen. Bin auf Körpersprache aufmerksam geworden. Weiß jetzt, daß ich mich ziemlich gut wehren kann, wenn mir was nicht paßt. Und ich lerne immer noch, daß es ruhig mal Leerlaufzeitcn/gescheitertc Versuche geben darf ... der Schwerpunkt liegt irgendwie eher auf persönlicher Entwicklung; die Fremdsprache kommt erst danach: aber das kann sie ja auch ruhig, dann wird sie endlich mal als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck benutzt, (meine Hervorhebung) (Susanne E.) Die Selbsterfahrungen in fiktiven Handlungskontexten führen zu einem hohen Grad an Selbsttätigkeit und Selbständigkeit, unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung der Lerner. Situationen, in denen sie persönlich bedeutsame Erfahrungen machen, wobei sie die Fremdsprache gebrauchen, stehen im Zentrum unterrichtlicher Aktivität; die systematische Analyse von Einzelaspekten des fremdsprachlichen Systems bleibt nachgeordnet. Persönlichkeitsbildung zu einem allgemeinen Richtziel fremdsprachlichen Unterrichts zu machen läßt sich legitimieren mit der zunehmenden Inter-nationalisierung unseres Lebens, die nach einer Befähigung zur interkulturellen Kommunikation verlangt. Die Humanisierung von Beziehungen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg setzt voraus, daß die in (Kultur-)Kontakt tretenden Personen entsprechende innere und äußere Haltungen bzw. Fähigkeiten ausbilden (vgl. dazu BAUMGRATZ-GANGL 1990). 412 Kapitel IX Dazu gehören sicherlich Fähigkeiten wie z.B. ► Unbestimmtheiten auszuhalten (vgl. Ambiguitätstoleranz); ► unerwartete Ereignisse und Probleme einzubeziehen; ► der Wirklichkeit nicht nur denkend, analysierend, wissend gegenüberzustehen, sondern auch empfindend, sich einfühlend, kontemplativ, schauend, meditativ. Die genannten Fähigkeiten werden von BRATER (1989, S. 103) unter dem Oberbegriff künstlerische Handlungsfähigkeit aufgeführt. Im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht übernehmen Lehrer und Schüler bei der Gestaltung von szenischen Improvisationen die Funktion von Künstlern (Regisseuren, Schauspielern, Dramatikern). Je öfter sie solche Funktionen übernehmen, desto mehr wächst ihre künstlerische Handlungsfähigkeit. Vielfältige Lernprozesse Um mich zu vergewissern und möglichst konkret zu fassen, welche Art von Lernprozessen in einem dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht besonders gefördert werden, verteilte ich einen Fragebogen an Lehramtstudierende, nachdem diese im WS 1992/93 (4 Stunden pro Woche) Selbsterfahrungen mit dramapädagogischen Methoden gemacht hatten. Frage 5 lautete: Welche Art von Lernen wird nach Deiner Erfahrung im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht gefördert? Ergänze die Liste nach Möglichkeit und vergebe eine Note zwischen 1 und 6 (1 = sehr hohe Förderung; 6 = ungenügende Förderung). Die 9 von 16 Studierenden, die in der letzten Sitzung vor den Semesterferien gekommen waren und den Fragebogen innerhalb von 30 Minuten ausfüllten, nahmen folgende Bewertung vor: Blick zurück nach vorn 413 Bewertung durch jeweilige(n) Teilnehmer (in) A B C D E F G H 1 Schnitt 1. Körpersprachliches L. 2 1 1 1 1 1 2 1 1 1.2 2. Soziales Lernen 2 1 1 1 2 1 2 1 1 1,3 3. a) Affektives L. 2 1 1 2 1 1 1 2 1,6 b) Sprachliches L. 2 2 1 2 2 ] - 2 1 1,6 Sprechen 2 1 1 2 2 1 1 1 1 1,3 Sehverstehen 2 1 1 2 3 1 2 1 1 1,4 Hörverstehen 2 1 1 3 1 1 2 2 1 1,6 Leseverstehen - 2 2 4 2 6 4 3 2 3,1 Schreiben - 2 3 5 5 5 5 3 4 4,0 4. (Inter-)Kulturelles L. 4 3 2 1 3 3 2 2 1 2,3 5. a) Methodisches L. 2 3 1 3 2 2 3 3 3 2,4 b) Metaspracbl L. 3 2 - 2 3 1 4 2 2 2,4 6. Kognitives L. 3 - 2 2 3 3 2 3 2,6 7. Ästhetisches L. - 3 - 3 3 2 3 4 2 2,9 8. Literarisches L. 4 4 4 4 3 5 3 5 2 3,8 Den Studierenden war freigestellt, zuzufügen. Das ergab: ► Spaß am Lernen: ► humorvolles Lernen: ► spontanes Lernen: ► aktives Lernen: ► intuitives Lernen: ► lebendiges Lernen: ► an Grenzen heranführendes Lernen: zu dieser Liste weitere Nennungen hin- 2 x die Bewertung 1 2 x die Bewertung 2 1 x die Bewertung 1 2 x die Bewertung 1 1 x die Bewertung 1 1 x die Bewertung 1 1 x die Bewertung 1 Die Ergebnisse dieser retrospektiven Befragung gilt es mit Vorbehalt zur Kenntnis zu nehmen, denn ► es kann beispielsweise nicht davon ausgegangen werden, daß die Studierenden mit dem gleichen, eindeutigen Vorverständnis eine Bewertung vornahmen. (Es verwundert mich z.B. nicht, daß einige die diffizile Kategorie "Ästhetisches Lernen" ignorierten bzw. - als Ausdruck ihrer Unsicherheit in bezug auf die Füllung dieser Kategorie -eine niedrige Bewertung vornahmen); ► die Tatsache, daß ein(e) Studierende(r) eine Kategorie überging, blieb bei der Errechnung des "Durchschnittswerts" unberücksichtigt. Trotz solcher Vorbehalte zeigen die Ergebnisse der Befragung mir als dem Lehrer, der in dieser Zielgruppe dramapädagogischen Unterricht durch-führte,'z.B. folgende Tendenzen an, die meine Argumentation in den vorangegangenen Kapiteln unterstützen: 414 Kapitel IX ► Auffällig ist zunächst die allgemein, positive Bewertung, die mir anzeigt, daß die Studierenden dramapädagogischen Unterricht als "lernwirksam" erfahren. *■ Von den Fertigkeiten wird insbesondere die Sprechfertigkeit gefördert, die gesprochene Fremdsprache hat einen hohen Stellenwert; neben (para-)linguistischen Zeichen spielen visuelle Zeichen eine wichtige Rolle. »■Die hohe Bewertung des körpersprachlichen Lernens unterstreicht die Handlungsorientierung eines dramapädagogischen Unterrichtskonzepts, den im Vergleich zum üblichen Fremdsprachenunterricht hohen Grad an äußerer Bewegung. ► Die hohe Bewertung für das soziale Lernen bestätigt mir, daß mittels der eingesetzten Methoden ein hoher Grad an Interaktion bzw. Kommunikation in der Lernergruppe erreicht wird und im Laufe des "Zusammenwachsens" der Gruppe voneinander gelernt wird. Die hohe Bewertung des affektiven Lernens verweist darauf, daß mittels dramapädagogischer Methoden Lernprozesse ausgelöst werden, die einen hohen Grad an innerer Bewegung/Beteiligung bewirken. *■ Die Extra-Nennungen einzelner Studierender machen aufmerksam auf einzelne Lernaspekte, die als charakteristisch empfunden werden und bei einer Charakterisierung der dramapädagogischen Arbeitsweise nicht fehlen dürfen: Spaß am Lernen/Humor, Spontaneität/intuitives Handeln, Aktivität/Lebendigkeit. Dabei bestätigt mir die sehr positive Bewertung für "an Grenzen heranführendes Lernen" die Plausibilität der These 6.1 (vgl. Kap. VI, S. 252): Handlungssituationen können bewußt geschaffen werden bzw. entstehen, in denen Lerner an persönliche Grenzen geraten. Solchen Handlungssituationen haftet ein Widerspruch an: Einerseits machen die Lerner darin "persönliche Grenzerfahrungen" (also das Lerner-Ich potentiell bedrohende Erfahrungen), andererseits ist es aber gerade die Erfahrung der persönlichen Grenze, die zu einem Sich-bewußt(er)-Werden und damit auch zu einem zielgerichteten Weiterlernen fuhrt. Der Fragebogen enthielt weiterhin die Frage: Wie lassen sich - basierend auf deinen Erfahrungen im Seminar - die Merkmale der dramapädagogischen Methode beschreiben ? Ich fasse im folgenden die stichwortartigen, schriftlichen Äußerungen der Studierenden zusammen. Damit sollen am Ende dieser Forschungsarbeit Charakteristika der dramapädagogischen Arbeitsweise aus der Lerner Perspektive resümiert werden. Ich habe die Äußerungen in eine Ordnung gebracht und so formuliert, daß sie als Antworten auf zwei Fragen gelesen werden können: a) Wie wird im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht gelernt und gelehrt? b) Was wird gelernt und gelehrt? Blick zurück nach vorn 415 zu a): ► Aus dem (körperlichen) Handeln wächst die Sprache: learning by doing; der Unterricht ist weniger lchrer- als teilnehmerzentriert; ► Die Lerner nehmen aktiv an der Unterrichtsgestaltung teil; ► Lernen durch Darstellung/Offenbarung des eigenen Ich; ► Lernen mit vielen Sinnen; ► das Lernen ist eher "erlebbar" als meßbar im herkömmlichen Sinne; ► der Unterricht basiert auf eigenen Erfahrungen: nicht durch Auswendiglernen, sondern durch Ausprobieren und Erfahrungen-Machen wird gelernt. zu b): bezogen auf Sprache: Fertigkeiten (z.B. Sprechen, Hören, Sehen) werden entwickelt; ► der passive Wortschatz wird aktiviert; langsam wächst eine Liebe zum (szenischen, sprachlichen) Detail; ► während der szenischen Improvisationen gibt es eine hohe Fchlertoleranz; ► Sprache wird als 'reales1 Medium kennengelernt; nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck (Persönlichkeitsbildung). bezogen auf Persönlichkeitsbildung: ► Konflikte/Probleme werden in fiktiven Situationen spielerisch gelöst; eigene Lernblockaden können entdeckt/bewußtgemacht werden; ► Selbstentdeckung ist möglich und die Gelegenheit wird geboten, mal wer ganz anderes zu sein; ► eigene (Ausdrucks-)Möglichkeiten können ausprobiert werden, wobei an Grenzen gegangen werden kann; ► Lerner öffnen sich für sich selbst und für andere; Lernen dient der Bewußtmachung und Menschwerdung, dem Abbau von Mauern zwischen Menschen; ► das Spielen von Rollen/Improvisieren erzeugt Offenheit, Mut, Spaß; ► das Selbstbewußtsein wird gestärkt; ► das Miteinander wird gefördert; ► die Selbsterfahrung mit dramapädagogischen Methoden vermittelt Anregungen für die eigene (spätere) Lehrpraxis. Ein Student formulierte zur genannten Frage einen längeren Text, der einige der genannten Merkmale nochmals aufnimmt, aber noch neue Akzente setzt. Er soll ausführlich wiedergegeben werden und die Charakteristik aus der Lernerperspektive abrunden: 416 Kapitel IX Die dramapädagogische Methode eröffnet die Möglichkeit, eine Sprache nicht nur über das Auswendiglernen von Vokabeln und Grammatik zu lernen, sondern schafft Situationen, wo man durch Ausprobieren und durch Erfahrungen lernen kann. In improvisierten Szenen kann die erlernte Sprache in einem kommunikativen Kontext angewendet werden, der realistischen Sprachanwendungsgebieten sehr nahe kommt. Das kann zu einem natürlichen Verhältnis zur Fremdsprache führen. Auch werden dabei Hemmungen, die Fremdsprache zu benutzen, abgebaut, oder kommen im Ideal fall erst gar nicht auf. Bei der Arbeit mit Texten bietet die dramapädagogische Methode die Chance, die Distanz zwischen Lernern und dem Text, dessen Inhalt und Personen, zu verringern. Indem die Lerner in Personen aus der Literatur hineinschlüpfen, wird ihnen ermöglicht, Texte nicht nur von außen zu betrachten, sondern sich mit literarischen Figuren zu identifizieren. Das kann wieder Hemmschwellen im Umgang mit Literatur abbauen helfen und schafft einen zusätzlichen Zugang, außer dem herkömmlichen, rein intellektuellen. Ein weiteres Merkmal der Dramapädagogik, das mir noch wichtig ist, ist, daß die Lemer in direkter Interaktion stehen, miteinander und voneinander lernen. So wird verhindert, daß der oder die Lehrende so eine zentrale Position im Unterricht hat, daß er oder sie jeden zweiten Sprechpart hat. So können die Lerner auch lernen, miteinander zu sprechen, aufeinander zu reagieren und somit sich auch gegenseitig ernst zu nehmen und zu respektieren. Martin H.