98. Lernerexterne Faktoren 885 Wolff, Dieter 2004 Kognition und Emotion im Fremdsprachenerwerb. In: Wolfgang Börner und Klaus Vogel (Hg.), Emotion und Kognition im Fremdsprachenunterricht, 87Ϫ103. Tübingen: Narr. Martina Rost-Roth, Augsburg (Deutschland) 98. Lernerexterne Faktoren 1. Einleitung 2. Die Makroebene: der soziale Kontext von Lernergruppen 3. Die Mikroebene: Individuen und ihre Interaktionen 4. Lernkontexte und Programme zur Förderung des Zweit- und Fremdsprachenerwerbs 5. Literatur in Auswahl 1. Einleitung Zu den lernerexternen Faktoren zählen Umgebungsfaktoren wie soziale und institutionelle Faktoren, die in diesem Kapitel im Vordergrund stehen sollen, aber auch Faktoren wie die Unterrichts-/Lernsituation, Lehrer und Lehrerverhalten, Lehr-/Lernmaterialien, Vermittlungsmethoden oder die Lerngruppe, auf die hier nicht näher eingegangen wird, da sie in anderen Artikeln thematisiert werden. Soziale Faktoren werden seit den 1970er Jahren verstärkt von der Zweitsprachenerwerbsforschung wahrgenommen. In einer Reihe von Studien auf der Makroebene der gesellschaftlichen Strukturen wurden zunächst ganze Lernergruppen verglichen, indem soziale Merkmale statistisch erfasst und in Beziehung zueinander gesetzt wurden. In einigen neueren Studien werden dagegen verschiedene Faktoren in ihrem Zusammenwirken auf der Mikroebene der konkreten sozialen Interaktion von Individuen analysiert. In solchen integrativen Ansätzen ist der in der Fachliteratur beschriebene Gegensatz zwischen einer kognitivistischen Auffassung des Sprachenerwerbs und einer Auffassung, die auf die kontextuellen Faktoren fokussiert, aufgehoben: Kognition wird als ein durch den sozialen Kontext geprägtes Phänomen begriffen, denn Wissen entwickelt sich in der alltäglichen Interaktion: Ein kontextfreies Sprachenlernen ist daher nicht möglich (Watson-Gegeo und Nielsen 2003). Die Ergebnisse der Forschung zu externen Faktoren sind sowohl für didaktische Entscheidungen als auch für politische und verwaltungstechnische Maßnahmen interessant, etwa in Bezug auf Wohn-, Lern- und Arbeitsbedingungen von Migranten oder anderen Lernergruppen in Deutschland und deren sozialpädagogische und sprachliche Betreuung. Die direkte Steuerung von sozialen Lernbedingungen in Form von Programmen zur sprachlichen Eingliederung wird im letzten Abschnitt angesprochen. IX. Sprachenlernen: spezifische Variablen und Faktoren886 2. Die Makroebene: der soziale Kontext von Lernergruppen Zur Untersuchung der externen Faktoren auf der Makroebene wurden zunächst Modelle entworfen, in denen die einzelnen möglichen Faktoren identifiziert, kategorisiert und in Beziehung zueinander gesetzt werden, mit dem Ziel, ihre Bedeutung für den Zweitsprachenerwerb empirisch überprüfen zu können Eines der einflussreichsten und bekanntesten Modelle zur Bedeutung von sozialen Faktoren für den Zweitsprachenerwerb ist das „Akkulturationsmodell“ von John Schumann. Den Ausgangspunkt bildet Schumanns „Pidginisierungshypothese“, die auf einer Fallstudie (Schumann 1975, 1976a, 1976b) aufbaut: Die Lernerspache eines 33-jährigen immigrierten Arbeiters aus Puerto Rico in den USA wurde während einer zehnmonatigen Periode untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass sie auf einer niedrigen Stufe, die durch funktionale und strukturelle Reduktionen gekennzeichnet war, stagnierte Ϫ der Lerner machte keine wesentlichen Fortschritte. Schumann (1976b) sprach von einer Pidginisierung und verglich somit die Lernersprache mit einer Pidginsprache. Findet kein Prozess der Fortentwicklung statt, nimmt Schumann als entscheidenden Grund, als erstes Glied einer Kausalkette, soziale Distanz an. Sie führt zu eingeschränkten Kontakten mit Angehörigen der Zielsprachenkultur und behindert dadurch den Zugang zu zielsprachlichem Input und damit den Erwerb. Zur genauen Bestimmung der sozialen Distanz zwischen zwei Gruppen führt Schumann (1976a, 1978) verschiedene Faktoren an. Eine geringe soziale Distanz und dadurch eine für den Erwerb günstige Situation liegt Ϫ bezüglich des Integrationsmusters Ϫ bei Assimilation oder zumindest bei der Adaptation der L2-Gruppe (L2 ϭ Language 2/Zweitsprache) an die L1-Gruppe (L1 ϭ Language 1/ Erstsprache) vor Ϫ im Unterschied zu der Preservation, außerdem bei geringer Geschlossenheit der Gruppe hinsichtlich der sozialen Institutionen, sowie bei geringer Kohäsion und Gruppengröße, bei einer hohen Kongruenz beider Kulturen, einer positiven Einstellung der L2-Gruppe gegenüber der L1-Gruppe und einer möglichst langen Bleibeabsicht der L2-Gruppe. In einer Ausweitung seines Modells zum Akkulturationsmodell integriert Schumann (1978) psychologische Faktoren: Sprachenschock, Kulturschock, Motivation und Ego-Durchlässigkeit (die Flexibilität und Bereitschaft des psychischen Egos, Veränderungen und Anregungen aufzunehmen); diese seien dann ausschlaggebend für den Erfolg des Erwerbs, wenn die soziale Distanz nicht eindeutig sei, könnten aber auch den Effekt einer geringen oder großen sozialen Distanz aufheben. Untersuchungen zur empirischen Überprüfung des Modells ergaben widersprüchliche Ergebnisse und waren daher nicht eindeutig interpretierbar (vgl. Schumann 1986). Problematisch ist, dass das Modell von Schumann auf Grund der vielen, kaum quantifizierbaren und zudem einander beeinflussenden Faktoren nicht wirklich falsifizierbar ist. Eine bedeutende Studie, die auch Schumann als Evidenz für sein Modell anführt (Schumann 1978), ist das Heidelberger Projekt Pidgin-Deutsch (kurz: HPD) einer Forschergruppe unter der Leitung von Norbert Dittmar (HPD 1977), in dem der ungesteuerte Erwerb von 48 italienischen und spanischen Einwanderern in Deutschland untersucht wurde. In der Querschnittstudie wurde der jeweilige Sprachstand zu verschiedenen sozialen Variablen, die mit Hilfe von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen ermittelt wurden, in Beziehung gesetzt. Es zeigte sich, dass die Länge des Aufenthaltes nur während der ersten zwei Jahre eine Rolle spielte, danach beeinflussten vor allem der Kontakt zu Deutschen während der Freizeit und der Arbeit, das Alter bei der Immigra- 98. Lernerexterne Faktoren 887 tion, die Qualität der Ausbildung im Heimatland und die Länge der Schuldbildung den Spracherwerb. In einer sehr ambitionierten und vielbeachteten Untersuchung, dem Wuppertaler ZISA-Projekt, wurden in einer Querschnittstudie der ungesteuerte Zweitsprachenerwerb von 45 erwachsenen italienischen, portugiesischen und spanischen Arbeitern untersucht (Clahsen, Meisel und Pienemann 1983). Die Ergebnisse umfassender statistischer Analysen ergaben, dass in ihrer Lernersprache stark simplifizierende Lerner eher eine segregative Orientierung und eine einseitige Einstellung gegenüber der deutschen Kultur aufwiesen. Sie verfügten insgesamt über eine eher geringe Qualifikation, waren weniger an einem sozialen Aufstieg interessiert, betrachteten den Aufenthalt in Deutschland als vorübergehend und zeigten eine geringere Bindung an die deutsche Umgebung bezüglich der Wohnsituation, z. B. der Kontakte zu Nachbarn. Einen Überblick über die Ergebnisse empirischer Studien zu verschiedenen Faktoren und ihren Einfluss auf den Zweitsprachenerwerb gibt Esser (2006), er konzentriert sich dabei auf die Bedingungen im Herkunfts- und Aufnahmekontext, den ethnischen Kontext, d. h. die Existenz und Struktur einer ethnischen Gemeinde der Einwanderer sowie auf die individuellen und familiären Lebensbedingungen und die besonderen Umstände der Migration. Auf der Grundlage seines Modells entwickelt er Annahmen über die Wirkung verschiedener Faktoren, die sich teilweise empirisch belegen ließen. Das Erlernen der Zweitsprache wird danach begünstigt durch ein niedriges Einreisealter und eine längere Aufenthaltsdauer im Einwanderungsland, für die Kinder ein niedriges Einreisealter und gute Sprachfertigkeiten der Eltern, sowie eine höhere Bildung der MigrantInnen bzw ihrer Eltern. Eine nur temporär geplante Migration wirkt sich dagegen negativ aus (Dustmann 1999), wobei allerdings ein selbstverstärkender Effekt zu beachten ist: Ein geringer Lernerfolg verstärkt die Rückkehrabsicht. Auch kann davon ausgegangen werden, dass starke soziale und kulturelle Distanzen zwischen der Einwanderergruppe und der Mehrheitsgesellschaft einen negativen Einfluss auf den Zweitsprachenerwerb haben. Behindert wird der L2-Erwerb auch durch stärkere ethnische Konzentrationen im Wohnumfeld, durch Kommunikationsmöglichkeiten in der Herkunftssprache im Wohnumfeld oder durch die Verfügung über herkunftssprachliche Medien sowie durch die (relative) Gruppengröße der jeweiligen Migrantenminorität (van Tubergen 2004). Wichtig für den Lernerfolg sind der Zugang zu Lerngelegenheiten wie Sprachkurse und Gelegenheiten zum Sprechen durch interethnische Kontakte, wobei Esser (2006: 29) davon ausgeht, dass die Bedeutung der Sprachkompetenzen für Kontakte größer ist als umgekehrt. 3. Die Mikroebene: Individuen und ihre Interaktionen In einigen neueren Studien und Theorien wird Kognition grundsätzlich als ein in der Interaktion begründetes soziales Phänomen aufgefasst. Insbesondere in Studien in der Tradition von Vygotzky (1962, 1978) wird das Sprachenlernen vor allem als sozialer Prozess und der Lernende als sozial Handelnder gesehen. Im Fokus der Untersuchungen steht daher, in einer integrativen Sichtweise, die Mikroebene der konkreten Interaktionen: die zielsprachliche Kommunikation des Lerners als Individuum in einem spezifischen Kontext unter den gegebenen sozialen Rahmenbedingungen. Willet (1997) zeigt in ihrer Studie, wie im sozialen Kontext Routinen und Interaktionsstrategien geformt wer- IX. Sprachenlernen: spezifische Variablen und Faktoren888 den, die für den Sprachenerwerb essentiell sind. Der Zugang zur Praxis der Zielsprache ist daher eine notwendige Bedingung zum Erlernen der Sprache Der individuelle Lerner steht in verschiedenen Studien im Mittelpunkt, in denen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der größere soziale Kontext im Wechselspiel mit anderen, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren betrachtet werden. So untersuchte Riemer (1997) zur Verifizierung ihrer „Einzelgänger-Hypothese“ in drei Fallanalysen Ϫ die Probanden waren Deutsch-Lerner, die zur Vorbereitung ihres Studiums universitäre Sprachkurse besuchten Ϫ das jeweils lernerspezifische Zusammenwirken von lernerendogenen Faktoren, wie subjektiven Lerntheorien und lernerexogenen Faktoren, z. B. soziale Herkunft oder Kontakte sowie Unterricht, Interaktion und die individuelle Verarbeitung von Input und Output. Bonny Norton (Norton Peirce 1995; Norton 2000) erforschte in einer einjährigen Longitudinalstudie an Hand von Interviews, Tagebüchern und Fragebögen, unter welchen Bedingungen ihre Probandinnen, Immigrantinnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern in Kanada, den Zugang zu sozialen Netzwerken der Zielkultur als Gelegenheit zur Sprachpraxis ausnutzten oder schufen. In den theoretischen Grundlagen dieser Studie geht es ihr darum, die künstliche Trennung zwischen dem Individuum und der sozialen Umgebung, wie sie vielen Ansätzen zugrunde liege, aufzuheben. Das Individuum sei auch Subjekt, nicht nur Objekt der sozialen Situation; es ist Ϫ im Rahmen von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen, die in der Interaktion ausgehandelt werden (Norton 2000: 112) Ϫ an der Konstruktion des sozialen Lernkontextes beteiligt. Die soziale Identität beschreibt Norton als vielfältig und veränderlich: Sie wird in verschiedenen Rollen produziert, gegebenenfalls erkämpft. Affektive Variablen, auf widersprüchliche Weise im Individuum koexistierend, sind oft sozial konstruiert und verändern sich in Raum und Zeit (Norton Peirce 1995: 15). Integrationsmuster und Einstellung sollten nicht als fest und statisch betrachtet werden Ϫ sie fluktuieren in Einklang mit der sozialen Erfahrung. Lerner sind dann erfolgreich, wenn sie eine Identität aufbauen, die es ihnen erlaubt, Subjekt des Diskurses zu sein. Das erfordert wiederum eine Investition in die Fremdsprache, die nur aufgebracht wird, wenn die Lern- und Sprachbemühungen den Wert des kulturellen Kapitals (nach Bourdieu 1977), wie z. B. den Zugang zu Wissen und Denkweisen, Freundschaften, das Erreichen einer höheren sozialen Stufe oder eines besseren Verdienstes etc., erhöhen (Norton Peirce 1995: 17). Zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie Peirce kommt auch Buß (1995), der an Hand von fünf biographisch-narrativen Interviews mit türkischen Arbeitsmigranten in Deutschland die „wechselseitigen Bedingungsverhältnisse von erfolgreichem Zweitsprachenerwerb und sozialer Integration“ (Buß 1995: 249) beleuchtet. Biographische Forschung spielt auch in der im Rahmen des Mannheimer Projekts „Sprachliche Integration von Aussiedlern“ entstandenen Studie von Meng (1995, 2001) eine wichtige Rolle, um den „Prozess der sprachlichen Integration von Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft zu dokumentieren, Verlaufsvarianten zu ermitteln und aus linguistischer Perspektive zu beschreiben sowie diese aus den Vorgeschichten und aktuellen Rahmenbedingungen der Migration zu erklären“ (Meng 1995: 30). Die Studie umfasst sowohl eine Querschnitts- als auch eine Longitudinaluntersuchung russlanddeutscher Familien. Weitere Studien des Mannheimer Projektes beschäftigen sich mit dem Anpassungsprozess der Sprache von Russlanddeutschen in der Integrationsphase in Deutschland (Berend (1998) sowie mit der Identitätsarbeit und den Kommunikationsbeziehungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen (Reitemeier 2006).] 98. Lernerexterne Faktoren 889 Nach Bordieu (1977) ist Sprache ein wirkungsvolles Instrument zur Machtausübung, zur Selbstbehauptung und zur sozialen Identifikation oder Abgrenzung. Die Erkenntnis, dass sprachliche Mittel von Zweitsprachenlernern zielgerichtet eingesetzt werden, führte, zumindest in bestimmten Kontexten des Gebrauchs der Zweitsprache, zu einer Kritik an dem Erklärungswert von Konzepten wie dem der Lernersprache bzw. der Interlanguage oder der Fossilisierung und der klaren Dichotomie Muttersprachler vs. Nicht-Muttersprachler. Keim (2007) hat in ihrer qualitativ-soziolinguistischen Studie diesen strategischen Umgang mit Sprache anhand des Kommunikationsverhaltens von Migrantinnen türkischer Herkunft vor dem Hintergrund ihrer Lebenswelt mit ethnographischen und gesprächsanalytischen Methoden analysiert. Sie konnte zeigen, dass die sprachlichen Mittel, die von der ihr untersuchten sozialen Gruppe, den „Power girls“ in Mannheim, verwendetet werden, genau ausdifferenziert und dem jeweiligen Kontext angepasst werden. Es handelt sich also nicht um eine Lernersprache, sondern um eine auch als „New German Pidgin“ bezeichnete ethnolektale Varietät. Deutlich wird an dem breiten Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, das den Mitgliedern der Migranten-Community zur Verfügung steht, dass Bilingualität als eine Ressource und nicht als Defizit zu betrachten ist. 4. Lernkontexte und Programme zur Förderung des Zweit- und Fremdsprachenerwerbs Allgemein wird davon ausgegangen, dass in dem ungesteuerten, natürlichen Lernkontext, in dem sich z. B. ein Migrant am Arbeitsplatz im Zielsprachenland befindet, das informelle Lernen stattfindet und im unterrichtlich-gesteuerten Lernkontext das formelle. Das heißt: In der ungesteuerten Umgebung ergibt sich das Lernen aus der direkten Teilnahme und Beobachtung ohne explizite Regelformulierung. Der Spracherwerb erfolgt vor allem auf Grund der sozialen Bedeutung des Gelernten. Charakteristisch für das formelle Lernen ist hingegen die bewusste Aufmerksamkeit auf Regeln und Strukturen. Hier steht der Lerngegenstand im Vordergrund (Ellis 1994). Häufig sind Lerner beiden Lernkontexten ausgesetzt. Spolsky (1989) betont, dass die Möglichkeit zu Interaktionen mit dem Fokus auf der Bedeutung beim informellen Lernen im natürlichen Lernkontext bedeute, dass die Lernenden den idealen Input für ihren Erwerb erhalten Ϫ ein Input, der ihrem Sprachstand entsprechend modifiziert werde. Dass der Zugang zu Input bzw. zu ergiebigen Interaktionen mit Muttersprachlern auch in zielsprachlicher Umgebung nicht selbstverständlich ist, hat jedoch die oben beschriebene Studie von Norton (2000) gezeigt. Im informellen Kontext erreichen die Lerner tendenziell eine höhere mündliche Kompetenz (Fathmann 1978) Ϫ diese stagniert aber u. U. weit von einer muttersprachlichen Kompetenz entfernt. (z. B. Schmidt 1983; Meisel 1983). Lerner in formellen Lernkontexten konzentrieren sich dagegen eher auf Grammatikalität (Fathmann 1978). Gass (1987) stellte jedoch in ihrer Studie fest, dass Zweitsprachenlernende bei der Beherrschung komplexer Regeln im Vergleich zu Fremdsprachenlernenden im Vorteil waren. In Programmen zur Förderung des Zweitsprachenerwerbs und zur sprachlichen Eingliederung werden die sozialen Lernbedingungen gezielt beeinflusst. Sie unterscheiden sich u. a. darin, welcher Stellenwert der Erstsprache eingeräumt wird. Man unterscheidet IX. Sprachenlernen: spezifische Variablen und Faktoren890 zwischen Programmen, die den Erhalt der Erstsprache (additiver Bilingualismus) anstreben und Programmen, die in Kauf nehmen, dass die Erstsprache des Lerners durch die Zweitsprache ersetzt wird (subtraktiver Bilingualismus). Ist die L2 Medium des Unterrichts in einem Umfeld, in dem die L2 dominiert; spricht man von Submersion, wie sie in vielen Einwandererstaaten üblich ist. Die Kinder werden gemeinsam mit den Kindern der einheimischen Mehrheit unterrichtet. Probleme ergeben sich u. a. daraus, dass dann der Input nicht dem Sprachstand der Lerner angepasst und für sie oft nicht oder nur schwer verständlich ist (Cohen und Swain 1979; Cummins 1988). In sog. transitorischen Programmen in findet der Unterricht, zumindest für eine bestimmte Zeit, getrennt von der einheimischen Mehrheit statt, etwa wenn Immigranten in speziellen Schulen die Zielsprache erlernen. In Form von kurzen Programmen für Flüchtlinge kann dies den Lernern helfen, sich sozial, emotional und sprachlich an die Anforderungen der fremden Gesellschaft anzupassen (Ellis 1994). Ein weiteres Programm ist das der Immersion, bei dem die Zweit-/Fremdsprache Medium des Unterrichts in einem Umfeld mit dominierender L1 oder mit koexistierenden L1 und L2 ist. Der Begriff Immersion wurde zuerst im Zusammenhang von kanadischen Programmen benutzt, in denen Schüler, Angehörige der englischsprachigen Mehrheit, in der Muttersprache der französischen Minderheit als Unterrichtssprache unterrichtet wurden. Es wird als eindeutiger Erfolg bewertet (Schinke-Llano 1990; Swain und Lapkin 1982), da es zu einem hohen Niveau der Beherrschung der Zielsprache Französisch führt, besonders hinsichtlich der Diskurs- und der Strategienkompetenz. Als Gründe für diesen Erfolg werden genannt, dass die Lernenden reichlich einem verständlichen Input ausgesetzt sind, aber auch ihre Muttersprache weiter entwickeln können (Swain und Lapkin 1982). In Programmen zur Bewahrung der Muttersprache in einer Umgebung mit dominierender L2 wird versucht, Bilingualität zu erreichen, indem die Muttersprache der Lernenden durch speziellen Unterricht gefördert wird, so dass sie weitestgehend erhalten bleibt. Gleichzeitig zur Entwicklung der Muttersprache wird ein hoher Grad an Beherrschung der Zielsprache erreicht (s. Swain und Cummins 1979; Cummins 2000). Die sog. timeon-task-Hypothese wurde widerlegt (Cummins 1988, 2000). Diese Hypothese besagt, dass der Lernerfolg in der L2 umso größer sei, je mehr Zeit mit ihr verbracht werde. Der Interdependence- Hypothese von Cummins (1988) zufolge entwickelt das Kind eine allgemeine schriftsprachliche und theoretische Kompetenz, die beiden Sprachen zugrundeliegt und zwischen den Sprachen transferiert werden kann. Diese Kompetenz könne leichter in der L1 erworben werden, anschließend werde sie auf die Zweitsprache übertragen. Insgesamt beeinflusst der Unterricht zur Bewahrung der L1 auch den L2-Erwerb positiv. Skutnab Kangas (1988) begründet dies damit, dass Kinder eine hohe Motivation und Selbstvertrauen zum Erwerb der Zweitsprache entwickeln, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, dass ihre Muttersprache geschätzt wird. Allgemein hängt der Erfolg der Programme vom soziokulturellen Kontext und der Unterstützung der Erstsprache durch das Umfeld ab. Es liegen Ergebnisse aus Studien speziell zur sprachlichen Entwicklung von in Deutschland geborenen Kindern mit Migrationshintergrund vor. Brizic´ (2006) fand in ihren Untersuchungen, dass ausgerechnet jene Kinder Deutsch am besten beherrschen, deren Eltern zu Hause ihre eigenen Sprachen sprechen und diese an die Kinder weitergeben. Ein geringes Prestige der eigenen Sprache im Herkunftsland (wie z. B. Minderheiten- 98. Lernerexterne Faktoren 891 sprachen oder Dialekte in der Türkei) führt zu einem Sprachenwechsel in Deutschland: Die Eltern sprechen mit ihren Kindern in der weniger gut beherrschten Zweitsprache Deutsch, dadurch fehlt ihnen eine Grundlage zur Entwicklung ihrer allgemeinen Sprachkompetenz. Auch die Bildungs- und Sprachpolitik im Herkunftsland kann demnach als ein entscheidender Faktor für die Entwicklung der L2-Kompetenz angesehen werden. Die IGLU-Studie, eine international vergleichenden Untersuchung am Ende des 4. Schuljahr (Bos et al. 2003), z. B. zeigte, dass der Besuch des Kindergartens oder einer Vorschule von mindestens zwei Jahren das Sprachniveau beträchtlich erhöht. Es fehlen jedoch Untersuchungen zur Auswirkung des Herkunftssprachenunterrichts auf die Kompetenz im Deutschen (Esser 2006: 30). Eine Untersuchung schriftlicher Nacherzählungen von Hauptschülern (Knapp 1997) ergab, dass Schüler, die vor ihrer Einwanderung noch die Schule im Herkunftsland besucht haben, hinsichtlich Textkohärenz und Textform bessere Werte erzielten als diejenigen, die die deutsche Schule von Anfang besucht hatten. Tendenziell schneiden Zuwanderer in ihren fachlichen Leistungen besser ab als in Deutschland geborene Schüler mit Migrationshintergrund: Daraus lässt sich schließen, dass deren Möglichkeiten, Deutsch als Schul- und Bildungssprache zu erlernen, unzureichend sind (Reich 2007: 41). 5. Literatur in Auswahl Berend, Nina 1998 Sprachliche Anpassung. Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen. 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