Das Heiligtum der Evolution[1] Die Ölpest vor den Galapagos-Inseln bedroht eine mythische Stätte des modernen Weltbildes. Wer mit einem klapprigen Laster voll Nitroglyzerin am Petersdom vorbeifährt, kriegt Ärger. Wer mit einem Atom-U-Boot die Seine hinauf bis nach Paris und zur Notre Dame schippert, bekommt Probleme. Doch einem geografisch unbeleckten Kapitän ist es erlaubt, mit einem altersschwachen Öltanker an den Galapagos-Inseln entlangzutuckern — obwohl auch er ein Heiligtum bedroht. Es war Charles Darwin, der die Galapagos-Inseln im Jahre 1835 zu Tempeln machte. Die wie alle Stiftungslegenden aus Fakten und Fiktionen zusammengemischte Erzählung von der Geburt der Evolutionstheorie im Pazifik berichtet, dass Darwin dort jene Finken entdeckte, die ihm, wie der fallende Apfel dem Newton und der Engel dem Abraham bei der Opferung Isaaks, ein Aha-Erlebnis bescherten. Darwin fand heraus, dass die in Körpergröße, Schnabel- und Kopfform unterschiedlichen Vögel eng miteinander verwandt sind und von einer einzigen Art abstammen. Woher dann aber die Unterschiede? Einst, so vermutete Darwin, könnten Finken einer „ursprünglichen“ Art infolge eines Sturms auf die Inseln verschlagen worden sein. Dort, isoliert, ohne Raubfeinde und Futterkonkurrenten, passten sie sich den ökologischen Gegebenheiten an. Die einen spezialisierten sich auf harte Kerne und legten sich einen kräftigen Schnabel zu. Andere fraßen mit schlanken Fresswerkzeugen Insekten. Dritten wuchsen Krallen, mit denen sie sich im Gefieder großer Seevögel festhielten, deren Blut sie mit scharfen Schnäbeln tranken. Es musste wohl so kommen, dass ausgerechnet diese Weihestätte des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch die von diesem entfesselte Technologie, einen Öltanker, womöglich zerstört wird. Mit den Galapagos-Inseln vollzöge sich dann eine ikonografische Verwandlung: Sie würden, wie Kreuzigungsszenen und Bilder von der Vertreibung aus dem Paradies, zu Andachtsbildern unserer Zerknirschung: Ecce insulae! Seht die kleinen Eilande im Ozean, Garten Eden, unser Band zum Unendlichen — vernichtet durch unsere Schuld! Ostern nicht inbegriffen. Wer es sich und den Inseln ersparen will, dass sie zu Passionsaltären eines depressiven Christentums werden, darf sich durchaus auf religiöse Motive stützen — indem er sie wie Heiligtümer behandelt. Wie gesagt, man stelle sich vor, Ähnliches geschähe mit dem Petersdom. Ein Sturm heiliger Empörung liefe um die Welt — und jeder könnte das verstehen, schließlich ginge es um religiöse Gefühle. Wenn aber Umweltschützer gegen die Zerstörung der Galapagos-Inseln protestieren, wird von Hysterie und Naturkult geredet — als dürften naturwissenschaftlich geprägte Religionskritiker keine mythischen Stätten und spirituellen Gefühle haben. Warum denn nicht? Wissenschaft ohne Erregung gibt es doch gar nicht. Was, wenn jene Erregung der einzige Antrieb wäre, der stark genug ist, um die Menschheit von der Zerstörung ihrer Schätze abzuhalten? ________________________________ [1] Matthias Kramann (Die Welt, 24.1. 2001)