V. Variation und Sprachkontakt372 Wiesinger, Peter 1990b Standardsprache und Mundarten in Österreich. In: Stickel, Gerhard (Hg.), Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven, 218Ϫ232. Berlin/New York: de Gruyter. Wiesinger, Peter 1990c Österreich als Sprachgrenz- und Sprachkontaktraum. In: Kremer, Ludger und Hermann Niebaum, Grenzdialekte. Studien zur Entwicklung kontinentalwestgermanischer Dialektkontinua, 501Ϫ542. Hildesheim: Olms. Wiesinger, Peter 1997 „Deutsch als Fremdsprache“ aus österreichischer Sicht. In: Kurt Bartsch et al. (Hg.), Österreichische Germanistik im Ausland Ϫ Ideal und Wirklichkeit, 47Ϫ56. Wien: Praesens. Wiesinger, Peter 2008 Das österreichische Deutsch in Gegenwart und Geschichte. 2. durchges. und erweit. Aufl. Wien/Berlin: LIT. Wiesinger, Peter 2009 Die Standardaussprache in Österreich. In: Krech, Eva Maria et al. (Hg.), Deutsches Aussprachewörterbuch, 229Ϫ258. Berlin/New York: de Gruyter. Wolf, Norbert Richard 1994 Österreichisches zum österreichischen Deutsch. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 61: 66Ϫ76. Peter Wiesinger, Wien (Österreich) 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 1. Einleitung 2. Allgemeine Charakteristika der Situation 3. Hochdeutsch in seiner Schweizer Form 4. Mundarten und Hochdeutsch im Spannungsverhältnis 5. Literatur in Auswahl 1. Einleitung Die Schweiz ist ein mehrsprachiger Staat, dessen Sprachenvielfalt durch die Verfassung geregelt ist: Art. 18 der schweizerischen Bundesverfassung gewährleistet die Sprachenfreiheit und Art. 70 hält im 1. Abschnitt fest: „Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.“ (BV 1999: Art. 70.1) Im 3. Abschnitt von Art. 70 wird der Auftrag zur Förderung der Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften formuliert: „Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.“ (BV 1999: Art. 70.3). 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 373 Die Verteilung der Einwohner der Schweiz auf die verschiedenen Hauptsprachen blieb Ϫ zumindest in den letzten Jahrzehnten Ϫ relativ stabil, wie Tabelle 1 aufgrund der Volkszählungen von 1990 und 2000 zeigt: Tab. 36.1: Verteilung der schweizerischen Bevölkerung auf Hauptsprachen (nach: Lüdi und Werlen 2005: 7) Hauptsprache Anteile 1990 Anteile 2000 absolut 2000 Deutsch 63,6 % 63,7 % 4.640.359 Französisch 19,2 % 20,4 % 1.485.056 Italienisch 7,6 % 6,5 % 470.961 Rätoromanisch 0,6 % 0,5 % 35.095 Nichtlandessprachen 8,9 % 9,0 % 656.539 Betrug der Anteil von Nichtlandessprachsprechenden 1950 lediglich 0,7 %, ist er bis 2000 auf 9,0 % gewachsen. Die Schweiz ist von einem viersprachigen zu einem vielsprachigen Land geworden. In der deutschen Schweiz wird deutsch gesprochen und geschrieben; wer jedoch die Deutschschweiz von Besuchen her kennt, weiss, dass längst nicht alles, was gesprochen wird, für deutsche Ohren verständlich klingt Ϫ und auch beim Lesen fallen Eigenheiten auf. Trotzdem ist Deutsch, wie es in der Schweiz geschrieben wird, für den gesamten deutschsprachigen Raum verständlich. Das belegt nicht zuletzt die reiche Literatur aus der Deutschschweiz (vgl. dazu die „Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert“ (1991), wo die literarische Situation mit einem „Blick aus der Fremde“ (S. 9) umfassend dargestellt wird.). Die Deutschschweiz gehört zum deutschsprachigen Kulturraum und hält neben wirtschaftlichen auch enge kulturelle Kontakte zu den anderen deutschsprachigen Ländern, zumal zu Deutschland. Trotzdem unterscheidet sich die Sprachsituation markant von derjenigen der anderen deutschsprachigen Gebiete: „Wir sind zweisprachig innerhalb der eigenen Sprache“ formuliert ebenso kurz wie treffend der Deutschschweizer Schriftsteller Hugo Loetscher (Loetscher 1986: 28). Diese Situation der inneren Zweisprachigkeit zeigt neben allgemeinen Charakteristika (vgl. Abschnitt 2) auch spezifische Merkmale (Abschnitt 3) und Spannungsfelder, denen sich die Deutschschweizer Sprachgemeinschaft gegenüber sieht (Abschnitt 4). 2. Allgemeine Charakteristika der Situation Auffälligstes Merkmal der Deutschschweizer Sprachsituation ist die ständige Präsenz zweier Varietäten der deutschen Sprache: das Schweizerhochdeutsch als Standardsprache und die Deutschschweizer Dialekte oder Mundarten. Letztere werden oft als Schweizerdeutsch oder Schwyzerdütsch (,Schwyzertü[ü]tsch‘) bezeichnet Ϫ ein Sammelname für eine Vielfalt von unterschiedlich kleinräumigen regionalen Sprachvarietäten der Deutschschweiz, die im mündlichen Verkehr Verwendung finden. Das Nebeneinander von Mundarten und Standardsprache ist im Wortsinn zu verstehen: Auf der einen Seite stehen Mundarten Ϫ nicht eine Mundart, auch wenn die jüngere sprachgeschichtliche Entwicklung in der Deutschschweiz markante lokale Unterschiede eingeebnet hat und eine starke Tendenz zur Entwicklung von grossräumigeren Mundarten zu erkennen ist; auf der anderen Seite steht die Standardsprache. Der Deutschschwei- V. Variation und Sprachkontakt374 zer spricht Mundart oder Standardsprache, und jeder Deutschschweizer kann unterscheiden, ob sein Gesprächspartner gerade Mundart oder Standardsprache spricht. Deutschschweizer müssen die Sprachform wechseln, switchen: Man kann nicht mehr oder weniger Standardsprache sprechen, auch wenn durchaus Unterschiede im code-switching und code-shifting auszumachen sind (Werlen 1988: 93Ϫ123; Häcki-Buhofer 2000), ist zumindest von der Einschätzung der Sprecher her ein Bruch zwischen den Sprachformen festzustellen, nicht ein Kontinuum wie in anderen ober- oder mitteldeutschen Sprachregionen. Das hängt sprachgeschichtlich damit zusammen, dass die Deutschschweiz an der Herausbildung der nhd. Standardsprache nicht massgeblich beteiligt war; es dürfte aber ebenso Ϫ wie Haas (1994: 216Ϫ217, 2004: 100Ϫ104) nachzeichnet Ϫ mit dem in der Schweiz spezifischen Verhältnis von gesprochener Sprache und Schriftsprache zusam- menhängen. Was die Verteilung der beiden Formen Mundarten und Standardsprache betrifft, so ist Ϫ in groben Zügen Ϫ herauszustellen (für Details vgl. Haas 2000: 81Ϫ88; Bickel und Schläpfer 1994: 281Ϫ296; Sieber und Sitta 1984: 10Ϫ13; Werlen 1988, 1998, 2004): a) In der Deutschschweiz schreibt man Ϫ prinzipiell Ϫ Standardsprache, und man spricht Ϫ ebenso prinzipiell Ϫ die Mundarten. Die unterschiedliche Verwendung von Varianten im mündlichen und schriftlichen Bereich ist denn auch ein Hauptmerkmal der Deutschschweizer Sprachsituation, zu deren Kennzeichnung sich zunächst der Terminus mediale Diglossie etabliert hat. In der neueren Diskussion wird das Verhältnis im Spannungsfeld von „asymmetrischer Zweisprachigkeit“ (Werlen 1998) und „ausgebauter Diglossie“ (Haas 2004: 101Ϫ104) kontrovers diskutiert. Einbrüche bei dieser Verteilung gibt es aber auf beiden Seiten: Grundsätzlich wird zwar Hochdeutsch geschrieben, es gibt aber auch dialektales Schreiben (Christen 2004) Ϫ zumal im privaten Bereich, in emotionalisierten Rubriken der Presse (z. B. Werbung, Gratulation, Kontaktanzeigen) und in den elektronischen Medien, ganz abgesehen von Mundartliteratur, die seit alters in der Deutschschweiz eine nicht nur folkloristische Rolle spielt. b) Die Mundarten sind Ϫ unter Deutschschweizern, teilweise sogar gegenüber Ausländern in Erstkontakten Ϫ die unstrittig normale mündliche Sprachform der informellen Situation Ϫ die deutschschweizerische Umgangssprache. Im Gegensatz zu allen anderen deutschsprachigen Gebieten hat sich in der Deutschschweiz zwischen den Mundarten und der Standardsprache keine Umgangssprache entwickelt. Die Mundarten sind tauglich genug, die Funktionen einer Umgangssprache zu übernehmen, und Ausgleichstendenzen zwischen den einzelnen Mundarten unterstützen dies Ϫ ohne allerdings in Richtung eines einheitlichen Schweizerdeutsch zu tendieren (Christen 1998: 239Ϫ253). Die dialektalen Grossräume in der Deutschschweiz (v. a. Bern, Basel, Luzern, Zürich, Ostschweiz, Graubünden, Wallis) zeigen somit ein weit zäheres Leben, als Prognosen ihnen zubilligen wollten. Jeder Deutschschweizer spricht mit anderen Deutschschweizern Mundart Ϫ und die sprachliche Verständigung ist dabei gewährleistet. Die Standardsprache ist formellen Situationen und den Kontakten mit Anderssprachigen vorbehalten. c) In unterschiedlicher Weise haben sich für die Wahl der Sprachform in Institutionen typische Traditionen gebildet, die zu institutionenspezifischem Sprachgebrauch geführt haben, welcher seinerseits wiederum weitgehend dadurch bestimmt ist, wie formell bzw. informell das Verhältnis innerhalb der Institution von den Beteiligten gesehen 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 375 wird; er wird freilich auch durch situative und mediale Faktoren bestimmt. Alle drei Faktoren lassen sich in den Diskussionen um Mundartgebrauch in Schule, Medien und Kirche nachweisen (vgl. zur Schule zusammenfassend: Sieber und Sitta 1986, 3 1994; Dürscheid und Businger 2006: 211Ϫ280; Neugebauer und Bachmann 2007, zu den Medien: Ramseyer 1988, zur Kirche: Rüegger, Schläpfer und Stolz 1996). Entgegen der Meinung vieler spielt der Gegenstand, über den gesprochen wird, keine Rolle. Grundsätzlich lässt sich über jeden Gegenstand in beiden Sprachformen sprechen. Unter diesen Voraussetzungen Ϫ der Möglichkeit einer Wahl, zumindest im mündlichen Bereich Ϫ stellen sich der Verwendung der Standardsprache in spezieller Weise Probleme. Hier sind denn auch in der Deutschschweizer Situation Spannungsfelder auszumachen, die nicht allein in der Schule zu Problemen führen. 3. Hochdeutsch in seiner Schweizer Form Bundesdeutschen fällt auf, dass Unterschiede bestehen zwischen der Standardsprache Deutschlands (und Österreichs) und der in der Schweiz verwendeten Variante der Standardsprache, dem Schweizerhochdeutsch. Die Unterschiede machen zwar das Verständnis nicht unmöglich, sie können es aber doch erschweren. Schweizerhochdeutsch wird von Meyer (1989: 14) definiert als eine Variante der deutschen Standardsprache mit lautlichen, orthographischen, grammatikalischen und Wortschatz-Eigenheiten, die entweder nur in der Schweiz (in der ganzen oder in grossen Teilen) oder darüber hinaus in Teilen des übrigen Sprachgebietes (vor allem in Süddeutschland und Österreich) gelten, aber nicht der (binnendeutschen) Einheitsnorm entsprechen. Mit Ammon (1995: 246Ϫ282) ist eine erste differenzierte linguistische Auseinandersetzung mit schweizerischen Formen des Hochdeutschen greifbar, die den Versuch unternimmt, Materialien für das Desiderat eines Deutschschweizer Kodex aus der einschlägigen Literatur zusammenzustellen. Dazu gehören nebst Meyer (1989, 2006) und Kaiser (1969/1970) der Rechtschreibduden (Duden, Band 1, 2006), Schweizer Schüler Duden (1998), Siebs (1969), Boesch (1957), Burri et al. (1995). Diese Arbeiten sind mit der Herausgabe eines Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon et al. 2004) substanziell ergänzt worden. Ebenso trägt die Neufassung der Wegleitung für das Sprechen am Deutschschweizer Radio (bisher: Burri et al. 1995) zur Aufwertung der schweizerischen Variante des Hochdeutschen bei: Geiger et al. (2006). Mit seiner Forderung, sich mit „der Plurinationalität des Deutschen wissenschaftlich gründlicher zu befassen“ hat Ammon (1995: V) nicht nur der Diskussion um den Status des Schweizerhochdeutschen neue Impulse gegeben, sondern mit seiner Arbeit auch das Spannungsfeld der nationalen Zentren des Deutschen deutlich ins Bewusstsein gehoben. Dies war und ist gerade für die Schweiz von besonderer Bedeutung, ist doch hier das Prestige und der Stellenwert der nationalen Varietät Schweizerhochdeutsch aufgrund der starken Stellung der Dialekte keineswegs gesichert, im Gegenteil: Gerade bei der Wahl von Wörtern wird bei vielen Deutschschweizern eine Vermeidungsstrategie sichtbar, die den Texten manchmal genau jenes Kolorit raubt, das sie lebendig machen würde. V. Variation und Sprachkontakt376 3.1. Besonderheiten im Lexikon Wichtigstes Kennzeichen der nationalen Varietät Schweizerhochdeutsch ist das Vorhandensein von spezifischem Wortgut in der Standardsprache der Deutschschweiz. Diese Helvetismen (ϭ „sprachliche Erscheinungen, die nur in standardsprachlichen Texten schweizerischer Herkunft verwendet werden, in unserer Standardsprache aber durchaus üblich sind“ (Haas 2000: 99)) sind zwar im Gegensatz zu Österreichs Austriazismen nicht gesamthaft offiziell kodifiziert, aber schon seit der 10. Auflage des Rechtschreibdudens (1929) werden spezifisch schweizerische Wörter anerkannt und mit ,schweiz.[erisch]‘ ausgezeichnet. Eine umfangreiche Ϫ wenn auch nicht unumstrittene Ϫ Sammlung wurde von Kaiser (1969/70) vorgelegt und mit Meyer (1989, 2006) stehen leicht zugängliche Zusammenstellungen der schweizerischen Besonderheiten zur Verfügung. Ammon et al. (2004) stellen erstmals die verschiedenen Varietäten der deutschen Standardsprache umfassend dar. Haas (2000: 99Ϫ103) hat die Helvetismen systematisch differenziert und an konstruierten Textbeispielen erläutert. Haas unterscheidet: Ϫ lexikalische Helvetismen: ausschliesslich in der Schweiz gebräuchliches Wortgut, z. B. Falle (Klinke), parkieren (parken), Traktandenliste (Tagesordnung), Estrich (Dachboden), tischen Ϫ abtischen (den Tisch decken Ϫ abräumen) Ϫ semantische Helvetismen: in der Schweiz spezifische Bedeutung eines im gesamten deutschsprachigen Raum gebräuchlichen Wortes, z. B. Busse (Bußgeld), Vortritt (Vorfahrt), das Licht anzünden (einschalten, anknipsen) Ϫ hergestellte Helvetismen: Wörter, die von zentralen Instanzen ausdrücklich für diesen Staat geschaffen und oft auch als verbindlich erklärt werden: Identitätskarte (Personalausweis), Fahrausweis (Führerausweis), Nationalrat, Ständerat, Bundesrat. Ϫ Frequenzhelvetismen: In schweizerischen Texten gehäuft anzutreffende Wörter und Wendungen, die ausserhalb der Schweiz wenig gebräuchlich sind: im nachhinein, selber, allfällig, angriffig. Der Umgang mit Helvetismen lässt auf unterschiedliche Haltungen schliessen. Einerseits sind viele Helvetismen den Deutschschweizern kaum bewusst, sie werden erst bei intensiveren Kontakten mit Bundesdeutschen offenbar. Andererseits werden sie oftmals gegenüber deutschländischen Varianten als schlechter beurteilt (vgl. Scharloth 2006: 86Ϫ93). Die aktuelle Orientierungshilfe für Sprechen am Mikrofon bei Schweizer Radio DRS (Geiger et al. 2006) listet beispielhaft aus dem Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) deutschschweizerische Besonderheiten auf: Von der Altwohnung über Bernbiet, Cupfinal, drinliegen, das E-Mail, flattieren, eine gefreute Sache, heimatberechtigt, IV-Rente, a` jour, der Kittel, das Leichenmahl, Märzenflecken, Nastuch, Orangina, Pausenplatz, quirlen, rekurrieren, serbeln, das Trottoir, der Unterschriftenbogen, vollamtlich, werweissen bis Zapfenzieher sind Deutschschweizer Besonderheiten aufgeführt, die im öffentlichen Sprachgebrauch als angemessenes und korrektes Deutsch gelten. (Geiger u. a. 2006: 30). 3.2. Varianten in der Aussprache Standardsprache war in der Deutschschweiz bis weit ins 20. Jahrhundert vorwiegend in ihrer geschriebenen Form präsent, sie war als gesprochene Sprache weitgehend auf offizielle Kontexte (der Schule, der Öffentlichkeit, der Kirche) beschränkt. Dies hat sich mit 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 377 den audiovisuellen Medien grundsätzlich verändert. Hove (2002: 177) hält fest: „Obwohl die deutsche Standardsprache in der Schweiz viel weniger häufig gesprochen wird als die Mundart, hat sie in der Diglossiesituation ihren festen Platz.“ So sprechen denn heute viele Schweizerinnen und Schweizer Ϫ unter Beibehaltung einer regionalen schweizerischen Färbung (Siebenhaar 1994: 31Ϫ65) ein Hochdeutsch, das kaum mehr deutliche Mundartmerkmale erkennen lässt und von Hove (2002: 177) als „Aussprachekonvention“ bezeichnet wird. Hove (2002: 171Ϫ172) wirbt denn auch für eine schweizerische Aussprachenorm, zu der sie wichtige Elemente präsentiert, die mit der Standardaussprache in der deutschen Schweiz (Hove und Haas 2009) in das Deutsche Aussprachewörterbuch (Von Krech et al. 2009) aufgenommen sind. Schweizerhochdeutsch hat bereits in der 19. Auflage des Siebs (1969) seinen berechtigten Platz erhalten, was für die innerschweizerische Diskussion um die Aussprache des Deutschen in der Schweiz wichtig war: Durch die Differenzierung von ,reiner‘ und ,gemässigter‘ Hochlautung sind österreichische und schweizerische „Sonderheiten“ (Siebs 1969: 8) in der Hochlautung akzeptiert worden. Boesch (1957) hat mit Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung erstmals eine systematische Sammlung vorgelegt (vgl. zu Hintergründen und Wirkung: Ammon 1995: 242). Darin nennt er als Gründe für eine eigenständige schweizerische Aussprache u. a. Folgendes: Unser alemannisch gefärbtes Hochdeutsch ist […] ein Deutsch in deutschsprechendem Munde und legt den legitimen Anspruch einer Landschaft fest, die Gemeinsprache in einer ihr angepassten Form zu lauten, einer Form, die dem Sprechenden erlaubt, die Hochsprache nicht als eine fremde Sprache, sondern als die seine zu erkennen und sich in ihr wohl zu fühlen. Von ihm darf nicht verlangt werden, dass er seinen ganzen Sprechapparat vom Gewohnten auf das Ungewohnte so vollständig umstelle, wie eine Fremdsprache dies verlangt. Sind die Anforderungen einer deutschen Hochsprache, wegen der Vielfalt festverwurzelter Dialekte, in dieser Hinsicht grösser, so kann sie eben nicht denselben Anspruch auf festgeregelte Einheitlichkeit machen wie das Französische oder das Englische. Wir haben keine Akademie wie Paris und keine für das Sprechen so massgebliche Stelle wie das britische Radio. (Boesch 1957: 14). Wie beim Lexikon sind also viele Varianten in der Aussprache des Deutschen in der Schweiz gängige Formen. Dass sie aber im hiesigen Sprachbewusstsein oftmals als minderwertig erscheinen, hat mit Vorstellungen von reinem Deutsch zu tun, die auch in der Schweiz auf eine lange sprachideologische Tradition zurückzuführen sind. Die 1995 vom schweizerischen Radio DRS herausgegebene Schrift Deutsch sprechen am Radio (Burri et al. 1995) war lange Zeit die wichtigste Referenz für die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Mit dem Grundlagenwerk von Hove (2002), der Überarbeitung von Burri et al. (1995) durch Geiger et al. (2006) sowie Hove und Haas (2009) sind aktuelle Referenzwerke greifbar, denen jedoch kein offizieller Status zu- kommt. Als Besonderheiten der Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz sind herauszu- stellen: a) Betonungen Häufig sind die Wörter im Schweizerhochdeutsch erstbetont, wo in Deutschland Zweit- oder Drittsilbenbetonung vorliegt (z. B. ‘Abteilung, ‘ausführlich, ‘eigentümlich, unvergesslich, ‘vorzüglich). V. Variation und Sprachkontakt378 Viele Abkürzungen tragen den Betonungsschwerpunkt auf der ersten und nicht auf der letzten Silbe wie in Deutschland (z. B. ‘SBB, ‘NZZ, ‘FDP). b) Vokale Ϫ Die Vokale werden teilweise anders ausgesprochen (z. B. lang in: brachte, Rache, Nachbar, Viertel, Vorteil; kurz in: Städte, düster, Jagd, Krebs, Obst). Ϫ Die Endsilben -el, -em, -en, -er werden meist gesprochen (z. B. Brezel, Atem, machen, Macher). Ϫ y wird in eingebürgerten Wörtern als i anstelle von ü gesprochen (z. B. Analyst, Gymnasiast, Pyramide, System, Zylinder). Ϫ ie, ue/uo, üe/üo v. a. in Orts- und Eigennamen werden als Diphthonge ausgesprochen. (Bekannt ist die deutsche Aussprache von grüezi oder Müesli, die im Tourismusland Schweiz als grüzi und Müüsli beinahe zum bundesdeutschen Schibboleth geworden ist.) c) Konsonanten Ϫ b, d, g und s werden stimmlos gesprochen. Ϫ Auslautverhärtung wird kaum durchgeführt (so unterscheiden sich Rad und Rat in der Aussprache). Ϫ ch im Anlaut wird häufig als [x] gesprochen (Chemie, China, Chaos, Choral). Ϫ g in der Endsilbe -ig wird auch in Endstellung als -ig ausgesprochen und nicht als -ich (König, sonnig, wenig, zwanzig, genehmigt). Ϫ r wird niemals vokalisiert im Auslaut (Tier, nicht: Tia; Wette(r), nicht Wetta). Ϫ Die Aussprache von v als f bei (eingebürgerten) Fremdwörtern ist viel häufiger (z. B. Advent, Advokat, Evangelium, Klavier, nervös, November, Revier, violett, Vulkan). 3.3. Graphie, Syntax und Morphologie In der Schweiz gelten die Rechtschreibnormen des Duden, diese Rechtsgrundlage ist auch mit der Neuregelung der Rechtschreibung durch einen Beschluss der Kultusbehörden (EDK) erneuert worden. Schweizer gehörten zu den ersten Anhängern Konrad Dudens. Bereits 1892 wurden seine Rechtschreibregeln in der schweizerischen Bundeskanzlei eingeführt, lange vor Bayern und Preussen (Haas 2000: 106). Eine einzige nennenswerte Abweichung gilt allerdings in der Schweiz: anstelle von ß wird ss geschrieben. Eine Menge von kleinen Unterschieden liesse sich auch in Syntax, Wortbildung und Morphologie anführen. In nicht weniger als 156 Paragraphen listet Meyer (2006: 25Ϫ52) entsprechende Unterschiede auf. Aktuelle Bemühungen (Dürscheid und Businger 2006) untersuchen diese Unterschiede unter der Perspektive der Plurizentrizität des Deutschen mit dem Ziel einer „Grammatik zum Schweizer Standarddeutsch“ (Dürscheid und Hefti 2006: 159). Wir haben einmal folgendes herausgestellt: Syntax: Für Deutsche ungewöhnlich tönt Nebensatzeinleitung durch ansonst, wie es etwa am Anfang von M. Frischs ,Stiller‘ zweimal kurz hintereinander vorkommt: ,Ich bin nicht Stiller! Ϫ Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere‘. Übrigens habe ich bereits vor Tagen 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 379 melden lassen, es brauche nicht die allererste Marke sein, immerhin eine trinkbare, ansonst ich eben nüchtern bleibe …‘ […] Wortbildung: Schweizerischem Zugsunglück, Unterbruch oder Wissenschafter korrespondiert deutsches Zugunglück, Unterbrechung, Wissenschaftler. Morphologie: In der Schweiz neigt man stärker zum Gebrauch starker Verbformen als in Deutschland. (Sieber und Sitta 1986: 156Ϫ157). 3.4. Unterschiede im Sprachgebrauch Wichtiger noch als die angeführten Unterschiede im Sprachsystem sind jene im Sprachgebrauch. Im Erleben der Sprachteilhaber werden sie oft als Unterschiede der Sprache oder als Einstellungssignale wahrgenommen. Ohne Anspruch auf Systematik lassen sich einige Beobachtungen dazu zusammentragen (Sieber und Sitta 1984: 23Ϫ24; Löffler 1989: 207Ϫ221; Werlen u. a. 1992: 243 ff.): Ϫ Schweizerdeutsches Sprechen ist generell bedächtiger, langsamer als standarddeutsches. Damit hängt ein Weiteres zusammen: Ϫ Schweizerinnen und Schweizer ertragen im Gespräch längere Pausen als Deutsche. Im Bestreben, die für sie oft unerträglich lange Dauer des Schweigens zu beenden, sprechen Deutsche eher Ϫ und wirken damit auf Schweizer vorlaut. Ϫ Deutsche markieren einen Sprecherwechsel oft durch Einfall in den Beitrag des Gesprächspartners. Gesprächsbeiträge überlappen sich damit, was für Schweizer als unhöflich gilt. Dies führt zu differenten Diskussionsstilen. Schweizer monologisieren stärker; jeder Gesprächsbeitrag wird zu einer kleinen Selbstdarstellung, die zu unterbrechen unhöflich wäre. So werden Diskussionen eher blockartig. Ϫ Unterschiede in der Intonation (Ammon 1995: 258) können zu falschen Deutungen führen, indem Intonationsstrukturen, die sich auf die Satzperspektive oder auf die logisch-grammatische Struktur des Satzes beziehen, als einstellungsmässige Signale der Sprecher missdeutet werden, z. B.: Die norddeutsche Ϫ fallende Ϫ Frageintonation wirkt auf Schweizer schnoddrig; die für Norddeutsche singende Intonation der Schweizer wirkt auf sie seltsam, manchmal unfein. Ϫ Dem Schweizer fehlen im Hochdeutschen oftmals die redeleitenden Partikel. Das Hochdeutsche bleibt für viele v. a. Schreib- und Lesesprache. Das Reden wirkt dadurch farbloser, mitunter ist auch Mimik und Gestik eingeschränkter als in mundartlichem Reden. Ϫ Schliesslich scheint auch schweizerisches Diskussions- und Konfliktverhalten anders als deutsches zu sein. Deutsche diskutieren und kritisieren härter, greifen schonungsloser an, wo Schweizer etwa durch Schweigen oder Nicht-Eingehen ihr Missfallen zu erkennen geben. Werlen u. a. (1992: 16) kommen aufgrund einer Untersuchung der Kommunikationskultur in einem Berner Stadtquartier zum Schluss, dass „global gesehen Deutschschweizer Kommunikationskultur stärker indirekt (ist) als etwa die bundesdeutsche.“ Und in der Wertung der Projektergebnisse charakterisieren sie die globale Deutschschweizer Kommunikationskultur als „eine Kultur der Unzugänglichkeit. Unzugänglich ist jede/r, der/die als nicht der gleichen Gruppe zugehörig betrachtet wird.“ (Werlen et al. 1992: 244). V. Variation und Sprachkontakt380 Dass eine Kommunikationskultur der Unzugänglichkeit in einem mehrsprachigen Land mit einem hohen Anteil an ausländischer Bevölkerung nicht unproblematisch ist, liegt auf der Hand. Hier dürften die öffentlichen Diskussionen um die Sprachenvielfalt in der Schweiz tiefer liegende Kommunikationsprobleme eher verdecken als beheben. 4. Mundarten und Hochdeutsch im Spannungsverhältnis Das bereits geschilderte Spannungsverhältnis zwischen Mundarten und dem Hochdeutschen in der Deutschschweiz war schon in der Vergangenheit nie stabil, es war auch nie spannungslos, und es hat mindestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu Diskussionen Anlass gegeben. Dazu trägt ein ganzes Bündel von Faktoren bei: identitätsstiftende und nationalsymbolische Funktionen der Dialekte, spezifische Verwendungsweisen von mündlichen und schriftlichen Registern, Eigenheiten des multikulturellen und multilingualen Staatsgebildes Schweiz, die Stärke und Ausbaufähigkeit der schweizerdeutschen Dialekte, das nicht in allen Teilen unproblematische Verhältnis der Deutschschweiz zu Deutschland und wohl noch einiges mehr. Ein nicht unwesentlicher Einfluss kommt auch der Schule zu. 4.1. Einstellungsprobleme Hochdeutsch als vermeintliche Fremdsprache Die Deutschschweizer Sprachsituation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass gegenüber Dialekt und Standardsprache oft sehr unterschiedliche Einstellungen vorhanden sind, tendenziell sehr positive gegenüber den Dialekten als Medium der Mündlichkeit, tendenziell negative, zumindest distanzierte gegenüber der mündlichen Standardsprache, sofern sie aktiv gebraucht werden soll. Die Mühen mit dem Hochdeutschen betreffen fast ausschliesslich die Mündlichkeit, als Schreib- und Lesesprache ist Hochdeutsch allseits akzeptiert. Für die Mündlichkeit gilt die uneingeschränkte Akzeptation der Mundarten als Sprache der Deutschschweiz, der Heimat, der Nähe. Das Verhältnis zum Hochdeutschen ist im Ganzen kühler, distanzierter, auch wenn hier zu differenzieren ist. Vieles, was dem Hochdeutschen an Distanziertheit und Abstraktheit nachgesagt wird, betrifft weniger die Sprachform als die medialen Erfahrungen damit: Hochdeutsch erscheint in der Erfahrung vieler Schweizer als Schreib- und Lesesprache Ϫ mit den entsprechenden Konnotationen, die Schriftlichkeit andernorts auch hervorrufen. Mit grosser Regelmässigkeit trifft man Charakterisierungen wie die folgenden: Dialekt sei persönlich, vertraut, locker, frei, einfach, ausdrucksstark, sympathisch und lustig. Hochdeutsch dagegen sei unpersönlich, unvertraut, steif, kompliziert, wenig emotional, gepflegt, gehoben. Diese Opposition deckt sich weitgehend mit jener gegenüber gesprochener und geschriebener Sprache anderswo (Sieber und Sitta 1986: 121Ϫ124). Nicht unbeeinflusst von diesen polarisierenden Einstellungen hat sich vielerorts Ϫ zumal in schulischen Bereichen Ϫ die Ideologie entwickelt, Hochdeutsch sei die erste Fremdsprache der Deutschschweizer (Hägi und Scharloth 2005). Beim Topos Hochdeutsch als Fremdsprache geraten aber wichtige Tatsachen aus dem Blick: 36. Deutsch in der Schweiz: Standard, regionale und dialektale Variation 381 Ϫ Die reale Zunahme des Mundartgebrauchs hat weit mehr mit Veränderungen im Kommunikationsverhalten zu tun als mit einer Frontstellung gegen das Hochdeut- sche. Ϫ Hochdeutsch ist die nach wie vor unbestrittene und selbstverständliche Schreibsprache in der Deutschschweiz. Sie ist als solche lange etabliert und in ihrer Geltung nicht gefährdet. Ϫ Sogar als Sprechsprache ist Hochdeutsch weniger umstritten als vielfach angenom- men. Die Notwendigkeit, Hochdeutsch sprechen und verstehen zu können, ist aktuell noch unbestrittener (Hägi und Scharloth 2005: 6Ϫ7) als vor Jahrzehnten (Schläpfer u. a. 1991: 211). Dazu dürften Ϫ neben der zunehmenden Mobilität Ϫ auch die bildungspolitischen und schulischen Bemühungen der letzten Jahre mit beigetragen haben. Insgesamt ist die Sprachsituation also keineswegs so brisant, wie sie in der veröffentlichten Meinung oft dargestellt wird. Der überwiegende Teil der Deutschschweizer scheint zufrieden mit den gegenwärtigen Sprachverhältnissen Ϫ oder genauer: Die Sprachverhältnisse bilden kaum ein Thema. 4.2. Gegenwärtige Tendenzen Gegenwärtige Tendenzen laufen Ϫ soweit sie die Mündlichkeit betreffen Ϫ einerseits in Richtung eines verstärkten Mundartgebrauchs und andererseits in Richtung einer Stärkung der deutschschweizerischen Variante des Hochdeutschen. Die Deutschschweiz ist Teil des deutschsprachigen Kulturraums und sie hat Anteil an der deutschen Standardsprache, wie es die Konzeption des Deutschen als plurizentrischer Sprache herausstellt (Ammon et al. 2004; Dürscheid und Businger 2006; Geiger et al. 2006). Als mehrsprachiger Staat hat die Schweiz gleichzeitig Verpflichtungen gegenüber allen Landessprachen Ϫ und den Sprachen der Migration Ϫ wahrzunehmen. Beide Tatbestände unterstützen eine Förderung des Hochdeutschen in der Deutschschweiz. Die spezielle Situation der „ausgebauten Diglossie“ (Haas 2004: 101) wiederum wirkt auch auf eine Wertschätzung der Mundarten, die in der Deutschschweiz den Status von Umgangssprachen besitzen und diesen Status auch beibehalten können. In den letzten Jahren ist eine verstärkte Förderung des Schweizerhochdeutsch festzustellen, damit Ϫ in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Schule Ϫ die schweizerische Form des Hochdeutschen Akzeptanz und Wertschätzung erfährt. Spätestens mit dem Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004) hat sich die Auffassung des Deutschen als plurizentrischer Sprache, die über mehrere Zentren mit ihren gültigen Sprach- und Sprechvarianten verfügt, durchgesetzt. Über den engen Rahmen der sprachwissenschaftlichen Diskussion hinaus ist die Variante des Schweizerhochdeutsch als eigenständige Variante wahrgenommen worden. In der Schule ist der konsequente Hochdeutschgebrauch Ϫ Hochdeutsch als Regel und Mundart als klar deklarierte Ausnahme Ϫ nicht nur in Lehrplänen und Unterrichtshilfen, sondern auch in der Schulwirklichkeit zu einer alltäglichen Aufgabe Ϫ und Herausforderung Ϫ geworden (vgl. Sieber und Sitta 1986, 1994; Dürscheid und Businger 2006: 211Ϫ 280; Neugebauer und Bachmann 2007). Dass es wichtig ist, Hochdeutsch sprechen und verstehen zu können, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Deutsch in der Schweiz ist ein Deutsch in deutschsprechen- V. Variation und Sprachkontakt382 dem Munde, das seine Herkunft nicht zu verleugnen braucht. Es könnte im Gegenteil beredtes Zeugnis der inneren Mehrsprachigkeit sein. Die innere Mehrsprachigkeit spiegelt in gewisser Weise auch die erhöhten Anforderungen an das Sprachvermögen heutiger Menschen. Die Sprachsituation der Deutschschweiz mit ihrer „Zweisprachigkeit in der eigenen Sprache“ (Hugo Loetscher) macht diese Anforderungen deutlich und verweist auf die Notwendigkeit einer verstärkten Förderung der Sprachfähigkeiten. Denn Erfolg in Ausbildung und Beruf hängt nach wie vor stark mit der Fähigkeit des Hochdeutschgebrauchs zusammen. Die Daten der Volkszählung 2000 weisen auf eine mögliche neue Sprachbarriere hin zwischen jenen, die nur Dialekt sprechen und jenen, die Hochdeutsch und Dialekt nutzen. „Nicht der Dialektgebrauch unterscheidet die unterschiedlichen Bildungsstufen, sondern der häufigere oder weniger häufige Hochdeutschgebrauch. Wenn es also eine ,Sprachbarriere‘ in der deutschen Schweiz geben sollte, findet sie sich in diesem Bereich.“ (Werlen 2004: 15). Eine frühe Förderung des Hochdeutschen in Kindergarten und Schule ist also dringend. Sie kann dabei auch einen Beitrag leisten zum Aufbau einer eigenständigen und selbstbewussten Kultur des Schweizerhochdeutsch. Eine Kultur, die nicht gegen die Mundarten gerichtet ist, sondern neben ihnen eine willkommene Erweiterung der Sprachkultur darstellt Ϫ im Dienst der Sprachförderung ebenso wie im Dienst des kulturellen Austauschs innerhalb der Schweiz und darüber hinaus. 5. Literatur in Auswahl Ammon, Ulrich 1995 Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner et al. 2004 Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin/New York: de Gruyter. Bickel, Hans und Robtert Schläpfer (Hg.) 1994 Mehrsprachigkeit Ϫ eine Herausforderung (ϭ Reihe Sprachlandschaft 13). Aarau: Sauer- länder. Boesch, Bruno 1957 Die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung. Zürich: Schweizer Spiegel Verlag. 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Metasprachliche Annäherung 5. Regionalsprachen im DaF-Unterricht 6. Literatur in Auswahl 1. Einleitung Gegenstand dieses Beitrags ist der Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland im Spannungsverhältnis zwischen der überregional ausgerichteten Standardsprache und den für das Deutsche typischen lokalen und regionalen Sprechweisen. Ganz bewusst werden dabei die aus dem aktuellen Migrationskontext resultierenden Sprachen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle im sprachlichen Alltag vieler Bundesbürger bzw. Deutschsprecher einnehmen, ausgeklammert. Wenngleich diese Sprachen eigene bzw. Sonderformen des Deutschen bedingen und somit zum Themenbereich des Deutschen in Deutschland gehören, so ist ihre regionale Variation bislang nicht eingehend erforscht. Damit liegt der Fokus dieses Beitrages auf der Beschreibung eines Ausschnitts der sprachlichen Wirklichkeit in Deutschland, deren vollständigere Systematisierung sich aus dem Gesamt der Beiträge in diesem Handbuch er- gibt. 2. Theoretische Erschließung der Sprachverhältnisse Die aktuellen Sprachverhältnisse in Deutschland sind das Ergebnis verschiedener historischer Prozesse, die mit den mentalen Orientierungen der Sprecher in Verbindung stehen und sich in bestimmten sprachlichen Entwicklungslinien äußern. Zum Verständnis der gegenwärtigen Bedingungen ist es notwendig, sich den historischen Verhältnissen ein Stück weit zu nähern. Es wird dann klar, dass ausgehend von mittelalterlicher Zeit die Dialekte das alltägliche Kommunikationsmittel der meisten Sprachteilhaber waren. Sehr bald stand diesen historisch zunächst als „lantsprachen“ bezeichneten Varietäten die