Improvisationstheater Improvisation () bedeutet unvorbereitetes17, spontanes, freies Handeln bzw. Spiel. In der Theatergeschichte hat Improvisation bei der Commedia dell´arte18, Straßenkünstlern, Gauklern etc. seine Tradition (vgl. Nickel 1992: 429). Eine neuere Form des Improvisationstheaters ist der von Keith Johnstone entwickelte “Theatersport”19. Einige der Übungen im Anhang 11.2.2, die wir auf dem SKB-Workshop gemacht haben, werden u.a. im Theatersport als Aufwärmübungen bzw. “Training” verwendet20. Für gelungene Improvisationen sind bestimmte Merkmale kennzeichnend. Die im folgenden genannten Punkte sind als Improvisationsregeln hilfreiche Stützen für Improvisationsübungen und das Improvisieren von Szenen21: 1) Spontanität und Kreativität Spontanität ist eine Fähigkeit, plötzlich aus innerem Antrieb, ohne langes Überlegen zu handeln und zu reagieren. Sie kann sich in motorischen Bewegungsabläufen, gedanklichen Prozessen und/oder im Zusammenwirken mit anderen Menschen zeigen. Spontanität bedeutet, den ersten Einfall zu benutzen und nicht nachzudenken, was man spielen könnte. Spontanität betrifft die Empfindungen und Gedanken, die “freiwillig” auftauchen, ohne zu reflektieren, ob das nun eine gute Idee ist oder nicht. Nicht versuchen, genial oder originell zu sein! Es geht nicht darum, etwas “Richtiges” zu finden, sondern das zu nutzen, was vorhanden ist. Spontanität bedeutet auch, nicht in die Zukunft zu denken. Während man plant, ist die Gegenwart schon Vergangenheit und wird zur verpaßten Gelegenheit. Eine Theorie Johnstones ist, daß wir auf der Bühne und im Leben das meiste versäumen, wenn wir vorausdenken (Johnstone 1998: 25). 17 ohne oder mit nur sehr umrißhaft skizzierter Vorgabe 18 Ursprünglich (16. Jh.) hieß die Commedia dell´arte u.a. “commedia improvisa, all´improviso”. Später (17./18. Jh.) wurde die ursprünglich regelstörende Commedia zur “Schauspielmaschine”, da die Masken, Typen, Situationen u. Geschichten begrenzt blieben und kaum verändert als Stereotypen tradiert wurden (vgl. Lariavaille 1992: 243f). 19 Ein Animationstheater mit hohem Unterhaltungscharakter, in dem mehrere Gruppen von Schauspielern und Schauspielerinnen in sog. “matches” sich gegenseitig herausfordern und vom Publikum in ihrer Improvisationsfähigkeit “bewertet” werden. Kritiker verurteilen den Theatersport mit der Begründung, er fördere Konkurrenzverhalten (Johnstone 1998: 32). Dies erscheint aber nur auf den ersten Blick so. Im Gegenteil: Theatersport benötigt ganz besonders ein gutes Zusammenspiel und menschliche Interaktionen zwischen den Schauspieler/innen sowohl innerhalb einer “Mannschaft”, als auch mit den “gegnerischen Mannschaften”. Der “Wettkampf” ist Show, Illusion, Teil des Theaterspiels und dient dazu, die Stimmung im Publikum anzuheizen (vgl. Andersen 1996: 109f). 20 Vgl. folgende Spiele im Anhang mit Spielbeschreibungen bei Andersen 1996 (A) und Johnstone 1998 (J).. Zum Teil sind sie dort anders benannt.: Nr.2 “Spiele mit Gegenstand”: A : 39f, J: 423ff; Nr. 8 “Hutklau”: J: 245ff; Nr. 10 “Grimassen schneiden” A: 19, J: 317f; Nr.19 “Was machst du da?” A: 38f, J: 534; Nr.21 “Und was jetzt?”: A: 58; Nr.22 “Marathon” A: 80f, J: 290ff; Nr.23 “Tod in einer Minute” A: 87, J: 202ff; Nr.24 “Falsche Hände” A: 88f, J: 296ff Nr.25 “Wort-für-Wort-Geschichten” A: 26, 30f,73, J: 211ff, 336ff. 21 Vgl. die Theatersportregeln bei Andersen 1996: 23ff. Hilfreich für Spontanität im Spiel ist, zu entspannen statt sich zu verkrampfen, den Kopf leer zu haben statt zu grübeln. Entspannende Spiele bzw. Entspannungsübungen können also hilfreich vor einem Theaterspiel sein, v.a. wenn die Anspannung groß ist. Entspannung heißt jedoch nicht nichts tun bzw. nichts denken, im Sinne von lasch oder müde sein. Eine weitere wichtige Voraussetzung für Spontanität ist Präsenz, d.h. Konzentration in einer entspannten Haltung. Ist eine Gruppe also zu entspannt bzw. müde oder geistig abwesend, sind aktivierende und stimulierende Spiele bzw. Konzentrationsübungen vor der eigentlichen Improvisation sinnvoll. Dies gilt prinzipiell für jegliche Art von Auftritt: “Ob du eine griechische Tragödie spielst oder ein Lied in einem Nachtclub singst: Alle Darstellung erfordert Konzentration und Du bist nicht konzentriert, wenn Du nicht denken kannst, und Du kannst nicht denken, wenn Du nicht entspannt bist” (Costopoulos in Wermelskirch 1996: 155). Eng verknüpft mit Spontanität ist die Kreativität, d.h. die Fähigkeit etwas Neues zu schaffen. Beide entstehen zwanglos und unmittelbar. Beide erfordern, die eigene Phantasie kommen zu lassen und ihr Raum zu geben, ohne zu bewerten. Manchmal kommt die Phantasie auf Dinge, die man nicht akzeptieren will, da sie zu frech oder zu ordinär erscheinen. “Solche Einfälle machen der dramatischen Entwicklung Dampf.[...] Ein Theaterstück ganz ohne Frechheiten, Zoten und Bosheiten ist ein langweiliges Theaterstück” (Andersen 1996: 37). Kreativität erfordert auch, der Phantasie Zeit zu lassen. Wenn man sich selbst zu sehr unter Druck setzt, blockiert man eventuell “zündende” Ideen. Anspannung und Selbstkritik behindern Kreativität. Andersen weißt darauf hin, daß man nicht gleichzeitig kreativ und kritisch sein kann: “Das sind zwei verschiedene Denkweisen. Die eine denkt in Möglichkeiten, die andere in Beschränkungen. [...] Im Gegensatz zum logischen Denken ist kreatives Denken spontan, sprunghaft und ungesteuert” (ebd.: 37). Um kreativ zu sein, braucht es außerdem einen festen Rahmen, d.h. eine vertrauenswürdige Umgebung. Man muß sowohl seinen Mitspielern und Mitspielerinnen als auch sich selbst vertrauen können. 2) Ja sagen und Kooperieren Handlungen, die von Mitspieler/innen angeboten werden, dürfen nicht blockiert werden, indem ihr Vorschlag gewertet, kritisiert oder abgelehnt wird. Vorschläge sind sämtliche Beiträge, die dazu dienen, eine Handlung fortzusetzen. Auf Aufforderungen und Fragen der Mitspieler/innen muß eingegangen werden, unabhängig davon wie überraschend diese sind oder den eigenen Plänen widersprechen. Es darf nicht mit einem “nein”, sondern nur mit einem “ja” bzw. “ja, aber” geantwortet werden. Beispiel22: “Guten Tag, verkaufen Sie Schäferhunde?” “Ja, aber man kann immer nur fünf auf einmal kaufen.” oder: “Ja, aber die sind momentan ausverkauft. Wie wäre es mit einem kleinen Alligator?” Wäre in diesem Beispiel mit “nein, ich habe keine Schäferhunde” geantwortet worden, wäre die Handlung vorerst blockiert und der Interaktionspartner müßte sich etwas Neues ausdenken oder die Handlung wäre beendet. Auf obige Weise wird ihm eine Möglichkeit zum direkten Weiterspiel geboten. Die Akzeptanz muß sich nicht in einem wörtlichen “Ja” ausdrücken. Entscheidender ist die Annahme des Angebots als Handlung. Die Verkäuferin 22 angelehnt an Beispiele in: Andersen 1996: 24ff könnte z.B. “Nein” sagen und gleichzeitig durch ihr Spiel ausdrücken, daß sie doch Schäferhunde verkauft (Ja als Subtext). Die Annahme der Vorschläge von Mitspieler/innen macht eine Improvisation zu einem Flechtwerk der guten Ideen von allen, anstatt daß sie nur aus den Ideen einer einzigen Person besteht (Andersen 1996: 23). Wichtig ist die Zusammenarbeit und die Übernahme von Verantwortung für das gemeinsame Spielen, d.h. auch seinen Mitspieler/innen die Chance zu geben, gut zu spielen und sich gegenseitig zu helfen bzw. zu “retten”. Nur auf diese Weise kann ein Zusammenspiel erfolgreich werden. Dazu gehört auch, die Verantwortung nicht durch Kneifen abzugeben, d.h. eine Idee zwar zu akzeptieren, ihr aber nichts hinzuzufügen. Zum Beispiel: “Autsch! Was ist das?” “Autsch! Ich weiß es nicht” (Johnstone 1998: 161). Das Blockieren von Vorschlägen bzw. Kneifen ist ein häufiger Grund dafür, daß eine Szene (bzw. eine Konversation im realen Leben) nicht richtig in Gang kommt. Das “Jasagen” bedeutet auf den Gegenüber einzugehen, und zwar beidseitig. So entsteht eine gemeinsame improvisierte “Komposition” eines Gesprächs oder einer Handlung. Spielerisch geübt werden können das “Jasagen” bzw. das Zusammenspiel sowie Spontanität z.B. in Wort-für-Wort-Geschichten (Spielbeschreibung Nr.25 im Anhang 11.2.2). Die Geschichten werden nicht von einzelnen, sondern von der Gruppe gemeinsam erzählt. Sie werden nur zu schönen bzw. spannenden Geschichten, wenn alle im Zusammenspiel erzählen. Eine Geschichte zu planen, hat keinen Sinn, da sie sich ständig verändert durch das abwechselnde Erzählen. Ein Beispiel für Kneifen in diesem Spiel ist die endlose Aneinanderreihung von Adjektiven oder die Benutzung des Wörtchens “und”, um nichts Neues beginnen zu müssen. Solange die Regelsetzungen in einer Theaterszene nicht zu eng sind (z.B. Auswendiglernen eines Textes) wird in jeder Darstellung improvisiert. Dies läßt sich auf die Gesamtheit des Unterrichts übertragen: auch dort wird viel improvisiert, solange die Planung nicht zu starr ist. In der Konversation werden Sprachbestandteile improvisierend neu komponiert bzw. wird Sprache neu geschaffen, wenn diese nicht durch feste Übungsoder Textvorlagen eingeschränkt wird. Sowohl für den Fremdsprachengebrauch und den Unterricht insgesamt, als auch für das Spiel sind demnach Spontanität, Kreativität, Präsenz und Zusammenspiel gefragt. Diese für viele Lebensbereiche und insbesondere für Theaterimprovisationen wichtigen Fähigkeiten können allgemein in vielen Spielen und spezifischer in Improvisationstheaterformen “trainiert” werden, und zwar in unterschiedlichen Abstufungen. Je flexibler der Rahmen und je weniger Vorgaben ein Spiel hat, desto freier ist die Improvisation. Je weniger die Gruppe (bzw. der Lehrer) zu improvisieren gewohnt ist, desto mehr Vorgaben sind nötig. 3) Geführte Improvisation Eine Rahmensetzung vor und während einer Improvisation vermittelt mehr Sicherheit. Ein vorgegebener Handlungsrahmen wird individuell ausgestaltet und variiert, sei es in einer Phantasiereise (Führen durch eine innere Bilder- und Sinneswelt) oder durch eine physische Handlung. In einer geführten Improvisation werden mehr Hilfen gegeben, als in einer freien Improvisation, was das Ausführen der Aufgabenstellung und das Einfühlen in Rollen und Handlungen einfacher macht. Außer der Vorgabe einer Ausgangssituation und der Rollencharaktere, werden während der Improvisation szenische Veränderungen vorgegeben, auf die im Spiel spontan reagiert werden muß (vgl. Bräuer 1995: 171ff). Vorübungen (auch als Warming up geeignet) von szenisch geführten Improvisationen sind z.B. das Gehen im Raum mit der Vorstellung, man gehe auf Asphalt, durch Wasserpfützen und Matsch, über Eis, duftendes Gras, Sand etc. (vgl. auch Morgenanimation und fiktiver Spaziergang im Anhang 11.3.1. Nr.II/3). Bei diesen Gehübungen können zahlreiche Aufgabenstellungen gegeben und variiert werden. Auch ein Text kann auf diese Weise inszeniert werden: Einzelne Passagen werden vorgelesen, die spontan von den Spieler/innen handelnd umgesetzt werden. Oder: die Spieler/innen bekommen in der entstehenden Handlung von außen (durch den Spielleiter oder andere Kursteilnehmer/innen) weitere Handlungsrichtlinien (vgl. auch Anhang 11.2.2. Nr.21 “Und was jetzt?”). Geführte Improvisationen sind Übungen antizipatorischer Art. In einer gedanklichen Vorwegnahme der Handlung oder von Handlungsteilen bzw. in Erwartung eines bestimmten Ereignisses in der Vorstellung bzw. Phantasie, orientiert sich das jeweilige Verhalten, das in sich spontan und kreativ bleibt (die Aktion selbst wird nicht geplant, vgl. oben: nicht voraus denken). Das Potential von antizipatorischen Übungen für die Theaterarbeit und den Fremdsprachenerwerb liegen u.a.: - in einem unbefangeneren und genauerem Spiel (und Sprechen) - in der Konfrontation mit und Verbindung von (fremdsprachlichen) Vorgaben von außen und (muttersprachlichen) eigenen inneren Vorstellungen - in der Ich-Darstellung mit einer Konzentration auf sich selbst als Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer fremden Rolle. Auch die fremde Rolle in der anderen Sprache kann nicht losgelöst von der bekannten Rolle (den Erinnerungen) in der eigenenKultur/Sprache an- und eingenommen werden - in dem “offenen” Blick zu den Mitspieler/innen (vgl. Bräuer 1995: 175f)