Psycho- und Soziodrama Das Prinzip der Veränderung durch Aktion gilt ebenso im Stegreiftheater Morenos. Dadurch, daß jede/r in den Handlungsverlauf eingreifen kann, “ist die Bühne abhängig von der Aktivität und Kreativität der “Zuschauspieler” und wird zum Spiegel dessen, was im Publikum an Problemen, Konflikten etc. vorherrscht. Die Bühne wird zum Ort, an dem der/die Einzelne sich ausprobieren kann. Sie wird zu einem Ort, wo die Personen ständig improvisieren und die Ordnungen immer wieder neu definieren müssen. Der schöpferische Prozeß entsteht vor aller Augen sichtbar und nachvollziehbar[...]”, wird ständig neu “geboren” (Feldhendler 1987: 14). Im Psychodrama als “experimenteller Ort” zwischenmenschlicher Interaktion können konkrete zwischenmenschliche Probleme Einzelner bearbeitet werden. Beim Soziodrama liegt der Schwerpunkt auf Gruppenproblemen30 z.B. eine Flüchtlingsproblematik oder “im Untergrund bestehende politische Probleme. Anstatt dieses Problem theoretisch zu behandeln oder einfach gehen zu lassen, machen sich die Teilnehmer daran, mittels 28 bei Boal heißt dieser “Joker” 29 Nabil Kassem hat eine “Dialogspiel-Lernstrategie” entwickelt, mit dem Ziel, eine fremde Sprache kritisch-kognitiv anzueignen. Diese basiert auf der Pädagogik und dem Theater der Unterdrückten sowie auf handlungstheoretischen Ansätzen in der Linguistik. Ein Ziel der Lernstrategie für die Deutschlehrer/innenausbildung ist die Befähigung zu einem intellektuellen Dialog zwischen Deutschen und Ägyptern, d.h. die eigene Situation der Lernenden in ihrem interkulturellen Kontext und die zunächst fremde, deutsche Kultur bewußt zu machen. Für das Ziel, nicht nur die Sprache zu erlernen, sondern auch ein Verständnis der anderen Kultur zu erarbeiten, wird u.a. mit Theatermethoden gearbeitet. Indem mit diesen der Prozeß der Wahrnehmung besonders herausgehoben wird, werden die normalerweise unbewußte Verknüpfung von Wahrnehmen, Denken, Sprechen und Handeln bewußt gemacht und Sinn und Bedeutung von Begriffen in der Fremdsprache unmittelbar vermittelt. Soziale Zusammenhänge der eigenen wie auch der fremden Kultur werden durch Betrachten und Analyse der Szene bzw. durch handelnde Veränderung (Ausprobieren von gedachten, erwünschten und real-möglichen Handlungsalternativen) kritisch untersucht (Gipser u.a. 1988: 12ff). 30 häufig vor einem Massenpublikum (vgl. Leutz 1986: 116ff) dramaturgischen ‘Durchlebens’ eine Lösung ihrer eigenen Lage herbeizuführen” (Moreno 1967: XXVIII). Wir verstehen Psycho- und Soziodrama im Fremdsprachenunterricht nicht als Therapieform, sind uns aber über die irreführende Bezeichnung bewußt. Moreno selbst verwendet die Bezeichnung “role-training” (bzw. “pädagogisches Rollenspiel”) für sozialpädagogische Funktionen des Psychodramas, um es von dem mit therapeutischer Zielsetzung abzugrenzen (Leutz 1986: 114). Wir haben diese Bezeichnung nicht übernommen, da sie a) meistens in der Literatur nicht auf diese Weise verwendet wird und b) zu Irritationen mit den vielfältigen Rollenspieldefinitionen, einschließlich unserem oben definierten Rollenspielbegriff führen würde. “Kurz, psychodramatische Methoden auf allen Stufen des Bildungssystems ergänzend heranzuziehen hilft reguläre und komplexe Bildungsprobleme lösen, kann zur Vermittlung normalen Wissenstoffs dienen und die alltäglichen Vorgänge im Unterricht lebendiger gestalten, so daß eine reizvollere und erfreulichere Lernsituation entsteht” (Yablonski 1992: 167f). Psychodramatechniken sind u.a. geeignet, Stereotypenbildung zu vermeiden. Beim Forumtheater ist unserer Meinung nach die Gefahr der Reproduktion von Klischees größer, da ein Thema gefunden werden muß, das alle Beteiligten betrifft. Im Psychodrama wird das Thema einer Person in Szene gesetzt31, zu dem die anderen in der Gruppe während des Spiels Parallelen bzw. Verbindungen zu ihrem Leben entdecken. In der Verbindung von beiden Theaterformen, dem Theater der Unterdrückten und dem Psychodrama, sehen wir fruchtbare Möglichkeiten für pädagogische Arbeit, so wie sie bereits Scheller in seinem “erfahrungsbezogenen Unterrichtskonzept” nutzt32 und Feldhendler und Dufeu in einem Fremdsprachenunterricht des “Seins”33. In beiden Theaterformen werden • das individuelle Rollenrepertoire sowie Interaktions- und Handlungsmöglichkeiten erweitert • Konflikte dargestellt, zu denen versucht wird, Lösungen zu finden • neue Erlebnisse und Erkenntnisse (von Personen- und Sachverhalten) gewonnen, was durch Einfühlung in Rollen geschieht (im Gegensatz zur Verfremdung). Erweiterung des Repertoires an Inszenierungstechniken Für Inszenierungen im Fremdsprachenunterricht sind die Psychodramatechniken interessant, die hier z.B. mit der theaterpädagogischen Intention eingesetzt werden können, Rollen eingehender zu erarbeiten oder Aussagen in Szenen theatralisch wirksam zu unterstreichen. Diese Techniken haben ihren Ursprung im Theater: 31 “Wie Moreno sagt: ‘Die Darstellung der persönlichen Realität kommt zuerst - das Umlernen kommt später.’ In dieser Hinsicht tritt Moreno dafür ein, den Protagonisten so weit als irgend möglich seine Szene wählen zu lassen, seinen Schauplatz und sein Hilfs-Ich, damit er sein Problem spielen kann” (ebd.: 16). 32 “Unter der Bezeichnung Szenisches Spiel hat Scheller - im Rückgriff auf Stanislawski, Brecht, Straßberg, Moreno, Boal u.a. - spezielle Arbeitsweisen und -verfahren entwickelt, insbesondere für den erfahrungsbezogenen Umgang mit Literatur und Alltagsgeschichte(n)” (Schewe 1993: 121f). Zum “erfahrungsbezogenen Unterrichtskonzept” vgl. Kap. 3.3.2.7. 33 siehe folgendes Kapitel “Moreno hat seine wesentlichen Inspirationen durch das Theater gewonnen. Dies gilt sowohl für die Entwicklung seiner Handlungstechniken, Rollenspiel, Psychodrama und Soziodrama als auch für seine Kreativitäts- und Rollentheorie” (Petzoldt/Mathias 1982: 57) Sie können sowohl im Sinne Morenos (die Einfühlung zu verstärken), als auch im brechtschen Sinne (Bewußtmachung durch Verfremdung) sowie unter ästhetischen Gesichtspunkten eingesetzt werden. Doppeln Ein “Double” bzw. Doppelgänger agiert hinter oder neben dem Protagonisten und hilft ihm, seine Gefühle zu äußern, indem er sich physisch (z.B. Körperhaltung/Gangart) und emotional mit diesen Gefühlen identifiziert und sie ausspricht. Monolog Der Protagonist spricht seine Gedanken in einer Szene laut aus, wodurch die verborgenen Absichten und Gedanken für das Publikum sichtbar werden. Das Monologisieren kann mit dem Doppeln verbunden werden: Das Double spricht die Gedanken des Protagonisten34. Spiegeln35 Der Protagonist kann sich selbst beobachten, indem er entweder von einer Person oder einem anderen Medium (z.B. Video) gespiegelt wird36. Rollentausch Die Rollen in einer Interaktion werden getauscht: A wird zu B und B wird zu A. Dadurch können 1) die Rolle des anderen besser verstanden werden (Einfühlung auf einer Aktionsebene) und 2) Einsichten über die eigene Rolle gewonnen werden (Spiegeleffekt)37. Der leere Stuhl Ein Stuhl oder ein anderes Möbelstück sind imaginär mit einer Person besetzt, mit der der Protagonist interagiert. Der Protagonist kann sich auch selbst auf den Stuhl setzen und so die Rolle der imaginären Person einnehmen (Rollentausch)38. Der hohe Stuhl Eine Person mit höherem Status steht während der Interaktion auf einem Stuhl/Tisch (Verdeutlichung von Statusunterschieden durch räumliche Anordnung). Zukunftsprobe Anstehende wichtige Ereignisse wie z.B. eine wichtige Besprechung oder ein entscheidender Telefonanruf werden in der Quasi-Realität geprobt, wodurch man anschließend der realen Situation besser gewachsen ist. Lebende Zeitung Aktuelle Zeitungsnachrichten werden auf der Bühne “lebendig”, wodurch der Sinn von Ereignissen besser verstanden. 34 Vgl. Variante von “Ein Tisch - zwei Stühle” (Nr.5) im Workshopbeispiel im Anhang 11.2.2. 35 Auch Boal beschreibt Spiegelübungen. 36 Vgl. Spiegelübung Nr.II/4 im Anhang 11.3.1 und Grimassen und Gefühlsausdrücke spiegeln im Workshopspiel Nr.10b) u. c) im Anhang 11.2.2. 37 Der Spiegeleffekt ist hier stärker, als beim passiven Zuschauen, da man auf sich selbst in der Rolle des anderen reagiert. 38 Vgl. auch: aus der Sicht eines Gegenstands erzählen (Nr.2.5 im Anhang 11.2.2). Kap. 6.1 Rollen spielen... 101