ADHS-Ferienlager "Hier hat jeder einen Knall" Mathias Hamann Urlaub für schwierige Gäste: In Mecklenburg-Vorpommern findet jährlich ein Sommercamp für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Störung statt. Weil dort jeder ein bisschen anders ist, fällt keiner mehr auf. Das entspannt - und zur Not gibt es immer noch den Ruheraum. "Ich mach' oft Terror, schubse andere und provoziere gerne", sagt das 14-jährige Mädchen mit der grünen Kappe. Manchmal flippe sie völlig aus. Jetzt springt sie mit acht anderen Kindern durch den Wald und holt Holz für ein Lagerfeuer. Das Mädchen ist schmächtig, Wutanfälle passen nicht zu ihrem Äußeren. Und doch gehört sie zu jenen Kindern, mit denen Ferien verdammt anstrengend werden können. Das Mädchen und auch die anderen Kinder, die für das Lagerfeuer sammeln, haben die Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS) oder ein Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Ihnen fällt es schwer, sich zu konzentrieren, manchmal werden sie zudem sehr aggressiv. Einen eindeutigen Test, um ADHS zu diagnostizieren, gibt es bislang nicht. In Deutschland tritt es - je nach Schätzung - bei zwei bis sechs Prozent der Kinder auf. Immer wieder heißt es, ADHS sei nur eine Modekrankheit. Fest steht: Diese Kinder sind nicht leicht zu handhaben. Hier an der Mecklenburgischen Seenplatte sind sie unter sich. In der Jugendbegegnungsstätte Forsthof Schwarz gastiert seit Jahren ein Ferienlager für Kinder mit ADS und ADHS. Thema dieses Jahr: Wikinger. Traumhaftes Betreuungsverhältnis Der Organisator Fred Freese begrüßt als Oberwikinger die Holzsammler. Er hat sich einen Rauschebart angeklebt und erzählt von seiner Idee: "Viele der Kinder hier fahren nicht auf Klassenfahrten oder Ferienlager, weil sie in einer großen Gruppe Schwierigkeiten haben." Das sei auch der Grund, warum Lehrer ADHS-Kinder manchmal nicht auf Klassenfahrten mitnehmen, es fehlten die Betreuer. Seinen eigenen Kindern geht es ähnlich, also rief er vor neun Jahren das ADHS-Camp ins Leben. Damals startete er mit 30 Kindern, inzwischen kommen in zwei Wochen 146. Ein Erwachsener kümmert sich dabei um zwei Kinder. Um die hohe Betreuerzahl zu halten, bieten die Organisatoren finanzielle Anreize: Begleitet ein Elternteil sein Kind, kostet die Woche für beide 150 Euro, fährt der Sprössling allein, sind es 200 Euro. Zudem setzen die Organisatoren auf Praktikanten und angehende Erzieher, um den Preis niedrig zu halten. Beim ersten Ferienlager vor neun Jahren kümmerte sich ein Erwachsener um vier Kinder. Das sei aber zu anstrengend gewesen, erinnert sich Freese. Heute könnten sie besser vermeiden, dass sich Konflikte hochschaukeln. Sollte das mal nicht klappen, gibt es noch den Ruheraum, in dem auch gerade wieder jemand relaxt. Nur einmal musste er ein Kind nach Hause schicken, sagt Freese, weil es zu gewalttätig war, das sei aber fünf Jahre her. Es kommt schnell zu Streit und Rangeleien Was ist besonders an den Jungen und Mädchen? Sie wirken lebendig, ein paar knuffen sich in die Rippen, andere spielen Fangen. Eigentlich alles normal, oder? "Man merkt das, wenn man länger mit ihnen zusammen ist", sagt Frank Wiegert. Der Vater sitzt unter einem Holzdach, mittlerweile hat es angefangen zu regnen. "Es kommt viel schneller als bei anderen zu Streit oder Rangeleien." Die Kinder sind sehr impulsiv, einige rasten mal aus, manchmal kabbeln sich auch Kumpels. Wiegert sieht trotz Ferien geschafft aus. Es gibt hier aber auch andere Kinder: Der Sohn von Frank Wiegert, der 15-jährige Jan, hat das Asperger-Syndrom, eine leichte Form des Autismus. Er springt auf, seine Hand schnellt zur Begrüßung vor. "Es fällt mir schwer, Kontakt mit anderen aufzubauen", erklärt er seine Krankheit. Daher ist es auch nicht so leicht, Freunde in der Schule zu finden: "Die anderen wollen nicht hören, wie ich rede." Er spricht ihnen zu gewählt. Er interessiert sich aber auch selbst eher für seine Themen als für ihre. Hier im Camp versinkt er am liebsten in seinen Büchern und Architekturskizzen. Ins Ferienlager kommt er jetzt seit fünf Jahren: "Hier hat jeder einen kleinen Knall, es ist total normal, wenn man hier nicht normal ist", sagt der schlaksige Junge. Seine Kumpels sitzen im Raum, lachen und nicken. Das ist der Clou an dem Lager, dadurch sind alle entspannter. "Die Gymnasiasten sind viel schlimmer" Auch die Eltern fühlen sich wohl: "Sonst denkt man, das eigene Kind ist einzigartig, besonders anstrengend", sagt Stephan Leibiger. Der 43-Jährige hilft zum zweiten Mal im Camp und ist als Rettungsschwimmer dabei. Die vielen ADS-Kinder empfindet er nicht als Belastung, sondern als Befreiung: "Man sieht, das eigene Kind ist nicht besonders, es gibt noch andere, die genauso sind." "Viele Lehrer denken ja, ADS sei keine Krankheit, sondern eine Modediagnose und die Kinder nur schlecht erzogen", sagt er und erzählt dann von seiner ältesten Tochter: Sie war unkonzentriert, hat immer wieder in die Hose gemacht. Medikamente hätten dagegen geholfen. Weil die Sommerferien in seinem Bundesland später anfangen, hat er seine Kinder freistellen lassen, damit sie teilnehmen können. Der Regen hört auf, und die Bande mit roten, gelben oder grünen Kappen zieht los. Die Mützenfarben symbolisieren die Altersgruppen, die gelben gehören mit fünf Jahren zu den Jüngsten. Sie müssen Spielstationen absolvieren. Die Ältesten, 15 bis 18 Jahre, tragen eine blaue Kappe und betreuen die Stationen. Während sie auf die nächste Gruppe Knirpse warten, erzählen sie aus ihrem Leben: Mit Therapien und Medikamenten hätten sie ihre Probleme bewältigen können, einige seien auch mit dem Alter ruhiger geworden. Die Chefin der Jugendbegegnungsstätte, Sylvia Röseler, freue sich auf die Kinder, sagt sie. Das Camp sei gut organisiert und die Betreuer kümmerten sich um die Kinder. Andere Besucher seien manchmal anstrengender: "Die Gymnasiasten mit ihrer Arroganz sind viel schlimmer." Sie holt ihren Buchungsordner aus dem Vorjahr heraus. Hinter den Terminen für das ADHS-Camp hat sie ein "Hurra" geschrieben, mit vielen Ausrufezeichen. Fred Freese sagt, dass es in diesem Jahr mehr Anmeldungen als Plätze gab, auch im nächsten Jahr sei schon die Hälfte reserviert. Sein Sohn möchte auch immer wieder mitkommen, bald als Betreuer. (http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,777329,00.html)