IV Literatur- und Kulturdidaktik 30 Filmdidaktik 30 Filmdidaktik Geschichte der Filmdldaktik Der erste Artikel über den schulischen Einsatz von Hirnen erschien 1913 in der amerikanischen Zeitschrift für Lehrkräfte English Journal {Baddock 1990: 147). In der Untenichtspraxis blieb dies aber für die nächsten vier bis fünf Jahrzehnte ohne nennenswerte Auswirkungen. Mit McLuhans Diktum vom global village breitete sich in den 1960er Jahren rasch ein Klima des Medienbewusstseins aus, der Bereich Literaturverfilmung entwickelte sich sehr rege, und der Aufstieg der Semioük verhalf der Filmtheorie schließlich zu einem anerkannten universitären Status. Filme werden im schulischen Fremdsprachenunterricht nun seit mehr als 50 Jahren - in bescheidenem Maße - verwendet. In den ersten Jahrzehnten litt der Einsatz an einer starken quantitativen und technologischen Beschränkung. Verfilmungen von Literaturvorlagen wurden zum Abschluss der Lektürearbeit für komparattstische oder illustrative Zwecke vorgeführt, populäre Filme gelegentlich zum puren Zweck der Unterhaltung ohne didaktische Zielsetzungen angesehen. Das technische Trägennedium erlaubte zudem lediglich Btraight-through viewing. Die Entwicklung der Videotechnik brachte methodische Fortschritte, und die Entwicklung der DVD erhöhte die Versatüität nochmals: Neben besserer Qualität und höherer Speicherkapazität bietet sie vor allem verschiedene Sprachversionen, einblendbare Untertitel, direkten Szenezugriff und zusätzliche Hmtergnmdinformationen. Die zunehmende Infiltration aller Lebensbereiche durch massenmediale Populärkultur wurde auch von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verstärkt zur Kenntnis genommen. Im fremdsprachendidaktischen Feld ließen die Konzepte von media literacy und intercultural leaming auch originalsprachliche Spielfilme mit ihren kinematografischen Techniken und der Darstellung fremder Lebenswelten verstärkt ins Blickfeld rücken. Ungeachtet der wachsenden Akzeptanz von Film und Video in der fachdidaktischen Literatur (z.B. Baddock 1996, Sherman 2003, Stempleski/Toma-lin 2001, Surkamp 2004, Thaler 2007a) und der ungebrochenen Popularität von Filmen bei Jugendlichen fristen diese in der unterrichtlichen Praxis jedoch immer noch ein eher stiefmütterliches Dasein. Begründungen und Ziele der Filmdidaktik Durchstreift man die einschlägige Literatur (Sherman 2003, Stempleski/Tomalin 2001, Zerweck 2004, Thaler 2010), werden folgende Punkte für einen Einsatz audiovisueller Formate im Englischunterricht immer wieder ins Feld geführt: Popularität und Motivation; audiovisuelle Attraktivität; Authentizität; personale Bedeutung; Training rezeptiver Kompetenzen; Förderung produktiver Kompetenzen; Ausbau tatertextuell-literari-scher Kompetenzen (Buchverfilmungen, Fihnverbuchungen); interkulturelles Lernen; media/hlm literacy. Auf der Grundlage dieser Eigenschaften lässt sich als übergeordnetes Ziel der Verwendung von Filmen im Fremdsprachenunterricht audiovisuelle Kompetenz (audio-vis- ual literacy) postulieren. Diese umfasst mindestens vier Bereiche: 1. Film verstehen; 2. kommunikative Kompetenzen; 3. Methoden-Kompetenzen; 4. kulturelle Kompetenzen. Filmische Darstellungen stellen ein zentrales Medium kultureller Repräsentation, Inszenierung und Selbstverständigung dar. Deswegen kommt es vor allem darauf an, Filme .lesen' zu lernen, also eine multimodale ästhetische Symbolisierungsform zu verstehen. Dies beinhaltet die Fähigkeit zur Filmanalyse in ihren formalen, funktionalen und evaluaüven Komponenten. Im zweiten Bereich spielt die Förderung von Hör-Seh-Verstehen (llsterüng-viewing) eine zentrale Rolle (Thaler 2007b). Zu den method atrategies zählt beispielsweise die autonome Analyse eines Films zu Hause und die anschließende Präsentation und Diskussion ausgewählter Szenen in der Schule. Auf dem weiten Feld von interkulturellem Lernen geht es vor ollem um den Ausbau einer criücal cultural awareness. Formate und Präserrtationsformen Der Einsatz von Filmen kann auf eine Vielzahl von Formaten zurückgreifen, die in toto oder ausschnittsweise vorgeführt werden. Eine quantitative Klassifikation nach der Spieldauer in drei Gruppen macht deutlich, dass für den Unterricht nicht nur iea Iure Ulms (abendfüllende Spielfilme) infrage kommen: Kurzformate: 1-5 Minuten, z. B. Musikvideoclips, Werbespots, Trailer; Medienformate: 20-45 Minuten, z.B. Sitcoms, Soaps; Langformate: 90 oder mehr Minuten, z.B. Spielfilme, Live-Berichterstattung (nationaler) Ereignisse. Was die Präsentationsformen dieser Formate betrifft, stehen vor allem für die mittleren und längeren Varianten grundsätzlich vier Möglichkeiten zur Verfügung (s. Tabelle S. 144). Da jede dieser vier Optionen spezifische Vorzüge, aber euch Defizite aufweist, sollte sich die Wahl am jeweiligen Film, den angestrebten Lernzielen, der zur Verfügung stehenden Zeit, dem Lernstand der Schülerinnen und Schüler und dem Gebot der Abwechslung orientieren. Lernszenarien Hinsichtlich des Lernortes können Filme innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers eingesetzt werden, wobei verschiedene KombinationsmögUchkeiten denkbar sind. Für eine stärkere Verankerung von Lernräumen, die jenseits des Klassenzimmers hegen, spricht neben dem Zeitproblem und der Förderung von Autonomie die Beobachtung, dass Lernende eine gewisse Phase des tuning in benötigen, um sich auf das fremde Sprachbad einzustellen und den fremdsprachlichen Kommunikationsfluss in einem Film verarbeiten zu können. Eine Möglichkeit stellt ein guided movie alternoon dar, bei dem Block-Präsentation (Btraight through viewing) und Aufgaben-Lenkung verbunden werden. In einer ersten Schulstunde werden einführende Informationen zum Film vermittelt und die Schüler und Schülerinnen in Gruppen mit speziellen Beobachtungsaufträgen eingeteüt. Danach sieht sich die ganze Klasse den Film im örtlichen Kino an und bespricht ihn am nächsten Tag. Ein noch stärker Autonomie förderndes Verfahren stellt die Verbindung 142 143 IV Literatur- und Kulturdidaktik 30 Filmdidaktik MMtank mm Hachau Block-Präsentation: VorfOhrung des gesamten Films, Sehen an einem Stück i ► natürliches Sehverhalten ► außerschulische Medien-wirklichkeit ► Spannung, Unterhaltung ► wenig Zeit-und Vorbereitungsaufwand ► passiver Konsum ► Fehlen didaktischer Aufbereitung ► Mangel an Lerneffizlenz (kein noticingffocusslng) ► Bonbondidaktik Intervall-Präsentation: Unterteilung des Films in einzelne Sequenzen (ca. 15 Min.), sukzessives Sehen in mehreren Unterrichtsstunden ► Möglichkeiten didaktischer Aufbereitung ► pre-,while-,post-viewlng teste pro Stunde ► Sehen des gesamten Rlms ► Fragmentierung ► Spannungsveriust ► Zeitaufwand (6-10 Unterrichtsstunden) ► unnatürliches Sehmuster Sandwich-Präsentation: Vorführung ausgewählter Sequenzen, Überspringen anderer Szenen, Verballslerung ausgelassener Teile ► didaktische Aufbereitung tore-/while-/post-steges) ► geringerer Zeitaufwand als bei Intervall-Verfahren ► Auslassen unwichtiger Passagen ► Zerstückelung ► Verständnisprobleme durch Unvollständigkeit ► höherer Zeitaufwand als bei Segment-Verfahren Segment-Präsentation: VorfOhrung und Bearbeitung nur einer Szene oder Sequenz (z. B. Eröffnungsszene) ► Fokusslerung einer wesentlichen Sequenz ► geringster Zeitbedarf ► didaktisch-methodische Flexibilität ► wiederholte Darbietung ► Isolierung einer Szene ► Vernachlässigung wichtiger Filmaspekte ► Reduzierung des Unterhaltungswerts Prasentationslormen für Filme von Präsenzunterricht und unabhängigem häuslichem Filmstudium dar (Doye 1998, Holden 2000). Jeder Lerner wählt einen Film aus, sieht ihn sich zu Hause an und stellt ihn in der Schule vor. Bei den diversen Lernszenarien können sowohl eher geschlossene Übungen (z.B. Überprüfung des Hör-Seh-Verstehens mithilfe von right/wrong Statements) oder eher offene Aufgaben (z.B. htm response Journal) eingesetzt werden (Bredeila 2004, Bur-witz-Melzer 2004, Grau 2004, Gymnich 2004, Stempleski/Tomalin 2001, Weißling/ Yareham 2001, Thaler 2007a). Probleme Trotz des großen unterrichtlichen Potenzials von Filmen sollten die Schwierigkeiten nicht ignoriert werden. Die folgende Tabelle weist auf vier Konflikte hin - und mögliche Ansätze, diese zu mildern. Proaeme -- _ ~ Zeit-Konflikt: langer Film vs. kurze Unterrichtsstunde ► zeitsparende Präsentationstypen ► independent film study 1 KommunikaUons-Konflikt: Sprachniveau Film vs. Lernende ► Abschied vom Alles-verstehen-Woilen ► auf Lemniveau abgestimmte Rlmauswahl ► einfache plots ► viele Wort-Biid-Kongruenzen ► langsame, deutliche Standard-Aussprache ► Segmentverfahren ► (mehrmalige) Wiederholungen ► vorentlastende Aktivitäten flBzepUons-Konfllkt: visueller vs. auditiver Kanal > zielorientierter Einsatz der verschiedenen Kombinationsmodi von Ton und Untertitel ► Dosierung der Untertitel (sukzessive Zurücknahme nach anfänglichem Urning in) Ziel-Konflikt: larnwertvs. Unterhaltungswert ► Balance zwischen Lernen und Lust ► Gleichgewicht Spracharbeit-Spannung ► Beschränkung der Verwendung der Pause-Taste ► Vermeidung zu häufiger Wiederholung ► dosierter Einsatz von Wortschatz- und Grammatikarbeit Balance Die Kunst bei der schulischen Arbeit mit Filmen liegt darin, ein angemessenes Gleich -gewicht zu finden - nicht nur zwischen Lernen und Unterhaltung und zwischen schulischen und außerschulischen Lemräumen, sondern auch zwischen lehrerzentrierten Q&dhandlungsorientierten Aufgaben, zwischen Steuerung und Autonomie. Dieses bal-onced teaching, d.h. eine Kombination geschlossener und offener Lemarrangement-stößt auch auf große Zustimmung bei Lehrkräften (Thaler 2008:292 ff.). 144 145 IV Literatur- und Kulturdidaktik Literatur Baddock, Barry (1990): Getting in the Scene. Film in the Language Class. In: Praxis des Neu sprachlichen Unterrichts 37/2,145 153. Baddock, Barry (1996): Using Films In the English Class. Hertfordshire. Bredella, Lothar (2004): Bend Ii Like Beckham. Überlegungen zu einer rezeptionsästhetischen Filmdidaktik. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 3B/68,28-32. Burwitz-Melzer, Eva (2004): Ice Age. Ein Zeichentrickfilm in der Sekundarstufe I. In: Der Fremdsprachliche Unterricht: Englisch 38/68,14-19. Cooper, Rlchard/Lavery, Mike/ Rinvolucri. Mario (1991): Wdeo. Oxford. Doye, Chris (1998): Films for Self Study. In: Modern English Teacher 4/7, 60-63 Grau, Maike (2004): Indien Im Film. Monsoon Wedding. In: Der Fremdsprachliche Unterricht: Englisch 38/68, 34-39. Gymnich, Marion (2004): A Commitment Phobie, a 12-year-old, and a Dead Duck. About a Boy. In: Der Fremdsprachliche Unterricht: Englisch 38/68, 20-26. Holden, William (2000): Making the Most of Movies. Keeping Film Response Journals. In: Modem English Teacher 2,40-46. Sherman, Jane (2003): Using Authentic Video in the Language Classroom. Cambridge. Stempleski, Susan/Tomalin, Barry (1989): Wdeo in Action. London. Stempleski, Susan/Tomalln, Barry (2001)- Film. Oxford. Surkamp, Carola (Hrsg.) (2004): Teaching Films. Themenheft Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 68. Thaler, Engelbert (2007a): Film-based Language Learning. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 4/1, 9 14. Thaler, Engelbert (2007b): Schulung des Hör-Seh-Verstehens. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 4/4, 12-17. Thaler, Engelbert (2008): Offene Lernarrangements im Englischunterricht. München Thaler, Engelbert (2010): Teaching English with Films. Paderborn. Tomalin, Barry (1990): Video in the English Class. London. WelBIIng, Harald/Yareham, Bob (2001): Video-Ideen für den Englischunterricht Berlin Zerweck, Bruno (2004): Filmanalyse und cultural studies. US-amerikanische Kulturthemen In 7ne Big Lebowskl und amerikanischen Vietnamfilmen. In: Der Fremdsprachliche Unterricht: Englisch 38/68, 40-45. Engelbert Thaler 31 Medienerziehung und -didaktik Zu den Autgaben des Fremdsprachenunterrichts gehört es auch, Lernende bei einer reflektierten, selbstbestimmten und manipulationsresistenten Mediennutzung zu unterstützen. Medienerziehensche und -didaktische Fragestellungen sind deshalb auch lür den Fremdsprachenunterricht zentral. Ein Ausgangspunkt für ihre Beantwortung können medienpädagogische und -didaktische Ansätze sein. Darüber hinaus müssen aber auch fachspezifische Aspekte berücksichtigt werden. Die systematische Aufnali- 146 31 Medienerziehung und -didaktik me beider Perspektiven in die Aus- und Fortbildung von Sprachenlehrenden erscheint dringend notwendig. Allgemeine medienpädagogische Ansätze Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen wird schon seit Jahrzehnten maßgeblich durch Medien bzw. ihre Nutzung (genauso wie ihre Nichtnutzung) geprägt. Die Medienpädagogik beschäftigt sich mit der Frage, wie diese Prägung genau aussieht und welche Konsequenzen sich daraus für die Erziehung ergeben. Wichtige Grundlage ist die Medienwirkungsforschung, die Ergebnisse zum Mediennutzungsverhalten liefert (vgl. z.B. die seit 1998 jährlich erhobenen KIM- und JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest oder die jährlich durchgeführte ARD/ ZDF-Onlinestudie). Die Erziehungskonzepte, die Medien berücksichtigen oder die auf die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen abzielen, unterscheiden sich durch die jeweilige Bewertung der Bedeutsamkeit von Medien (vgl. für einen Überblick Frederking/ Krommer/Maiwald 2008: 68 ff.). Den einen Pol bilden medienkritische Positionen, die den Einfluss der Medien ausschließlich negativ sehen und die meist eine möglichst weitgehende Medienabstinenz fordern (vgl. z.B. von Hentig 2005). Eine andere Position vertreten Wissenschaftler, für die die Mediennutzung zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gehört. Sie fordern deshalb die Unterstützung eines aktiven, handlungsorienüerten Umgangs mit Medien, um eine sachgerechte, selbstbestimmte, kreative und sozialverantwortliche Handlungsfähigkeit im Umgang mit Medien zu erreichen (vgl. Baacke 1997 oder Tulodziecki 1997). Das andere Ende des Kontinuums nehmen schließlich Vertreter einer anthropologischen Perspektive ein, die nicht zwischen Primär- und Sekundärerfahrungen unterscheiden wollen, sondern für die jede Wirklichkeit medial konstruiert ist und die deshalb eine umfassende Medienbildung für notwendig halten: Ein mediengebildeter Mensch ist fähig, Medienangebote verantwortlich und wertbewusst auszuwählen; er verfügt über variable Mediennutzungsmuster, die ihm Lebensgestaltung, Selbsterkenntnis und Welterkenntnis, Selbstdarstellung und sozialos Zusammenleben ermöglichen (vgl. Spanne! 2004: 128). Die unterschiedlichen Bewertungen von Medien und die damit verbundenen Setzungen in den Zielen der Medienerziehung drucken sich auch in den jeweiligen Modellen (und vor allem in deren Komplexität) einer Meriienkompetenz aus, deren Vermittlung den Kern jeder Medienprziehung darstellt (vgl. u.a. die Modelle von Baacke 1997, Tulodziecki 1997, Groeben/Hurrelmann 2002 b/w. im enghschsprachigen Bereich die Modelle der electronic literacy oder das umfassendere Konzept der multi-Utendes, vgl. für einp Übersirht Shetzer/Warschaucr 2000, * Art. 12). Allgemeine mediendidaktische Ansätze Mediendidaktisrhe Fragestellungen beziehen sirh auf angeleitete, mediengestützte l-ehr-Lernpiozessc, die entweder in institutionellen Kontexten oder auch außerinstitutionell (z.B. mithilfe von Selbstlpmmaterialien) stattfinden. Die Leitiraqe isl dabei im- 147