Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 1 Straßenkinder in Bukarest, Rumänien (Bild: AP Archiv) Für Leib und Seele Werkstatt Europa: Sozialarbeiter in Europa Mit Reportagen von Gesine Dornblüth, Ruth Rach, Sonja Schmidmeister, Keno Verseck, Andrea Mühlberger und Marc-Christoph Wagner. Moderation: Bettina Nutz Arbeit bedeutet weit mehr als materielle Sicherheit. Einen Beruf auszuüben, muss nicht unbedingt Berufung sein. Er bestimmt aber den sozialen Status, prägt Lebensstil und Lebensrhythmus, kurz: die eigene Lebenswelt. "Lebenswelten" lautet daher der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten. Mit grenzüberschreitenden Alltagsszenen aus verschiedenen Berufen. Heute die letzte Folge: Sozialarbeiter in Europa. Was erwartet die Gemeinschaft von Sozialarbeitern, die mit immer weniger Mitteln immer größeren Ansprüchen gerecht werden müssen? Und was bringt haupt- und ehrenamtliche Helfer dazu, nicht selten bis an ihre Grenzen zu gehen, um jene aufzufangen, die vom Rande der Gesellschaft abgekippt sind? In einer zersplitterten Gemeinschaft, für die das Wort "Solidarität" nur noch ein Nachhall ist aus längst vergangenen Zeiten? Auf dem vermeintlich reichen Kontinent Europa geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf. Das Wohlstandsgefälle innerhalb Europas ist auch mit der Osterweiterung der Europäischen Union noch einmal größer geworden. Und die, die außen vor sind, sind auf sich gestellt. Das Beispiel Russland: mit der Sowjetunion ist auch das gesamte Sozialsystem kollabiert. Die Not kann man tagtäglich auf den Straßen sehen. Schätzungsweise vier Millionen Menschen haben kein Dach über dem Kopf. Sich um ihre Not zu kümmern, bleibt fast ausschließlich Nichtregierungsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen überlassen. Ihnen fehlt aber oft das nötige Geld, denn eine Spendenkultur oder privates soziales Engagement haben in Russland keine Tradition. Die Sozialarbeiterinnen der russischen Caritas fahren - allen Widrigkeiten trotzend - einmal in der Woche zum Platz der drei Bahnhöfe in Moskau und versorgen die Obdachlosen mit Essen und Tee. Gesine Dornblüth hat sie begleitet. Ein Butterbrot als Lebensretter - Unterwegs mit der russischen Caritas Eine Küche im sechsten Stock eines Moskauer Wohnhauses. Es ist später Dienstag Nachmittag. Marina Perminowa schneidet Brotlaibe in dicke Scheiben und stapelt sie auf dem Tisch. Daneben hat sie aufgetürmt. Ihre Kollegin, Maria Chochlowa nimmt zwei Stück Brot, legt mit Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 2 spitzen Fingern zwei Scheiben der rosa Wurst dazwischen, klappt sie zusammen und steckt sie in eine Tüte. Manchmal baut sie, nach kurzem Überlegen, noch eine zweite Schicht Wurst und eine dritte Scheibe Brot darauf. Ich mache das wie eine Mutter: Je mehr, desto besser. (Lachen). Außerdem muss es gerecht sein. Wir schneiden ja mit der Hand. Manche Scheiben fallen etwas dünner aus, dann lege ich eine Extraportion Wurst darauf. So sehen die Butterbrote interessant aus! Die Wurst muss einen ordentlichen Anteil Fett haben. Damit es unseren Obdachlosen besser schmeckt. Sie bekommen ein Brot und einen Becher Tee mit Zitrone. Jeden Dienstagabend fahren Marina Perminowa und Maria Chochlowa zum zentralen Bahnhofsvorplatz in Moskau und geben dort Essen aus. Die beiden leiten das Obdachlosenprojekt der Moskauer Caritas. Maria Chochlova legt das Brotmesser zur Seite und richtet sich auf. Ich habe über die Jahre meine Einstellung etwas geändert. Ich habe begriffen, dass Obdachlosigkeit ein sehr vielschichtiges Phänomen ist. Einerseits ist der Mensch selbst für sein Leben verantwortlich und gestaltet es. Andererseits gibt es die Verhältnisse, auf die wir keinen Einfluss haben. Der Mensch hat trotz allem die Wahl, was er aus seinem Leben in den jeweiligen Verhältnissen machen möchte. Ich hatte früher zu viel Mitleid mit den Menschen. Jetzt versuche ich, die Arbeit nüchtern zu sehen. Gegenüber sitzt ein Mann auf einem Hocker und wartet. Valera ist selbst obdachlos. Er hilft den Frauen bei der Speisung, hat die Lebensmittel eingekauft. Sein Gesicht ist grau, die Wangen eingefallen. Bei der Caritas fühlt er sich ernst genommen. Mit staatlichen Stellen dagegen hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Für die sind wir keine Menschen. Wir sind für die Niemand. Ohne Papiere bin ich nichts, die wissen nicht mal, wie sie mich nennen sollen. Sobald du etwas vom Staat forderst, sperren sie dich ein. Meine Rechte sind denen völlig egal. In Russland gibt es kein Gesetz, das den Status von Obdachlosen regelt. Sie existieren deshalb offiziell gar nicht. Maria Perminova mischt sich beschwichtigend ein. Das Problem ist, dass es Obdachlose bei uns in Russland offiziell erst seit 15 Jahren gibt. Deshalb ist die Arbeit für Obdachlose noch unterentwickelt. Die Sozialverwaltung hat in Moskau sieben Obdachlosenheime eingerichtet. Der Leiter der Sozialverwaltung tut, was in seiner Macht steht. Wir hier bei der Caritas sind Pioniere auf dem Gebiet der Sozialarbeit. Wir sind den staatlichen Stellen immer ein Stück voraus. Die 48-Jährige hat noch eine zweite Arbeitsstelle bei der städtischen Obdachlosenhilfe. Denn von einem Lohn kann sie nicht leben. Sozialarbeiter in Russland werden schlecht bezahlt. Der Staat tue, Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 3 was er könne, meint die studierte Psychologin. Die beiden Frauen sind stolz darauf, dass die staatlichen Stellen mittlerweile einzelne Ideen von ihnen übernehmen. Noch immer begegnen viele russische Beamte nichtstaatlichen Organisationen mit Skepsis. Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Übrigens: Genau diese Devise hat inzwischen auch die Sozialverwaltung ausgegeben: Dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Inzwischen sind die Butterbrote verstaut. Valera greift nach den Kanistern mit heißem Tee, und die beiden Frauen vermummen sich in dicke Mäntel. Draußen ist es kalt, es schneit seit Stunden. Marina zieht ihren Schal bis über den Mund, Maria klappt ihren Pelzkragen hoch. Draußen im Hof beugt sich der Fahrer über die geöffnete Motorhaube des Kleinbusses. Feine Schneekristalle fliegen waagerecht und beißen in die Haut. Marias stellt die Tüten mit Butterbroten ab und wippt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Solche Schwierigkeiten haben wir nicht täglich, aber oft. Komisch, der Wagen fährt sonst immer. Die Zeit drängt. Der Wagen gehört der Stadt, der Fahrer, selbst obdachlos, muss bis 22 Uhr im Heim sein und den Wagen vorher zurückgebracht haben. Und Maria will die Bedürftigen nicht warten lassen. Schließlich organisiert ein anderes Auto. Mit zwei Stunden Verspätung kommen die Frauen schließlich am Bahnhofsvorplatz an. Sofort bildet sich eine Menschentraube. Alte und junge Männer drängeln und drücken, einige mahnen zur Ordnung. Freiwillige Helferinnen sind schon da, haben aus Leergutkisten einen Tresen gebaut. Jetzt schöpfen sie Tee in Plastikbecher. Jeder bekommt ein Päckchen mit Brot. Ein Mann mit Holzbein und Krückstock kommt auf Maria zu. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine bloßen Finger aufgeplatzt. Das ist unsere Maria. Sie hilft uns allen. Mir hat sie auch den Stock besorgt. Und Socken. Und Unterhosen. Wenn es geht, verschafft sie uns auch Arbeit. Und die Mütze habe ich von ihr, und die Strickjacke. Maria lächelt. Als Psychologin könnte sie im boomenden Moskau einen besser bezahlten und angeseheneren Job haben. Man muss Idealist sein. Und noch Philosoph. Als Realist kann man hier nichts erreichen! Wie Maria Chochlova von der Caritas in Moskau war der Schriftsteller und Theaterregisseur Bert Brecht überzeugt von der Veränderbarkeit der Verhältnisse durch den Menschen. Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 4 Seine populärste Kapitalismuskritik, "Die Dreigroschenoper", schrieb er in den zwanziger Jahren, in einer Zeit wirtschaftlicher Depression und gesellschaftlicher Verrohung. Parallelen gibt es im 21. Jahrhundert durchaus: Massenarbeitslosigkeit, Erosion der Sozialsysteme, Altersarmut, Kriminalität, Kriegsfolgen, Globalisierung der Weltwirtschaft. Überall sind bei diesen gravierenden Problemen Sozialarbeiter gefragt. Sie sollen helfen, wenn nichts mehr geht. Handlungsspielraum haben sie indessen kaum, denn die Antwort auf die Frage, wie das künftige Verhältnis aussehen soll zwischen staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung der Bürger, sie ist längst nicht beantwortet. Viele Betreuer sind verunsichert, Behörden häufig überfordert. In Großbritannien hatte sich New Labour unter dem jungen charismatischen Premier Tony Blair, vorgenommen die sozialpolitischen Ungewissheiten zu beseitigen. Das Gesundheitsund Rentensystem auf humane Weise zu modernisieren. Die Kinderarmut bis zum Jahr 2020 abzuschaffen. Heute, nach zehn Jahren, ist das Klassenziel längst nicht erreicht. Dramatisch ist dagegen die Misere von Alten und Kindern. Labour kann jedoch auf ein Flagschiff verweisen. Eines der wenigen erfolgreichen Frühförderprogramme für Kinder. "Surestart", der sichere Start ins Leben. Landesweit sollen in allen Kommunen Surestart-Zentren Familien in sozialen Brennpunkten aus der Isolation holen, Gewalt und Missbrauch vorbeugen. Vor allem die Betreuerinnen sind von diesem Konzept überzeugt, wie Ruth Rach festgestellt hat. Ein sicherer Start für Kinder Shabama und Patricia arbeiten im "Surestart"-Zentrum in Westminster für Familien und gegen Gewalt Ein heller Raum mit einer freundlichen Kuschelecke, geschmackvollen Holzspielsachen, und einer große Terrasse, von einem künstlichen Rasenteppich überzogen. Das Surestart Zentrum in Westminster im Herzen von London. Es ist kurz vor zehn. Eine junge Frau verteilt Spielsachen für den Eltern- und Babymorgen. Shabana, blaue Augen, nordenglischer Akzent, muslimisches Kopftuch. "Der Spielmorgen hat einen verborgenen Zweck: wir wollen Frauen aus ihren Wohnungen locken und ihnen die Chance geben, über ihre eigene Situation zu sprechen, ohne dass sie das Gefühl haben, sie werden ausgefragt." Gleich um die Ecke liegen Big Ben, die Downing Street, das Parlament. Aber: Westminster ist kein wohlhabender Stadtteil. In den massiven Backsteinriegeln hinter dem Sure-Start Zentrum sind hunderte von Sozialwohnungen - die Bewohner kommen aus allen Teilen der Welt. Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 5 Shabana. Anfang 30, rundlich, vertrauenswürdig, souverän. Von Beruf: 'outreach worker' - ein entscheidendes Verbindungsglied zwischen potentiell gefährdeten Familien und Sozialarbeitern. Shabana findet es leicht, mit den Frauen ins Gespräch zu kommen. "Ich stamme aus einer weißen britischen Arbeiterfamilie, bin aber als konvertierte Muslimin auch imstande, auf ganz andere Umstände einzugehen." Mit 16 heiratete Shabana einen Muslim und zog von Nordengland nach London. Bereits mit 15 war sie zum Islam übergetreten. Ihr Vater gab der Ehe höchstens ein Jahr. Aber ihre Mutter hielt zu ihr. Inzwischen hat Shabana drei Kinder - und ist weiterhin glücklich verheiratet. Sie selbst hat Surestart viel zu verdanken. "Surestart half mir schrittweise aus meiner Wohnung zu kommen und einen Beruf zu finden, der mir Spaß macht. Mein zweitgeborener war grade ein Jahr alt, als ich entdeckte, es gibt etwas für Mütter wie mich, die ihr Selbstvertrauen verloren haben und sich nicht mehr unter fremde Leute trauen." Erst ging Shabana zum Mutter- und Babytreff, dann wurde sie im Elternforum aktiv: das Surestart Programm ist auf die Bedürfnisse der jeweiligen Community zugeschnitten. Eltern sagen welche Einrichtungen sie brauchen. Shabana organisierte Ausflüge, veranstaltete Feste zu hohen muslimischen Feiertagen Sie belegte Fortbildungskurse, seit drei Jahren ist sie Outreachworker.: Das Surestart Programm in Westminster betreut 800 Familien, jeden Tag kommen noch mehr hinzu, sagt Teamleiterin Patricia Alert: sie selbst ist afrokaribischer Herkunft, herzlich, zupackend, fast zwei Meter groß. Patricia managt 20 Mitarbeiter: Kindergärtner, Sozialarbeiter, Hebammen, Sprachtherapeuten, Psychologen. Alle unter einem Dach, vor der Türschwelle der Community. Shabana wohnt gleich um die Ecke, und hat einen direkten Draht zu den Eltern. Gleichzeitig besitzt sie genug professionelles Training, um Probleme frühzeitig zu erkennen. Outreach Worker wie Shabana besuchen jedes Neugeborene in der Nachbarschaft innerhalb der ersten 8 Lebenswochen. Sie erzählen den Familien welche Angebote es gibt - und verschaffen sich ein Bild von den Lebensumständen der Familie. Gleichzeitig halten sie die Sozialarbeiter auf dem Laufenden. Das Wort Sozialarbeiter baut bei vielen Eltern eine Barriere auf - sie bekommen einen Riesenschreck, wenn ein Sozialarbeiter bei ihnen anklopft und fürchten gleich, dass man ihnen die Kinder wegnimmt. Viele Sozialarbeiter können ihren Job deshalb gar nicht richtig erfüllen. Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 6 Shabana hat eine unaufdringliche Präsenz. Sie spielt mit Kindern, schwatzt mit Müttern, Großmüttern, Nannys. Ein knappes Dutzend sind heute da: ihre Herkunftsländer: Korea, Bangladesh, die Slowakei, Polen - und Großbritannien. Kinder brauchen einen guten Start - lautet die Prämisse des Surestart Programms. Je früher, desto besser. Im Schulalter haben sie den Anschluss vielleicht schon verpasst, betont Patricia Alert. Vor 22 Jahren begann die ausgebildete Kindergärtnerin, Nähkurse für Mütter aus Bangladesh einzurichten und sie mit informellen Englischstunden zu kombinieren: ein Riesenerfolg. Die Frauen lernten die Landessprache, knüpften Kontakte und nahmen preiswerte Kleider mit nach hause. Frauen verstecken sich gern hinter ihren Kindern, um sich vor der Welt abzuschirmen, sagt Patricia Alert. Ihrem Team geht es darum die Welt des Kindes zu ändern, aber durch die Eltern: wenn die Erwachsenen nicht mitziehen, ist auch dem Kind auf Dauer nicht geholfen. Die Länder des früheren Ostblocks leiden seit der Wende immer noch unter dem Verlust der allumfassenden sozialistischen Obhut. Jeder Bereich des Lebens - von der Wiege bis zur Bahre - war abgesichert durch den Staat. Mit dem Zerfall der kommunistischen Systeme brach auch die Fürsorge weg. Staatliche Betreuung von sozialen Härtefällen ist in einigen Ländern zwar im Wiederaufbau. Es sind aber vor allem Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, die in die Bresche springen. Finanziert werden sie aus dem Ausland. In Rumänien hat die kommunistische Diktatur allerdings ein schweres sozialpolitisches Erbe hinterlassen. Alte, Kranke, Behinderte und Waisen passten nicht in die menschenfeindliche Ideologie des Ceausescu-Regimes. Sie wurden als sogenanntes "nicht mehr verwertbares Menschenmaterial" in entlegene Verwahranstalten weggesperrt. Viele Opfer vegetieren bis heute unter schlimmsten Bedingungen vor sich hin. Selbst nach dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union am 1. Januar. Am unteren Ende der Skala stehen Menschen, die die Gesellschaft ohnehin abgeschrieben hat: Strafgefangene. Mihaela Sasarman, eine Theaterwissenschaftlerin aus Bukarest, will sich damit nicht abfinden. Keno Verseck traf eine einsame Kämpferin. Verwahren oder resozialisieren? Mihaela Sasarman therapiert Schwerverbrecher im rumänischen Strafvollzug. Hochsicherheitsgefängnis Bukarest-Rahova, sechs Uhr dreißig morgens. Ein Wärter öffnet die beiden Eisentüren einer Zelle. "Aufstehen!", schreit er, "raus aus den Betten!" Die Männer, Mörder und schwere Gewaltverbrecher, erheben sich provozierend langsam, kurz darauf knallt der Wärter die Tür wieder zu. Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 7 Es herrscht ein rauer Ton im Gefängnis Rahova. Was zählt im Umgang zwischen Personal und Gefangenen, ist die nackte Hierarchie, sonst nichts. Acht Uhr im Büro, Gefangeneneinschätzung. Zwischen dem Gefängnispsychologen und den Wärtern sitzt Mihaela Sasarman. Die 49jährige mit den getönten, kurzen roten Haaren ist die einzige Frau der Abteilung. Sie spricht ruhig, immer wieder wirbt sie um mehr Verständnis für die Gefangenen. Mihaela Sasarman ist Theaterwissenschaftlerin, Therapeutin und Sozialarbeiterin, sie arbeitet seit fünfzehn Jahren in rumänischen Gefängnissen. Seit 1999 kommt sie zweimal wöchentlich nach Rahova und hilft Schwerverbrechern mit einem Therapieprogramm bei ihrer Resozialisierung. Es ist das einzige derartige Projekt im rumänischen Strafvollzug. Die Mehrheit der Leute, die in den Gefängnissen arbeitet, ist der Meinung, dass sich Gefangene nicht ändern. Ich will über diese Behauptung nicht debattieren, ich denke nur, dass ein gutes System der Reintegration eine Chance bietet, dass sich zumindest ein großer Teil der Gefangenen ändert. Sie sind nicht hier, weil sie böse geboren wurden. Viele sind hier, weil sie in der Gesellschaft nur begrenzten Zugang zu Mitteln und Möglichkeiten hatten. Später am Vormittag. Ein Wärter ruft zwei Häftlinge, beide verurteilte Mörder, zur so genannten Gemeinschaftsstunde mit Mihaela Sasarman. Es ist ein Resozialisierungsprogramm mit dem Ziel, sich selbst zu kontrollieren und Konflikte ohne verbale oder tätliche Gewalt zu lösen. Cornel Arsene, ein kleiner 37-Jähriger Mann, begrüßt Mihaela Sasarman und setzt sich. Vor zehn Jahren erstach er die beste Freundin seiner ehemaligen Frau. Es war der traurige Höhepunkt in einem Scheidungs- und Eifersuchtsdrama, Arsene bekam achtzehn Jahre Haft. Mihaela Sasarman arbeitet seit zwei Jahren mit ihm. Heute erzählt Arsene ihr, dass er nächtliche Geräusche in der Zelle, zum Beispiel Schnarchen anderer Gefangener nicht aushalte. Die Therapeutin bohrt mit Fragen nach, sie will dass Arsene Zustände wie Aggressivität bei sich erkennt. Er sitzt da wie ein verzweifelter Schuljunge. Was soll ich denn machen, wenn meine Ohren so empfindlich sind?!, fragt er hilflos. Der Wärter, der die Gefangenen bewacht, lächelt spöttisch. Er sieht aus, als fände er die Therapie vollkommen überflüssig. Mihaela Sasarman hat Geduld. Und nicht nur das. Sie spricht auch höflich mit den Gefangenen, sie duzt sie nicht, am Ende bedankt sie sich für die Mitarbeit. Kleine Gesten, die sie in eine Welt ohne Würde und voller Brutalität streut. Später, im Büro, lobt sie Cornel Arsene. Er ist sehr gut dabei, sich selbst zu beobachten. Er hat sich schon in vielerlei Hinsicht geändert. Das hat ihm geholfen, im Gefängnis Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 8 besser klarzukommen. Ich denke, er wird auch den nächsten, den entscheidenden Schritt machen: an sein Opfer zu denken. Allerdings habe ich bisher noch mit keinem Häftling unter den Mördern gearbeitet, der Mitgefühl für sein Opfer empfunden hätte. Stimmt es also doch, was die Mehrheit des Personals denkt - dass sich die meisten Häftlinge nicht grundlegend ändern? Mihaela Sasarman überlegt eine Weile, dann erzählt sie die Geschichte eines ehemaligen Häftlings. Wegen ständiger Einbrüche und Raubüberfälle war er jahrelang immer wieder ins Gefängnis gekommen. Er stahl meistens Autoradios. Nachdem er wieder einmal eine seiner Strafen verbüßt hatte, brach er noch einmal ein Auto auf. Am nächsten Tag ging er zur Polizei und gab das Autoradio ab. Beim Prozess sagte er zu der Richterin: Er habe in unserem Resozialisierungsprogramm mitgearbeitet, deshalb habe er sich der Polizei gestellt. Er wisse mit Sicherheit, dass dies sein letzter Diebstahl gewesen sei, deshalb bitte er um eine milde Strafe. Seit seiner letzten Freilassung arbeitet er nun bei der Stadtreinigung. Er hat eingesehen, dass er sich ändern kann, aber es ging nicht über Nacht. Er hat lange gebraucht und es schließlich geschafft. Ja, sein Fall hat mich sehr beeindruckt. Es sind eher noch kleine Erfolge, auf die Mihaela Sasarman nach so vielen Jahren Arbeit zurückblickt. Und das verwundert kaum. Sind doch selbst elementarste Probleme in rumänischen Gefängnissen ungelöst. Insgesamt muss man sagen, dass die Rechte der Gefangenen nicht in vernünftiger Weise respektiert werden, nirgendwo in den Gefängnissen. In erster Linie muss mehr Personal eingestellt werden. Dann muss auch die Verpflegung und die medizinische Versorgung verbessert werden. Und schließlich: Wir, die Leute, die seit langem als externe Mitarbeiter in den Gefängnissen arbeiten, haben den Behörden immer wieder die Frage gestellt: Welche Funktion soll das Gefängnis haben? Verwahranstalt oder Ort der sozialen Reintegration? Es gibt noch immer keine klare Antwort darauf. Organisierte Wohltätigkeit gibt es in vielen Ländern Europas erst seit dem 1. Weltkrieg. Not und Elend auf dem gesamten Kontinent halfen, die staatlichen Sozialversicherungssysteme endgültig zu etablieren. Die Ausbildung von Helfern und Helferinnen wurde professionalisiert. Die letzten Kriege im Herzen Europas liegen noch nicht einmal ein Jahrzehnt zurück. In den betroffenen Regionen auf dem Balkan herrscht aber immer noch Stagnation. Die Hilfsmaschinerie, die 1999 in Gang gesetzt wurde, unterstützt die Menschen dabei, in die Normalität zurückzukehren. Eine Perspektive haben sie deshalb noch lange nicht. UNMIK, die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen im Kosovo, wacht Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 9 nicht nur über einen brüchigen Frieden, auch über ein Gemeinwesen geprägt von Misstrauen und Kriegstraumata. Armut und Arbeitslosigkeit bestimmen das Leben der Menschen dort. Darunter leidet vor allem die junge Bevölkerung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Der Deutsche Peter Luft, der für die Kindernothilfe tätig ist, will deshalb mehr als nur das Notwendige tun. Seit 1999 lebt und arbeitet er mit seiner Familie in der geteilten Stadt Mitrovica. Ausgerechnet an einem der politischen Brennpunkte des Kosovo. In einer Ausbildungswerkstätte lernen junge Männer das Wichtigste für den Hausbau, junge Frauen werden zu Fremdsprachensekretärinnen ausgebildet. Ein Projekt mit Zukunft. Die Erfolgsquote bei der Arbeitsvermittlung liegt bei ungefähr 50 Prozent. Andrea Mühlberger hat Peter Luft in Mitrovica besucht. "Der einzelne Mensch in der Masse verändert die Masse am Ende" Oder warum Peter Luft im Kosovoan Frieden und eine gute Zukunft glaubt "Ich versuch denen Tag für Tag klar zu machen: Es geht ausschließlich und exklusiv um Beschäftigung, um Beschäftigung, um Beschäftigung, um Befriedung des Landes und das geht nur über Beschäftigung." Peter Luft steht in einer geräumigen Fabrikhalle, überwacht mit munteren Augen, wie eine Gruppe von Lehrlingen sich gerade an einem Dachstuhl abmüht. Und kratzt sich den kahlen Schädel, während er über Sinn und Zweck seiner Arbeit philosophiert, durch die es ihn ausgerechnet hierher verschlagen hat - in die Krisenzone Kosovo. "Sozialarbeiter sind nicht bessere Menschen, sondern ach! auch Menschen, mit großen Schwierigkeiten, Menschen aus Fleisch und Blut. Ich rede hier für mich - und dass ich einen Hang habe, was Gutes zu tun. Das gibt mir eine gewisse Befriedigung. Das mag zwar nicht professionell klingen, aber ich lebe von den Erfolgen, die ich habe, und das gibt mir Kraft, jeden morgen wieder gegen diese Windmühlen zu kämpfen." Peter Lufts "Windmühlen" - das sind halsstarrige Beamte der Internationalen Kosovo-Verwaltung UNMIK, zögerliche Unternehmer und vor allem abstrakte Zahlen, die in den staubigen Ausbildungsräumen der Kindernothilfe Mitrovica aber sehr konkrete Gestalt annehmen: Sechs von zehn Jugendlichen im Kosovo sind arbeitslos. "Ich hab die Schule beendet, hier gibt's ganz wenig arbeit. Drei Monate haben wir hier Praktikum, dann noch ein Monat bei einer Firma - das hilft uns sehr, dass wir hier Arbeit finden." Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 10 Solche Schulabgänger ohne Job wie der 17-jährige Ariel sollen in dem Ausbildungsprojekt von Peter Luft in nur wenigen Monaten lernen, was in Deutschland mindestens zwei bis drei Jahre dauern würde: Wie man ein Haus baut - und zwar von A bis Z. Der ausgebildete Maurer Peter Luft weiß, wovon er spricht: "Der Baubereich umfasst den Maurer, den Stahlbauer, den Betonbauer, den Verputzer, den Fliesenleger - einfach die gesamte Palette. Wir versuchen hier realitätsnah zu simulieren, wie das etwa auf dem Bau aussieht. Da werden nicht trockene Leitungen verlegt, und irgendwann schaut dann mal einer, ob es tropft. Wir versuchen, dass hier so zu verlegen, dass die Schüler lernen, komplette Aufgaben zu erfüllen." Selbständiges Arbeiten. Bei Peter Luft lernen arbeitslose Jugendliche sozusagen in kleinen Modulen, worauf das ganze Land im Großen vorbereitet wird: die Unabhängigkeit. Und das auch im moralischen Sinne: "Das ist das Wichtige an der Aufgabe: Die Menschen nicht nur sozial und wirtschaftlich zu stabilisieren, sondern auch psychologisch. Nicht nur an Krieg, an Vergangenheit, an Schwierigkeiten zu denken, sondern an Zukunft, an positive Dinge, dass sie durch Arbeit und Ausbildung auf sich selbst gestellt sich positiv entwickeln können. Und das bringt uns Frieden." Doch der Weg dahin ist lang und steinig. Der Sozialarbeiter Peter Luft ist diesen Weg von Anfang an mitgegangen, ein Mann der Stunde Null. Hemdsärmelig, in Jeans, kariertem Hemd, mit JohnLennon-Brille und festem Schuhwerk. Und nicht mit der üblichen Eroberer- und Reichsverweser-Attitüde, die viele Mitarbeiter der Internationalen Organisationen im Kosovo an den Tag legen. Während seiner Kaffeepause, es gibt den süßen Albanischen, dazu Waffelkekse aus Deutschland, sitzt Peter Luft vor der Ausbildungsstätte in der Sonne auf einem wackligen Stuhl - und geht in sich: "Die Motivation gründet sich darin, dass ich 1999 nach dem Krieg erlebt habe, wie Kosovo zerstört war, am Boden war, ich hab direkten Kontakt gehabt mit Kindern, die keine Eltern hatten, mit Kindern die ohne Arme, ohne Beine, nicht lebten, sondern vor sich hinvegetierten. Die Situation hat mich persönlich so sehr mitgenommen, dass ich nach meinem ersten Aufenthalt im November 1999 beschlossen habe in Deutschland alles aufzugeben und nach Kosovo zu kommen." Erst als Helfer für eine Missionsstation in Mitrovica. Dann wollte die Kindernothilfe den engagierten, fleißigen jungen Mann für konkrete Ausbildungsprojekte. Seine Hauptaufgabe jetzt? "LobbyArbeit für die Berufsausbildung" - sagt Peter Luft. Das heißt, er ist den ganzen Tag unterwegs, führt Gespräche mit lokalen Firmen, Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 11 Sponsoren, Ministerien - und rührt für seine gemessen an kosovarischen Verhältnissen hoch qualifizierten Lehrlinge die Werbetrommel. Und damit er noch ein bisschen was von seiner Familie hat - Peter Luft lebt mit Frau und zwei, i kleinen Kindern im Kosovo, das dritte ist unterwegs - klingelt der Wecker schon um sechs Uhr früh. Ohne Familie würde er die Arbeit und das Leben im Kosovo aber auch nicht aushalten - meint Peter Luft: "Wenn die gesamte internationale Staatengemeinschaft über Jahre hier allein arbeitetet, herumschwirrt, ihre Arbeiten machen, ich glaube hier fehlt auch diese soziale Komponente. Deswegen ist das auch für uns als Familie sehr wichtig gewesen, das war auch unsere Bedingung, dass wir nur als Familie hierher kommen. Das ist für mich persönlich ein großer Stabilitätsfaktor, den ich nicht missen möchte. Ich würde hier nicht alleine arbeiten, nein, das mache ich nicht." Kein Wunder, wenn man, wie Peter Luft, in einer Großfamilie aufgewachsen ist: Als viertes von zehn Kindern kam er in Kirgisien zur Welt, in den 80er Jahren übersiedelte die Familie mit deutschen Wurzeln nach Bonn. Peter Luft hat eine gewisse Übung darin, sich in einer fremden Umgebung und Alltagskultur zurechtzufinden. Sein zeitaufwendiger Job bleibt für die junge Familie eine Riesenherausforderung: "Wenn der Moment kommt, macht das überhaupt noch Sinn die Arbeit, dann sind bei mir die Punkte erreicht, wo man sagt, Mensch geh doch besser nach Hause. Ich bleib trotzdem hier, weil durch die schwierige Zeit, die man hier erlebt hat in jetzt fast acht Jahren, hat man natürlich sehr intensive Freundschaften, Deutschland ist ja nur noch sekundär...Natürlich ist man immer im Konflikt mit sich selbst, gerade, wenn man mit Familie hier ist. Ich hab mich oft gefragt, ob ich jetzt nicht arbeitskrank bin...Ich geh dagegen so vor, dass wir spontan am Wochenende mit der Familie immer wieder außer Landes gehen. Griechenland ist in der Nähe - wunderschön. Und mit unseren deutschen Pässen sind wir ja privilegiert hier." Ansonsten gelten für alle im Kosovo die gleichen Regeln: Fast täglich Stromausfall, oft gibt es nicht genügend sauberes Wasser. Die Straßen sind schlecht und gefährlich. Und dann ist da noch die albanische Clangesellschaft, in der man sich erst einmal zurechtfinden muss. Gerade als Sozialarbeiter muss man aufpassen, dass man nicht Teil des Systems wird - warnt Peter Luft. Er macht das nach dem Grundsatz: "Gerechtigkeit. Gerecht. Gerade im Balkankontext ist mein Motto ganz explizit keine Familienclan-Förderung, keine Menschen reich machen. Sondern dem einzelnen Menschen helfen. Der einzelne Mensch zählt, und der einzelne Mensch in Masse verändert die Masse am Ende. Das ist mein Motto." Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 12 Der Mensch lebt gut - im skandinavischen Wohlfahrtsstaat. Könnte man meinen, denn das berühmte Modell scheint nach wie vor gewappnet gegen die großen Herausforderungen: demografischer Wandel, Globalisierung, Verlust sozialer Netze, Bildungsmisere und Integrationsprobleme. Doch auch im hohen Norden ist nicht alles Gold, was glänzt: Dänemark beklagt inzwischen einen Mangel an gut ausgebildeten Sozialarbeitern. Die Arbeit ist nicht mehr attraktiv, für dänische Verhältnisse schlecht bezahlt. Und die Angestellten klagen über zu viel Bürokratie und zu wenig Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben. Es ist hier wie anderswo eine Frage der politischen Prioritäten: Dänemark steckt die sprudelnden Einnahmen aus dem Nordseeöl lieber in die Schuldentilgung als in notwendige Sozialreformen - ob im Gesundheitswesen oder in Schulen oder in der Kinderbetreuung. Wer in Dänemark einen sozialen Beruf ergreift, der muss sich berufen fühlen. So wie die Tagesmütter, die vom Staat fest angestellt werden. So wie ihre Supervisoren. Das sind Ansprechpartner für Tagesmütter, für die betreuten Kinder und ihre Familien. Denn ein Prinzip gilt nach wie vor im skandinavischen Wohlfahrtsmodell: jeder hat Anspruch auf Förderung und Hilfe. Marc-Christoph Wagner über den Beruf von Jette Lykkegard. Rundumbetreuung der Kleinsten. Jette Lykkegard ist in Kopenhagen da für alle :Tagesmütter, die betreuten Kinder und ihre Familien Für Jette Lykkegård ist es ein Nachmittag wie viele andere. Die schlanke 49jährige mit dem blonden, halblangen Haar ist unterwegs zu einem Hausbesuch - bei einer der 15 Tagesmütter, die ihrer Aufsicht unterstellt sind. Lykkegård ist deren Ansprechpartner für Fragen und Probleme, vor allem aber ist sie Anwältin der 60 betreuten Kinder. Worauf ich besonders achte, ist der Umgangston unter den Kindern sowie den Kindern und der Tagesmutter. Darüber hinaus: Was können die Kinder, werden sie genügend gefördert, entspricht das Spielzeug ihrem Alter und ihren Fähigkeiten? Und natürlich, wie sehen die Mahlzeiten aus - das ist auch ein wesentlicher Aspekt. Anne Jensen öffnet die Tür - die einjährige Pauline auf dem Arm, Maya und Markus im Schlepptau in Windel und T-Shirt. Draußen im Garten schläft Sarah noch immer in ihrem Kinderwagen. In der Küche stehen vier Kinderstühle um den Tisch. Darauf vier kleine Teller und Plastikbecher mit Milch, Schalen mit geschnittenem Obst, ein Teller mit selbst gebackenen Brötchen mit Butter. Während sich Anne entschuldigt, um Paulines Windel zu wechseln, schweift Jettes Blick durch den Raum: Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 13 In den Schubladen hier dürfen keine Messer liegen, an die die Kinder herankommen können, überhaupt darf hier nichts sein, was den Kindern schaden könnte. Wenn für diese Dinge anderswo keinen Platz gibt, dann muss man eine Sicherheitsvorrichtung anbringen, aber das weiß jede halbwegs erfahrene Tagesmutter aus dem Effeff. Keine Gläser, die kaputt gehen und an denen sich die Kinder dann schneiden könnten, keine hängenden Kabel etwa an der Kaffeemaschine, durch die sie diese herunterreißen. Sicherheit ist wichtig, sagt Jette. Nach vielen Jahren Berufserfahrung im Umgang mit Eltern, Kindern und den Tagesmüttern aber weiß sie, es ist bei weitem nicht das ein und alles: Wenn neue Eltern etwa hier ins Haus kommen, um zu sehen, ob Anne die geeignete Tagesmutter für ihr Kind ist, dann fragen sie nicht, ob es Messer in der Küche gibt, an denen sich ihre Kinder schneiden können. Entscheidend ist Annes Persönlichkeit. Wie geht sie mit den Kindern um, wie ist die gesamte Stimmung im Haus – darauf kommt es an. Anne setzt Pauline auf ihren Stuhl, Maya und Markus möchten ein Stück Banane. Seit 18 Jahren arbeitet Anne als Tagesmutter - kein Job, sagt sie, sondern ein Lebensstil. Das erste Kind komme morgens um acht, das letzte werde nachmittags um halb fünf geholt, in den Stunden dazwischen wird das Haus der Jensens zur Spielwiese der Kinder. Dass Anne trotz ihrer Routine noch immer regelmäßig kontrolliert wird, empfindet sie als selbstverständlich: Ich selbst hatte ja auch einmal kleine Kinder- ich weiß doch, wie junge Eltern denken, man möchte wissen, wen man sein Ein und Alles überlässt. Es ist doch klar, dass Jette schaut, ob ich rauche oder nicht, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich würde mein Kind auch nicht gerne im Haus eines Rauchers wissen. Jette möchte ihre Arbeit nicht auf die Rolle des Kontrolleurs reduziert wissen. Sicher schaue sie nach dem Rechten, doch sie nehme ebenso viele Anregungen mit zurück ins Büro. In den vergangenen Jahren hätten sie und ihre Kollegen in Zusammenarbeit mit den Tagesmüttern pädagogische Leitlinien formuliert. Jette reizt die Vielseitigkeit ihrer Arbeit, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln, nicht so sehr die Bezahlung. Wie überhaupt die Politiker viel von den Kindern als wichtigste Investition in die Zukunft redeten, diesen Worten aber nicht immer die nötigen Mittel folgen ließen. Und natürlich die Kinder, die sie bei ihren Tagesmüttern in guten Händen weiß und die - in einer hektischen Welt mit gestressten Eltern - einen guten Start ins Leben bekämen. Wenn wir materiell reich sind, fehlt es uns an Zeit. Doch eben Zeit ist es, was die Kinder brauchen. Sie wollen den Erwachsenen zuhören, ohne dass diese gleichzeitig telefonieren oder vor dem Computer sitzen. Genau dieser Gedanke ist für mich das Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only. Deutschlandrundfunk (www.dradio.de) Thema: SOZIALE ARBEIT UND SOZIALE PROBLEME GESICHTER EUROPAS (30. Juni 2007) Stunde I. - II. 14 Entscheidende - die Kinder sollen einen so stressfreien Alltag wie möglich erleben, in dem wir die Zeit haben, auf sie einzugehen und sie in ihrer Entwicklung zu fördern. Wissen sie, man kann zum Spielplatz gehen, um dort anzukommen und zu schaukeln. Man kann aber auch den Weg dorthin als Sinn und Zweck des Ganzen betrachten - indem man stehen bleibt, wenn man einen Regenwurm auf der Straße sieht, über Dinge spricht, die man wiedererkennt oder, die die Kinder wahrnehmen. Es sind diese Alltäglichkeiten, die wir zusammen mit den Tagesmüttern befördern wollen. Generated by Foxit PDF Creator © Foxit Software http://www.foxitsoftware.com For evaluation only.