PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 1 Modale Semantik Deontische und epistemische Modalität 1. Semantik der Modalverben In der Logik wird die Semantik (Bedeutung) der Modalverben mit Hilfe der Merkmale NOTWENDIGKEIT (nutnost) und MÖGLICHKEIT (možnost) beschrieben. Um auch Modalverben vom Typ wollen integrieren zu können, wird zusätzlich das Merkmal VOLUNTALITÄT („Willentlichkeit“, voluntativní modalita) verwendet. MÖGLICHKEIT stellt im Sinne der Logik die Verneinung von NOTWENDIGKEIT dar (Žaža 2002). Für die im Deutschen allgemein angesetzten Modalverben (Helbig/Buscha 1999, 131– 135) ergibt sich daraus folgende Verteilung: Modalitätstyp Quelle der Modalität / sonstige Bemerkungen dürfen [–NOT] Autorität können [–NOT] mögen [+VOL] abgeschwächt müssen [+NOT] sollen [+NOT] Autorität/allgemeines Prinzip, abgeschwächt wollen [+VOL] nicht brauchen hätte als Modalverb das Merkmal [–NOT] mit abgeschwächter Modalitätsstärke im Vergleich zu nicht müssen. Die Bedeutung entspricht ungefähr den tschechischen Äquivalenten. Eine Verschiebung gegenüber dem Tschechischen ergibt sich bei den Verben dürfen/können, vermutlich dadurch, dass können durch die zweite Bedeutung ‚umět‘ in den Bedeutungsbereich ‚Fähigkeit‘ verlagert ist. Graphisch lässt sich das ungefähr so darstellen: Regel, Vorschrift, Verbot, Gesetz etc. objektiver Umstand (nicht) dürfen (nicht) können smět moci/umět Das deutsche Modalverb können ist stärker auf Fälle spezialisiert, in denen ein objektiver Umstand, eine physische Realität oder die objektiv vorliegende PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 2 (Un)Fähigkeit die Realisierung einer Handlung verhindert oder ermöglicht. In der Praxis heißt das: dürfen wird häufiger verwendet als tsch. smět. (1) Hier darf nicht geraucht werden. (2) Der Ball darf nur mit dem Fuß gespielt werden. (3) Darf ich auf die Toilette gehen? In (1) – (3) geht es um Regeln, die von Menschen aufgestellt werden, nicht um objektive Gegebenheiten (objektiv ist es z. B. möglich, in jedem Raum zu rauchen oder einen Ball mit der Hand zu spielen; es gibt aber Regeln und Vorschriften, die das verbieten), vgl. Hielscher et al. (2003, 91 f.). In der Praxis ist die Grenze aber auch im Deutschen nicht ganz scharf: in (2) und besonders (3) wäre auch können möglich, in (1) allerdings nicht. 2. Deontische und epistemische Modalität Die Grundbedeutung der Modalverben nennt man „objektive Bedeutung“. In der Logik benutzt man den griechischen Begriff „deontische Modalität“. Daneben haben die Modalverben in vielen Sprachen aber noch eine zweite Bedeutung, die häufig (z. B. Helbig/Buscha 1999, 131) „subjektive Bedeutung“ genannt wird. In der Logik spricht man von „epistemischer Modalität“. Ich benutze hier die griechischen Begriffe, weil sich bei den lat. Begriffen „subjektiv“ und „objektiv“ leicht eine Verwechslung mit den Satzgliedbegriffen „Subjekt“ und „Objekt“ ergibt. Das ist besonders unangenehm, weil sich die Modalverben in „subjektiver Bedeutung“ genau nicht auf das Subjekt des Satzes beziehen. Im Deutschen haben alle Modalverben, die in der Tabelle aufgeführt sind, beide Bedeutungen. Dadurch ergeben sich Probleme für tschechischsprachige Deutschlerner, da nicht alle tschechischen Modalverben eine epistemische Bedeutung haben. Die folgende Gliederung unterscheidet Modalverben, die in beiden Sprachen eine epistemische Bedeutung haben (Punkt 2.1.), und Modalverben, die nur im Deutschen eine epistemische Bedeutung haben (Punkt 2.2.). In der Grammatikforschung (z. B. Auwera/Schalley/Nuyts 2005) nimmt man an, dass das Auftreten der epistemischen Bedeutung mit dem Grad der Grammatikalisierung der Modalverben in der jeweiligen Sprache zusammenhängt. „Grammatikalisierung“ nennt man die Entwicklung von ursprünglich lexikalischen Wörtern zu grammatischen Hilfswörtern. Stark grammatikalisierte Modalverben haben beide Bedeutungen: eine deontische und eine epistemische. Daraus könnte man schließen, dass die Modalverben im Deutschen stärker grammatikalisiert sind. → Seminararbeit: Man könnte tschechische Parallelübersetzungen von dt. Texten mit Modalverben in epistemischer Bedeutung vergleichen und überprüfen, ob im Tschechischen auch ein epistemisch gebrauchtes Modalverb verwendet wird oder ob andere sprachliche Mittel eingesetzt werden. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 3 2.1. Epistemische Bedeutung im Deutschen und Tschechischen1 deontische Bedeutung epistemische Bedeutung müssen Er muss kommen. ‚Er hat die Pflicht zu kommen.‘ Er muss hier sein. ‚Es ist ganz sicher, dass er hier ist.‘ können Sie kann schwimmen. ‚Sie hat die Fähigkeit zu schwimmen.‘ Sie könnte hier sein. ‚Es ist möglich (aber nicht sicher), dass sie hier ist. Weil sich in diesen Fällen das Deutsche und das Tschechische entsprechen, sollten Sie hier keine Probleme haben. 2.2. Epistemische Bedeutung nur im Deutschen deontische Bedeutung epistemische Bedeutung dürfen Sie darf schlafen. ‚Man hat ihr erlaubt zu schlafen.‘ Sie dürfte schon schlafen. ‚Es ist wahrscheinlich, dass sie schon schläft.‘ tsch.: asi sollen Er soll kommen. ‚Jemand will, dass er kommt.‘ Er soll hier gewesen sein. ‚Man sagt, er war hier. Angeblich war er hier.‘ tsch.: prý wollen Er will kommen. ‚Er hat den Willen zu kommen.‘ Er will die Antwort wissen. ‚Er behauptet, dass er die Antwort weiß.‘ tsch.: tvrdí 3. Syntaktische Interpretation der Modalverben in beiden Bedeutungen. In deontischer Bedeutung bezieht sich das Modalverb auf das Subjekt des Satzes: Es ist immer „sie“ oder „er“, der/die etwas kann, muss soll etc. Syntaktisch kann man sich die Situation so vorstellen, dass das Modalverb direkt im Satz steht: [Er muss hier sein.] In epistemischer Bedeutung bezieht sich das Modalverb nicht auf das Subjekt, sondern auf den ganzen Satz: z. B. Er muss hier sein = ‚Es muss sein, dass er hier ist.‘ Syntaktisch kann man sich die Situation daher so vorstellen, dass das Modalverb außerhalb des Satzes steht und erst auf der Oberflächenstruktur in den Satz hineingestellt wird: müssen [Er ist hier.] 4. Konstruktion mit dem Infinitiv des Perfekt-Hilfsverbs+Partizip II Das Beispiel mit sollen in der Tabelle zeigt eine seltsame Konstruktion: 1 In der Tabelle verwende ich unterschiedliche Beispielsätze für die deontische und epistemische Modalität. Das tue ich allerdings nur um der Deutlichkeit willen; im Prinzip kann das Modalverb in ein und demselben Satz beide Bedeutungen haben, nur dass manche Sätze mit epistemischer Bedeutung wahrscheinlicher sind als andere. Es handelt sich also nur um die Interpretation der Sätze: Man kann sie deontisch oder epistemisch interpretieren. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 4 (4) Er soll hier gewesen sein. Vom Modalverb hängt der Infinitiv des Verbs sein ab, das wiederum die Partizipialform des Hauptverbs sein (gewesen) regiert. Es sieht so aus, als ob der Satz eine Perfektform enthält, wobei nach der Einbeziehung des Modalverbs in den Satz das Hilfsverb in den Infinitiv gesetzt werden muss (weil Modalverben den Infinitiv verlangen): Sollen [Er ist hier gewesen] → sollen [Er soll hier gewesen sein.] In traditionellen Beschreibungen (z. B. Helbig/Buscha 1999, 105; 136) spricht man bei Verbindungen wie gewesen sein vom „Infinitiv Perfekt“ oder Infinitiv II. Diese Konstruktion ist mit Modalverben in epistemischer Lesart sehr häufig: Sie zeigt an, dass das, was geschehen sein kann/muss/soll, schon in der Vergangenheit liegt. (5) Er muss es ihr gesagt haben. ‚Es ist ganz sicher, dass er es ihr gesagt hat.‘ (6) Sie könnte davon gewusst haben. ‚Es ist möglich, dass sie davon gewusst hat.‘ (7) Sie will es nicht bemerkt haben. ‚Sie behauptet, dass sie es nicht bemerkt hat.‘ Das Problem für tschechischsprachige Studierende besteht darin, dass in diesen Fällen im Tschechischen die Vergangenheit am Modalverb gekennzeichnet wird, nicht am Infinitiv: (8) a. Musela o tom vědět. b. Sie muss davon gewusst haben. 5. Grammatiktheoretische Probleme mit dem Verb werden Auch das Hilfsverb werden regiert den Infinitiv. (9) Wir werden am Wochenende verreisen. Traditionell wird (9) als Satz mit Verb in Futur-I-Form interpretiert. Für ein TempusHilfsverb verhält sich werden aber sehr seltsam: - Es fordert nicht das Partizip, wie haben und sein, sondern den Infinitiv, wie die Modalverben. - Für den Ausdruck der Zukunft ist es im Deutschen nicht notwendig: Normalerweise verwendet man einfach das Präsens: PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 5 (10) Am Wochenende verreisen wir. Wird es verwendet, dann bringt es eine Zusatzbedeutung in den Satz, z. B. in (9) die Bedeutung, dass wir die Reise ganz fest geplant haben (vgl. Helbig/Buscha 1999, 156: es betont die Absicht). - werden hat wie die Modalverben eine epistemische Bedeutung: In der epistemischen Bedeutung drückt es (oft durch die Partikel wohl unterstützt) eine Vermutung aus: (11) Er wird jetzt (wohl) schon im Büro sein. Vom Tempus her bezeichnet (11) die Gegenwart (!), vgl. Helbig/Buscha (1999, 130). Helbig/Buscha (1999, 130) geben daher zu, dass werden in epistemischer Bedeutung „in einer Reihe mit den Modalverben“ steht, erklären aber nicht, wie ein Tempus-Hilfsverb in einer Reihe mit Modalverben stehen kann: Nur Verben derselben Kategorie können „in einer Reihe“ stehen, nicht Verben verschiedener Kategorien. Besonders problematisch ist die grammatiktheoretische Beurteilung von Sätzen mit werden in epistemischer Bedeutung und Perfekt-Hilfsverb im Infinitiv: (12) Er wird (wohl) schon weggegangen sein. Im Abschnitt 4 haben wir gesehen, dass Verbindungen wie weggegangen sein als „Infinitiv Perfekt“ analysiert wurden, da sie durch Einbettung der Perfekt-Konstruktion (weggegangen ist) unter ein den Infinitiv forderndes Modalverb entstehen. Wie soll man nun (12) beurteilen? Offenbar funktioniert die Konstruktion (12) ganz genauso wie (4) – (7). Wenn weggegangen sein aber ein Infinitiv Perfekt ist, was ist dann werden? Ein Futur-Hilfsverb kann es logischerweise nicht sein, da eine Futur-Form eigentlich die Zukunft bezeichnen sollte und kein Perfekt enthalten kann (Futur und Perfekt werden als zwei verschiedene Tempora aufgefasst). Trotzdem sieht (12) genauso wie eine andere Konstruktion aus, die traditionell als Futur-II bezeichnet wird: werdenfinit – HilfverbInfinitv – HauptverbPartizip: (13) Morgen wird er die Arbeit beendet haben. (Helbig/Buscha 1999, 158) Helbig/Buscha (1999, 156 – 158) bezeichnen daher auch (12) als Futur-II. Damit geraten sie in unauflösliche Widersprüche: - (12) hat keine Zukunftsbedeutung: Der Satz „bezeichnet ein vermutetes Geschehen in der Vergangenheit [!]“. Wir haben in unserer Grammatikbeschreibung jetzt also eine Futur-Form zur Bezeichnung von Vergangenem! - Wenn gewesen sein in (4) ein Infinitiv Perfekt ist, wieso ist dann weggegangen sein in (12) kein Infinitiv Perfekt? - Wie kann ein Hilfsverb, dass Teil einer Tempus-Form ist, „in einer Reihe mit den Modalverben“ (S. 130) stehen? PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 24. listopadu 2014 NJP_Mor2: Morfologie 2 6 Mit Vater (1975) bin ich der Meinung, dass die einfachste Lösung für die gezeigten Probleme wie folgt aussieht: werden ist kein Futur-Hilfsverb, sondern ein Modalverb. Wie jedes Modalverb hat es eine deontische und eine epistemische Bedeutung. Die epistemische Bedeutung drückt eine Vermutung aus. Die deontische Bedeutung ist etwas Schwieriger mit der Modalität in Verbindung zu bringen: Man könnte versuchen, das Merkmal [–NOT] zu verwenden, aber diese Analyse ist, zugegebenermaßen, problematisch. Auf jeden Fall ist die Bedeutung nicht einfach [+Zukunft]: Es kommt immer eine andere Bedeutungsschattierung (Absicht, Plan, Prognose etc.) hinzu. Aus der Analyse ergibt sich: Im Deutschen gibt es keine Tempus-Formen, die man „Futur-I“ und „Futur-II“ bezeichnen könnte. Es handelt sich um Konstruktionen mit einem Modalverb+Infinitiv. In anderen Arbeiten als Vater (1975), z.B. Helbig/Buscha (1999); Zifonun et al. (1997) wird allerdings eine andere Ansicht vertreten. Zitierte Literatur: Auwera, Johan van der/Schalley, Eva/Nuyts, Jan (2005): Epistemic possibility in a Slavonic parallel corpus – a pilot study, in: Hansen, Björn/Karl9k, Petr (eds.): Modality in Slavonic Languages. New Perspectives. München: Sagner, 201–217. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1999): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19. Aufl. Leipzig, Berlin etc.: Langenscheidt/Enzyklopädie. Hielscher, Andrea et al. (2003): Deutsch-tschechisches Fehlerlexikon. Praha: Kvarta. Vater, Heinz (1975): Werden als Modalverb, in: Calbert, Joseph / Vater, Heinz (Hrsg.): Aspekte der Modalität. Tübingen: Narr (= SDG1), 71–148. Zifonun, Gisela/Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin, New York: Walter de Gruyter. Žaža, Stanislav (2002): Modalita, in: Karlík, Petr/Nekula, Marek/Pleskalová, Jana (eds.): Encyklopedický slovník češtiny. Praha: Lidové noviny, 265–267.