PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 29. září 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 1 Die finiten Formen des Verbs 1. Einleitung Wenn man die periphrastischen Formen zunächst vernachlässigt, verfügt das deutsche Verb nur über zwei finite Formenreihen: - die Formen des Präsens, - die Formen des Präteritums (Imperfekts). (Dazu kommen dann noch entsprechende Formen für den Konjunktiv, vgl. eine spätere Vorlesung.) Beispiel: sagen Präsens Präteritum Singular Plural Singular Plural 1. Person ich sage wir sagen ich sagte wir sagten 2. Person du sagst ihr sagt du sagtest ihr sagtet 3. Person er sagt sie sagen er sagte sie sagten Helbig/Buscha (1999, 26 f.) analysieren diese Formen wie folgt: sag-e sag-en sag-te-Ø sag-te-n sag-st sag-t sag-te-st sag-te-t sag-t sag-en sag-te-Ø sag-te-n Wir erhalten also folgende Personalendungen und das Präteritum-Suffix -tePräsens Präteritum: -teSingular Plural Singular Plural 1. Person -e -en -Ø -n 2. Person -st -t -st -t 3. Person -t -en -Ø -n Auf den ersten Blick scheint es sich um ein recht einfaches System zu handeln. Die Situation verkompliziert sich allerdings durch zwei Faktoren: - das Verhalten von e (eigentlich Schwa: ə) in den Endungen, z. B. -(e)n, und in bestimmten Stämmen, z. B. hand(e)l-; - die phonologischen Prozesse beim Aufeinandertreffen bestimmter Laute an den Morphemfugen, z. B. rasen (‚hnát se, letět, pádit‘): ras- + -st → du rast; bringen: *brang- + -te → brachte.1 Darski kommt bei Berücksichtigung aller möglichen Variationen allein für das Präsens auf 50 (!) verschiedene Konjugationsmuster. Eine solche Analyse ist jedoch äußert unökonomisch und für den Fremdsprachenunterricht praktisch unbrauchbar. Günstiger ist es, das Schwa getrennt zu behandeln und als zusätzlichen Faktor in die 1 Beim Übergang von *brangte zu brachte (ŋ → ch) handelt es sich um einen morphologisch konditionierten (bedingten) phonologischen Prozess: nicht jeder velare Nasal geht vor /t/ in einen velaren Frikativ (Reibelaut) über, vgl. sing-en: sie singt. Bei ŋ → ch handelt es sich also um ein zusätzliches Zeichen (oder einen zusätzlichen „Exponenten“, vgl. Matthews 1972, 184 f.) für das Präteritum. Morphologisch bedingte phonologische Prozesse werden in manchen Theorien (z. B. Trubetzkoy 1939) einer eigenen Disziplin (bzw. Sprachebene), der Morphonologie zugeordnet. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 29. září 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 2 sonst regelmäßige Konjugation einzuführen (vgl. Neef 1996, der Schwa nicht als Bestandteil der grundlegenden Repräsentationen der Wortformen ansieht). Im Folgenden werden die einzelnen Probleme mit dem Schwa getrennt behandelt; anschließend wird ein möglichst einheitliches Schema vorgeschlagen. 2. Präsensformen 2.1. Schwa in der 1./3. Ps. Pl. In der Tabelle der Personalendungen wird das Suffix für 1./3. Ps. Pl. für das Präsens als -en, für das Präteritum als -n angegeben. Ist e aber wirklich ein fester Bestandteil des Suffixes (der Endung)? Vgl. die Beispiele in (1), aus Helbig/Buscha (1999, 27): (1) wir rudern; wir handeln, wir paddeln; (1) zeigt, dass e immer fehlt, wenn der Stamm auf -er oder -el ausgeht; auch bei anderem Stammauslaut (z. B. auf Dental: reden, raten) fehlt e häufig in der phonetisch realisierten Form (auch wenn es in der Orthographie obligatorisch vorhanden sein muss): [redn], [ratn]. Obligatorisch muss e realisiert werden, wenn der Stamm auf Konsonant + Nasal auslautet, offenbar um eine Konsonantenhäufung zu vermeiden: wir atmen (*atmn), zeichnen (*zeichnn), filmen (? filmn). → e ist ein Hilfsmittel zur Erzielung einer geeigneten Silbenstruktur; sollte in der Morphologie bei der Analyse der Endungen vernachlässigt werden: -(e)n. Anmerkung: Die Formen der 1./3. Ps. Pl. sehen immer genauso aus wie der Infinitiv (vgl. rudern: wir rudern; sagen: sie sagen) und müssen nicht einzeln gelernt werden (Neef 1996)! 2.2. Schwa-Einschub zur Trennung von Dentalen im Stammauslaut und Suffix-Anlaut Wenn der Stamm auf -d oder -t auslautet, muss dieses d/t im Allgemeinen2 durch e von einem Dental im Suffix-Anlaut (-st, -t) getrennt werden: (2) red-: du redest × *du redst (Standarddeutsch)2 arbeit-: er arbeitet × *er arbeit bad-: ihr badet × *ihr badt Kein e zur Trennung wird immer dann eingeschoben, wenn es im Vergleich zum Stamm zu einer Vokaländerung kommt. Dies ist bei vielen starken Verben der Fall: raten (du rätst), braten (er brät), treten (sie tritt), vgl. Helbig/Buscha (1999, 36), Neef (1996, 161). Besonders deutlich erkennt man, dass wirklich der Vokalwechsel die Ursache für das Fehlen von e ist, wenn man die 3. Ps. Sg. (mit Vokalwechsel) und die 2. Ps. Pl. (ohne Vokalwechsel) miteinander vergleicht: (3) er rät ×ihr ratet er brät × ihr bratet er tritt × ihr tretet sie lädt ein × ihr ladet ein 2 Im süddeutschen Sprachraum sind Forme ohne Schwa gängig. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 29. září 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 3 Die 2. Ps. Pl. verhält sich genau wie die Formen in (2): das Endungs-t muss vom Stammauslaut durch Schwa getrennt werden. Neef (1996) erklärt das Verhalten von e durch eine Regel, die fordert, dass sich der Stamm von der Form der 3. Ps. Sg. / 2. Ps. Pl. unterscheiden muss. Ohne den e-Einschub wäre die 3. Ps. Sg. / 2. Ps. Pl. der schwachen Verben und die 2. Ps. Pl. der starken Verben nicht vom Stamm zu unterscheiden: red- = *er redt/ihr redt; bad- = *sie badt/ihr badt; rett- = *er rettt/ihr rettt. Die 3. Ps. Sg. der starken Verben unterscheidet sich aber schon durch den Vokalwechsel vom Stamm; ein zusätzlich eingefügtes Schwa ist daher überflüssig: rat- ≠ rät; tret- ≠ tritt; lad- ≠ lädt. In der 2. Ps. Pl. ist dagegen das Schwa (e) das unterscheidende Kennzeichen: lad- ≠ ladet etc. Regel (Neef 1996, 164): „Die Wortform [3. Sg.] muss sich in ihrer phonologischen Struktur von der phonologisch bedingten Realisierung der relevanten Basis unterscheiden.“ 2.3. Schwa-Ausfall im Stamm Helbig/Buscha (1999, 27) geben an, dass Schwa im Stamm vor l ausfällt, wenn das -e der 1. Ps. Sg. an den Stamm tritt: handeln → ich handle klingeln → ich klingle wackeln → ich wackle Bei Schwa vor -r-Auslaut bezeichnen sie den Ausfall von Schwa als „umgangssprachlich“: rudern → ich rudere (umg. ich rudre) bewunder → ich bewundere (umg. ich bewundre) Der Duden (1996) lässt in der Orthographie sowohl Formen mit Schwa als auch solche ohne Schwa zu. Ob die übliche phonetische Realisierung wirklich [ich handle] und nicht eher [ich handl] ist, würde ich bezweifeln (vgl. nächstes Unterkapitel). 2.4. Schwa als Endung der 1. Ps. Sg.? Eisenberg (2006, 189 f.): e gleicht Silbenzahl aus, so dass alle Formen die gleiche Silbenzahl haben: droh(e) hol(e) lohn(e) (?) bete bade ruder(e) segel(e) atme drohst holst lohnst betest badest ruderst segelst atmest droht holt lohnt betet badet rudert segelt atmet drohn holn lohnen beten baden rudern segeln atmen droh(e), hol(e): normalerweise ohne e realisiert: alle Formen einsilbig; bete, bade: e obligatorisch: alle Formen zweisilbig ruder, segel: normalerweise ohne e: alle Formen zweisilbig PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 29. září 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 4 entgegen Helbig/Buscha (1999), die e-Ausfall im Stamm als Regel annehmen (ich segle); dies entspricht laut Duden (1996) der orthographischen Norm, z. B. ich seg[e]le (S. 672).3 atme: obligatorisch mit e: alle Formen zweisilbig. Daraus folgt, dass Schwa nicht als Endung, d. h. als Marker der grammatischen Kategorie 1.Sg. betrachtet werden sollte, sondern eher als phonologisches Hilfsmittel, um die Silbenzahl der Wortform an die Silbenzahl der übrigen Wortformen anzupassen. 2.5. Übersicht In folgender Tabelle sind noch einmal die maßgeblichen Formen in ihrer orthographischen Form zusammengestellt: sagen reden raten sprechen rudern segeln atmen Ich sage rede rate spreche rudere seg(e)le atme Du sagst redest rätst sprichst ruderst segelst atmest Er sagt redet rät spricht rudert segelt atmet Wir sagen reden raten sprechen rudern segeln atmen Ihr sagt redet ratet sprecht rudert segeln atmet Sie sagen reden raten sprechen rudern segelt atmen 3. Präteritumsformen 3.1. Schwa zur Trennung von -d/t im Stammauslaut und -te-Suffix Vor dem Suffix -te- erscheint ein Schwa zur Trennung vom Verbstamm, wenn der Stamm (a) auf d oder t (dentalen Verschlusslaut) oder (b) auf Nasal mit vorangehendem, nicht liquiden Konsonanten (d. h. nicht r oder l) ausgeht (Helbig/Buscha 1999, 27 f.): (a) red-e-te- arbeit-e-te(b) atm-e-te- × lern-terechn-e-te- × ver-film-te- 3 Der Duden (1996, 24) führt dazu die Regel R 16 an: „Kein Apostroph steht, wenn ein unbetontes -e- im Wortinneren ausfällt und die kürzere Form des Wortes (auch in der Standardsprache) allgemein gebräuchlich ist.“ Beispiele dafür sind: ich wechsle (wechseln), Wandrer (Wanderer), wacklig (wackelig ‹ wackeln). Die eckigen Klammern [] zeigen an, dass der Ausfall fakultativ ist. PdF MU PS 2014 Handout zur Vorlesung 29. září 2013 NJP_Mor2: Morfologie 2 5 3.2. Zuordnung des Schwas beim Präteritum-Suffix Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob man das e nach dem Dental im Präteritum der schwachen und gemischten Verben zum Präteritalsuffix oder zur Endung rechnen sollte: (4) a. Er sag-t-e b. Er sag-te-Ø Das heißt: -te- oder -t-? Eisenberg (2006) präferiert Lösung (4a), Darski (1999) und Helbig/Buscha (1999) Lösung (4b). (4b) hat den Vorteil, dass für schwache und starke Verben (bis auf das Schwa vor -n) dieselben Endungen angenommen werden können: sagen gehen Endungen Singular Plural Singular Plural Singular Plural 1. Ps. ich sag-te-Ø wir sag-te-n ich ging-Ø wir ging-en -Ø -(e)n 2. Ps. du sag-te-st ihr sag-te-t du ging-st ihr ging-t -st -t 3. Ps. er sag-te-Ø sie sag-te-n er ging-Ø sie ging-en -Ø -(e)n Zitierte Literatur: Darski, Józef (1999): Bildung der Verbformen im Standarddeutschen. Tübingen: Stauffenburg. Duden (1996): Duden Band 1: Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21. Aufl. Hrsg. von Werner Scholze-Stubenrecht, Matthias Wermke und Günther Drosdowski. Mannheim: Bibl. Institut/Brockhaus. Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1999): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19. Aufl. Leipzig, Berlin etc.: Langenscheidt/Enzyklopädie. Matthews, Peter H. (1972): Inflectional Morphology. A theoretical study based on aspects of Latin verb conjugation. Cambridge: Cambridge University Press. Neef, Martin (1996): Wortdesign. Eine deklarative Analyse der deutschen Verbflexion. Tübingen: Stauffenburg. Thieroff, Rolf/Vogel, Petra (2008): Flexion. Heidelberg: Winter. Trubetzkoy, Nikolai (1939): Grundzüge der Phonologie. (Travaux du Cercle Linguistique de Prague 7). Prag.