B 1 Gattungen: Epik versuchte ihr zu sagen, daß ich Aineias - nein, nicht nur verstand: erkannte. Als sei ich er. Als kauerte ich in ihm. speiste mit meinen Gedanken seine verräterischen Entschlüsse. ..Verräterisch", sagte Myrine, die zornig mit der Axt auf das kleine Gebüsch im Graben um die Zitadelle' einschlug, mir nicht zuhörte, mich vielleicht gar nicht verstand, denn seit ich im Korb gefangen gesessen, Sprech ich leise. Die Stimme ist es nicht, wie alle meinten, die hatte nicht gelitten. Es ist der Ton. Der Ton der Verkündigung ist dahin. Glücklicherweise dahin. Myrine schrie. Seltsam, daß ich, selbst noch nicht alt, von beinahe jedem, den ich gekannt, in der Vergangenheitsform reden muß. Nicht von Aineias, nein. Aineias lebt. Aber muß ein Mann, der lebt, wenn alle Männer sterben, ein Feigling sein? War es mehr als Politik, daß er, anstatt die Letzten in den Tod zu führen, sich mit ihnen auf den Berg ida, in heimatliches Gelände, zurückzog? Ein paar müssen doch übrigbleiben - Myrine bestritt es -: warum nicht zuallererst Aineias und seine Leute. Warum nicht ich, mit ihm? Die Frage stellte 6 Zitadelle: Festung sich nicht. Er, der sie mir stellen wollte, hat sie zuletzt zurückgenommen. Wie ich, leider, unterdrücken mußte, was ich ihm jetzt erst hätte sagen können. Wofür ich. um es wenigstens zu denken, am Leben blieb. Am Leben bleibe, die wenigen Stunden. Nicht nach dem Dolch verlange, den. wie ich weiß, Marpessa bei sich führt. Den sie mir vorhin, als wir die Frau, die Königin gesehen hatten, nur mit den Augen angeboten hat. Den ich, nur mit den Augen, abgelehnt. Wer kennt mich besser als Marpessa? Niemand mehr. Die Sonne hat den Mittag überschritten. Was ich begreifen werde, bis es Abend wird. das geht mit mir zugrund. Geht es zugrund? Lebt der Gedanke, einmal in der Welt, in einem andern fort? In unserm wackern Wagenlenker, dem wir lästig sind? Sie lacht, hör ich die Weiber sagen, die nicht wissen, daß ich ihre Sprache Sprech. Schaudernd ziehn sie sich von mir zurück, überall das gleiche. Myrine, die mich lächeln sah. als ich von Aineias sprach, schrie: Unbelehrbar, das sei ich. Ich legte meine Hand in ihren Nacken, bis sie schwieg und wir beide, von der Mauer neben dem Skäischen Tor, die Sonne ins Meer tauchen sahn. So standen wir zum letzten Mal beisammen, wir wußten es. 13! 1. Untersuchen Sie die drei Romananfänge. Beschreiben Sie möglichst genau, wie Sie als Leser/in jeweils in die Welt des Romans eingeführt werden. Gehen Sie dabei folgenden Fragen nach: ■ Welche Informationen erhalten Sie über Ort, Milieu, Atmosphäre und Zeit? ■ Welche Figuren lernen Sie kennen und welches Bild gewinnen Sie von diesen Figuren? b Finden Sie Hinweise darauf, was für eine Geschichte Sie beim Weiterlesen erwartet? Beachten Sie in diesem Zusammenhang auch den Titel. ■ Aus welcher Perspektive wird Ihnen die Welt des Romans dargeboten und wie trägt das dazu bei, sich in dieser Welt zurechtzufinden? ■ Was fällt Ihnen hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung auf: Verständlichkeit und Eingängigkeit, Sprachebene(n), Tonfall, Stilmittel, Tempusgebrauch, Satzbau, Adressatenbezug etc.? 2. a) Diskutieren Sie, welcher der drei Romananfänge Sie am stärksten zum Weiterlesen reizt. b) Sammeln Sie zu jedem Romananfang die Argumente, die Sie für die Fortsetzung der Lektüre anführen können. c) Machen Siesich auf Grund der Diskussion und der Argumentesammlung bewusst, was Sie von der Lektüre eines Romans erwarten. 3. Die Romananfänge sind in chronologischer Reihenfolge abgedruckt. Entsprechen sie den Erwartungen, die Sie Texten aus der betreffenden Zeit entgegenbringen? Begründen Sie Ihre Einschätzung. 4. a) Orientieren Sie sich über den Inhalt und die Autoren bzw. die Autorin der drei Romane in Literaturlexika (z. B. Kindlers Literaturlexikon), Autorenlexika und Literaturgeschichten, b) Vergleichen Sie die dort gefundenen Informationen mit Ihren eigenen Eindrücken und Überlegungen zu den Romananfängen. i 1.2 Ein Model iteranschen Erzählens BUCHVORSTELLUNGEN Wählen Sie einen der folgenden Romane aus und stellen Sie ihn dem Kurs vor (Angaben zu Verfasser/in, Titel, Inhalt, Leseeindruck, Erzählstruktur und erzählerischen Mitteln; Textprobe): Theodor Fontane: Effi Briest (1895) Franz Kafka: Der Prozess (1914/15) Wolfgang Koeppen;Tauben im Gras (1951) Max Frisch: Homo faber (1957) Tschingis Aitmatow: Dshamilja (1958) Gabriel Garcia Märquez: Chronik eines angekündigten Todes (5981) Christa Wolf: Kassandra (1983) Patrick Süskind: Das Parfüm (1985) Christoph Hein: DerTangospieler(1989) Zoe Jenny: Das Biütenstaubzimmer (1997) 1.2 Ein Modell literarischen Erzählens reales Geschehen Geschichte - konstruiert < Distanz zum erzählten Geschehen. Häufig zu \ finden in traditionellem Erzählen ist der söge- * Nähe nannte „olympische Erzählerstandort". Man i__________.................... ......_---,-------J drückt damit aus, dass der Erzähler göttergleieh über der erzählten Welt thront, dass er alle Zusammenhänge kennt und alles weiß. Er wird deshalb auch der allwissende oder omnipotente Erzähler genannt. Der Erzähler erzählt aus einer bestimmten Sichtweise. Der Erzähler kann sich auf die Außensicht bei der Darstellung der Figuren beschränken, er kann aber auch in sie hineinblicken, ihre Gedanken und Gefühle wieder- Erzähler/in ' räumlich und/oder zeitlich zu den erzählten Vorgängen und den Personen Erzähler/in Außensicht Innensicht geben. Die Außensicht steht jedem Erzähler zur Verfügung, die uneingeschränkte I nnensicht für alle auftretenden Figuren nur dem Er-/Sic-Erzähler. Der Ich-Erzähler kann natürlich sein eigenes Innenleben vor dem Leser detailliert ausbreiten, vom Innenleben anderer kann er nur berichten, wenn er zugleich auch dem Leser einsichtig macht, woher er seine Kenntnisse hat. ob er zum Beispiel vom Äußeren auf das Innere schließt oder ob die betreffende Person ihm ihr Innenleben offenbart hat. Der Erzähler zeigt eine bestimmte ErzählhaHung. affirmativ' neutral emphatisch (begeistert) einfache Zustimmung Haltung des Erzählers zum erzählten / Geschehen und zu den Personen skeptisch-schwankend distanziert / humorvoll onisch \^ kriti sch ablehnend Die Kategorie der Erzählhaltung ist nicht ganz präzise zu trennen von der Kategorie des Er-zähiverhaltens. Der Begriff „neutral" erscheint in beiden Kategorien. Es liegt aber auf der Hand, dass ein neutrales Erzählverhalten auch eine neutrale, alle Wertungen und Urteile vermeidende Erzählhaltung erfordert. Das Erzählen und seine Darbietungsformen Der Erzähler behält das Wort Erzählbericht und Beschreibungc Reflexionen und Kommentare Die Figuren kommen zu Wort Figurenrede - d i rekle Wiedergabe, z.B.szenisches Erzählen indirekte Wiedergabe (indirekte Rede) \ Stream of consciousness Bewusstseinsstromtechnik—»- innerer Monolog erlebte Rede 144 145 B 1 Gattungen: Epik ■'.«ws 6 1.2 Ein Modell literarischen Erzählens mumm Die Grundform des Erzählens ist der Erzählbericht, der besonders beim traditionellen Erzählen vorherrscht. Hier wendet sich der Erzähler der Handlung und ihren Figuren zu, er vermittelt mehr oder minder ausführlich seinen eigentlichen Erzählgegenstand. Darin kann er dann, wenn ersieh auktorialverhält, allerlei eigene Reflexionen, also Überlegungen und Betrachtungen, sowie Kommentare einstreuen. Der Erzähler wird aber auch seine Figuren zu Wort kommen lassen. Das kann er in der Form der direkten Rede tun, so kann er zum Beispiel Gespräche wie kleine Dramenszenen in direkter Dialogform wiedergeben (szenisches Erzählen), oder auch in der Form der zusammenfassenden indirekten Rede, in der der Erzähler wieder stärker hervortritt und die vom Erzählerbericht nicht immer klar zu trennen ist. Zu Wort kommen die Figuren aber auch durch die besonders im modernen Erzählen häufig angewandte Technik des ßewusstsemsstroms. Dabei wird, zuweilen recht minutiös, aufgezeichnet, was einer Figur in einer Situation durch den Kopf geht. Der zuerst in der angelsächsischen Literatur verwendete Stream of consciousness reiht ganz ungefiltert Gedankenfetzen, Wahrnehmungen und Empfindungen in ihrer assoziativen Folge aneinander, wobei der Erzähler völlig zurücktritt. Werden die Gedanken und Empfindungen in der Ich-Form wiedergegeben, nennt man das innerer Monolog. Der Erzähler kann aber auch die Form der erlebten Rede wählen, wobei der Gedanken-und Empfindungslluss einer Figur in der Er-/Sie-Form wiedergegeben wird. Die erlebte Rede wird bevorzugt vom personalen Erzähler verwendet. Sie ermöglicht es ihm, alles aus der subjektiven Perspektive einer Figur zu betrachten, ohne jedoch völlig in ihr aufzugehen, da er das distanzierende Er/Sie nicht aufgibt. Die Geschichte Der Autor eines epischen Textes erzählt nicht irgendetwas, was er fertig vorgefunden hat, so wie wir im Alltag von einem miterlebten Ereignis, einem Kinobesuch oder einem Traum erzählen. Er erschafft seine Geschichte erst im Akt des Erzählens, sie ist seine Fiktion. Dabei ist es völlig gleichgültig, woher er das Geschehen mit seinen Schauplätzen und Figuren nimmt. Das Material kann aus der Wirklichkeit stammen wie in Fontanes Roman „Effi Briest" ( S. 156 ff.) der Ehebruchs- und Duellskandal um eine adlige Dame im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, aus überlieferter Literatur wie in Christa Wolfs „Kassandra" ( S. 141 f.). das auf Homers Epos vom Kampf um Troja zurückgeht, oder aus der die eigene Lebenssituation verarbeitenden Fantasie des Autors wie im „Prozess" des Franz Kafka ( S. 139 f.). Auf dieses Material greift der Autor zurück und lässt auf dieser Basis den Erzähler seine fiktionale Welt errichten, die nicht mit der realen Welt verwechselt werden darf. Die Sätze des Erzählers unterliegen damit nicht dem Maßstab der Nachprüfbarkeit bzw. Widerlegbarkeit. Das Geschehen, die Kette der aufgegriffenen oder erdachten Ereignisse, wird zur Geschichte erst dadurch, dass vom Erzähler im Erzählvorgang ein sinnhafter Zusammenhang hergestellt wird. Von der Fabel eines epischen Textes spricht man, wenn die oft in Nebenhandlungen sich auffächernde oder zeitlich kompliziert verschachtelte Geschichte auf den chronologisch geordneten zentralen Handlungsstrang reduziert wird. Funktion einer Inhaltsangabe ist es für gewöhnlich, die Fabel einer Geschichte wiederzugeben. Eine wichtige Rolle im Aufbau einer Geschichte spielen die Figuren mit ihrem Aussehen, ihrer Herkunft, ihrer berufliehen und sozialen Stellung, ihrem Charakter, ihrem Weltbild, ihren Fähigkeiten und Schwächen, ihren Wünschen und Zielen sowie die Konstellation der Figuren, in der sich ihr Bezichungsgeficcht ordnen und abbilden lässt. Weiterhin bedeutsam sind Raum und Zeit. Der Raum in einer Erzählung ist nicht einfach der zufällige Ereignisort. Er erhält über seine reine Gegenständlichkeit hinaus Bedeutung, indem er zum Beispiel mit den Gefühlslagen und Stimmungen der Figuren oder mit der Art des Handlungsverlaufs korrespondiert. Eine Landschaft kann beispielsweise wesentlich zur Dramatik der Handlung beitragen, sie kann auch im Extremfall reine ..Seelenlandschaft" sein, das nach außen projizierte Augenblicks- oder Lebensgefühl einer Figur. Im Hinblick auf die Zeit muss man fragen, ob und wie deutlich die erzählte Geschichte historisch verortet ist. ob sie sich also klar erkennbar einer historischen Situation zuordnen lässt, und welche Bedeutung der zeitliche Rahmen für das erzählte Geschehen hat. Unter dem Aspekt der Erzähltechnik ist auch zu fragen, wie das Verhältnis von Erzählzeit (die Zeit, in der die Geschichte erzählt bzw. gelesen wird) und erzählter Zeit (der Zeitraum, in dem das erzählte Geschehen sich abspielt) gestaltet ist. Drei Möglichkeiten sind zu unterscheiden: ■ Zeitdeckung: die beiden Zeiträume sind annähernd gleich, z. B. im szenischen Erzählen: ■ Zeitdehnung: die Erzählzeit ist länger als die erzählte Zeit. z. B. in der Wiedergabe des Be- wusstseinsstroms: ■ Zeitraffung: die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte Zeit, z.B. im Erzählerbericht, wenn immer wieder für die Handlung unwichtige Zeitspannen übersprungen oder stark zusammengefasst wiedergegeben werden. Zur Zeitgestaltung gehört weiterhin der Umgang des Erzählers mit der Chronologie des erzählten Geschehens. Er kann sich streng an die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse halten, also chronologisch erzählen, er kann aber auch in Vorausdeutungen nach Belieben weit vorgreifen, und er kann in Rückblenden Vorgeschichten und Voraussetzungen in die laufende Handlung einfügen. Es können auch mehrere Parallelhandlungen in einer Art Montagetechnik ineinander verschachtelt werden, sodass komplizierte, schwer zu überblickende Erzählstrukturen entstehen. Der Leser/die Leserin Im Hinblick aut'den Leser/die Leserin ist zu unterscheiden zwischen dem impliziten Leser und dem realen Leser. Der Autor stellt sich im Akt des Schreibens eine Leserschaft vor und lässt auf dieser Basis seinen Erzähler mit einem in die Erzählung eingehenden fiktiven Leser korrespondieren. Der Erzähler kann diesen Leser ausdrücklich ansprechen, wodurch der implizite Leser im Text direkt sichtbar wird, aber auch ohne solche Ansprachen ist der implizite Leser im Text präsent, zum Beispiel darin, was der Erzähler ihm inhaltlich oder sprachlich glaubt zumuten zu können. Der reale Leser ist demgegenüber der Leser, der die Erzählung in einer ganz bestimmten konkreten Situation liest und sein individuelles Verständnis des Erzählten entwickelt. 1. a) Versuchen Sie zu den beiden Abschnitten „Die Geschichte" und „Der Leser/die Leserin" Strukturskiz- zen anzufertigen, die den dargestellten Sachverhalt anschaulich und übersichtlich machen. Orientieren Sie sich dabei an den vorangegangenen Abschnitten, b) Erläutern Sie Ihre Strukturskizzen mit eigenen Worten und überprüfen Sie gegenseitig, ob der Inhalt der Abschnitte vollständig erfasst worden ist. 2. Fertigen Sie zu den einzelnen Erzählkategorien Referate an: Stellen Sie den Kursmitgliedern die verschiedenen Kategorien nur mit Hilfe eines Stichwortzettels vor und erläutern Sie sie an Beispielen aus literarischen Texten (z. B. dieses Bandes). 3. Fertigen Sie zu den auf S. 136-142 abgedruckten Romananfängen eine genaue Beschreibung des Erzählsystems an. Berücksichtigen Sie dabei sämtliche Bestandteile des epischen Modells. 4. a) Wählen Sie eine Kurzgeschichte (z. B. auf S. 16-22) und notieren Sie in einigen Sätzen Ihr erstes, vor- läufiges Verständnis der Geschichte, b) Beschreiben Sie möglichst genau den Erzählvorgang in der Kurzgeschichte. c) Oberprüfen Sie, ob und inwiefern die genaue Analyse des Erzählvorgangs Ihr Primärverständnis der Geschichte erweitert bzw. verändert hat. d) Ergänzen Sie Ihre Beschreibung des Erzählsystems der Geschichte zu einer vollständigen Interpretation. 5. a) Verändern Sie das Erzählsystem der ausgewählten Kurzgeschichte, indem Sie zum Beispiel die Erzähl- form, das Erzählverhalten, den Erzählstandort oder die Erzählhaltung wechseln, b) Lesen Sie Ihre Neufassung vor und besprechen Sie mit Ihren Zuhörerinnen und Zuhörern die Wirkung der Veränderungen gegenüber dem Originaltext. 146