gelang mir nicht recht. Mein Gefühl im Park, meine Trii nen, mein von einer ganzen Lakritz-Tüte brennende! Gaumen, die äußerst lebhafte Erinnerung an Kazimier/' Küsse auf meinen Wangen, die Ahnung seiner undurch dringbaren Melancholie - all das schien mir jetzt diffus, unzusammenhängend, unerklärlich, ein hysterischer Mo ment - wahrscheinlich hatte ich zuviel mit Wieland ge stritten. Die nächsten Stunden schaute ich aus dem Fenster, wo wie ein düsteres Heer all die Tannen an mir vorbeiflogen, die Deutschland und Polen voneinander trennen und mit einander verbinden. Der Zug schwankte ein wenig, und der dünne Kaffee spritzte ein unübersichtliches Mustci auf meine weißen Jeans. 14 Der Imker M.ixchen saß mit grüner Schürze und ohne Bienenschleier ml einem Plastikstuhl im Garten. Er begrüßte uns immer Hoch, als seien wir Kinder; er tätschelte unsere Gesichter fuhr uns über den Kopf. •Die Zwillinge sind wieder da!« Nach der Begrüßung setzte er sich sofort wieder. Er war 11 hon so schwach, daß er sich nicht mehr lange aufrecht halten konnte. »Na, wie geht's euch beiden denn?« l5evor ich dazu kam, meine Reise nach Warschau zu erwähnen (Renate hatte mich gebeten, nichts von dieser Krise zu erzählen, aber ich hatte nach einigen inneren Kämpfen beschlossen, diese Bitte zu ignorieren), zeigte Paul uns ein Buch über den Prado, das er gerade im Antiquariat erstanden hatte. Es war ein schönes, gebundenes Buch mit einem Schutzumschlag aus Transparentpapier. I'.iul erklärte uns, daß im Prado zwar viele der berühmteren Goyas hingen, aber sein persönlicher Favorit sei ein weniger bekanntes und spektakuläres Gemälde, nämlich I )as Milchmädchen von Bordeaux«. Was ihn faszinierte, war weniger das Bildnis dieser nachdenklichen jungen hau, sondern die Art, wie die einzelnen Flächen sich aufzulösen begannen, in eine Vielzahl von Tupfen und Strichen zerfielen, wodurch überraschend prismatische Licht-effekte entstanden. Die Harmonie, die nicht nur im Bild-Gegenstand zu finden war, sondern sich dem Betrachter ilurch die Durchlässigkeit, Grenzenlosigkeit und Transpa-irnz des Bildes vermittelte, war es, die ihn begeisterte. Er T-77 müsse unbedingt einmal nach Madrid fahren und diese! Gemälde im Original sehen. Mäxchen pickte sich aus Pauls wie immer sehr ausfülii liehen Reflexionen das Element heraus, für das er Intel esse aufbringen konnte: »Nach Spanien hab ich's als junger Mann vorm Kriej auch einmal hingeschafft ... Klettern in den Pyrenäen . Einen Wind gab's da, sag ich euch! Da flogen einem du' Steine um die Ohren. Unvergeßlich. Spanien.« Großvater etikettierte zwei Honiggläser, beschrieb du Schilder mit zitternder Schrift, dann nahm er einen Feld Stecher und starrte in Richtung Bienenhaus. »Sie stechen jeden Fremden ab«, murmelte er. Wir standen am Rande einer mächtigen Einflugschneise, und er machte uns auf die »Wächterbienen« aufmerksam, die den Eingang der Stöcke wie Portiers mehrstöckige! Hotels kontrollierten. Manchmal würden sich Bienen vom Nachbarvölkern oder andere Insekten an die Öffnung-, schlitze heranwagen und dann nicht nur verjagt, sondern gleich »erledigt« werden. Paul zog augenblicklich die Schultern hoch, schüttelte sich und machte ein bedrückte, Gesicht. Er hatte viel Phantasie, man konnte ihm kaum ei was erzählen, ohne daß er mit Mimik und Körpersprachc zu verstehen gab, wie sehr er bei allem mitlitt. Das Bienenhaus hatte mein Großvater vor wenigen Mo naten von seinem Nachbarn Landolf Felix übernommen, einem begeisterten Imker, der überraschend an einein Herzinfarkt gestorben war. Seine Frau, eine zehn Jahre äl tere, übergewichtige Schlesierin, die selten weiter als fünl Meter zu einem großen mit Plastikkissen überladenen Ses sei in den Garten lief, hatte sich nie für die Bienenzuclu interessiert. Hätte sich nach dem Tod ihres Mannes niemand dafiii gefunden, hätte Frau Felix die Bienenschwärme sich selbst überlassen oder vergiften lassen müssen. 178 I Inter ihrer Aufsicht hatte Mäxchen zuerst ein ovales I 1 in den Gartenzaun geschnitten, später wurde das Ii ich professionell durch ein Türchen ersetzt. Jo amüsierte ich seitdem darüber, wie Mäxchen täglich mit einem Be- 1 her Zuckerlösung für die Bienen und einem Stück Kuchen 1 m 1 Frau Felix nach nebenan schritt. Wir alle wußten, daß Mäxchen an Prostata-Krebs er-I i.inkt war. Daß er angesichts dieser Diagnose nicht mehr nur den ganzen Tag, Patiencen legend, im Ohrensessel wi brachte, sondern eine neue Passion für sich entdeckt hatte, schien uns ein gutes Zeichen. Solange ich ihn kannte, hatte Mäxchen - außer an den gelegentlichen Kamin-Abenden, wenn es um Ostsee-Hä-lm »der den Rußlandfeldzug ging - nie viel gesprochen, lici unseren Alltagsgesprächen stand er stets im Schatten "ii Jo. Gelegentlich konnte er bei Nichtigkeiten, zum llcispiel einem nicht enden wollenden Telefonklingeln oder l< m Anblick einer tropfenden Teekanne, aufbrausend werden oder, wenn ein Thema plötzlich sein Interesse weckte .idßweise, mit eindringlicher Stimme, einige Sätze hervor-l'imgen. Freundliche, spannungsarme Konversation lag ihm nicht. Um so mehr erstaunte Paul und mich, wie selbstver-.1.Midlich und weitschweifig unser Großvater nun über den Bienenstaat dozierte, um seiner Faszination für diese Welt iii der Welt Ausdruck zu verleihen. Es schien uns manch-111.1I, als hätte seine ganze unterdrückte Lebensenergie, nach Jahrzehnten eines Invaliden-Daseins, nach fünfzig I ihren in einem abgedunkelten Zimmer - einen feinma- ii Ingen, mit Rosen bestickten Vorhang zwischen sich und der Welt - jetzt noch einmal Zeit und Raum für sich gefordert. In diesen Wochen redete Mäxchen mehr als vorher in |.ihren. Ich trat aus der Einflugschneise, in der ich mich doch ein h inig fürchtete, auf das Bienenhaus zu. Es war so groß, daß 179 mehrere erwachsene Männer spielend darin hätten Pl.ii/ finden können. Die Wände waren grob gezimmert aus li.il bierten Holzbalken, deren sich ablösende Rinde sich einem in langen, welligen, harten Streifen bedrohlich entgegen reckte. Dichte Spinnweben spannten sich zwischen dem löchrigen Wellblechdach und den Holzwänden, in manchen hingen tote Bienen. Großvater hatte noch keine Zeit gefiin den, das Generationen alte Haus gründlich zu reinigen, viel leicht gefiel ihm auch der marode Charme dieser unvei wüstlichen Herberge von sieben Königreichen. Sieben schmale Kästen mit ungleich hohen Deckeln standen ne beneinandergeduckt wie Vieh auf einer Weide bei einem Gfl witter. Hob man einen der Holzdeckel, wurde das unabläs sig hörbare Summen unglaublich laut. Dieses Geräusch hatte auf mich von Anfang an sehr ehrfurchtgebietend ge wirkt; es war, je länger man zuhörte, keineswegs gleichföi mig. Es war nicht das Rauschen von Wind oder Meer, des sen Nuancierungen einem immer noch das Gefühl einei großen Einheit über allen Einzelstimmen vermittelten - es war das Geräusch von Individuen, von Unruhe, Kampf und Arger. Deshalb hielt ich es nie lange aus im Bienenhaus, es machte mich fahrig und nervös. Ich hatte das Gefühl, meine innersten Ängste, einigermaßen kontrollierte Neurosen wurden an diesem Ort nicht beruhigt oder vergessen gemacht, sondern im Gegenteil, wie das Fell eines Hundes, das man gegen den Strich streichelt, an- und aufgestachelt. Mein Bruder traute sich aus Angst vor jenen Bienen, die nicht nach draußen flogen, sondern ein kleines Loch in den Kästen nutzen, um im Bienenhaus selbst herumzufliegen, nicht einmal über die Türschwelle. Hier, dachte ich, könnte man jemanden im Affekt umbringen. An der Wand gegenüber den Bienenstöcken hingen Holzregale, die vollgestellt waren mit ausrangierten alten Netzen und Sieben. Der klumpige Honig an ihnen war fast schwarz und roch nicht gut. Paul hatte einmal mit dem Gedanken 180 gespielt, einige Siebe zu stehlen und für eine düstere Col-Iige, die er »88 Grad (Black Honey Red Revenge)« nennen wollte, zu verwenden. Aber die Angst vor Großvaters Ra-i he für solch einen Diebstahl hielt ihn schließlich davon ab. I n einem geflochtenen Korb lagen wild gebaute Wabenformationen, die Bienen entweder in der freien Natur anlegen oder im Bienenstock selbst, wenn die Wachsvorlage Ii hon ausgefüllt ist. Bleich und gekrümmt, wie die abgeworfenen Hüllen längst geschlüpfter Tiere, lagen sie aufgeschichtet. Ein Imkerhut mit langem weißem Netz und schwarzem Mund- und Augenfenster hing an einem Haken neben einem Paar ordinärer Heimwerkerhandschuhe mit plastikverstärkten Fingerkuppen. Landolf Felix war nie ein sehr ambitionierter Imker gewesen, das ganze Bienenhaus vermittelte den Eindruck einer salopp gepflegten I lobby-Werkstatt. Neben der Honigschleuder stand eine leere Flasche Wodka. Und über allem summte, murmelte, brodelte es. Großvater hatte so lange schweigend durchs Fernglas auf den regen Bienen-Flugverkehr gestarrt, daß ich glaubte, er hätte unsere Anwesenheit vergessen. Aber er winkte mir /u, als ich aus dem Bienenhaus trat. »Freia?« Er drückte mir das Fernglas in die Hand, und ich starrte in die nahe gerückten Bienenstöcke. »Sind das Arbeitsbienen, die vielen kleinen Bienen?« »Ja. Die Arbeiterinnen. Die bleiben nur ungefähr drei Wochen im Stock. Wabenbau. Brutpflege. Danach fliegen ne aus. Sammeln Nektar. Pollen auch.« Plötzlich war eine Biene riesengroß vor meinem Glas. Sie mußte dicht an uns herangeflogen sein. Ich blieb ruhig und starrte auf ihren Hinterleib. »Was haben die da Lustiges an den Hinterbeinen?« Mein Großvater räusperte sich, holte tief Luft und erzählte dann etwas wichtigtuerisch: »Das nennt man >Hös-ehen<. Es ist nämlich so, daß die Natur es so eingerichtet Iii hat, daß jede Arbeitsbiene am Unterschenkel des Hinter beines eine kleine Mulde hat. Zur Aufnahme des Pollens, Der klebt dann am Bein und bildet das >Höschen<. Am nächsten Beinpaar befindet sich an der Ferse die Bürste zum Pollensammeln. Die Arbeitsbiene trägt ihr Werkzeug im mer mit sich am Körper herum! Unglaublich.« »Nicht nur ihr Werkzeug, auch die Waffen!« warf ich ein, das Fernglas noch immer auf den Hinterleib der dichi vor mir schwirrenden Biene gerichtet. »Allerdings ...«, murmelte mein Großvater, »die Gift drüse sitzt am Hinterende. Zwei Stechborsten hat der Stachel - einen als Ersatz, falls dem ersten etwas passiert. Gehen auf Nummer Sicher, die Bienen.« Ich konnte den Stachel mit seinen zwei Borsten genau erkennen, wie ein gespaltenes Haar sah er aus, dann entfernte sich die Biene zu meiner Erleichterung langsam. »Und wie viele Arbeiterinnen sorgen für eine Königin?" Renate und Jo waren in der Küche beschäftigt, und mein Großvater tat nichts lieber, als uns etwas über seine Bienen zu erzählen. Ich vermute, er genoß es sehr, noch einmal als Autorität auf irgendeinem Gebiet zu gelten. »20000 bis 60000«, antwortete Großvater wie aus der Pistole geschossen. »Und 500-2000 Drohnen.« Wir drei schwiegen einen Moment. Ich überlegte krampfhaft, was ich noch fragen könnte. »Stimmt das, was man sagt, ich meine, daß die Drohnen ... verjagt werden ... nach der Begattung?« stammelte ich schließlich. Mein Großvater antwortete diesmal indirekt. Hierarchie und Ordnung seien die »zentralen Säulen«, auf denen der Bienenstaat seinen Erfolg aufbaue. Nie würde eine Biene die ihr zugewiesene Aufgabe ablehnen oder ihr Arbeitsfeld verlassen, nie würden »Klassenschranken« durchbrochen werden ... Und auch die Drohnen würden eben ihrer Aufgabe vollständig nachkommen, die die Natur ihnen innerhalb 182 dieses perfekten Systems zugewiesen hätte. Besonders Itrachtvoll sähen diese Drohnen aus mit ihren auffallenden I aeettenaugen, die viel größer seien als die der aschenputtel-h.ilten Arbeiterinnen. »Sie tragen ihren Teil zum Gelingen des Ganzen bei«, wiederholte mein Großvater ehrfürchtig, »und mehr eben .iiich nicht.« »Ich möchte keine Biene sein.« Paul wiegte seinen Kopf. »Wenn, dann nur Königin«, antwortete ich, halb lachend über unsere unsinnigen Bemerkungen. Dann wurde ich wieder ernst: »Was passiert, wenn eine Königin stirbt? Was passiert dann mit dem Volk, Großvater?« »Dann bricht es auseinander. Dann zerfällt der Staat. Das Volk braucht einen Führer. Aber nur einen. Wenn man zwei l'tienenvölker zusammenlegen will, muß man eine Königin löten. Und dann ganz viel Zuckerlösung auf die durchlässigen Trennwände zwischen den beiden Etagen schmieren, damit sich die beiden Feindparteien gesättigt begegnen. Müssen satt sein. Dann geht's gut. Keine Zuckerlösung, also Hunger, und die stechen sich ab. So ist das.« Mein Großvater sprach die letzten Worte mit Genug-uiung aus. Die geordneten Verhältnisse bei den Bienen schienen ihm zu gefallen. »Gibt es nicht auch plötzliche Sympathien zwischen Kienen verschiedener Stämme? Brechen da nicht auch mal ein paar aus? Gehorchen die denn immer?« Mein Großvater ignorierte Pauls Frage, nahm mir wortlos den Feldstecher ab und starrte auf die unzähligen, in einem breiten Luftkorridor fliegenden Bienen. »Der Mensch!« rief er plötzlich, und legte gleich darauf erschöpft eine Atempause ein. »Der Mensch«, fuhr er leise weiter fort, »sollte sich ein Vorbild an den Bienen nehmen. I )amals waren wir fast soweit. Wir waren, kann man ohne Übertreibung sagen, die fortschrittlichste Gesellschaft der 183 Welt. Nobelpreisträger. Chemie. Physik. Medizin. 19 ^ .>, Heisenberg. Und fünfmal Chemie von 1931 bis 1944. Bosch, Bergius. Zuletzt Otto Hahn ...« Hier brach er unvermittelt ab und legte das Fernglas .1111 seinen Schoß. Mit einer Hand wischte er sich Schweiß von der Stirn. Wir sagten eine Weile lang nichts. Großvater starrte in den Garten, über den langsam die Dämmerung herein brach. Ich sah in die dunklen, scheinbar undurchdring liehen Tannen hinter der Hecke, die, wenn ich die Augen zu Schlitzen verengte, näher zu rücken und, wenn ich die Augen weit aufriß, zurückzuweichen schienen. Sie schic nen mir der dunkle Saum der Vergangenheit zu sein; in der Ferne, am Horizont, doch nie verschwunden. Großvater redete nun mit der gleichen tonlosen Stimme weiter, mit der er später »Na, an irgend etwas muß man doch sterben« sagen würde. Eine gleichmäßige, nuschelnde Stimme, an niemanden gerichtet außer an das vielstimmige Summen und an die Wolken, ihre langen, unförmigen Schatten, die sie auf unsere Hände, Gesichter, unsere Autos, Häuser, unsere Kopfkissen, unseren Schlaf, unsere Leben warfen. »Nobelpreisträger. Chemie. Physik. Medizin. 1932, Heisenberg. Und fünfmal Chemie von 1931 bis 1944. Bosch, Bergius. Zuletzt Otto Hahn ...«, hörte ich meinen Großvater noch mal in sich hineinflüstern, als würde ihm diese Aufzählung irgendwie Mut machen. Ich sah von seinen fast lautlos zuckenden Lippen auf die faltige, fleckige Haut an seinem Hals, sah von der Gartenschürze auf das kantige, rechte Knie, sein Prothesenknie, das unter ihr zum Vorschein kam. Wie perfekt die Bügelfalte über dem hohlen Bein lag. Der frisch geputzte Schuh. Der ordentlich zugebundene Schnürsenkel. Der leicht abgelaufene Absatz. Ich blickte hoch und sah auf die große, gerötete Nase meines Großvaters und wieder auf die eigentümlich weichen, 184 II Iiiaffen Lippen. Nur wer ihn von nahem sah, bemerkte diesen schlaffen Zug, dem unaufmerksamen Betrachter w iirde sich nur die kompromißlose Größe seiner Nase ein-prägen. ■ Der Schwänzeltanz!« Mäxchen faßte uns beide an den Schultern und machte uns auf eine Biene aufmerksam, die iel leicht zwei Meter vor uns herumflog. «Das ist ein festgelegtes Bewegungsmuster, mit dem die Bienen sich über den Standort von Nahrungsquellen ver-.i.indigen.« Er reichte Paul das Fernglas, der es mit mäßigem Interesse entgegennahm. »Hm«, machte Paul vage und gab Mäxchen das Fernglas nach kurzer Zeit wieder zurück. Großvater erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich, ohne den Imkerhut aufzusetzen, einem Busch, vor dem ein Bienenschwarm, ohne aus der Form zu geraten, hin- und herstob. Ich rief meinem Großvater zu, ob er denn nicht lieber den Hut tragen wolle. »Na, an irgend etwas muß man doch sterben«, war die lapidare Antwort. Ich schaute schon wieder auf seine kräftigen Hände, die roten Finger, dachte, daß irgend jemand einmal eine Biographie nur über die Hände eines Menschens schreiben sollte. Wieviel Berührungen, wie viele vermiedene Berührungen, wie viele Zugriffe, Übergriffe hat ein Paar Hände sich im Laufe seines Lebens geleistet ... »Ich war gerade eine Woche in Warschau ...«, begann ich zögerlich. »Kind, warum denn das? Doch nicht etwa wegen Kazi-mierz?« »Er war mein Lieblingsonkel!« »Lieblingsonkel«, entrüstete Mäxchen sich, während er zurück in unsere Richtung humpelte, »das sind die Leute, 185 die ich gerne habe. Haben einmal von uns als >Aussiedlei gesprochen. Aussiedler. Flüchtlinge waren wir! Selbst hl ben sie absolut profitiert ... von allem. Der hat doch gröfl Karriere gemacht, dein Onkel, bei den Roten drüben Fernsehanstalt. Und immer tolle Briefe geschrieben, w.r, für ein Leben er führt. Moskau, Jalta, Schwarzes Meei Frauengeschichten. Am Ende immer eine Bitte, was wir ihm alles schicken sollen. Diese Päckchen haben wir bald eingestellt. Was willst du denn, Kind, ausgerechnet in Wai schau ... solltest lieber nach Rom oder Venedig fahren.- Ich starrte meinen Großvater an. Meine Mutter hatte mich nicht ohne Grund gebeten, nichts von Onkel Ka/i mierz zu erzählen. Mäxchen und Jo wußten nicht einmal, daß er sich vor einigen Monaten in der Weichsel ertränki hatte. Das Brummen der Bienen schien mir plötzlich oh renbetäubend laut. Ich fand Gefallen an dem Gedanken, das morsche, windschiefe, zähe Haus in einer neongelben Pulverwolke aus Gift verschwinden zu lassen. Ich hatte keine Ahnung, welche Farbe, wenn überhaupt, das Gift wirklich haben würde, ich stellte es mir nur so vor. Ich dachte an meinen Großvater, der noch nie so etwas gesagt hatte wie eben. Vielleicht erschlug mein Großvater nachts aus Spaß an der Freude Bienen an den dunklen, stinkenden Wänden des Häuschens. Vielleicht tat ihm das gut. Ich mußte an die Momente denken, in denen Mäxchen schon früher manchmal aus seinem Ohrensessel-Dasein aufgetaucht war. »Ich habe in Warschau die beste heiße Schokolade getrunken, die ich je in meinem Leben ...«, setzte ich an. »Zieh doch da hin!« brüllte mein Großvater auf einmal. Dann seufzte er tief; mir war nicht klar, ob aus Erschöpfung oder aus Resignation über mich. Schließlich fragte er in normalem Tonfall: »Mit wem warst du denn da in Polen ... doch nicht alleine?« »Nein, mit einem Freund.« ■Was für ein Freund!?« Vergiß es, Großvater. Was ist das für eine Biene, die nie H den anderen fliegt und immer von den anderen gejagt tfird?« I )as ist eine Kuckucksbiene. Es sind Schmarotzerarten. I eben solitär, bauen keine Stöcke, sammeln keine Nah- i iingsVorräte, und Brutpflege betreiben sie auch nicht.« I )er Tonfall meines Großvaters klang vorwurfsvoll. Er ..ili der einzelnen Biene mit gerunzelter Stirn nach. ■Sie legen ihre Eier in ...«, mein Großvater wischte sich mit einem karierten Stofftuch den Schweiß von der Stirn, .. fremde Stöcke.« Und die wurden nach dem Kuckuck benannt?« fragte ii Ii überflüssigerweise noch einmal nach. »Ja, ja, nach dem Kuckuck. So etwas gibt es eben nicht nur beim Menschen: diese Heimatlosigkeit, dieses Noma-ilentum. Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Uienenvolk. Sie bereichern sich an den Grundlagen, die .meiere Völker für sie geschaffen haben. Nutznießerisch, berechnend. Aber eine starke Bienenkönigin - immerhin li.it sie ein Heer von bis zu 60000 Arbeiterinnen an ihrer Seite, ach, das sagte ich schon, oder? - läßt die Kuckucks-luenen natürlich verjagen.« Paul und ich warfen uns einen langen erstaunten Blick zu. So hatte Großvater noch nie gesprochen, bei keinem der Kamin-Abende. Schulterzuckend ging Mäxchen zu seinem Gartenstuhl /urück und wischte sich schon wieder den Schweiß von der Stirn. Ich sah auf sein aschfahles, teigiges Gesicht. Ich sah, wie er die Augen schloß, und biß mir auf den Zeige-lingerknöchel. »Es gibt im Prado ein Gemälde von Jan Bruegel, das >Der (ieschmackssinn< heißt und ziemlich merkwürdig ist ...«, begann Paul mit zitternder Stimme, aber Jo stand plötzlich vor uns und schnitt ihm das Wort ab. 186 187 »Apropos Geschmackssinn!« rief sie. »Ihr drei sollt Ei sen kommen. Renate und ich sind soweit!« Mein Großvater erhob sich mühsam und leise fluchend aus seinem Stuhl. Er vermied den Blickkontakt zu uir., griff aber selbstverständlich nach Pauls Arm, um gestüt/i zu werden. Wir gingen langsam ins Haus. In der Tür stand Renale mit aufgelöstem Haar, an den Händen Mehl, und lächeile uns kurz an. Ich stellte mir vor, wie Jo, die sich seit einem Hüftleiden kaum noch auf den Beinen halten konnte, jeden Schritt meiner Mutter in der Küche dirigiert hatte. Jo hatte, trotz ihrer Altersbeschwerden und einer gerade überstan denen Gallenkrebsoperation, immer noch die Stimme eines Fußballtrainers. Renate und ich ließen die anderen vorgehen, dann folg ten wir in einigem Abstand. Nun fragte Renate mich, oh ich denn Mäxchen doch von Onkel Kazimierz erzähh hätte. Ich nickte und erzählte, warum ich jedoch kaum zu Wort gekommen sei. Meine Mutter hörte sehr konzentriert zu und schüttelte den Kopf. Als sie nichts dazu sagte, wurde ich unruhig, zumal die anderen im Wohnzimmer auf uns warteten und der kurze ungestörte Augenblick gleich vorüber sein würde. Ich kniff meiner Mutter in den Arm; eine Geste, die sofort verstanden wurde. »Ach, Freia, er ist alt und redet ein bißchen wirres Zeug. Er weiß nicht mehr, was er da erzählt. Und bitte, versauere ihm nicht noch die letzten Monate seines Lebens mit diesen Geschichten von früher. Glaubst du, er wird jetzt noch mal ein anderer Mensch? Er hat genug gelitten.« Sie tippte mit ihrem Fuß an meinen Unterschenkel, um mir die Prothese meines Großvaters in Erinnerung zu rufen. Als hätte ich sie auch nur einen Tag in meinem Leben vergessen können. Warum mein polnischer Onkel meine Großeltern haßte und sie ihn, wollte ich herausfinden, bevor Mäxchen und Jo mir nur noch im Traum begegnen würden. In vielen Träumen mich verfolgen würden, da war ii Ii mir sicher. Immer dieses Schweigen, Geheimnisse, I l.ilbschatten, lauwarme Hände auf meinen Schultern, I Idstein, Frösteln, Schluchzen. Nichts. »Du bist früher oft heimlich nach Warschau gefahren ...«, flüsterte ich meiner Mutter zu, den Geruch von Broccoli und Sahnesoße schon in meiner Nase. Ich erwartete auf meinen Vorstoß sichtbare Verunsiche-i iing oder das übliche von Seufzen unterbrochene Schweifen. Statt dessen holte meine Mutter tief Luft. »Ich bin ungefähr zwanzigmal heimlich nach Warschau gefahren! Was ich mir alles für Lügen ausgedacht habe! Wenn ich ohne sie im Nacken loszog, Freia, hab ich mich .im lebendigsten gefühlt!« Meine Mutter, die einem selten richtig in die Augen sah, Nickte mich jetzt direkt an, und ich spürte ihren Atem an meinem Gesicht. Es war einer dieser überraschenden Momente, in denen sie sich verwandelte. Diese plötzliche Hef-tigkeit machte mir jedesmal Angst. Ich mußte an einen Zeitungsartikel denken, den ich. kürzlich gelesen hatte. I )aß Hirntote sich gelegentlich aufbäumen und das Pflegepersonal umarmen, mit einer Kraft, die man ihnen nicht im entferntesten zugetraut hätte, wurde darin beschrieben. I )anach sacken sie wieder wie leblos in sich zusammen. Renate trat einen Schritt zurück und schloß die Augen. I )ann sagte sie ebenso zusammenhangslos wie bestimmt: »Ich habe von ihm geträumt.« »Von Onkel Kazimierz?« Meine Mutter öffnete die Augen und sah mich lange, wie aus großer Ferne an, schüttelte den Kopf und drehte sich langsam, in Zeitlupe, weg, wie jemand, den man gerade auf irgendeine Weise fürchterlich enttäuscht hatte, aber ich wußte nicht, was ich hätte fragen, sagen sollen, was sie mir vielleicht eigentlich gerne erzählt hätte. 188 i5 Die rote Tür Ich spähte durch den Farn. Ich schob einige Wedel zw Seite und hielt den Atem an. Schwerelos sah ich einen Schatten über den sonnenerleuchteten Waldboden laufen. Aber er näherte sich nicht meinem Versteck. Nein. El wurde, als die Sonne von einem Cirrus-Fetzen verdecki wurde, langsam immer schwächer, bis er verschwand - wie ein Traum, aus dem man allmählich erwacht. Wieland war in letzter Zeit immer seltener zu unserer Insel gekommen. Unsere Insel - das war einmal Pauls und meine gewesen. Ich kroch aus dem Farn und sprang über die Holzpfähle, die wir nach einem Krückendesaster in den flachen See eingerammt hatten. Vom Ufer lief ich schnell durch das kurze Waldstück, das den Bleichen See von unserem weiß durch die Tannen leuchtenden Haus trennte. Zu Hause hob ich die Fußmatte, guckte unter der steinernen Vase - nichts. Am nächsten Tag lag eine Postkarte von Wieland unter dem Hibiskustopf. Es täte ihm leid, daß er mich nicht sehen könnte; er würde mir alles später erklären. Wann - das wurde nicht angedeutet. Die Postkarte steckte wie immer in einem Briefumschlag ohne Angabe des Absenders - ich hielt Wieland ja geheim. Aus Pauls Zimmer klang das vertraute Klopfen und Hämmern; er baute gerade wieder einen Bilderrahmen. Unschlüssig stand ich in der Tür. Von hinten sah Paul immer noch aus wie ich. Doch Paul trug seit einiger Zeit hellgraue oder cremefarbene Stoffhosen und gebügelte Hem- 190 den. Ich amüsierte mich, daß er aus Eitelkeit selbst in seinem unordentlichen, mit Pigment-Gläsern, Eierkartons, Innern, halbfertigen Rahmen, herumliegenden Pinseln, Schnipseln und alten Zeitungen vollgerümpelten Zimmer 1 korrekt gekleidet war. Nie lief er in alten Kitteln herum, »elbst wenn er davon ausgehen konnte, den ganzen Tag au-lsi-r Familienmitgliedern niemanden zu sehen. Ich betrachtete Pauls Rücken und fragte mich, ob ich ihn einweihen sollte in meine Sorgen mit Wieland. Jetzt hatte mein Bru-der mich bemerkt, obwohl ich keinen Laut von mir ge-rrben hatte. Er lächelte mich mit seinem halben, flüchtigen Lächeln an und winkte mir mit einer schwachen Hand-U-wegung aus der Hüfte zu. Eine jener unnachahmlich linkischen Gebärden, die ich an ihm liebte. Ich trat näher. I'aul hob den Pinsel und malte vor meinen Augen langsam weiter. Ich sah eine Reihe großer goldgelber Kugeln, im I Untergrund vielleicht die Andeutung eines menschlichen I l.ilses. »Großmutter? Tante Lena?« fragte ich. Paul wiegte seinen Kopf halb zustimmend, halb verneinend. »Bernsteinplaneten.« »Ach so, verstehe.« Ich legte meine Hände auf seine Schultern, umarmte ihn von hinten. Paul war schmächtig für einen Jungen; im Vergleich zu ihm kam Wieland mir kräftig vor. Jetzt mischte Paul etwas Weiß in das Goldgelb, um einige »Bernsteinplaneten« zu mattieren. Mein Bruder hatte eine Engelsgeduld. Ich hatte noch nie ein Bild fertiggemalt; wenn es mir nicht gleich gelang, wie es nach meinem Empfinden aussehen sollte, warf ich es weg. Je länger ich Paul zusah, desto unpassender schien es mir, plötzlich über Wieland zu sprechen. Ich hatte Paul kaum etwas über ihn erzählt, geschweige denn ihn vorgestellt, wie sollte er unsere Beziehung, unsere konfliktreiche Reise nach Warschau und Wielands sich seitdem häufenden Absagen, beurteilen können? Ich konnte Paul doch nicht wie früher 191 um Rat fragen, wenn ich ihm bisher meine Gedanken uiul Gefühle vorenthalten hatte. Ich fühlte mich sehr allein, als ich mich aus Pauls nach Räucherstäbchen riechendem schummerigem Ateliei schlich. Später fand ich einen Zettel von Wieland in meinen Guni mistiefeln, die ich immer vor der Haustür abstellte. El würde um acht auf der »Iltis-Lichtung« auf mich warten ... Wieland hatte Cervelatwurstbrötchen und saure Gm ken mitgebracht. Dann bettete Wieland den Kopf auf meinen Schoß und erzählte, daß sein Vater seit drei Tagen nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen hatte, kein ein ziges Wort. Sein Vater schrieb Kurznotizen auf Einkaufszettel und legte sie auf den Herd. Wenn seine Mutter ihn anschrie, drehte er nur Wagners »Ring« lauter ... An dieser Stelle unterbrach Wieland sich: »Sag mal, Freia, stehen deine Eltern eigentlich auch auf Richard?« Ich mußte erst einen Moment überlegen, wen er mit »Richard« meinte, dann murmelte ich: »Nein, wieso?« »>Freia< ist in >Rheingold< die Hüterin der ewigen Jugend, die die Riesen von Wotan für ihre Hilfe beim Bau der Burg als Lohn fordern. Falls du von >Rheingold< schon mal gehört hast ...« Ich sch üttelte den Kopf und erzählte Wieland, wie Paul mir beziehungsweise einer mir sehr ähnlichen Figur spaßeshalber in einem Märchen diesen Namen verpaßt hatte, weil eine nordische Wettergöttin, die in einer Nebelhalle namens Fensalir regiert, Frija heißt. »Ja, ja, die nordischen Götter, da sind wir wieder«, seufzte Wieland, »wie kann man sich solch einen Namen nur freiwillig aussuchen ...?« »Mein Gott, Paul war noch ein Kind ... soll ich vielleicht meinen Namen alle fünf Jahre ändern, weil er irgend jemandem mal wieder nicht paßt?« Nachdem er länger geschwiegen hatte, murmelte Wie-liml: »Bloß nie heiraten, bloß keine Frau und Kinder ... bloß später kein Haus am Stadtrand, bloß ... ach, am beim man bleibt alleine ...« Ich starrte den Jungen an, der diese entschiedenen Worte I ii .ich und doch so anschmiegsam seinen Kopf auf meinen '.. Iioß gebettet hatte und jetzt meinen Bauchnabel zu küs-icn begann. In den nächsten Wochen sahen wir uns noch seltener als vorher, und wenn wir uns trafen, wirkte Wieland abgelenkt und verschlossen. Aber da er mir oft Plätzchen vom Bäk-kcr mitbrachte oder selbstbespielte Kassetten, bekam ich das Gefühl, er hätte mir gegenüber ein schlechtes Gewis-in. Paul schien zu merken, daß es mir nicht gut ging, und n malte mir einen riesigen, wunderschönen Jupiter, den ich über meinen Schreibtisch hängte. Doch manchmal entdeckte ich in seinen Augen auch eine Spur von Genug-i uung. Als es zu kalt wurde, um am Bleichen See zu picknicken, fing Wieland an, mich wieder öfter nachts zu besuchen -wir lagen dann bei Kerzenschein umschlungen auf meiner ('.ouch unter einer Mohairdecke und hörten Musik, wobei Wieland ziemlich viel Wein trank. Ich versuchte zu verhindern, daß er sich betrank, aber er leerte ein Glas nach dem .inderen. Wir hatten alberne Streitigkeiten, bei denen ich ihm sein Glas, kaum hielt er es unter die Weinflasche, mit Mineralwasser vollgoß oder ihn küßte, wenn er gerade einen tiefen Schluck genommen hatte, um ihm den Wein aus dem Mund zu trinken, aber letztendlich gelang es mir nie, ihn davon abzuhalten, sich, kurz bevor wir ins Bett gingen, vollständig zu betrinken. Nachher war er dann nicht mehr in der Lage, mit mir zu schlafen. Einmal, als wir beide einen Schwips hatten, lagen wir Arm in Arm auf meinem Bett 193 und lauschten Pauls orientalischer Musik von oben. Wie land wippte mit den Zehen. Plötzlich setzte er sich auf: »Wollen wir ihn nicht einfach mal überraschen, deinen Bruder? Er wird doch nicht mit einem Dolch auf mich los gehen, oder?« Ich war betrunkener, als ich vermutet hatte, mir war aul einmal alles, was mir sonst Kopfzerbrechen gemacht hätte, egal. Wieland sprang auf. Ich hatte Mühe, auf die Beine zu kommen. Auf der Treppe stolperte ich. Die Tür zu Pauls Atelier war wie immer angelehnt. An seiner Art, Türen weder zu schließen noch richtig zu öffnen, meinte ich Pauls wankelmütiges Wesen wiederzuerkennen. Mein Bruder saß versunken vor einer gespannten Lein wand, als wir vorsichtig eintraten. Wieland stand hintei mir, ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken. Jetzt wurde ich doch nervös. Der Raum war nur schwach beleuchtet, Paul haßte grelles Licht und malte zu unser aller Verwunderung am liebsten nachts. Eine Öllampe stand zu seinen Füßen, Zeichnungen lagen überall zwischen Pinseln und ausgeschnittenen Notizen herum. Von der Decke hingen dicht hintereinander wie ein unendlicher Vorhang riesige Transparent-Papiere, die Paul mit blauem Wachs besprenkelt hatte. Im Hintergrund lief die Sitarmu-sik. Paul saß mit dem Rücken zur Tür, das marineblaue Hemd ließ seine vom Sommer gebräunten Unterarme sehen. Langsam drehte er sich um. Ich spürte, wie Wieland den Atem anhielt. Niemand sagte etwas. Paul sah uns ausdruckslos an - er mußte sehr überrascht sein, wie wir plötzlich nach so vielen Monaten wie Geister in der Tür standen, aber sein Gesicht spiegelte nichts davon. Schließlich wandte er sich ebenso gemessen wieder seiner Lein-wand zu. Dann hob er einen Arm und malte einen feuerroten Strich quer über das Bild. Wieland und ich starrten erschüttert auf diesen Strich. Leise traten wir zurück in den dunklen Flur. Auf dem anschließenden nachmitternächtlichen Spazier-r..ing stolperten wir Hand in Hand über Baumstümpfe und nie losbewachsene Steine, um die ich gewöhnlich geschickte Hogen machte. Ich rülpste laut im Wald, vor dem ich sonst !■ Iiifurcht hatte, so betrunken war ich. Hatte ich Pauls Wut iil den Jungen, der ihm seine Zwillingsschwester entfremdet hatte, unterschätzt? Als ich ein paar unbeholfene Sätze über den kurzen Atelierbesuch machte, merkte ich, daß Wieland anfing, sich unbehaglich zu fühlen. Meine Familien-\\t'schichte begann ihm über den Kopf zu wachsen. Da lief er (ort von seinem Wagner hörenden, Bücher über die »Deutsche Kriegsflotte« lesenden Vater und seiner tablettensüch-ligen, sich in den Schlaf flüchtenden oder schimpfenden Mutter, um hier am Ende der Stadt in eine andere verwir-i ende Welt einzutauchen. »Ihr seid doch nicht verheiratet!« sagte Wieland zu mir. Und ich dachte für ein paar Sekunden daran, wie oft ich Paul geheiratet hatte. All die Fotos, auf denen wir Blumenkränze auf dem Haar und aus Gräsern geflochtene Ringe« tragen, die später von Plastikringen aus Kaugummiautomaten ersetzt wurden. Mindestens fünfzehnmal hatte ich meinen Bruder geehelicht. Nach diesem ersten Treffen mit Paul zog Wieland sich noch weiter zurück. Nur noch selten fand ich grüne und blaue Murmeln in unserer Kuhle auf der Insel, baumelten Säckchen mit vom Wasser rundgewaschenen Steinen an einem tiefhängenden Ast hinter der Garage, lagen Trauben-/uckerbonbons unter dem Salamander-Stein im Garten. Nur noch selten schrieb er mir Briefe, die ich morgens mit klopfendem Herzen aus meinen Gummistiefeln auf der Treppe zog. Und doch war es in dieser Zeit, daß Wieland mir sagte, er würde mich lieben. An einem regnerischen Novembertag, an dem wir trotz des Wetters zur Iltis-Lichtung gegangen waren, nahm er 194 195 mein Gesicht in seine Hände, studierte es mit ernstei Miene und flüsterte mir diese Worte zu. Das nächstemal trafen Wieland und Paul sich durch Zufall Ich kam mit Paul von einem verregneten Spaziergang - in diesem November hat es in meiner Erinnerung eigentlich nur geregnet -, als Wieland vor der Hintertür stand, lässig, die Hüften vorgeschoben, den Kragen seines Anoraks hoch gestellt. Mein Vater war für drei Tage verreist und meim Mutter bei ihren Eltern. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Bauch, spürte auch den leichten Schreck, den Paul bekam. Es gab kein Zurück mehr. Die Tür hinter Wieland leuchtete rot. Wir sahen beide zu ihm hin - Wieland, mit seinem ernsten, forschen Blick, der ihm trotz seiner schlaksigen Gestalt etwas Erwachsenes verlieh, etwas, das ich noch nie in Pauls und meinem Spiegelbild gesehen hatte, wenn wir nebeneinan der im Flur standen, mit hochgezogenen Schultern die Reißverschlüsse unserer Daunenjacken schlossen und uns angrinsten. Wieland fuhr sich einmal kurz durch die blonden, strubbeligen Haare. Paul und ich gingen im Gleichtakt schneller. Wieland lehnte sich zurück und musterte uns abwechselnd. Sein Blick blieb an Paul hängen, er wanderte hinauf und hinunter. Mir schlug das Herz bis in den Hals. Wieland und ich küßten uns immer zur Begrüßung. Nun waren wir verlegen. Und mir schien, als würde diese Verlegenheit stärker von ihm ausgehen. Mir schien, er wäre, als ich ihn dann doch beinahe wütend küßte, ein bißchen zurückgewichen. Zu dritt liefen wir ins Haus, die Jungen hinter mir. Da beide kein Wort sagten, schien es mir überlassen, ein Gespräch anzufangen. Ich bot ihnen an, Tee zu kochen und dazu Baumkuchen anzuschneiden. Paul legte eine alte Vinylplatte auf, »Rubber Soul« von den Beatles, und fragte Wieland schließlich, welche Musik er gerne hörte. Und Wieland antwortete ihm ausführlich. Ich war in der Küche beschäftigt, während die beiden anfingen, sich zu unterhalten. Man spürte ihre Vorsicht im Umgang miteinander. I >och nach einer Weile flogen Pauls und Wielands Worte Inn und her, ein sanftes Pingpong, bei dem es weniger auf den Inhalt der Worte als auf die Tonlage der Stimme, ihr Schwingen, ihre Untertöne ankam. Kraftlos schnitt ich Kaumkuchenstücke, und meine Arme wurden unendlich .chwer, als ich das Tablett mit Tee, Honig, Zucker und Kurilen zu den beiden ins Wohnzimmer trug. Nach diesem langen Abend, an dem wir über die Farbe Lila in Pauls Gemälden, über die Wahrscheinlichkeit extraterre-si rischen Lebens und Reisen in die Wildnis, von denen Wie-l.ind träumte, sprachen, eine Unterhaltung, bei der ich mich nicht auf die Gesprächsgegenstände konzentrieren konnte, ..dien sich Wieland und mein Bruder lange Zeit nicht. Es lolgten Monate, in denen Wieland mich verbissen liebte und mir viel zu oft sagte, daß er mich begehrte ... In den Ferien fuhren Wieland und ich in die Tschechoslowakei, wo wir wanderten und zuviel Pivo tranken. Paul machte in der fernen Provence einen Sommerkurs in Französisch. Aber irgendwann kamen der Spätsommer und der I lerbst und natürlich - unvermeidlich - der Tag, an dem sie sich wiedersahen. Es war Pauls und mein achtzehnter Geburtstag. Wir hatten beschlossen, in unserem Keller eine kleine Party zu feiern. Dazu würden wir die fünf, sechs nettesten Klassenkameraden einladen sowie zwei Jungen, mit denen Paul ab und zu Kanufahren ging. Doch mein Hauptgast war natürlich Wieland. Schon bei den Vorbereitungen fiel mir auf, wie oft Paul I ragte, ob Wieland denn dieses oder jenes Essen bevorzugen würde, und selbst als er überlegte, ob man Matratzen 197 auf den Boden legen oder Stühle herunterholen sollte, stand die Frage im Raum, was Wieland davon halten würde. Paul und ich waren alles andere als geübte Part)' Organisatoren. Wieland schien für uns beide eine An Testperson zu sein, die uns bestätigen könnte, alles »richtig« gemacht zu haben, weil er so viel Ruhe und Selbstvertrauen ausstrahlte. Wir brauchten zwei Wochen, um diese Party vorzube reiten. Wir nähten bunte Bezüge für unsere häßlichen braunen Sitzmatratzen, im Sperrmüll fanden wir einen al ten zusammengerollten Perserteppich, den wir an die Wand hängten. Hin und wieder stürmte unsere Muttei nach unten, weil ihr Tips für Salate eingefallen waren, die wir ebensoschnell vergaßen, wie sie uns gegeben wurden. Mein Vater half uns beim Getränke-Schleppen. Wenn Paul und ich früher etwas zusammen unternah men, konnten wir uns meist schnell einigen, nun aber stritten wir über jede Schale mit Erdnüssen und jede Girlande. Paul schien mir krankhaft perfektionistisch, und ich merkte, wie ich, um ihn zu ärgern, die Schalen in entlegene Ecken stellte oder die Girlanden unschön von der Decke baumeln ließ. Paul wiederum sabotierte meine Bemühungen, lebensgroße Kopien unserer Kinderfotos anzubringen, und tat mir nicht einmal den Gefallen, sich lustige Namen für unsere Cocktails auszudenken. Als die Party schließlich näher rückte, hatte ich kaum noch Lust zu feiern. Lieber wäre ich mit Wieland alleine gewesen, obwohl er sich auch beim letzten Besuch hoffnungslos betrunken hatte. Um neun kamen die ersten drei Gäste. Sie brachten Wein mit und schenkten uns eine Folkrock-CD, die wir gleich einlegten. Alle lachten über die großen Fotos von Paul und mir in gestreiften Latzhosen und roten T-Shirts, mit Lollies in den Händen, fast so groß wie unsere Gesichter. I )ann kamen unsere Eltern herunter, mein Vater hatte in ich zwei Freunde mitgebracht. Der Anblick meines Va-lers mit seinen Kumpels behagte mir zwar nicht, aber bald ei zählte er so amüsante Geschichten, daß alle zwei Minu-ich eine Lachsalve von seinen Zuhörern ausging. Die Stimmung war gut, nur Paul lief aufgeregt herum, schob Schälchen hin und her, räumte Gläser ab, die Gäste erst vor einem Moment abgestellt hatten, und zupfte an den (itrlanden. Jedesmal, wenn der Glitzervorhang wehte, den wir in die Kellertür gehängt hatten, sah ich, wie Paul sich schnell umwandte. Um zwölf wollten wir anstoßen. Um sieben vor zwölf flatterten die glitzernden Plastik-.1 reifen, und Wieland stand lässig in der Tür. Als er heran-.ehlenderte, traute ich meinen Augen nicht: er war nicht .»Hein gekommen, hinter ihm stand ein anderer Junge mit leuerrotem Haar unter einer schwarzen Mütze. In der I land hielt er eine Flasche Sekt. Wieland trat auf Paul und mich zu. »Herzlichen ...«, hob er an, dann küßte er jeden, nhne den Glückwunsch zu beenden, auf die linke und die rechte Wange. »Das ist Patrick, mein Nachbar, könnte man sagen ...« Ich nickte ihm stumm zu. Noch nie hatte Wieland von ihm erzählt. Mir fiel leider nichts ein, wie ich hätte reagieren sollen. Ich starrte ihnen nur hinterher, wie sie sich im Keller umschauten und schließlich zur Bar stapften. Ich konnte nicht aufhören, Wieland anzusehen, seine Nase, sein Kinn, seinen Adamsapfel, seinen Nacken, seinen Kücken, seine schlanken, langen Beine, seine Hände, die jetzt so gedankenverloren über den Rand des Bierglases strichen ... Für einen Moment fragte ich mich, ob Wieland und ich nicht unseren Schwur, unsere Beziehung geheimzuhalten, hätten lösen sollen. Er hatte mich nicht anders .ils meinen Bruder auf die Wangen geküßt - und auch dieser Patrick mit seinem Thälmann-Mützchen und seinem 198 199 listigen Grinsen würde nicht wissen, wer ich eigentlu Ii war ... Den restlichen Abend über wusch ich Gläser ab, spielte den DJ, lüftete, füllte Erdnußschälchen, wischte Wem lachen vom Boden auf. Ich hatte keine Lust mehr, mit ii gend jemandem zu reden außer mit Wieland, und begann mich zu ärgern, daß ich überhaupt die Idee mit der Fet< gehabt hatte. Statt dessen könnten Wieland und ich jetzt umschlungen auf dem Sofa liegen und herumspinnen, wai wir uns einmal für ein Baumhaus bauen würden ... Von der ersten bis zur letzten Minute der Party hatte ich fieberhafte Sehnsucht nach Wieland; daß er mit anderen ins Gespräch vertieft war, ohne meine Nähe zu suchen, tat mir weh. Doch ich brachte es nicht fertig, zu ihm hinzugehen - ich wollte, daß er meine Abwesenheit bemerkte und zu mir kam ... Aber Wieland blieb mit Patrick zusammen an der Bai stehen. An der Art, wie sie gestikulierten, wie sie ihre Hüften vorgeschoben hatten, merkte ich, daß sie recht vertraut miteinander waren. Warum hatte Wieland mir nie von diesem Freund erzählt? Mir kam der Gedanke, ob unsere Geheimbeziehung vielleicht nicht nur bedeutete, daß wir uns vor anderen versteckt hielten, sondern auch, dals wir andere Menschen voreinander versteckt hielten. Unsere Gäste schienen sich gut zu amüsieren, Peter spielte weiter den Animateur, meine Mutter half Paul ge rade, ein Geschenkband durchzutrennen, und alle redeten angeregt miteinander. Und wieder glitt mein Blick zu Wieland, sein Körper leuchtete für mich, jede seiner Bewegungen schien mir besonders, unnachahmlich, diese Art, sich die Haare aus dem Gesicht zu schieben, den Kopf zu senken, wenn er konzentriert zuhörte, das Standbein zu wechseln, die Beine übereinanderzuschlagen ... Aber er schaute nicht zu mir hin. Ich hob Flusen vom Boden auf, zerkrümelte Erdnüsse zwischen meinen Fingern. Als Anja ■ inmal zu mir hersah und Anstalten machte, näher zu kommen, guckte ich schnell weg und tat beschäftigt. Als Ii Ii den Blick wieder hob, redete Jochen, einer der Kumpel meines Vaters, gerade auf Patrick ein, und Wieland schaute ii Ii um. Er konnte mich nicht sehen, denn ich saß mit Mario hinter dem DJ-Pult; sein Blick wanderte suchend umher und blieb an Paul hängen. Mein Bruder hatte sich der Länge nach auf einer Matratze ausgestreckt. Gerade räkelte er sich, strich sich mit beiden Händen von der Iii List über die Lenden. Wielands Blick blieb auf Paul ge-uelitet. Ich wurde unruhig, fixierte Wieland, ich hoffte, er würde meinen Blick spüren und dann zu mir herschauen. Manch-m.il funktionierte das. Wir hatten schon hundert Meter voneinander entfernt auf Lichtungen im Wald gestanden, lind Wielands Kopf hatte sich langsam zu mir umgedreht, ils hätte ich an einem Seil gezogen. Paul setzte sich jetzt luf, wobei er sich sein Hemd etwas zurechtrückte. Er hob den Kopf - und traf Wielands Blick. Einen Moment lang hielt er seinem Blick stand, dann legte Paul den Kopf zur Seite und lächelte Wieland an mit seinem halben, immer etwas unglücklich wirkenden Lächeln, er hörte nicht auf /ii lächeln, und Wieland nickte - kaum merklich und sehr ernst. Ich stand mit steifen Beinen auf. »Wechsel!« sagte ich kompromißlos zu Mario und ■ teilte die Musik aus, die er als letztes aufgelegt hatte. I >ann legte ich »Heiter Skelter« auf und sah mit Genug-i iiung, wie sich die Tanzenden schnell auf die Matratzen Ii lichteten. Ausgerechnet in dem Moment, als ich meine Zunge ins Weinglas steckte und komische, schnalzende Geräusche machte, um einen Tropfen herauszulecken, stand Wieland vor mir. »Wie geht's? Zufrieden?« 200 201 Ich wischte mir mit einem Hemdsärmel schnell übei den Mund und schüttelte den Kopf. Wieland hob eine Augenbraue. »Was ist denn los?« »Nichts, ich bin kein Partytyp, vergiß es.« Er setzte sich auf einen Hocker neben mich. Nach Lätl gerem Schweigen meinte er: »Ich dachte, die Gastgeber werden so beschäftigt sein, daß ich mir lieber einen Spielkameraden mitbringe.« Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als würde i< Ii mich hingebungsvoll auf die Musik konzentrieren. »Laß mich alleine ...«, sagte ich schließlich, stand auf und stellt« mich zu einem der Grüppchen. »Heiter Skelter« klang laul und scheppernd aus. Die ersten Gäste verabschiedeten sich, meine Muttei hatte sich auch schon schlafen gelegt. Nachdem sich dei Kreis um ihn aufgelöst hatte, hatte sich mein Vater mit J (i chen hinter die Bar verzogen und sah jetzt wieder wie ein Mann seines Alters aus. Paul lag ausgestreckt auf einer Matratze und unterhielt sich angeregt mit Patrick - ich beobachtete sie eine Weile. Dann konzentrierte ich mich ganz auf meine DJ-Tätigkeit, entschlossen, die übriggebliebenen Gäste mit Rausschmei ßer-Musik zu vertreiben. Ich spielte Schlager von Robert 11 Blanco und Heintje. Ich wollte mit Wieland allein sein. Eine Weile schien sich niemand mehr um die Musik zu kümmern. Ich befürchtete, sie könnten sich noch ewig so unterhalten. Um kurz vor fünf standen jedoch alle auf einen Schlag auf. Wieland löste sich jetzt von der Bar. »Du warst ja eine verbissene DJane!« Ohne etwas zu erwidern, schob ich die heilige Heintje Single meiner Mutter in ihre Hülle. »Mein Geschenk habe ich vorhin Paul in die Hand gedrückt, weil ich dich gerade nicht gesehen habe, aber dns ist natürlich für euch beide!« raunte Wieland. Ich starrte ihn ungläubig an, ich wollte etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Nichts, was die Skala meiner Gefühle um Ausdruck gebracht hätte. Wieland küßte mich links und rechts. •Bis bald!« Er drehte sich um - mir schien, er wartete, bis ich wieder in ein Gespräch vertieft war - und trat auf Paul zu. Während ich mir Stefanies Dank für unsere Einladung und 'in Lob für unsere »witzige Dekoration« anhörte, beob-.lehtete ich aus den Augenwinkeln, wie Wieland mit Paul redete. Paul fuhr sich durch die Haare, nickte mehrfach ustimmend, lachte einmal; es sah nicht nach einer küren, unverbindlichen Verabschiedung aus. Dann ging Wie-l.md mit Patrick, der mir nichts außer einem kurzen unverständlichen Witz erzählt hatte, hinaus. In der Tür i Irehte Wieland sich noch einmal um und sah mich mit einem düsteren und sehnsuchtsvollen Blick an, der mich verwirrte. Ein letztes Mal wehte der nun schon etwas lädierte Glitzervorhang auf, dann waren Paul und ich allein. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber bei der Musik, die du so aufgelegst hast... da haben die Leute immer aufgehört zu tanzen!« meinte Paul, während er leere Weinflaschen auf einem Tischchen gruppierte. Schweigend räum-ien wir bis zum Morgen auf. Die nächsten Tage sah ich Paul kaum. Wieland meldete sich nicht, und ich versuchte mich mit einem Buch über die alten Ägypter abzulenken. Nachts ging ich mit meinem Fernrohr auf die Iltis-Lichtung, weil es in diesen Ta-i;en eine Venus-Jupiter-Konjunktion geben sollte. An den Wieland-verdächtigen Orten hatte ich immer noch keinen Zettel gefunden. In der folgenden Nacht konnte ich überhaupt nicht schlafen. Ich machte hundert Liegestütze, ich duschte lange und heiß, ich trank Melissentee - es gab kein Mittel, 202 203 mich müde zu machen. Um drei Uhr nachts war i< Ii schließlich außer mir vor Unruhe. Ich zog mich wieder an nahm meine Taschenlampe, schlich mich über die quifll sehende Holztreppe hinunter, und schon stand ich dran ßen. Der Himmel war von einem diffusen, kalten Lichl getränkt. Es war eine Art von Himmel, schieferfarben und undurchdringlich, die ich haßte. Ich schritt schnell üb | den Rasen, trat in den Wald, spürte den Temperaturuntci schied, die besondere Kühle des Waldes, die mich seit dl i Kindheit für Sekunden die Luft anhalten ließ. In der im endlichen Familie der Tannen hörte ich mein festes Schuh werk wie die Schritte eines Fremdlings. Ich war zu lniii. mein Herz klopfte, mein Anorak streifte geräuschvoll dil Nadeln. Ich sah den blaßgrünen Streifen Wiese schon von wo tem durch die Tannen wie den Vorboten einer Krankhcii Je weiter ich lief, desto mehr veränderte sich meine Stmi mung. Ich war nicht mehr unruhig, nicht mehr ängstlich, ich hörte das Knacken unter meinen Schuhen nicht mein Ich lief einfach nur, zielsicher und ohne Gefühl, ein ge horsamer Soldat. Ich hatte einen leichten Trab eingelegi, und jeder meiner Schritte erfolgte pünktlich im Takt, all würde ich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus einem Uhrwerk bestehen. Einmal verscheuchte ich ein Inseki von meiner Stirn, ohne dabei die Kälte meiner Hand zu bemerken. Ich lief noch zwischen den Tannen, als ich sie sah. Wäli rend ich aus dem Takt geriet, wollte ich mir noch einre den, zwei fremde Jungen vor mir zu haben, aber es gelang mir keine drei Schritte. Auf der Wiese saßen Wieland und Paul im Schneidersitz. Sie saßen dicht voreinander und sa hen sich an. Ich blieb zwischen den Tannen stehen. Mein Herz klopfte laut und langsam wie der Klöppel einer gewaltigen Glocke. Ich fing an zu frieren. Ich bewegte mich nicht. Dann drehte 204 ii Ii mich um mit einem Ruck, als würde ich einen festgefah-lenen Karren aus dem Morast ziehen. Das Knirschen unter meinen Füßen war ohrenbetäubend laut. Sie mußten mich gehört haben. Sie mußten mich gesehen haben. Das letzte, was ich erhascht hatte, war, wie Wieland eine Hand im Zeitlupentempo gehoben und an Pauls Wange gelegt hatte. i6 Bernsteinketten Jo saß mit geradem Rücken auf ihrem Sofa, eine Teetasse in der Hand. Sie hob die kleine, mit bunten Vögeln bo malte Tasse nur leicht an, stülpte die Lippen vor und schlürfte ihren Tee. Mit Honig natürlich. Wir saßen In ihrem Wohnzimmer, das mit seinen Biedermeiermöbeln, seiner Ranftbechersammlung, einem Nachdruck von Georg Friedrich Kerstings »Die Stickerin« und einer Lithogra phie der Jägerzeile in Wien ein wenig wie ein Salon aus dem 19. Jahrhundert anmutete. Meine Mutter und ich hockten auf kleinen Sesseln, deren Sitzfläche niedriger w.u als die des Sofas, und hörten Jo zu. Sie erzählte wieder vom Krieg, von der Flucht aus Westpreußen, von einem Arztbesuch bei Dr. Gehlke, von der Verwundung meines Großvaters in Rußland, von Tante Marions Geburtstag und einer vor Jahrzehnten eingetroffenen, liederlich geschriebenen Ansichtskarte von Onkel Kazimierz aus Jalta - als würden all diese Erlebnisse zeitgleich stattfim den, jetzt. Zwischendurch nahm sie mehrere Schmerztabletten, von denen ich wußte, daß sie auch eine sedita tive Wirkung hatten. Jos Krebserkrankung war trotz der Operation vor ein paar Jahren innerhalb kurzer Zeit wie der ausgebrochen. Meine Mutter nickte geduldig, versuchte jedoch, jeden Stichworteinwurf zu vermeiden, weil das bei Jo wieder eine endlose, schleppend vorgetragene Rede nach sich gezogen hätte. Meine Großmutter war gerade dabei zu schildern, wie sie Gotenhafen (meine Mutter und sie stritten wieder über den Namen dieser Stadt) verlassen mußte. Je verwirrter sie 111 den letzten Wochen geworden war, desto mehr redete «ie über den Krieg und ihre Flucht. Zwischendurch leckte sie genießerisch ihren Honiglöffel ab. So etwas hätte sie, die immer viel Wert auf »Form« gelegt hatte, sich vor ein paar Monaten noch nicht »durchgehen lassen«. Sie machte schmatzende Geräusche, ließ sogar Honig aus ihrem Mund wieder auf den Löffel tropfen. »Menschen überall, Verwundete, Sterbende, Kinder, I liegeralarm ... und immer diese Ahnung, daß der Russe nicht mehr weit ist...« Jo starrte uns eindringlich an, wählend sie sprach. Manchmal preßte sie die Lippen aufeinander oder schüttelte den Kopf. »Mitten in der Nacht wachen meine Schwester Lena und ich von einem ohrenbetäubenden Lärm auf ... wir wissen, das ist wieder einmal Bombenalarm, und wir müs-sen so schnell wie möglich in den Keller, da wir aber nun einmal im vierten Stock nächtigten ...« »Im zweiten, übertreib nicht, Jo!« rief Renate. »Kind, weiß ich, in welchem Stock mein Bett stand, >>der du?« Meine Mutter schwieg und begann wie ein gelangweiltes Kind an der Tischdecke herumzuzupfen. »Also wir laufen vom vierten Stock ...«, meine Großmutter betonte das »vierten« mit einer gehässigen Deutlichkeit, »in den Keller ...« Dann verlor sie den Faden und narrte auf ihren leeren Honiglöffel. Renate stand ungeduldig auf und sortierte Wäsche in eine Kommode. Jo nestelte an ihrer Mohairdecke herum. Sie hatte sich hinnen kürzester Zeit vollkommen verändert. Ich wußte nicht, ob die Einsicht in ihre Krankheit Jo den Lebensmut genommen und den Verfall ihres Gedächtnisses beschleunigt hatte oder ob ein Ereignis, unabhängig davon, an ihrem llrinnerungsVerlust schuld war: Vor sechs Wochen war sie in ihrer Küche gestürzt und hatte einen Oberschenkelhals- 206 207 bruch erlitten. Niemand wußte, wie lange sie in ihrer Wob nung auf dem Boden gelegen hatte, bevor ein vorbeigehen der Nachbar am nächsten Morgen ihr Fingernägelkrat/en an der Innenseite ihrer Wohnungs tür hörte. Dr. Geh Hm hatte vermutet, daß der Grund für diesen Sturz ein Schlag anfall gewesen sei. Mein Großvater hatte zu diesem Zeil punkt schon wegen seines Prostata-Krebses im Kranken haus gelegen. Er hatte seitdem die Klinik nicht mehr verlas sen; meine Mutter wohnte mehr in Minden als in Berlin, und Paul und ich wechselten uns mit Besuchen ab. Peiei kam selten; er war durch seine Praxis nicht sehr flexibel Davon abgesehen, hatten er und Jo sich noch nie gut vei standen. Immer, wenn ich meine Großmutter besuchte, versuclue ich herauszufinden, woran sie sich noch erinnern konnte, und zu verstehen, warum andere Dinge spurlos ihrem Ge dächtnis entglitten zu sein schienen. Ich hatte den Ein druck, daß hauptsächlich zwei Kriterien erfüllt werden mußten, damit eine Erinnerung Jo erhalten blieb: Das Er eignis mußte vor langer Zeit stattgefunden haben, am be sten in ihrer Kindheit und Jugend, und es mußte eine nega tive Erinnerung sein. Abendelang hatten Renate und ich neben Jo gesessen, hatten sie mit Kompott gefüttert und ihr Fotos von den vielen Reisen gezeigt, die sie in ihrem Leben unternommen hatte. Winterurlaub in Davos, Herbstferien in der Lüne burger Heide, ein Wochenende in London, ein Trip in die Provence, Silvester bei Freunden in Wien, sogar eine Reise nach Miami hatten meine Großeltern, denen es an Geld nie gemangelt hatte, noch gemacht. Aber abgesehen von der Florida-Reise, an die sich Jo wegen des unerwartet schlechten Wetters und des »schrecklich unübersichtlichen Flughafens« von Miami gut erinnern konnte, schienen die meisten Reisen in keinerlei Zusammenhang mehr zu ihrem Leben zu stehen. 208 Sie ließ sich von uns gern etwas über London erzählen, wiegte nachdenklich den Kopf, als Renate über die schönen Spaziergänge in der Provence und das gute Essen dort berichtete; sie hörte gespannt zu, als mir die Jagdhunde Her Ferienhausnachbarn in der Lüneburger Heide einfielen, wie sie unser Spielzeug apportierten und einmal sogar eine Plastiktüte mit Himbeeren, die Jo im nahe gelegenen Wald vergessen hatte, an die Tür brachten - Jo schien alles /um erstenmal zu hören und kicherte amüsiert. Ich schleppte all die Fotoalben an, die Jo nach der Flucht, nach dem Verlust früherer Alben, mit noch größerer Akribie angelegt hatte; ich ließ Jo Blicke in ihre auf unzählige Schuhkartons verteilte Postkartensammlung werfen, ich suchte die entsprechende Kleidung, die sie auf den Reise-lotos trug, aus ihren drei großen Schränken heraus, ließ sie Hie Stoffe befühlen und hielt ihr alte Parfüm-Flakons unter die Nase. Gelegentlich schien Jo sich für Sekunden zu erinnern. Es mußte, schloß ich, ein Gedächtnis »für den Moment« geben. »Dieses Parfüm habe ich geliebt! Das habe ich damals immer benutzt, als ich zu den Elternabenden ging. Dieses Kleid hab ich in dem Sommer getragen, als Tante Barbara starb. Und in den Schuhen hab ich damals Lena in der Baumschule geholfen und hab junge Triebe gestutzt, als Kurt seinen Beinbruch hatte. Und dieses Haarband, das habe ich immer getragen, wenn ich mit Mäxchen ins Thermalbad ging, damit meine Haare nicht aus der Badekappe rutschten!« Aber wenn man Jo diese Dinge zwei Tage später zeigte, erinnerte sie sich an nichts mehr. »Das ist ein häßliches Haarband. Ist das von meiner Schwester?« hieß es, oder: »So ein süßliches Parfüm hab ich nie benutzt. Das ist doch eher etwas für Hilde. Diese Schuhe sind etwas grob für meinen Geschmack. Die müssen Tante Karla mit ihrer Pferdemacke gehören.« 209 Einmal versuchte ich es mit Musik. Meine Großeltern !><• saßen viele Platten mit klassischer Musik, und ich hoffte, sie würden bei Jo manche Erinnerung wach werden lassen Als ich die Platten in dem dunklen Holzschränkchcn, auf dem, seit ich denken konnte, ein riesiges, altmodische'. Radio stand, der Reihe nach durchschaute, wählte ich zu nächst die besonders zerkratzten aus. Ich dachte mir, daß Jo und Mäxchen sie besonders oft gehört haben mußten und die Chance am größten sei, daß sie bei Jo irgendeine Erinnerung auslösen könnten. Ich legte also die »Pasto rale« von Beethoven auf, eine Platte, die Paul und ich oft während der »Märchen-Abende« gehört hatten, an die ich mich noch gut erinnern konnte - aber zu meiner Enttäu schung schüttelte Jo nur den Kopf. »Ich habe Durst, bring mir bitte ein Glas Wasser, und stell den Lärm ab.« Auch bei Chopin, Brahms und Schubert rührte Jo nur abwesend in ihrer Teetasse herum. Daraufhin spielte ich die weniger zerkratzte Ouvertüre von »Don Giovanni«, und wider Erwarten lauschte meine Großmutter verzückt. »>Don Giovanni< ist das doch ...«, sie wippte mit den Zehen. »Lauter, bitte.« Uns alle deprimierte der Gedächtnisverlust unserer Großmutter. Aber während es mich interessierte, was Großmutter vergessen hatte und was nicht, und darauf hoffte, mittels dieser Kenntnis ihr einige Erinnerungen zu erhalten oder andere ins Gedächtnis zurückrufen zu können, war Paul einfach nur erledigt nach solchen Besuchen bei Jo. In dieser Zeit malte er, wenn ich in seinem Atelierzimmer am Fenster stand und von Jos Zustand berichtete, einen Zyklus von großformatigen Bildern: Auf jedem Gemälde war im Zentrum ein einziger Gegenstand zu erkennen, etwa ein Schlüssel oder eine Brille, aber nur ein Teil des Objekts war scharf konturiert, die andere Hälfte löste sich graduell in . inem grauen schmierigen Nichts auf. Diese Serie nannte 11: »0,5 Grad. Subito, Jo.« Meine Großmutter stellte jetzt ihre Teetasse ab, setzte lieh mit all der ihr verbliebenen Kraft aufrecht hin und sah uns herausfordernd an. Sie wartete darauf, daß wir ihr die I ntscheidung, was jetzt zu tun sei, abnehmen würden. I'lüchten aus Gotenhafen, über den womöglich gefährlichen Seeweg, oder doch warten? Der Russe würde es nicht ernsthaft wagen, seinen Fuß auf Gotenhafen zu setzen ... aber: gab es nicht ständig diesen Fliegeralarm? »Hat sich Tante Ilse über die CD gefreut?« fragte meine Mutter etwas gereizt. Sie hatte eine neue Einspielung von Schubert-Liedern besorgt, die Jo gestern Tante Ilse zum < ieburtstag geschenkt hatte. Aber Jo reagierte nicht auf die Frage. »In einer halben Stunde müssen wir am Hafen sein. Die Kleine muß noch andere Schuhe anziehen, sonst erfrieren ihr die Zehen!« Jo sah uns gespannt an. Meine Mutter seufzte und warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Die Kleine war sie. Fünf Jahre alt. Es war seltsam: Mit jedem Menschen, insbesondere mit Peter, hatte meine Mutter eine Engelsgeduld und »nahm sich gerne zurück«, nur bei ihrer eigenen Mutter verwandelte sie sich in einen mauligen Teenager. »Jo! Iß mal etwas von den Plätzchen hier!« sagte meine Mutter ungewöhnlich heftig und legte meiner Großmutter ungefragt zwei Zuckerkringel auf die Untertasse. Meine Großmutter schaute sie wie aus großer Ferne entgeistert an, dann murmelt sie: »Kind, gut, daß du da bist, gut, daß du da bist!« Ab und zu warf sie ängstliche Blicke zum Fenster. Ich betrachtete meine Großmutter, die umherwandernden Augen, die in nicht enden wollendem Erstaunen hochgezogenen borstigen Augenbrauen, die eingefallenen 210 211 Wangen, die schmalen, knöchernen Schultern, die Bein steinkette um ihren Hals, ihre kleinen, runzligen, im Schoß gefalteten Hände. Wie lange wird sie noch bei im sein? Ich sah Jo an, daß ihre Gedanken - wie meistens - aui die vermeintlich nächstliegenden, konkreten Dinge ga richtet waren. Zum Beispiel, wo die Stiefel ihrer kleinen Tochter liegen könnten. Von der Küche her hörte ich meine Mutter im Spül becken planschen. Hektisch begann ich loszureden, es fiel mir schwer, diese Sätze über die Lippen zu bringen: »Johanna, wii können nicht hierbleiben, wir müssen fort, jeden Tag winl eine neue Stadt eingenommen, worauf wollen wir warten:' Doch nicht mehr auf den Geburtstag des >FührersTheodor<, und doii sind wir sicher.« »Auf unserem Schiff war es leise, manchmal sogar /n leise«, wisperte meine Großmutter, jetzt wieder im Impci fekt. »Freia, reichst du mir bitte meine Mohairdeckc' Danke ... Man denkt ja, wenn Menschen in Furcht und Schrecken sind, dann klagen und schreien sie. Aber dal war bei uns nicht so. Vielleicht lag das auch daran, daß wii alle doch recht zivilisierte Menschen waren; jedenfalls wai es leise, die Leute jammerten höchstens. Ich fand die Stille schon fast unheimlich. Nur die Artillerie hat man vom Ufer her gehört. Und sie klang nahe ...« Jo nahm einen großen Löffel Honig, schob ihn sich in den Mund und ließ ihn dort. Man sah an den Bewegungen ihres Mundes und ihres Kiefers, wie sie den Honig ah saugte. Dann spuckte sie den Löffel aus, er fiel auf die Mohairdecke. Ich legte ihn auf den Tisch. »Weißt du was, Freia?« Jo sah mich plötzlich hellwach an. »Um ein Haar wären Lena, Renate und ich doch mit der >Gustloff< mitgefahren.« Ich setzte mich gerade hin. »Nein, Jo, das ist deine Phantasie ...« Doch Jo hustete und begann, sie hatte einen ihrer »guten Momente«, relativ zusammenhängend zu erzählen: »Wir waren nämlich wegen dem ganzen Gepäck ... doch zu spät am Pier ... das kleine Minensuchboot konnte nicht so viele Passagiere mitnehmen ... eine Traube von Menschen wartete vor uns ... wie war das noch mal... wir waren spät ... wegen den Steckrüben ... und da rief man schon: >Stopp! Anbordnahme abgeschlossen!< ... die Leute, die ganz vorn warteten, fingen an ... zu weinen ... nein, die Frauen weinten ... die hatten den ganzen Tag in der Kälte gestanden ... wollten die Anbordnahme nicht verpassen ... ja, so war das ... wegen irgendeinem Problem ... Mäxchen könnte das jetzt genauer sagen als ich ... die >Theodor< I onnte noch nicht auslaufen ... und Lena, Renate und ich ... wir warteten den ganzen Tag, die ganze Nacht... bis ■um nächsten Morgen! ... in dieser Kälte ... in der Hoffnung, daß die Besatzung Mitleid bekommen ... und uns doch noch ... an Bord nehmen würde ... Plötzlich nützte alles nichts mehr ... daß wir in der Partei waren ... nützte i'.ii- nichts ... das war schrecklich ... Am nächsten Tag ... wurden doch noch einmal ein paar Passagiere an Bord genommen ... wer nicht mehr mitgenommen werden konnte, wurde zu den ... wie hieß das? ... Fallreeps nannte man die ... von der >Gustloff< geschickt... also in den Tod.« Noch nie hatte Jo bisher erzählt, daß sie in der Partei gewesen waren. Es hieß immer nur »gute Verbindungen /ur Partei«. Meinen direkten Fragen - Paul stellte solcherart Fragen nicht - waren Mäxchen und sie immer ausgewichen, oder sie hatten sogar »nein, nein« gemurmelt. Und ich fragte mich, welche Privilegien meine Großmutier besessen hatte, daß sie zu den Auserwählten gehörte, die am nächsten Morgen noch außer der Reihe an Bord genommen wurden. Die Handvoll Leute. Unter Hunderten, Tausenden, die sich vor so einem Schiff gedrängt haben mußten. Ich starrte Jo an und fragte mich weiter, was sie alles wußte, was ich nicht wußte. Was sie vergessen hatte und an was sie sich sehr wohl erinnern würde. Tante Lena konnte ich nicht mehr fragen. Die Anbordnahme. Wie würde Jo dieses Ereignis in den Schubladen ihres Gedächtnisses archiviert haben? Als ultimativ negatives Erlebnis, als Verlust des geliebten Gotenhafen, als Einsicht in die kurz bevorstehende Kriegsniederlage oder positiv - der »Gustloff« knapp entkommen und der Beginn der verhältnismäßig unbeschwerlichen Flucht? Wäre Jo noch gerissen genug, um mich anzulügen? Der Satz »ich erinnere mich nicht« könnte zur Ausrede werden ... 218 219 Ich preßte meine Hand um die Kette in meiner Tasi hl aber spürte in den Fingerspitzen nur meinen eigenen schnellen Herzschlag. Durch Jos geschlossene dunkli Brokatvorhänge drang kaum Licht. Ein feiner, unendlli Ii aufgefächerter schwacher Sonnenstrahl rann aus dem Sp.ili zwischen beiden Vorhanghälften und versickerte in Joi Wohnzimmer, nur im geöffneten Honigglas auf dem Tisi Ii leuchtete er plötzlich, wie mit letzter Kraft, auf. Meine Großmutter und ich - sie mit jetzt geschlos.se nen Augen, das Gesicht eine reglose Maske, nur an ihren ineinandergekrampften Händen erkannte ich ihre An Spannung - ich mit meinen abgelaufenen Turnschuhen und meiner Glatze -, wir saßen beide in ihrem Wohnzim mer, das aussehen wollte wie ein aristokratischer Salon aus dem 19. Jahrhundert. Ich schlief schlecht in dem tiefen, weichen Bett meinei Großmutter. Immer wieder lief erst Wasser, dann Blut un ter der Tür hindurch in mein Zimmer, stieg an, die rot« Flut benetzte meinen Körper, begrub mich unter sich. Ich wachte auf und hielt selbst noch, als ich das Licht anknip ste, einige dunkle Flecken auf dem Teppich in Nähe der Tür für Blutlachen. Dann schaltete ich das Licht wieder aus und versuchte, im Sitzen zu schlafen, denn ich wollte nicht in dieses tiefe, weiche Bett sinken, mich fallen lassen, zurück in die Geschichte, dorthin, wo ich herkam. Ich blieb wach sitzen bis zum Morgen. Ich sah, wie die Sterne erst noch hell in der Dunkelheit leuchteten, um dann langsam, mit der Dämmerung, dem Morgen, dem Tagesbewußtsein, der Geschäftigkeit, der Vergeßlichkeit, ihre Leuchtkraft einzubüßen und zu verschwinden. 17 Wasserpfeife Wieland hatte am Morgen, nachdem ich ihn mit meinem bruder auf der Lichtung gesehen hatte, einen Zettel unter den Salamander-Stein gelegt, aber ich hatte mich nicht gleich gemeldet. Ich fürchtete mich nämlich vor einer Begegnung mit ihm. Schließlich meldete sich Wieland noch einmal - ganz konventionell, per Telefon, was mich erstaunte. Er stellte sonst auf diese Weise nur dann Kontakt zu mir her, wenn er genau wußte, daß meine Eltern nicht da sein würden. Nun schien es ihm egal zu sein. Mit knappen Worten verabredeten wir uns um acht hinter der Garage. Selten habe ich so lange gebraucht, um mich zu entscheiden, was ich anziehe. Eigentlich machte ich mir keine Gedanken über derartige Dinge, jetzt aber war ich unsicher, ob ich eine Jeans, eine Armyhose oder meinen einzigen Rock tragen sollte, und zog mich noch dreimal um. Um halb acht saß ich nervös auf meinem Sofa und überlegte hin und her, wie ich Wieland begegnen sollte. Ich ging davon aus, daß Paul und er mich gesehen hatten, sein Schweigen und Pauls ausweichendes, unsicheres Verhalten seitdem schienen mir Hinweise genug. Eigentlich war alles so eindeutig, daß es gar nichts mehr zu bereden gab. Aber was wäre, wenn Wieland den Vorfall mit Paul als Lappalie betrachten und mich um Verzeihung bitten würde? Obwohl das nicht wahrscheinlich war, denn sie hatten wie Romeo und Julia voreinander gesessen und ihren Anblick genossen. Ich saß so lange grübelnd auf dem Sofa, daß ich beinahe 220 221 die Uhrzeit vergessen hätte und Wieland hinter der Ga rage warten ließ. Wir sahen uns nicht in die Augen, als wir uns ohne Kuls begrüßten. Während wir in den ersten Stock zu meinem Zimmer hinaufstiegen, dachte ich kurz daran, wie aufrc gend unsere Versteckspiele früher gewesen waren. Jetzi stolperte Wieland, ohne einmal nach links oder rechts zu spähen, ohne sich zu bemühen, leise zu sein, hinter mir die Stufen hoch. Oben legte ich eine Cowboy-Junkies-Platte auf und stellte eine Keksdose auf den Tisch. Aber ich hatte das Gefühl, jeder Versuch, die Atmosphäre »behaglich« zu machen, war umsonst. Ich hatte mir vorgenommen, erst einmal abzuwarten, was Wieland zu sagen hatte. Er saß mil feindseligem Gesichtsausdruck vor mir, und als er anfing zu sprechen, versuchte er, gefaßt zu wirken. Ich merkte, daß er sich jedes Wort vorher zurechtgelegt hatte. »Freia ... du bist ein ... modernes Mädchen ... und du wirst verstehen ... es kann vorkommen ... daß ein Junge feststellt, er fühlt sich mehr zu Jungen hingezogen als zu Mädchen ... ich bin so ein Fall.« Ich nickte und murmelte irgend etwas in der Art von »daß ich nichts gegen Schwule hätte, aber sehr unglücklich darüber sei, daß ich ihn verlieren würde oder schon verloren hätte«. »Mein Leben wäre anders auch einfacher! Das kannst du mir glauben. Meinst du, ich kann das je meinen Eltern erzählen? Mein Vater wird mich enterben ...« Ich nickte sprachlos. Wieland redete weiter. Ich erinnere mich daran, eine Weile nur genickt zu haben. Irgendwann fragte ich in einem nicht so gelassenen Tonfall wie vorhin bei meiner Generalprobe auf dem Sofa: »Warum muß es ausgerechnet Paul sein?« Die Antwort darauf wollte ich nicht wirklich hören. Aber sie kam natürlich prompt. Jedes Wort verletzte mich, weil es darauf hinauslief, daß Paul der anziehendere Mensch sei als ich. Ich spürte, wie ich, je länger Wieland sprach, immer ärgerlicher wurde. Irgendwann machte ich etwas sehr I )ummes. Ich hatte Wieland gerade gefragt, ob er denn keine Lust empfunden hätte, als er mit mir zusammengewesen war, ob er sich nicht erinnerte, mir einmal etwas ganz Besonderes ins Ohr geflüstert zu haben ... und Wieland hatte schweigend auf die Tischplatte gestarrt. Nun machte mich sein Schweigen mit jeder Sekunde immer wütender. Warum mußte er jetzt alles verleugnen? Unsere gemeinsamen Nächte, unser stundenlanges stummes Beieinanderliegen im Wald, auf der Iltis-Lichtung ...? Plötzlich sprang ich auf, nahm die Keksdose, eine große fünfeckige Metallbox, und warf sie nach ihm. Sie traf ihn am Kopf. Wieland schnellte hoch. »Bist du wahnsinnig?« »Du bist das größte Arschloch, das mir je begegnet ist, du setzt nie wieder einen Fuß in mein Zimmer!« schrie ich ihn an und mußte im gleichen Moment an seine Mutter denken. Wieland hielt sich die blutende Stirn, als er hinaushastete. Die nächsten Wochen waren fürchterlich lang in meiner Erinnerung. Der Winter kam, und die Tage wurden länger und länger, da ich fast nie schlief. Es waren schwarze Tage, an denen ich um Mitternacht an meinem Schreibtisch saß und Bücher über die Etrusker, die Dinosaurier, Kaiser Rotbart, Wurmloch-Theorien und Tiefseefische las. Ich sprach kaum ein Wort in jenem Winter. Die Schule hatte ich nach drei Tagen nicht mehr aufgesucht. Manchmal ging ich ins Wohnzimmer, wo meine Mutter stand wie eine vergessene, verblühte Zimmerpflanze - und wenn ich sie sah, schlich ich langsam wieder hinaus. Ich wollte keine Fragen gestellt und keine Schlafmittel hingelegt bekommen. Ich wollte Wieland zurück. 222 223 Ich rief mir alle Geschichten, Gespräche, Geister in Erin nerung. Ich erinnerte mich, ihm von Palmolon erzählt ZU haben, und wußte noch, wie er gelacht und sich versprochen hatte beim Versuch, den Namen wiederzugeben: Palomo Ion. Ich legte ein Ginkgoblatt, das Wieland mir einmal ge schenkt hatte, unters Kopfkissen, nur dann konnte ich ein bißchen schlafen. Manchmal dachte ich an meine Klassenkameradinnen und ihre wechselnden Lieben, hin und wieder brausten sie auf Mopeds durch unsere leeren Sträßchen, aber ich behielt nie im Kopf, wer gerade mit wem liiert war. Seit meinem Streit mit Wieland vermied ich es, mit Paul zusammenzutreffen. Und doch ahnte ich, daß sich nach unserem Zerwürfnis ihr geheimes Leben fortsetzte. Bei Paul brannte selten das Licht, er roch manchmal stark nach Schweiß, und wenn er morgens seinen Kakao umrührte, tat er es mit in sich versunkenem Blick. All die Tricks, mit denen ich versucht hatte, Wieland von meiner Familie fernzuhalten, würde Paul jetzt anwenden. Und er würde mindestens so vorsichtig sein wie ich, denn sein Geheimnis war noch umfassender als meines. In jenem Winter hatte ich daran gedacht, mich umzubringen. Auf unserem Hängeboden lag ein altes Gewehr. Es lag schon lange da, und ich wußte, daß meine Mutter sich vor ihm fürchtete und es wegwerfen wollte. Aber Peter hatte gesagt: »Renate, wie willst du ein Gewehr einfach wegwerfen? In den Müll? Dann haben wir noch die Polizei hier sitzen, wegen unerlaubtem Waffenbesitz. In den Wald? Dann findet es vielleicht ein Kind.« Das Gewehr stammte von Mäxchen, aber der Zusammenhang war mir nie recht klar. Ich wußte nur, daß er es eigentlich nicht mehr haben durfte. Jedenfalls guckte ich mir dieses Gewehr genau an und stellte dann fest, daß es nicht geladen war. Aber ich wollte mich doch erschießen! - alle anderen Methoden waren indiskutabel. Ich wollte ein Dia von Uranus mit seinem verrückten vertikal rotierenden Ringsystem in meinem /.immer an die Wand werfen, ich wollte Wielands Ginkgo-Matt in meiner Brusttasche tragen und mir mitten ins Herz schießen ... Ich war achtzehn. Natürlich machte ich es nicht, Patronen hin oder her. Der Winter brachte eine neue, umfassende Einsamkeit u her mich. Ich schlich nicht mehr in Pauls vollgerümpeltes Atelier mit der flackernden Öllampe und dem Rascheln der unzähligen Transparentpapiere, ich traf mich nicht mehr mit Wieland und ließ mich küssen und lieben, ich sprach nicht mehr mit Wieland über Gott und die Welt - Gott und die Welt schienen mir immer schon weit weg von unserem I laus am Stadtrand, aber Wieland hatte wenigstens ein bißchen Anschluß an die Welt dort draußen für mich bedeu-i ct. Er hatte mir aus der Zeitung vorgelesen, wenn wir in den Wiesen gelegen hatten, und mich ab und zu ins Kino eingeladen. Und er hatte große Pläne für die Zukunft. Wie man die Welt retten und wohin man noch reisen könnte ... Es waren viel mehr Dinge, die ich vermißte, als ich befürchtet hatte - in dieser Zeit, als ich Wielands Nähe nur noch in dem Zimmer über mir ahnte ... Als ich Silvester mit meinen Eltern bei einem Kollegen von Peter auf der Dachterrasse stand, dachte ich nicht an die Zukunft, sondern an jene Momente, an denen ich unglücklich gewesen war in meinem Leben - wie oft war ich zusammengezuckt, wenn ich meine Hand nachts auf die glühend heiße Motorhaube unseres Volvos gelegt hatte, wenn mir diese leblose Hitze, die von keinem Menschen ausging, die Finger zu verbrennen drohte, wenn ich die frischen Blätter an dem ordentlich aufgehängten Anorak meines Vaters im Flur sah, wenn ich meine Eltern im Wohnzimmer beobachtete, wie sie nebeneinander irgendwelchen Beschäftigungen nachgingen - mein Vater telefonierte mit einem Freund, meine Mutter las in einer ihrer Frauenzeit- 225 Schriften - und sich über Stunden nicht ansahen, wenn meine Mutter mit entrücktem Gesicht am Fenster stand und ihr Blick weit über die Wipfel der Tannen wanderte .. Bei dieser Art des Unglücklichseins früher hatte ich mich selbst nie in Frage gestellt: Renate und Peter lebten jeder in einem Paralleluniversum für sich, die Großeltern zankten sich über den Alltag, Mäxchen war ein Muffel, Jo ein Feld marschall, jetzt aber ging es nur noch um mich. Was ich ge tan oder unterlassen hatte, um Wieland zu verlieren, w;u mir nicht klar. Ich hatte keine Freundin, die mir den Kopl zurechtrücken und mir sagen konnte: Wenn dein Freund Männer liebt, hast du überhaupt keinen Fehler gemacht .. aber hätte mich so ein Satz überhaupt trösten können? War um war Wieland erst glücklich mit mir gewesen und dann nicht mehr? Wie oft hatte er im Wald meinen Kopf zwi sehen seine Hände genommen, sich auf mich gelegt, sein Rücken ein gespannter Bogen, und seine Hüften, kantig und schmal, stießen gegen meine ... Was war irgendwann, ohne daß ich etwas davon ahnte, mit ihm passiert, um ihm den Entschluß nahezulegen: Das alles will ich nicht mehr? In jenem Winter saß ich manchmal in unserem eigenen Haus mit dem Fernglas und beobachtete Paul. Von der Stiege zum Dachboden, durch einen Spalt meiner Tür, durch das Schlüsselloch des oberen Badezimmers - immer sah ich ihn, wie er mit nacktem Oberkörper, ein Handtuch über die Schultern geworfen, hinaufstieg, sah die wenigen Haare auf seiner Brust, sah seinen schlendernden Gang, seine spitzen, schlaksigen Hüften, seine schmalen Hände, die das Geländer herauf-, herabglitten ... und ich dachte daran, wie ich einmal die Badezimmertür geöffnet hatte und mein Bruder vor dem Spiegel gestanden hatte ... nackt ... und mich mit meinem Gesicht angeguckt hatte, sein Glied in seiner Hand ... Immer sah ich ihn, und ich wurde Zeuge seiner großen Verwandlung. Es war offensichtlich, daß Paul es sich zum Ziel gesetzt hatte, nicht mehr so auszusehen wie ich. Er tat I >inge, die ich ihm nie zugetraut hätte. Er fuhr mit unserem Volvo, wir waren ja jetzt volljährig, in die Stadt und ging in ein Sonnenstudio! So etwas hatte ich nur meinen Klassenkameradinnen zugetraut. Die Haut meines Bruders wurde dunkler und dunkler. Vielleicht wollte er orientalisch aussehen ... Er trug neujahrsschneeweiße, februarblaue und lliegenpilzrote Anzüge, er ließ sich die Haare halblang wachsen und färbte sie pechschwarz. Es quälte mich, zu sehen, wie mein Bruder von einem schmächtigen Teenager zu einem körperbewußten, verführerischen Mann wurde. An seiner Tür hing ein Foto - sicherlich aufgenommen von Wieland -, auf dem er vor einem in viele Richtungen zeigenden Wegweiser auf einem Stein saß. »Enter please« stand darüber. So etwas hätte Paul noch vor wenigen Monaten nicht aufgehängt. Manchmal lag ich nachts im Bett und versuchte mir vorzustellen, was Wieland jetzt mit Paul tun könnte. Ich dachte, daß es nicht viel anderes sein würde als mit mir. Und daß Paul ähnlich reagierte wie ich. Ich war ziemlich sicher, daß es so war. — Bei diesem Gedanken mußte ich immer weinen. Doch ich beobachtete Paul nicht nur voller Haß, sondern auch mit Bewunderung. Ich hätte ihm diese Veränderungen nicht zugetraut. Wider Willen war ich fasziniert, wenn er in einem seiner makellosen Anzüge aus seinem duftenden Atelier trat, mit den glänzenden langen, leicht gelockten Haaren, wie gut mußte er neben Wieland mit seinen blonden kinnlangen Haaren aussehen!, auch sein dunkler Teint stand ihm zweifellos. Und an seinem linken Ringfinger trug er einen eckigen dicken Ring, über den mein ausgesprochen uneitler Vater schallend gelacht hatte. Aber ich in meinen Arbeitshosen und weiten T-Shirts starrte meinem Bruder immer nur ungläubig und gebannt hinterher ... Die Spannung, die zwischen uns lag, konnte man kaum beschreiben. Jeder Tag war eine Zerreißprobe. Paul und ich 226 227 lebten schließlich unter einem Dach und waren es gewohnt, viel Zeit miteinander zu verbringen. Bis zum Februar spach ich mehr oder weniger nicht mit ihm. Nachdem ich einmal schweigend aus der Küche gegangen war, als er weinte, hatte er keine weiteren Anstalten mehr gemacht, mit mir ins Gespräch zu kommen. An mir huschte er nur vorbei sein neuerworbener, stolzer Gang war für einen Moment durch meine Anwesenheit vergessen. Wenn er mich am un teren Ende der Treppe hörte, beschleunigten sich seine Schritte, und eine Hand glitt nervös durch sein glänzendes Haar. Irgendwann im Februar jedoch stiefelte ich kurz ent schlossen in Pauls Atelier, um ihm zu sagen, daß er seine Musik gefälligst leiser stellen sollte. Paul lag mit nacktem Oberkörper auf mehreren am Boden herumliegenden Kis sen und rauchte. Es war eine Art Wasserpfeife, an der er zog. Er drehte sich zu mir um. Etwas Freundliches trat zu meiner Überraschung in sein Gesicht. Ich kam näher und setzte mich auch auf den Boden. »Wie geht es dir?« fragte er jetzt, ohne mich anzusehen. Er zog noch einmal an seiner Wasserpfeife und starrte an die Zimmerdecke. »Beschissen«, antwortete ich nach einem Zögern. »Peter und Renate wissen nichts, oder?« »Nein, ich habe ihnen nicht erzählt, daß du deiner Schwester ihre große Liebe ausgespannt hast!« sagte ich, um Paul bloß nicht das Gefühl zu geben, sein Schwulsein stünde hier im Vordergrund. Paul seufzte und sah mich für einen Moment an. Wir mußten beide wieder weggucken, weil zuviel Schmerz aufkam. Dann legte er eine braune Hand auf mein Knie. Es gab nichts zu sagen. Nur seine Hand lag auf meinem Knie. Irgendwann hörte ich die große Uhr unten im Wohnzimmer schlagen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seitdem ich hier saß. Ich beschloß, ihr nächstes Schla- 228 gen abzuwarten, und starrte auf Pauls Wachsmuster-Bilder, bis die Kleckse sich vor meinen Augen verdoppelten, verschoben, immer neue Muster bildeten. Paul drehte sich jetzt vom Rücken auf den Bauch. Er vergrub sein Gesicht in den Armen. Dann sah ich nur noch das leichte Zucken seiner Schultern und das Zittern des Wasserspiegels in der Pfeife. Ich selbst blieb unbewegt sitzen. Die I ränen liefen haltlos über mein Gesicht, mein Kinn, meinen Hals herunter in den Ausschnitt meines T-Shirts, sie liefen über meine Brust, kitzelten meine Brustwarzen, flössen weiter. Mein Hosenbund war später ganz naß. Im Hintergrund brauste Pauls alte Beatles-Platte, bis zu einer Stelle mit einem Sprung, und ich stellte mir vor, diese Szene würde sich in alle Unendlichkeit wiederholen: Pauls zuckende Schultern auf den Kissen, die zitternde Wasserpfeife, der Fluß meiner Tränen über meinen Körper, das Knacken und Kratzen der schnarrenden Klaviertasten ... Nach dieser Nacht hatte sich mein Verhältnis zu Paul geändert. Wir redeten oft miteinander, vermieden aber das Thema Wieland. Ich fragte ihn nur einmal kurz: »Ihr seht euch oft, oder?« Und Paul nickte. Ein anderes Mal stieß ich mit einem Glas Wein an und rief: »Und, wie war das erste Mal? Das mußt du mir einfach erzählen! Wie ist das denn so?«, aber Paul wurde knallrot und stopfte sich Salzstangen in den Mund. Am nächsten Tag lag ein Palmolon auf meinem Bett mit grüner Schrift: »Du Hast Einen Wunsch Frei«, und ich legte ihn mir unters Kopfkissen. Im März bekam ich einen langen Brief von Wieland und einen Strauß Rosen. Jetzt erst fühlte ich mich wirklich wie eine abgelehnte Frau. Rosen! Was sollte ich mit Rosen? Wenn es doch ein Buch oder eine Kassette gewesen wäre! Die Rosen nahm ich Wieland wirklich übel, abgefertigt mit einem Standard-Gruß fühlte ich mich. Mußte er mich im 229 nachhinein zur Frau machen, um mich mit gutem Gewis sen ablehnen zu können? Peter schenkte Renate Blumen, um sie mit ihnen allein zu lassen - ich hatte von Blumen die Nase voll. Wielands zwei Seiten langer Brief war geprägt von ver nünftigen Sätzen über die Schwierigkeit, eine Beziehung aufzulösen und sich zu trennen, und wie wichtig es sei, einander noch zu respektieren. Er könne mir versichern, ich hätte nichts »falsch gemacht«, und es läge in keiner Weise an mir, daß er nicht bei mir bleiben konnte. Er sei froh, wichtige Dinge über sich selbst in jungen Jahren und nicht wie manch einer erst mit dreißig oder vierzig herausgefunden zu haben, fügte er noch hinzu. Zum Schluß schrieb er, er hoffe für mich, daß ich spätestens nach dem Sommer, wenn ich mit meinem Studium anfangen würde, einen netten Jungen kennenlernen würde ... und weiter stand da, aus welchen Gründen auch immer: »Die erste Liebe ist nie die letzte - außer bei Eltern, aber da sieht man ja, wo das hinführt.« Den Brief legte ich zu anderen Briefen von Wieland, holte einen Spaten aus der Garage, hob hinter unserem Haus ein rosenlanges Rechteck aus und warf die Rosen hinein. Blumen ... Im April sah ich Wieland wieder. Es war so zufällig und unspektakulär, wie ich es erwartet hatte. Ich lief morgens die Treppe hoch, und Wieland und Paul traten aus der Tür. Ich nickte und lächelte, Paul kam näher und fragte, ob ich später mit ihm kochen wolle. Dann gingen beide. Ich starrte ihnen hinterher. Sie sahen so schön aus, in ihren Anzügen, mit ihren blonden und schwarzen halblangen Haaren. Einen Moment lang überkam mich unglaubliche Erregung bei dem Gedanken an ihre beiden Körper, die mir so vertraut waren, von denen ich mir alles vorstellen konnte ... ihre Lust, ihr geheimes Leben ... Und ich 230 wünschte mir sehnlichst, wie sie zu sein, schmale Hüften, einen kleinen, festen Hintern, einen hervorspringenden Adamsapfel, sehnige Hände, behaarte Arme zu haben ... dann würde ich zu ihnen kommen, wir wären alle zusammen ... und nie mehr müßte ich allein sein in den Nächten und Tagen, die mir so einerlei geworden waren. Von nun an änderte sich alles. Wieland hatte Paul klipp Lind klar gesagt, er hätte bei unserer Begegnung das starke Bedürfnis gespürt, wieder mit mir zu reden, und suchte Kontakt zu mir. Zwei Tage später kochten wir zu dritt. Das heißt, ich saß auf dem Sofa und ließ mich bekochen — ich fand, das hätte ich verdient. Paul kochte gern ausgefallene Dinge, die gelegentlich mißlangen, aber unter Wielands Kontrolle wurde es ein großartiges Essen: Es gab Fenchel-Chinakohl-Gemüse in Erdnuß-Mango-Soße, dazu Hühnchen. Zum Nachtisch Heidelbeerquarktaschen mit heißer Heidelbeersoße. Sie gaben sich wenigstens Mühe mit dem Neuanfang. In den nächsten Wochen sahen wir uns regelmäßig zu dritt. Wir machten sogar zusammen einen Wochenendtrip ans Meer, als Peter und Renate in die Masuren gefahren waren. Wir liefen zu dritt am Ostseestrand herum, tranken heißen Kaffee in holzgetäfelten Stübchen, die rotgefrorenen Hände an den Tassen wärmend, standen abends mit Gummistiefeln in der auslaufenden Brandung, um dem Sonnenuntergang zuzuschauen. In unserer uniformen Regenkleidung sahen wir uns alle ein bißchen ähnlich, und ich konnte mir einbilden, ihr Gefährte zu sein. Wieland und Paul vermieden es, sich in meiner Gegenwart zu berühren, und manchmal legte einer von ihnen für einige hundert Meter seinen Arm um mich. Nachts spielten wir bei einem Glas Wein Karten oder schwatzten über dies und das, bis ich mich in mein Zimmer und sie sich in ihr Doppelbett verzogen. Dann setzte 231 ich mir vorsichtshalber meine Walkmankopfhörer auf und schlief zu den Klängen einer ausgeleierten Rachmaninow Kassette, die Wieland einmal für mich im Hibiskus ver steckt hatte, ein. Im Mai beschloß ich, mir mit dem Abi doch etwas Mühe zu geben, nachdem ich vorher sehr viel geschwänzt hatte. Meinen Studienplatz in Meteorologie wollte ich nicht auls Spiel setzen. Paul hatte ausnahmsweise schon feste Pläne, er wollte sich an der Hochschule der Künste bewerben. Daß ich im Herbst nach dem Bruch mit Wieland und Paul die Schule oft hatte sausen lassen, schien meinem Vater egal gewesen zu sein; er hatte zu meiner Überraschung sofort mein Taschengeld erhöht - seine Art, darauf zu reagieren, daß seine Tochter offensichtlich gerade Probleme hatte -, meine Mutter zeterte ein wenig über meine »ungewisse Zukunft«, trat aber alsbald wieder wortlos ans Fenster. Bald darauf stellten Paul und ich meinen Eltern Wieland offiziell als Pauls Freund vor. Eines Abends hatte Wieland in seiner üblichen knappen Art gesagt: »Ich bin das Versteckspiel langsam leid. Bin ich zwöll oder was?« Meinem Blick, der eine deutliche Sprache gesprochen hatte - »bin ich also nichts als eine Kinderepisode gewesen?« -, war Wieland ausgewichen. Wie wir dies alles Peter und Renate beibringen sollten - an seine eigenen Eltern hatte Wieland dabei nicht gedacht -, darüber sprachen wir drei an einem weiteren langen Abend bei Heidelbeertaschen mit heißer Heidelbeersoße. Sie entwickelten sich zu unserer Lieblingsspeise, auch wenn ich mich manchmal fühlte wie eine Passagierin auf der Titanic, die sich kurz vorm Untergang noch einmal den teuersten Champagner einschenken läßt... Der Gedanke, was ich empfand, wenn wir meinen El- tern Wieland als Pauls Freund vorstellten, schien beiden während unserer Strategiebesprechung nicht gekommen zu sein, es ging die ganze Zeit nur um ihre Homosexua-luät. Während ihres aufgeregten Gesprächs aß ich wenigstens ihre Heidelbeertaschen auf. Ich erinnere mich genau an jenen Sonntagnachmittag: Renate und Peter war irgendwann aufgegangen, daß wir vier eigentlich wie einander fremde Hotelgäste unter einem I )ach wohnten, und sie hatten den »gemeinsamen« Sonn-i.ignachmittag eingeführt. Man traf sich gegen drei Uhr, .il5 Kuchen, trank Kaffee und tauschte Belanglosigkeiten aus. Nachher konnte dann jeder wieder guten Gewissens seinem seltsamen Privatleben nachgehen. Es war ein strahlender Frühsommertag, die Tannen sta-ehen grün in den blauen Himmel wie auf einer nachkolo-nerten Postkarte. Wieland trug ein 6-Uhr-blaues Jackett und weiße Hosen, und Paul sah in seinem sandfarbenen Anzug mit fliederfarbenem Halstuch aus wie ein südländischer Mädchenschwarm. Er hatte sich sehr verändert, doch seine zappelige Gestik war ihm geblieben. Während meine Mutter uns Kaffee einschenkte - für jeden anders, mit Zucker, mit Milch, ohne alles ... erzählte Peter, daß er letzte Woche einem Patienten mit sechs Fingern die Hand geschüttelt hätte und daß es früher noch viel häufiger solche Abnormität gegeben hätte, Männer mit Schwanzrudimenten am Steißbein, Frauen mit drei Brustwarzen, Kinder mit Haaren im Gesicht ... Wieland und Paul warfen sich einen entsetzten Blick zu. Das konnte nicht der rechte Rahmen für ihr Vorhaben sein. Die Lage war nicht ganz einfach: Paul redete, sobald mehrere Leute zusammenkamen, nicht viel, auch meine Mutter unterbrach meinen Vater selten. Wieland als Gast konnte sich das auch nicht herausnehmen. Also blieb ich übrig. Ich zählte im Kopf bis zehn - mir ging dabei der 233 Satz »Flucht nach vorne« durch den Sinn -, dann schlug ich meinem Vater auf den Oberschenkel und sagte: »Peter, hör mal auf mit deinen ewigen Patientengeschich ten, du nervst!« Mein Vater war robust, was Beleidigungen anbelangte Er zwickte mich einmal kurz in die Seite und erzählt«! dann ungerührt von einem Reisejournal, das er im Fern sehen gesehen hatte. Nachdem er eine Weile lang über In sektenplagen in Indonesien schwadroniert hatte, legte ei eine Pause ein, um endlich etwas Kuchen zu essen. Alle anderen hatten ihr Stück schon aufgegessen. Wir drei warfen uns einen Blick zu. Dann nahm Paul das Wort: »Ich möchte euch heute ... sagen, daß Wieland niclu nur ein guter Freund von ... Freia und mir ist, sondern mein Freund.« Mein Vater ließ die Kuchengabel sinken, dann grinste er. »Erwarte jetzt bitte nicht, daß ich total überrasclu bin ...!« »Nein?« Peter musterte seinen Sohn selbstbewußt, lehnte sich zurück und machte Pauls Gestik nach. Er warf die Hände in die Luft, hielt eine herabhängende Hand nach vorn, faltete gespreizte Hände vor der Brust, legte den Kopf aul die rechte, auf die linke Seite ... Paul starrte seinen Vater mit zunehmender Abscheu an. Schließlich schüttelte er den Kopf. Ich hatte das Gefühl, daß er den Tränen nahe war. Wieland verschluckte sich an einem Bissen Kuchen. »Schon gut, war ja nicht so gemeint. Also: Überrascht bin ich nicht, und wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert, also von mir aus, mach, was du willst ... macht, was ihr wollt ...« Mein Vater rührte nachdenklich in seinem Kaffee. Paul nickte. Schweigen breitete sich aus. Schließlich redete mein Vater weiter: 234 »Keine Enkel ... keine ... naja, da müssen wir uns, glaube ich, noch dran gewöhnen ... also, das ist natürlich so als Vater ... naja.« Er brach ab und zerstach sein Kuchenstück. Nun meinte Paul: »Keine Kinder ... das ist jetzt noch nicht das Thema, oder?« Peter wiegte bedächtig den Kopf. »Willst du mir sagen, daß du jemals mit einer Frau ins Bett gehen willst?« Peter warf Paul einen Blick zu, der nichts Freundliches enthielt. Paul sagte nichts. Wie in früheren Zeiten rutschten meine büße unter dem Tisch zu Paul hinüber, und ich nahm einen seiner dünnen Knöchel zwischen meine Schuhe. Plötzlich fuhr mein Vater zu mir herum. Er musterte mich einen Moment - ebenso abweisend wie seinen Sohn. »Sag mal, nicht, daß du mir auch noch auf dumme Ideen kommst!« Ich schwieg. »Hast du jemals einen Freund gehabt?« »Seit wann interessierst du dich dafür, was wir ...« »Ja oder nein?« »Ja - ich bin auch nicht mehr Jungfrau, falls es dich interessiert.« Meine Mutter schaute auf. »Können wir den Typen mal kennenlernen?« Wieland und ich warfen uns einen alarmierten Blick zu. »Nein, kannst du nicht, Peter, der Typ hat mich sitzenlassen und sich verpißt ... der denkt keine Sekunde mehr an mich. Ist anderweitig beschäftigt.« Jetzt ging es mir besser, und ich lud mir ohne Eile ein großes Stück Kuchen auf den Teller. Mein Vater stieß trotz dieser tristen Bemerkung einen Seufzer der Erleichterung aus. 235 »Und ... wie nennst du ihn?« Er blickte Wieland an »Paulo ... Pauli?« »Nein, nur Paul, ich mag keine Verniedlichungen«, stellte Wieland fest. »Also ich bin hier schon wirklich von Helden umgeben .. Mannomann ... ich muß schon sagen ...!« Mein Vatei schnaubte und nahm einen Schluck Kaffee. Plötzlich stand meine Mutter auf und knallte ihren Tel ler so heftig auf den Tisch, daß er zerbrach. »Das - ist - ja - nicht - mehr - auszuhalten!« Peter fuhr zusammen. Renates Gesicht war finster. Ich sah auf einmal, daß Peter Angst vor ihr haben konnte. »Du bist einfach unmöglich«, sagte meine Mutter jet/i leise zu ihm. Dann wandte sie sich zu Paul und Wieland: »Wollt ihr noch irgend etwas aus der Küche, ich gehe kurz rüber ... Kaffee?« Von diesem Tag an verbrachten wir drei so viel Zeit zu sammen wie in all den Jahren davor jeweils zu zweit. Mein offener Angriff auf Wieland hatte mir gutgetan, mein nächster Triumph waren die verschiedenen Meteorologie Studenten, die ich ihm plötzlich als Freunde vorführen konnte, wie er es mir gewünscht hatte. Als ich den Hör saal zu meiner ersten Vorlesung betrat, richteten sich alle Augenpaare auf mich. Wir waren sechzehn Studenten, vierzehn Jungen und zwei Mädchen. Das andere Mädchen saß im Rollstuhl. Zwei Wochen später hatte ich einen Liebhaber. Daß ich nichts für den Jungen empfand, machte es mir möglich, mit ihm zu schlafen. Auf meinem Schreibtisch stand, gut sichtbar für jeden, ein Foto von Wieland und mir. Manchmal graute mir vor mir selber, wenn ich mich kurz nach dem Beischlaf mit diesem Kommilitonen, dem noch einige folgen sollten, im Badspiegel betrachtete. Aber dann dachte ich an Wielands Körper und hoffte, daß diese vielen neuen Berührungen irgendwann in ferner Zukunft die Erinnerung an ihn löschen würden. Nie hätte ich mir vorstellen können, daß auch andere Leute das gleiche Interesse wie ich für Wolken, Polarlichter und Niederschlagsrekorde aufbringen konnten, und ich lühlte mich tatsächlich ein wenig aufgehoben in dieser neuen Gemeinschaft. Dennoch blieben Paul und Wieland weiterhin meine wichtigsten Bezugspersonen. Ein Leben ohne Paul? Unvorstellbar. Obwohl er sich mir zunehmend entfremdete - er besuchte jetzt oft Galerien und Museen, I uhr zu »Performances« in die Stadt und ging auf Akademieparties -, wäre ein wirklicher Bruch mit ihm das gewesen, was einem Selbstmord am nahesten gekommen wäre. Ohne Wieland konnte ich mir mein Leben genauso schlecht vorstellen. Je länger unsere Beziehung zurücklag, je weniger ich mir unsere Abende und Nächte im Wald in Erinnerung ru-fen konnte, je mehr andere, unerfahrene, schüchterne Jungen meinen Körper berührten, desto mehr kam ihm die Rolle eines älteren Bruders zu. Er studierte Geschichte, Politik und Ethnologie und berichtete Paul und mir, die wir schweigend zuhörten, über alle möglichen Diskussionen, an denen er teilnahm. Uber ihre Beziehung redeten Paul und ich immer noch nicht. Wenn ich mir Wielands Foto auf meinem Schreibtisch anschaute, merkte ich, daß er älter geworden war. Wieland und Paul stellte ich meinen jeweiligen Liebhabern zwar meistens vor, mußte mir danach jedoch ab und zu dumme Sprüche meiner Kommilitonen über das Männerpaar anhören, was aber meine Solidarität mit den beiden nur verstärkte; bisweilen wurde ich ihr leidenschaftlichster Advokat. Manchmal war mir, als hätte ich mein Talent, Wieland zu lieben, an Paul abgegeben, und war froh, daß ich dank Paul Wieland in meiner Nähe behielt, denn wer weiß, wo- 237 hin er sonst schon verschwunden wäre? Hatte ich am An fang gedacht: Warum ausgerechnet Paul?, schien ich jetzt zu denken: Zum Glück Paul. Und doch las ich nachts, wenn meine Dias über mir flimmerten, die Briefe, die Wie land mir damals geschrieben hatte, wieder und wieder. An der Uni hatte ich bald einen schlechten Ruf, aber damit war ich vollkommen zufrieden, denn er ersparte mii lange, anstrengende Abende mit eintönigen Gesprächen in Cafes, für die ich sowieso kein Talent hatte. Die Jungs wußten, was von mir zu erwarten war, und ich bekam schnell und ohne allzuviel Aufwand, was ich wollte. Jedes mal versuchte ich, ihre Körper so zu berühren, als hätte ich nie vorher einen anderen berührt, denn: Ich wünschte mii sehnlichst, daß sie Macht über mich hätten. Daß sie stärker als meine Erinnerung werden würden - langsam, mit der Zeit, anscheinend ohne Anstrengung, wie die Erosion ... Irgendwann war Paul verschwunden. Das funzelige Licht in seinem düsteren Atelier flackerte nicht mehr, seine schlurfigen Schritte waren nicht mehr als Knirschen au! dem Parkett zu hören, die Sitarmusik drang nicht mehr nachts an mein Bett, um mir zu signalisieren, daß Wieland und er noch wach waren. Als Paul nach drei Tagen nicht wieder aufgetaucht war, rief mein Vater die Polizei an. Vorher hatte er wilde Phantasien von Homo-Orgien und ähnlichem entwickelt; meine Mutter hingegen hatte eher Sorgen, daß er den Volvo an einen Baum gesetzt haben könnte. Von der Polizei hörten wir in den nächsten Tagen jedoch nichts. Dann, am Sonntag - weil es herbstlich kühl geworden war, saßen wir nicht mehr zur Kaffeestunde draußen, sondern im Wohnzimmer -, ging plötzlich die Tür auf, und Paul stand in verschmutztem Anzug, mit Sieben-Tage-Bart und fettigen Haaren vor uns. Peter begann als erster zu sprechen: »Wo - hast - du — gesteckt?« Renate stand auf und tat etwas für sie sehr Ungewöhnliches: Sie umarmte einen Menschen rückhaltlos. Paul setzte sich nun erschöpft zu uns und erzählte ohne Umschweife, daß er Wieland gesucht hätte. Wieland sei verschwunden. Einfach so. Er hätte ihm nur einen Zettel hinterlassen, daß er eine Weltreise per Schiff machen würde. Wielands Vater war vor einem halben Jahr gestorben, und er hatte eine Menge Geld geerbt. In Nähe der Nibelungenklänge war der Name Paul nie gefallen. Das zahlte sich jetzt aus. Paul erzählte uns, wie er die großen deutschen Häfen abgeklappert hätte. Er hatte gedacht, daß Wieland sich auf einem Frachtschiff hatte anheuern lassen, und er glaubte, daß Wieland noch ein, zwei Tage in einer Pension zubringen würde, bevor es losging. Aber er hatte Wieland nicht gefunden. Als er zu Ende gesprochen hatte, wollte mein Vater, der stirnrunzelnd zugehört hatte, wie üblich einen Kommentar abgeben, doch Paul sagte ebenso leise wie bestimmt, bevor die unterschiedlichsten Theorien über Wielands Verschwinden ausgebreitet werden konnten: »Ich gehe jetzt schlafen.« Drei Jahre später feierten Paul und ich unseren Geburtstag alleine in einer kleinen, verrauchten Cocktail-Bar. Am frühen Abend hatte es bei unseren Eltern eine kleine Bescherung gegeben. Wir wohnten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu Hause, sondern nahe beieinander in der Stadt. Renate und Peter hatten Paul Kunstbände und eine Doppel-CD mit Kompositionen zu moderner Malerei, »Bildvertonungen«, geschenkt, ich bekam einen Rucksack, ein neues Minifernglas und Schuhe. Von den Großeltern gab es den üblichen »Kalten Hund«, den Jo früher selbst gemacht und den Renate jetzt in ihrem Auftrag besorgt 239 hatte. Ein vor einem Monat schon eingetroffenes Pack chen mit einer reichlich verworrenen Anschrift hatte Jo je doch selbst abgeschickt. Es enthielt Bettwäsche mit Moti ven für Fünfjährige. Irgendwann hatte Peter behauptet, er müsse jetzt unbe dingt schlafen gehen, weil er um zehn Uhr abends schon elendig müde sei. »Was glaubst du, wird er sich in den nächsten Tagen melden? Ich meine, wenigstens gratulieren?« Paul legte seine Hand kurz auf die meine. Ich zuckte che Schultern. Wir hatten gelegentlich Ansichtskarten von Wieland bekommen, denen nicht viel mehr zu entnehmen war als sein derzeitiger Aufenthaltsort. Einmal steckt e eine Karte für Paul in einem Umschlag mit rotem Wüsten sand, einmal klebte für mich eine winzige Muschel mit Te safilm auf einem Motiv der nordnorwegischen Küste. »Ich glaube nicht, daß er sich wegen unseres Geburtstages melden wird. Entweder er sitzt auf einem Schiff und kann uns gar nicht erreichen, oder, noch wahrscheinliche!, er hat das Datum nicht im Kopf. Oder er meldet sich irgendwann mit verspäteten Grüßen. So wie die letzten beiden Jahre: >Hi Ihr, happy birthday und frohes Neues gleich dazu, bin in Hongkong, tolle Stadt, Architektur, wie ich sie noch nie gesehen hab, und unheimlich viele Leute unterwegs. Wünsch Euch was. Euer W<« Paul nickte müde bei dieser Erinnerung. Und ich fuhr fort, wissend, daß meine Worte kein Trost sein konnten: »Damals, bei unserem achtzehnten, kam er auch erst sieben Minuten vor zwölf zu unserer Party, so was ist ihm nicht wichtig.« »Ich versteh das alles nicht. Wenigstens zum Geburtstag ... wenn wir schon nicht wissen, was er jetzt eigentlicli macht und wie es ihm geht ...!« Im grüblerischen Gesicht meines Bruders spiegelten sich meine eigenen Gefühle. 240 »Warum, glaubst du, ist er damals verschwunden? Ich nieine, habt ihr euch verstanden in der letzten Zeit?« Fndlich wagte ich es, eine Frage nach ihrer Beziehung zu stellen. Mein Bruder wiegte den Kopf eine Weile, überlegte, nahm unentschlossen eine Salzstange, stellte sie zurück ins Glas, nippte am Cocktail, drehte an seinen neuen Manschettenknöpfen. Dann erzählte er mir zum erstenmal von Wielands Distanz, seiner tränenlosen Kenntnisnahme vom Tod des Vaters, seiner Sehnsucht, möglichst weit weg zu gehen ... und davon, daß Wieland die Situation mit mir in der Zeit seines Zusammenseins mit ihm mehr belastete, als ich vermutet hatte. Einmal hatte er Paul nach einem Hei-delbeertaschenabend, bei dem ich angenommen hatte, niemand außer mir hätte sich zwischenzeitlich befremdet ge-lühlt, einen Zettel auf den Tisch gelegt mit den Worten: »Wenn ich Freias leidendes Gesicht sehe, werde ich wütend und traurig.« »Irgendwann muß ich weggehen von euch beiden -irgendwann, wenn ich die Kraft dafür habe«, hatte er immer wieder gesagt. Und wenige Tage vor seinem Aufbruch hatte er Paul nachts ins Ohr geflüstert: »Weißt du ... die zweite Liebe ist selten die letzte, und wenn, dann sieht man ja, wohin das führt!« Und dann verwies er auf irgendeine Cousine, die gerade geheiratet hatte. Wir probierten noch einen anderen Cocktail. Als Paul ihn ausgetrunken hatte, fragte er wieder, schon mit leicht verwaschener Stimme: »Meinst du, er ruft morgen an und gratuliert uns nachträglich zum Geburtstag?« »Wenn du wirklich wissen willst, was ich glaube: Wieland steht jetzt irgendwo an der Reling und denkt keine Sekunde an uns!« Der Alkohol hatte auch bei mir gewisse Schranken her- 241 untergesetzt. Mußte Paul so selbstmitleidig sein? dachte ich jetzt voller Ingrimm. Pauls Trauerphase über den Vei lust von Wieland war nicht kürzer als meine gewesen, lange Zeit hatte er nur in seiner Bude gesessen und gemal i Die Gradzahlen auf seinen Bildern schwankten zwischen minus ioooo und plus 5 Millionen, gemäßigte Temperatu ren kamen nicht mehr vor. Dann zogen wir aus, und mein Bruder verkroch sich in seiner neuen Höhle. An der Aka demie hatte er ein ganzes Semester ausfallen lassen. Petei hatte sofort sein Taschengeld erhöht. Wieland war vor drei Jahren verschwunden, aber Paul hatte immer noch keine feste Beziehung und sich, wie ich, mit belanglosen Bekanntschaften »getröstet«. Wir zahlten und gingen zum Nachtbus. Irgendwann nahm Paul meine Hand, und die Leute lächelten uns freundlich an. Was für ein nettes junges Paar. Als Paul hätte aussteigen müssen, verständigten wir uns mit einem kurzen Nicken, blieben bis zur nächsten Station sitzen, liefen gemeinsam zu meiner kleinen Altbauwohnung in Uni-Nähe und fläzten uns gleich aufs Sofa. Ich warf meinen alten Dia-Projektor an, und wir sahen Voyager-Aufnahmen aus den siebziger Jahren von Saturn und Jupiter an. Ich betrachtete lange den »Roten Fleck« und stellte mir vor, wie die Erde dort fünfzehnmal hineinpaßte. Und Paul erklärte mir ernsthaft, daß Palmolon aufgrund chemischer Veränderungen vor drei Jahren jetzt nicht mehr hellgrün, sondern tiefblau wie das Meer an seinem tiefsten Punkt sei. Und auf einmal war alles ein wenig wie früher. 18 Das leuchtende Schiff 242 Dieses Wochenende kümmerte wieder ich mich um Jo. Paul war vor vierzehn Tagen hier gewesen, meine Mutter war aus der vollgerümpelten, unübersichtlichen Wohnung in der Mindener Grevestraße nicht mehr wegzudenken. »Bring mir den Fotoband, Freia«, rief Jo und zog sich die Mohairdecke bis fast an die Schultern hoch. Sie saß auf dem Sofa, ihrem Lieblingsplatz im Wohnzimmer. Mit einer fahrigen Handbewegung nahm ich »Die Ostseebäder« von einem der unzähligen kleinen Beistelltischchen und legte Jo das Buch auf den Schoß. Ich war ein wenig abgelenkt heute, denn ich hatte gestern einen langen Abend mit Dr. Tuben und Christian verbracht. Die beiden verstanden sich gut, nachdem sie sich vor einem Jahr kennengelernt hatten - an dem Abend, an dem auch ich Christian zum erstenmal traf. Dr. Tuben hatte auf einer öffentlichen Veranstaltung ein Buch vorgestellt, dessen Mitherausgeber er war: »The Light Book« war bei einem obskuren Verlag in Los Angeles erschienen. Es ging um den Zusammenhang von Licht und Gesundheit, um die vielfältigen Auswirkungen von natürlichem und künstlichem Licht auf den Menschen. Tuben hatte in den vergangenen Jahren einige ausgedehnte Reisen in die Arktis unternommen, um unter anderem einen Gemütszustand zu erforschen, den die Eskimos Nordkanadas, genauer gesagt, der Ellesmere Islands, als »piblocto« bezeichnen: Dabei rennt der Betroffene hinaus aufs Eis, schreit, gestikuliert und reißt sich, trotz der Minustemperaturen, die Kleider vom Leib. Der hysterische Anfall endet damit, daß der Kranke vor Kälte und Erschöpfung zu- 243 sammenbricht. Aber »piblocto« ist nur eines unter vielen winter- und lichtmangelbedingten Krankheitsbildern, liii die die Eskimos zahlreiche Namen parat halten. Tuben interessierte sich brennend für sie. Als wir nachher mit ein paar anderen in einer Kneipe saßen, begann Dr. Tuben ein wenig zu sticheln, daß ich mir mit der Erstellung des neuen Wolkenatlas eine reichlich »preußische« Aufgabe gestellt hätte. Doch ich hatte ihm gestanden, daß ich in letzter Zeit nichts getan hatte, gar nichts, außer einen Hauch von Wolke zu suchen, so lichtdurchlässig, daß die Bezeichnung »Wolke« schon fast irreführend sei. Unendlich langsam blätterte Jo jetzt Seite um Seite des Ostseebäder-Bildbandes um, machte schmatzende und glucksende Geräusche, die ich gelernt hatte, als Wohlbefinden und ein gewisses Ruhebedürfnis zu deuten. Mäx-chen hatte für die letzten Wochen seines Lebens in ihre Wohnung zurückkehren können, aber Jo und er hatten nicht mehr viel miteinander gesprochen. Jeder lag krank in seinem Zimmer, und sie wurden eifersüchtig aufeinander, wenn Renate, Paul oder ich scheinbar länger in einem Zimmer verweilten als im anderen. Nun hatte Jo schon wieder vergessen, daß Mäxchen tot war. »Das Buch kannst du Mäxchen auch ruhig mal mitbringen ... der kann dir zu jedem Bild was erzählen ... dann ist es für dich nicht so langweilig bei ihm im Krankenhaus ...«, murmelte Jo. Ich war erstaunt, wie klar sie manchmal denken und sprechen konnte. Boshaftigkeit beflügelte ihren Geist, das war mir schon aufgefallen. Ich nahm Jo das Buch aus der Hand und reichte ihr eine Schale Kompott. Jo warf einen skeptischen Blick auf die Schale, dann goß sie sich mehrere lange Bahnen Rosenhonig auf das Kompott. Hatte sie in früheren Stadien ihrer Krankheit nur großzügig ihren Löffel vollgeladen, so leerte sie jetzt einfach das halbe Glas aus. Vielleicht würde sie ja auf diese Weise wenigstens einen winzigen Bruchteil ihrer gehorteten Schätze noch zu Lebzeiten genießen. Nach jener Präsentation von »The Light Book« war ein junger Mann aus dem Publikum mit in die Kneipe gekommen; er hatte sich als Christian vorgestellt und mir erzählt, daß er Tischler sei. Wir hatten daraufhin ein langes, ebenso verqueres wie amüsantes Gespräch über den Einfluß des Wetters auf die Holzbeschaffenheit geführt und mit Tuben bis morgens zusammengesessen, als hätten wir drei schon oft gemeinsam die Nächte durchzecht. Als wir endlich unter einem wolkenlosen Morgenhimmel aufbrachen, hatte Christian mich nach meiner Telefonnummer gefragt und meine Hand kurz in die seine genommen. Jetzt stand Renate in der Tür. »Freia, hilfst du mir kurz, Jos fürchterlich schwere Truhe im Schlafzimmer umzustellen, damit der Rollstuhl Platz hat ...« Nachdem ich meiner Mutter geholfen hatte, setzte ich mich wieder auf den Hocker neben Jo. Sie hatte ihre Augen halb geschlossen, nur durch einen Schlitz schien sie mich anzusehen. Sie sah so fremd aus, war mir so fremd geworden in den letzten Jahren. Doch dann seufzte sie auf, wie sie schon immer aufgeseufzt hatte, auch als ich als Kind auf ihrem Schoß herumgeturnt hatte, und lächelte mich kopfschüttelnd an. »Werd bloß nicht so alt wie ich.« »Jo« - ich nutzte den guten Moment -, »was war für dich die schönste Zeit deines Lebens?« »Die schönste? Kind, das weiß ich nicht mehr. Ist das Leben schön? Ich weiß ja gar nichts mehr.« »Und was war besonders furchtbar?« Jemand anderes hätte vielleicht den Tod des Ehepartners, zumal er erst so kurz zurücklag, erwähnt, aber Jo wiegte den Kopf. 245 »Wie wir unser Haus verlassen mußten. Alles, was wn hatten, dalassen mußten. Fast alles. Mein Klavier ... du Biedermeierkommode ... die Vorhänge mit dem Lilienmu ster ... die habe ich so geliebt ... und den Eichenschrank aus der Familie meines Vaters ... und die Kasse aus dem Marzipangeschäft in Königsberg, die ist mit der dritten Seekiste untergegangen ... die liegt immer noch in clei Ostsee. Bei den Polen irgendwo. Ja, das war das Schlimm ste.« »Und Jo, wie war das, als ihr geflohen seid. Ich meine, ihr mußtet doch auf dieses Schiff, die >Theodor<, wie kamt ihr da drauf?« In diesem Moment stand meine Mutter wieder in der Tür und unterbrach uns, was sonst nicht ihre Art war. »Es gibt ja so verrückte Geschichten über den Untergang der >Gustloff<. Das Bernsteinzimmer soll vielleicht auf dem Schiff gewesen sein ... Polnische Suchteams haben nichts aus dem Wrack bergen können ... aber wer weiß? Vielleicht sind ja schon andere vorher damit verschwunden?« Ganz wie früher fiel ihr Jo ins Wort: »Ja, ja, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, nehmen die mit ... nie an polnischen Tankstellen tanken ... dann fehlen nachher die Radkappen.« Meine Mutter holte einmal tief Luft, schwieg aber. Seitdem meine Großmutter dement war, hatte sie absolute Narrenfreiheit; was sie auch sagte, nahm niemand mehr ernst. Renate schluckte also ihren Ärger herunter und begann von neuem: »Das Bernsteinzimmer, das ja eine Weile lang im Königsberger Schloß ...« In diesem Moment klingelte das Telefon, und meine Mutter hastete in den Flur. An ihrer Stimme hörte ich, daß Peter anrief. Ich schloß die Tür. Jo schien zu schlafen. Ich nahm mir lest vor, mich in den nächsten Tagen wieder an meinen Wolkenatlas zu setzen und die digitalen Bilder, die man mir aus dem Ausland zugeschickt hatte, zu klassifizieren. Ein Altocumulus kurz vor einem Monsun in Kaschmir, bin Cirrus Spissatus, also ein grobflockig dichter Cirrus, aus Umeä, Schweden. Ein Cumulus Congestus, hochaufgetürmt, ein Kobold mit Hut, aus Seattle und Cumulo-nimbus Mamma - mit beuteiförmigen Auswüchsen - aus Tabriz im Iran. Aber auf mich warteten noch Hunderte Bilder, die ich zudem in Unterklassen aufteilen mußte. Nun warf ich wieder einen Blick zu Jo. Wie ein Reptil, schläfrig, träge, mit halbgeschlossenen Augen, lag meine Großmutter auf dem Sofa, völlig unberechenbar, in einem Moment weinerlich und hilflos, im nächsten boshaft und gewitzt ... Ob sie wohl noch in der Lage sein würde, meine Frage zu beantworten? »Jo, wie war das noch mal? Ihr wart am Pier und wolltet auf die >Theodor<, die war aber schon belegt, weil ihr so spät ankamt. Mit eurem ganzen Gepäck. Aber irgendwie wurdet ihr am nächsten Tag doch noch außer der Reihe an Bord genommen ...« Meine Großmutter gähnte und antwortete, als hätte ich sie gerade nach einem Kuchenrezept gefragt: »Am Anfang wurde gefragt, wer in der Partei war ... nachher wurde das zu umständlich, und man ging einfach davon aus, daß alle in der Partei waren ... wir warteten schon ... bei minus 20 Grad ... seit ... ich glaube, anderthalb Tagen. Meine Füße hab ich nicht mehr gespürt ... irgendwann kam so ein Schiffsmensch ... keine Ahnung, wie man den nennt ... Mäxchen wüßte das ... und der sagte: noch acht Leute. Acht und nicht mehr. Plötzlich drängelten sich da sechs junge Frauen nach vorne. Genau, so war das ... woher die so schnell kamen, weiß ich nicht... flink waren die ... Aber mir platzte der Kragen, wir warteten hier seit anderthalb Tagen! ... und dann drängeln da so 246 247 junge Dinger ... die auch noch richtig schicke Wintermän tel anhatten ... gar nicht verfroren aussahen! Ich rief: >Wii warten länger! Wir sind endlich einmal dran<... der Schiffs mensch ... winkte mir und Lena zu ... ja, genau, so war das. Ich kann mich gut erinnern. Schrecklich war das. Ich nahm Renate huckepack ... denn ich wollte, daß wir als ein Mensch durchgingen! ... aber plötzlich stand neben uns noch eine andere Dame ... ich kannte sie ... Frau Hunstein mit ihrem Sohn Rudolf, den alle Rudi nannten ... was hat die noch mal gemacht, die Frau Hunstein? ... Friseuse war die, jetzt hab ich es wieder ... ihr Mann irgendwo an der Ostfront ... der Rudi hatte knallrote Haare und war exakt so alt wie Renate ... ich erinnere mich, wie ich einmal Frau Hunstein vor ihrem Laden traf ... ich erzählte ihr, daß Renate heute Geburtstag hatte ... genau wie Rudi ... das war zu Zeiten, als alles noch gut aussah ... die Deutschen fast am Ural, in Nordafrika, und die Amis noch nicht dabei ... Frau Hunstein war ganz nett... aber ein bißchen einfach ... Jetzt hab ich den Faden verloren!« Ich nahm Jos Hand und drückte sie. »Jo, du erinnerst dich. Du mit Renate auf dem Rücken ...« »Huckepack!« rief Jo, stolz, den Begriff gefunden zu haben. »Genau, huckepack hast du Renate genommen. Und die Frau Hunstein stand neben dir. Aber irgendwie seid ihr doch auf das Schiff gekommen, was passierte jetzt?« Jo kniff die Augen zusammen, um sich zu konzentrieren. Dann schüttelte sie den Kopf. »Lena, ich weiß es nicht mehr.« »Johanna, du konntest deine Füße kaum noch spüren, so kalt war es ...« »Genau, kaum noch spüren, so kalt war es!« rief Jo und sah mich erwartungsvoll an, damit ich ihre Geschichte weitererzählen würde. Ich drückte noch einmal sanft ihre Hand. »Johanna, der Schiffsmann hat die Wahl zwischen dir und Frau Hunstein. Er steht vor euch, er sieht von ihr zu dir und von dir zu ihr. Dann zwinkerst du ihm kokett zu, und er winkt dich aufs Schiff...« »Nein, Unsinn, du erzählst aber auch alles falsch!« fuhr Jo mich an, und ich wußte, daß ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. »Also, die Frau Hunstein stand da plötzlich neben uns ... ja, und dann mußte sich der Mann ... vielleicht waren es auch mehrere ... entscheiden, die oder wir ... und sie guckten zwischen Frau Hunstein und mir hin und her ... und Frau Hunstein tat es mir plötzlich nach und hob ihren Rudi auf die Schultern ...! Ich war steif vor Angst ... ich dachte, noch eine Nacht hier draußen überlebe ich nicht...« Jo blickte mich eindringlich an und schüttelte langsam den Kopf. »Noch eine Nacht hier draußen überlebe ich nicht.« Dann schwieg sie wieder. Ich überlegte krampfhaft, mit welchen Tricks ich diesmal ihr Gedächtnis überlisten könnte. Doch plötzlich fuhr sie völlig ungerührt fort: »Da rief Natilein plötzlich ... vorher war sie den ganzen Tag still vor Angst gewesen ... also plötzlich rief die Kleine richtig laut: >Die ham gar nich mehr den Gruß gemacht. Schon ganz lange nicht mehr.< Und Nati streckte ihren dünnen kleinen Arm sehr gerade nach vorn ... das weiß ich noch ... der Schiffsmann ... der hatte übrigens einen häßlichen Bart ... musterte Frau Hunstein ... weißt du ... Kind ... in dieser Zeit waren viele Leute ... nicht mehr sehr ... führertreu ... man war enttäuscht, fühlte sich verraten ... aber so weit war man ... wie soll ich sagen ... doch noch nicht ... daß man eine Verweigerung ... des Gehorsams ... geradewegs ... als Tugend empfunden hätte ... das war doch noch ... wie soll ich sagen ... anstößig ... jedenfalls ... was wollte ich erzählen? Also dieser Schiffsmensch ... Mäxchen könnte sagen, was das für einer war ... 248 249 der winkte mir und Renate dann zu ... >Sie kenn ich do< h auch<, murmelte er noch zu mir ... und Frau Hunstein ließ ihren Rudi von den Schultern herab ... nie wieder haben wii sie gesehen ... blieben am Pier ... gingen auf der >Gustloll unter ... was weiß ich ... aber Renätchen hat uns das Leben gerettet ... so war das.« Jo nickte und beugte sich wieder über ihre Kompoti schale. Im nächsten Moment hörte ich sie schmatzen. Ich starrte sie an. Jo schloß die Augen und faltete ihre Hände auf dem Schoß. Dann schloß auch ich die Augen und versuchte mir Renate vorzustellen, wie sie diesen unglaub liehen Satz von sich gegeben hatte. Ich dachte an die Fotos von damals, aus der Zeit kurz vor der Flucht, meine Min ter mit einer Mütze, deren Bänder unter ihrem Kinn verknotet waren, einem hellen Kleid, darunter, wegen der Kälte, Wollhosen und in zu großen Schnürstiefeln mit langen Schleifen, die fast auf den Boden reichten. Meine Mutter war sehr dünn und hatte ein spitzes, ängstliches Gesicht mit großen, etwas umschatteten Augen. Und ihre Brauen waren auf jedem Bild in einer Art unendlicher, bedrückter Frage hochgezogen. Aber sind die Momente repräsentativ, die ein Foto einfängt? Man kann ihnen nicht trauen, diesen Schnappschüssen, die festhalten, behaupten und verallgemeinern, wenn doch fast alle unsere Gesten, Mienen und Momente in ein Meer aus Nichts abgetaucht und vergessen sind ... Jetzt schob Jo ihre warme, schlaffe Hand in meine. Ich spürte ihren langsamen Puls und öffnete die Augen. »Renate hört das alles nicht mehr gern ... daß sie uns das Leben gerettet hat... sie hört das nicht gern ... kennst sie ja.« Ich sah auf das eingefallene Gesicht meiner Großmutter und bemerkte, wie ihr Blick nach rechts, zur Tür, wanderte. Ihre Stirn zog sich unheilverkündend in Falten. In der Tür stand Renate. Sie stand dort, die Arme in die Hüften ge- siemmt, und sah uns finster an. Ich hatte keine Vorstellung, wie lange sie dort schon gestanden hatte. Ich blickte zwischen meiner Mutter, die dort groß und aufrecht in der Tür stand, und meiner kleinen, zusammengesunkenen Großmutter hin und her. Ich spürte Jos Anspannung an der Versteifung ihrer Hand in meiner. Sie war immer noch regunglos, nur ihre Augen waren starr nach rechts gerichtet. Ich sah auf den Staub am Saum des dunklen Brokatvorhangs, den Jo schon sehr lange nicht mehr aufzog. Ich blickte auf die Strohsterne, die Renate als Kind gebastelt hatte und die seit Jahrzehnten, ebenfalls eingestaubt, an dem Knauf einer Sekretärschublade hingen. Ich schaute auf das Foto meines Großvaters, ohne Prothese, hoch zu Roß. Mit einem gewinnenden, naiven Lächeln, das ich nur von Schwarzweißfotos an ihm kannte. Plötzlich wurde mir übel. Eine Welle, ein Schwall aus meinem Bauch drückte nach oben, und ich sprang auf, stürzte zum Bad und übergab mich. Ich hörte nichts, kein einziges Geräusch aus der ganzen stummen Wohnung, bis auf mein eigenes Würgen. Schließlich spülte ich mir den Mund aus, wischte mir mit einem Stück Klopapier den Schweiß von der Stirn, legte eine Hand schützend auf meinen Bauch und ging, immer noch leicht zitternd, in die Küche, wo ich mich auf einen Stuhl fallen ließ. Dann hörte ich meine Mutter sagen: »Das solltest du nicht erzählen!« »Was meinst du?« fragte Jo harmlos. »Die Geschichte von damals.« »Welche denn? Was habe ich denn erzählt? Wie wir auf dem Schiff das Marmeladenglas versteckt haben?« Ich traute meiner Großmutter zu, daß sie sich nicht mehr erinnerte, worüber sie noch eben gesprochen hatte. »Warum habe ich das wohl gesagt, wer hat denn zu Hause Strichlisten über die Nachbarn geführt und mich dazu angehalten, meine Spielkameraden ...« 251 »Ich erinnere mich nicht!« schrie Jo auf einmal. Dann fuhr sie plötzlich ganz ruhig fort: »Freia versteht das ... wir waren Kinder unserer Zeit ... Freia hat uns nie Vorwürfe gemacht ... Freia ist nicht so wie du ... so ... so ... was weiß ich ... bring mir Tee mit Honig. Mit Waldhonig. Ich bin das alles leid. Ich bin dich leid. Ich bin mich leid ... bring mir Tee. Mit Waldhonig.<• Später trat ich zu meiner Mutter, die in Jos Küche vor dem Fenster stand. Einen Moment lang schwiegen wir, und ich überlegte, was ich so schnell wie möglich sagen könnte, um ihr nicht das Gefühl zu geben, aus »Entsetzen« über sie zu schweigen. Aber bevor ich einen Satz formulieren konnte, begann Renate schon: »Als die >Gustloff< unterging, genau in dem Moment, wo sie endgültig versank, ist plötzlich überall auf dem Schiff die gesamte Beleuchtung angesprungen, eingeschaltet wie von einem Geist, eine richtige Festbeleuchtung ... für den Untergang. Das haben alle Überlebenden immer wieder geschildert ...« »Renate, weißt du so viel über dieses Schiff, weil du später Rudi unter den Überlebenden gesucht hast?« »Ja.« »Und was ist jetzt mit der Festbeleuchtung?« »Die Festbeleuchtung ist die Festbeleuchtung. Ich komme nicht darüber hinweg: Ich muß immer an die Festbeleuchtung denken. Als das Schiff unterging, ging überall das Licht an.« »Mutti« - das hatte ich noch nie gesagt -, »wollen wir einen kleinen Spaziergang machen? Ich glaube, das würde dir jetzt guttun.« »Freia, die Sirene ging plötzlich los, als das Schiff unterging. Und habe ich dir erzählt, daß der Schwere Kreuzer >Hipper<, das erste Schiff am Unfallort, keinen einzigen Schiffbrüchigen mitnehmen konnte? Habe ich dir das erzählt?« »Nein, nimm mal deine Jacke, und wir lassen Jo kurz allem.« »Freia, es gab zu wenig Rettungsboote, und die Rettungsboote in den Davits wurden nicht ausgeschwenkt. Man hat noch die Blaukammern geöffnet, und einige Passagiere konnten ein paar dieser vor Kälte schützenden blauen Anzüge anziehen ... aber Freia, die Außentemperatur betrug minus zwanzig Grad. Und als das Schiff unterging, leuchtete es noch einmal auf. Freia, es leuchtete und ging unter. Ich weiß nicht, wie viele Lampen, Glühbirnen, Betten, Tische, Toiletten, Waschbecken die >Gustloff< hatte. Freia, es gibt so vieles, was ich nicht weiß.« »Bitte, komm.« »Freia, ich spreche nicht gern.« »Bitte, komm.« »Nein, ich bleibe hier. Ich möchte hier stehenbleiben und hinaussehen. Der Sonnenuntergang, wie er alles mit sich reißt. Dieses mörderische Rot, dieses verlogene Orange, das gierige Gelb. Jeden Tag wird die Welt zertrümmert. Immer wieder wird etwas aufgebaut, etwas geboren, aus der Taufe gehoben, an den Zenit geschleudert. Und immer wieder rinnt und tropft alles herab, glänzt auf, um stumpf und unsichtbar zu werden. Immer wieder am Ende die Nacht!« Meine Mutter stand am Fenster, lächelte mich jetzt wie aus weiter Ferne an, machte eine ausgreifende Geste in Richtung Sonne, als würden wir gerade einen kleinen Spaziergang zu ihr hin unternehmen, als wären die Maßstäbe, die Dimensionen, die Zeit und die Welt vollkommen anders. In den nächsten Tagen fürchtete ich, mein Kind zu verlieren. Wenn ich nachts im Bett lag und grübelte, legte ich eine Hand auf meinen Bauch, und er kam mir fremder vor als je. Vielleicht schien es mir ungerecht, daß ich, nachdem 253 ich von all den Toten und dem perfiden Glück meiner Fl milie gehört hatte, Leben gebären würde. Ich wußte na türlich, daß der Gedanke absurd war, er kam mir trotzdem - nachts - und ließ sich nicht immer vertreiben. Feind, in meinem Kopf. Ein Fremder, unter meiner Haut. Das Normalste von der Welt: das Verrückteste von der Welt: ein Kind. Einmal wachte ich mitten in der Nacht mit starken Schmerzen im Unterleib auf. Sie hielten stundenlang an, aber was dort in mir war, hielt sich gut an mir fest. Es gab da etwas, das schon unabhängig von mir und meinen Launen einen Lebenswillen besaß. Manchmal bekam ich Angst vor dem Willen dieses in mir lebenden Gastes; wenn es leise in mir pochte. Dann wiederum kamen mir meine Gedanken lächerlich vor. Luxusgedanken. Jeden Tag wurden Tausende von Kindern zur Welt gebracht. Ich bekam jetzt ein Kind wie so viele andere Frauen. Ich würde die Geschichte fortschreiben. Ich würde mit Haut und Haaren an einem neuen Krieg, vielleicht als besorgte Mutter, beteiligt sein, ich war nicht mehr die Sackgasse der Geschichte, das Mädchen vom Stadtrand, das nicht dazugehörte, das nicht in den »Zungenkuß« ging, sondern in den Zoo, und das über alles aus der Entfernung nachdenken konnte. Ich hing auf einmal mittendrin, der braune Strich, der auf unserem Stammbaum (als richtiger Baum mit Asten eingezeichnet) alle Familienmitglieder miteinander verband, würde nicht bei »Eva Maria Sandmann« aufhören, sondern durch mich hindurch und weiter gehen. Plötzlich war ich Knotenpunkt in einem dichten Netzwerk, zwischen meinem Fernrohr und den Wolken war mehr als kühle Luft, etwas war schwer und zog mich nach unten. Manchmal legte ich mich auf die kalten Steinfliesen im Bad, weil ich Rückenschmerzen hatte. Manchmal war mir schwindelig, und ich legte meine Wange an den kalten Stein. Ich war von nun an dabei, mein Leben lang. Ich würde mit meinem Kind zur Schule durch die Stadt gehen, 254 die Stadt würde mit meinem Kind zu mir zurückkommen, zurückschlagen, die Gedächtniskirche, die Einschußlöcher an den Häusern in Friedrichshain, die ungebrochene Würde der jüdischen Synagoge an der Oranienburger Straße, die, eine Schande für diese Stadt, immer noch oder schon wieder bewacht werden mußte, der U-Bahnhof Oranienburger Straße, der, mit Wasser überflutet, Hunderte in den Tod riß, die vielen Baulücken in der Stadt, all das würde zu mir zurückkommen und weitergehen, es gab kein Entrinnen, ich mußte mich stellen, der Zukunft und der Geschichte, die, in der Neugierde meines Kindes, persönliches und kollektives Erleben untrennbar vermischen würde. Nur Paul würde übrigbleiben, einsam und frei. Die Grübelmonster von damals hätten niemals beim Anblick unserer Gesichter eine Antwort auf die Frage nach dem großen Unterschied geben können, die Antwort lag unter unserer Haut. 255 i9 Leere Kühlschränke, goldene Kästen Als ich von einem morgendlichen Spaziergang zurück kam, an dem es mir immerhin gelungen war, Cirrus Intor-tus, die »verflochtene Cirrus-Wolke«, zu fotografieren, bekam ich den Anruf. Wir fuhren am nächsten Tag gemeinsam fünf Stunden in Richtung Westen, um uns um die Beerdigung und die Wohnungsauflösung zu kümmern. Während dieser Autofahrt sprachen meine Mutter und ich kaum ein Wort miteinander; sie legte »Hundert Jahre Einsamkeit« als Hörspielkassetten ein. Eine Woche schufteten wir in der Wohnung meiner Großeltern; ab und zu machten mir Kreislaufprobleme zu schaffen, dann mußte ich pausieren. Zum Glück kamen noch Tante Ilse, eine Cousine von Jo, und Marion, die Tochter von Tante Lena und Onkel Kurt, vorbei, um uns zu helfen. Die Männer glänzten durch Abwesenheit - Paul hatte allerdings nach zwei Tagen Grippe bekommen und war mit Fieber zurück nach Berlin gefahren, war also »entschuldigt«. Vor dem Tag, an dem die letzten Möbel und Haushaltsgeräte abgeholt werden sollten, fürchtete ich mich die ganze Zeit. Auf dem Küchentisch, der als einziges noch geblieben war, standen eine Ketchupflasche, ein Glas mit Heringen, ein Glas Honig - sein Inhalt fest wie Bernstein -, ein Glas Gewürzgurken und eine Tube Meerrettichpaste. Ich lehnte mich an die graue, staubige Wand, die hinter dem Küchen-buffet zum Vorschein gekommen war, und sah meiner Mut- 256 ler stumm zu, wie sie Flaschen, Dosen, Gläser und Tuben aus den beiden Kühlschränken und aus der Speisekammer auf den Tisch stellte. Resigniert hob ich die halbe Tube Meerrettichpaste hoch: Das Verfallsdatum stimmte exakt mit Jos Todestag überein. Eine Mark neunundvierzig verriet das ölige, schon halb abgelöste Etikett. Meine Mutter wollte diese Dinge in unseren Volvo verfrachten, um sie Hunderte von Kilometern entfernt zu Hause in den Kühlschrank zu stellen. Wir würden in den nächsten Wochen diese von einer Toten in den letzten Tagen vor ihrer Krankenhauseinlieferung angebrochenen Lebensmittel aufessen. Renate weinte nicht und blieb eigenartig ungerührt, sogar als aus einem Erinnerungsbuch über Flüchtlinge aus West- und Ostpreußen ein Foto von Jo als junges Mädchen mit einem Blumenkranz im Haar wie ein unverhoffter Liebesbrief aus der Feldpost fiel. »Freia, wann kommen die Studenten, um die Waschmaschine abzuholen? Es ist sieben nach drei!« Marion, die ich nur alle paar Jahre bei Hochzeiten oder Trauerfeiern zu Gesicht bekam, stand in der Küchentür und stemmte beide Arme in die Hüften. Ich legte die Meerrettichpaste weg. Seitdem ich hier war, dachte ich zwanghaft über die Momente von Einsamkeit nach, die Jo und Mäxchen am Ende erlebt haben mußten. In all den Anhäufungen von Dingen, die wir jetzt durchforsteten, suchte ich nach einer Spur zu ihnen und hielt doch nur Schuhanzieher, Armbanduhren, Geburtstagseinladungen und Tierkalender in den Händen. Ich warf einen Blick auf die Standuhr, die jahrzehntelang im Wohnzimmer gestanden hatte und jetzt völlig deplaziert neben die Wohnungstür gerückt war. »Das Waschmaschinen-Pärchen müßte jetzt kommen, Marion, auf fünf Minuten kommt es nicht an, oder?« Marion musterte mich feindselig. Sie hielt mich mit meiner Glatze und meinen langhaarigen schwulen Bruder für unmöglich, und ich sah in ihr eine von Ehrgeiz zerfrei sene, ewig nörgelnde Scheidungsanwältin. Nur die Not hatte uns zusammengeführt. Daß ich jetzt ein Kind von einem Mann bekam, den ich erst ziemlich kurz kannie, kommentierte sie erst gar nicht. Wir waren so viele Frauen hier, daß der Spruch »viele Köchinnen verderben den Brei« wieder einmal Bestätigung erhielt. Jede wollte sich nützlich machen, um Renal C nicht mit der Last der Wohnungsauflösung allein zu las sen. Doch ich mußte mir nach einer Woche gemeinsame! Arbeit langsam eingestehen, daß wir einen Großteil unserer Energie nicht darauf verwendeten, effizient auf- und auszuräumen, sondern darauf, unsere jeweiligen Neurosen halbwegs konfliktpräventiv aufeinander abzustimmen. Meistens ohne Erfolg: Während ich jetzt eine Sammlung von ungefähr zwanzig benutzten Küchenschwämmen aus einer Schublade holte, beobachtete ich meine Mutter. Sie war damit beschäftigt, sämtliche Gummibänder, die ich in einen blauen Müllsack geworfen hatte, wieder herauszusortieren. Marion hob dann jedes dieser herausgefischten Gummibänder auf und befreite es von Flusen. Tante Ilse rief laut von ihrem Schemel dazwischen, daß der Keller noch ausgeräumt werden müsse; dies wiederum war schon gestern passiert. Darüber, was mit der alten Standuhr passieren sollte, hatte immer noch niemand nachgedacht. Bloß weil sie schon über Achtzig war, wollte Tante Ilse auf keinen Fall übergangen werden - dabei war ihr diese Arbeit eigentlich viel zu anstrengend; sie hielt uns alle entschieden mehr auf, als nützlich zu sein, wenn sie mit ihren zittrigen Händen das Porzellan in Zeitungspapier einwik-keln wollte. Und ich? War ich eine Hilfe? In meinem ausgebeulten Anzug und den viel zu großen Gummistiefeln von Mäx-chen versuchte ich hier den Macker abzugeben, der alles zackig regelt. Alle zwei Stunden rannte ich jedoch aufs Klo und heulte heimlich in die zwanzig Jahre alten, steifen, knubbeligen Frotteehandtücher, Tränen, die an dem harten Stoff sofort wieder abperlten und mir wegen seiner mangelnden Absorptionsfähigkeit das Gefühl gaben, un-tröstbar zu sein, was meinen Tränenfluß, der immer abgewiesen wurde, sofort verstärkte. Ich weinte nicht darüber, daß Jo und Mäxchen wie 220ooo andere Bundesbürger dieses Jahr an Krebs gestorben waren, nicht darüber, daß meine Mutter mir so freudlos mit ihrem unverbesserlichen Nachkriegs-Spartick vorkam und zu Hause Großmutters Meerrettichpaste, die ihr eigentlich viel zu scharf war und die Augen tränen ließ, täglich eisern auf ihr Frühstücksknäckebrot streichen würde, um eine Mark neunundvierzig nicht zu vergeuden, ich weinte nicht darum, daß es meinen Vater wieder einmal nicht die Bohne interessierte, daß wir Frauen hier mit einer nicht enden wollenden Arbeit konfrontiert waren, während er zu Hause gerade einen Waldspaziergang machen und sich mit den »Geistern« unterhalten würde, ich weinte nicht darüber, daß Paul mit Grippe fiebernd in seinem Atelier lag und mir jetzt nicht mehr beistehen konnte, ich weinte nicht darüber, daß Jo am Tag vor ihrem Tod zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben den roten Pullover anzog, den meine Mutter und ich vor fast zehn Jahren für sie zum Geburtstag ausgesucht hatten und der jetzt wieder im Gepäck meiner Mutter lag, wie ein Brief, der retour geschickt wurde, ich weinte nicht darum, daß die Bernsteinkette in meiner Jackentasche mir immer noch hautwarm vorkam, hautwarm von dem hageren, stets mit roten Flek-ken übersäten Hals meiner Tante, der immer nach Schweiß und Kölnisch Wasser roch, nein: Ich weinte darüber, daß Mäxchen und Jo zwei Kühlschränke besessen haben. Ein Jahr vor ihrem Tod bestand Jo darauf, daß für Mäxchen ein weiteres Badezimmer eingebaut wurde; sie hatte es offenbar satt, mit meinem Großvater die Intimität ge- 258 meinsamer Zahncreme, Haarbürsten und Hautöle zu tei len. Auch meine Eltern ließen seit langem keine zeitliche Grauzone in ihrer Badbenutzung zu. Der eine putzte sich nicht die Zähne, wenn der andere sich die Fußnägel schnitt, keiner ging auf die Toilette, wenn der andere ge rade eine Gurgelorgie machte, aber sie hielten wenigstens noch die Vorstellung aus, das gleiche Bad zu benutzen. Nicht so Jo und Mäxchen. Entsprechend verschieden sahen die beiden Orte ihrer Körperhygiene stets aus. Bei Jo dominierte die Farbe Weiß und die Firma Weleda, alles lag ordentlich an seinem Platz, in der Roßhaarbürste auf dem Glasbord befanden sich kaum Haare. Bei Mäxchen hingegen hingen zwei von vielen Wasserflecken fast unkenntliche Poster mit zerklüfteten Berglandschaften an verrosteten Heftzwecken, die die Pfleger wegen Mäxchens lauten Protesten nicht abnehmen konnten. Und sie mußten ständig zerknüllte Handtücher vom Boden und ausgelaufene Tuben aus dem Waschbecken heben. Nach der Badtrennung hatten sich Mäxchen und Jo wenig später auch zwei Kühlschränke zugelegt. In verschiedenen Zimmern schliefen Mäxchen und Jo schon, seit ich denken konnte. Mir ging ein Bild von meinem Großvater durch den Kopf, wie er manchmal bei Onkel Kurt im Treibhaus Maden eingesammelt und zerdrückt hatte - einfach zwischen zwei Finger nahm er sie. Dabei saß er die ganze Zeit, da er ja sehr schlecht gehen konnte, auf einem Klappstuhl zwischen den Beeten und verrückte seinen Platz nur gelegentlich. Er war sicherlich keine große Hilfe für meinen Onkel, genoß das Gefühl, scheinbar gebraucht zu werden, aber sehr. Ich stellte mir gerade Jo mit ihrer Kernseife-Obsession, ihrer »Mit-Essen-spielt-man-nicht«-Mentalität vor und dann Mäxchen, wie er an einem schwülen Sommertag mit erdigen Händen und verschwitztem Gesicht vom mühevol- len Umtopfen im Garten ins Haus humpelte - es war überall still dort, die Nachbarn hielten totenähnlich ihr Mittagsschläfchen, nur meine arbeitsame Großmutter rieb in mühevoller Kleinarbeit gläserweise Meerrettich, den sie wegen seiner natürlichen keimabtötenden Wirkung liebte - vielleicht das einzige, in dem sie sich mit meinem Vater einig war. Erst als ihre Krebserkrankung weit fortgeschritten war und jeder Handgriff ihr Schmerzen bereitete, gab sie die liebevolle Herstellung ihres antibakteriellen Brotbelags auf und kaufte übellaunig im Supermarkt Meerrettich-Creme. Ich stellte mir jedenfalls Mäxchen vor, wie er mit seinen großen, sonnenverbrannten Händen, Erde unter den Fingernägeln, die Küche betrat und kurz in Versuchung kam, Jo, damals noch Johanna, ebendiese Hände unter die weiße Bluse zu schieben. Auch der breite Mund meines Großvaters mit den Schweißperlen auf dem Rand der Oberlippe könnte ein Problem gewesen sein, aber noch viel eher vermutete ich, daß sich Jo deshalb weigerte, irgend etwas, das mit Nahrungsmittelaufnahme zu tun hatte, mit Mäxchen zu teilen, weil er sich vielleicht einmal in über fünfzig Ehejahren von ihr gewünscht hatte, daß sie etwas anderes in den Mund nehmen würde als in Meerrettich-Soße gewendete Würstchen. Ja, genau das hielten meine außer Rand und Band geratenen Gedanken für den eigentlichen Grund, warum hier zwei nigelnagelneue Kühlschränke standen und uns mit ihren offenen Türen irgendwie erstaunt anzuschauen schienen. Renate sortierte derweil hektisch Kinderfotos nach einem umständlichen System in von zu Hause mitgeschleppte Aktenordner ein; auf die Fotos selbst warf sie keinen Blick, nur auf das mit verschmiertem Kugelschreiber auf der Rückseite festgehaltene Datum. Weil sie so nervös war, fiel ihr gelegentlich ein Stapel aus der Hand, dann lag plötzlich ein verstreutes Schwarzweiß-Mosaik aus Gesichtern, Badeanzügen, ausgebombten Häusern, Sonnenhüten, anfahrenden 261 Zügen, Skifahrern und Beerdigungen vor uns. Hastig sani melte Renate die Bilder ein, drehte sie wie bei einer Art um gekehrtem Memory-Spiel wieder um und setzte das chronologische Einordnen fort. Die Miene meiner Mutter veränderte sich auch nicht, als ich zu meiner Überraschung ein mit goldenem Geschenk papier beklebtes Kästchen aus einer ansonsten mit verstaubten Plastikblumengirlanden vollgestopften Tüte zog. Ich hielt einen Moment inne, wog das Kästchen in den Händen, bevor ich es öffnete. Was mochte darin wohl sein? Liebesbriefe? Oder nur steinalte Pralinen? In dem Kästchen lagen sieben verschiedene Postkarten vom »Führer«, drei ausgeschnittene Bilder der Fliegerin Hanna Reitsch, ein ovales Katzenauge fürs Fahrrad mit einem eingravierten Hakenkreuz und mehrere in der Handschrift meiner Großmutter verfaßte Vorschriften für eine Gratulation an Göring zur Geburt seines ersten und einzigen Kindes. Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß Göring zu dieser Geburt mehr als 600000 Glückwunschkarten - nicht nur aus Deutschland - erhalten hatte. Die meiner Großeltern war also auch dabei. Ferner lag in dem Kästchen ein in eine Landkarte eingeschlagenes Buch. Beim Auswickeln bemerkte ich, daß auf der Karte, die Mittel- und Osteuropa darstellte, der Frontlinienverlauf in Rot mit Datumsangabe in Schwarz markiert worden war. Das Buch war »Mein Kampf«. Einen Moment hielt ich es fassungslos in den Händen. Sie hatten es nicht nur besessen, sondern auch noch Anfang 45 vielen anderen Büchern vorgezogen und auf die Flucht mitgenommen. Ich dachte an all die distanzierten und ironischen Bemerkungen meiner Großeltern in den vergangenen Jahrzehnten über die Nazi-Zeit und über Hitler selber. Doch mir ging auch Mäxchens feindselige, knurrige Bemerkung über die Schmarotzerbienen durch den Kopf und Renates schnell geflüsterter Satz »wer hat denn zu Hause Strichlisten über die Nachbarn geführt und mich dazu angehalten, meine Spielkameraden ...«, den ich kaum hatte glauben können. Mäxchen und Jo waren die letzten Jahre über so hinfällig und hilfsbedürftig gewesen, daß sich fast jede Vermutung oder Unterstellung von selbst zu verbieten schien. Mir fiel plötzlich auf, wie viele kleine grenzwertige Äußerungen ich doch von ihnen kannte, doch nie hatte ich diese bisher zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt, nie wäre mir früher in den Sinn gekommen, Mäxchen und Jo als Nazis zu bezeichnen. Mein Großvater mit seiner Prothese und seinem wunden Stumpf hatte bei uns seit jeher uneingeschränkte Liebe und Zuneigung erhalten, und wenn Jo von der »glücklichsten Zeit ihres Lebens« berichtete, wirkte sie mädchenhaft-naiv. Oft Erzähltes wie »Die berühmte Bananengeschichte« ließen sie zwar nicht heldenhaft, aber doch mitfühlend erscheinen. Und wenn Großvater erregt von Messerschmitts, der Flakabwehr, der Hauptkampflinie und ähnlichem sprach, dachten Paul und ich uns: So sprechen alte Männer wohl vom Krieg. In zwei weiteren schäbigen Plastiktüten, die Renate mir jetzt vom Hängeboden reichte, fand ich ähnliche mit goldenem Papier beklebte Kästen. In einem lagen mehrere Bildbände über die Reichsautobahn sowie einige selbst geschossene Fotos von einem »Führerbesuch«. Die Fotos waren auf der Rückseite mit »Der Führer in München« und einem leider nicht mehr lesbaren Datum versehen. Was meine Großeltern nach München verschlagen hatte, wußte ich nicht. In dem dritten Kasten lag eine Biographie über Carin Göring, die erste, schwedische Frau von Göring, für die der Reichsmarschall nach ihrem frühen Tod den gewaltigen Landsitz »Carinhall« erbauen ließ, sowie das Buch »Nordische Schönheit«. Zuunterst lag ein kleines, vergilbtes, halb auseinanderfallendes Büchlein ohne Rücken mit dem Titel »Menschenkenntnis und Charakterkunde. Zur Erkennung und Beurteilung der Kopf- und 263 Gesichts-Formen«. Von Emil Peters. Das Werk war in 15. Auflage im Jahr 1922 beim Konstanzer »Volkskraft«-Ver-lag erschienen. Ich schlug das Buch auf irgendeiner Seite auf. Unter der Überschrift »Die praktischen und die unpraktischen Köpfe« las ich: »Weiche, verschwommene, >verwaschene<, schlaffe Gesichter, solche, die unklar und ungeordnet in der Form sind, haben keine Tatenenergie. Es sind Dummköpfe oder faule Träumer. Auch Gesichter, die in Krankheit oder gemeinem Schlemmerleben gesunken sind, zeigen, daß Geist und Wille irgendwie in einem Sumpf stecken. Selbstbeherrschung, Fleiß, Tatkraft, geistige Ordnung, Organisation, Wille - dies alles ist in den plastisch gebauten, geordneten, anspruchsvollen Gesichtern zu finden. In solchen Gesichtern liegt der Wille und der Weg zum Erfolg.« Zwischen den Absätzen waren beispielhaft Figuren abgebildet, die mit Kurzunterschriften wie »Edle Mundform -Das Geistige herrscht über das Sinnliche«, »Unedle Mundform - Das Sinnliche herrscht über das Geistige« oder schlicht »Habgier, Lüsternheit« versehen waren. Auch dem »Verheimlichungstrieb« wurde ein ganzes Kapitel gewidmet. Ich blätterte weiter zum Kapitel über die Nase, in dem jemand Eselsohren hinterlassen hatte: »Niemand kann leugnen, daß in der Hauptsache durch die Nase ein Menschenantlitz den Ausdruck des Bedeutenden erhält, ja daß wohl kaum je ein bedeutender Mensch über die Erde schritt, der nicht eine große Nase gehabt hätte.« Ich übersprang einen Absatz: »Kinder und Völker auf kindhafter Entwicklungsstufe haben kleine eingestülpte Nasen. Der Nasenrücken, der auf höherer Geistesstufe den kraftvollen Persönlichkeitswillen darstellt, scheint hier wie eingestürzt. Das sinnliche und elementare Gebiet der unteren Nase herrscht allein. Die Nasenflügel sind breit, die Nasenöffnungen sichtbar. Das körperliche Leben ist also stärker als 264 das geistige, und das sinnliche Empfinden und Begehren tritt unverhüllt zu Tage.« Das nächste Eselsohr gehörte zu dem Kapitel »Der Mund«, und ich las eine mit Kopierstift zittrig unterstrichene Zeile: »Und man darf sicher annehmen, daß ein verkniffener Mund irgendwelche Abnormitäten der geschlechtlichen Organe und ihrer Tätigkeit verrät.« Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Es war Renate. »Was hast du denn da ausgegraben?« Nachdem Renate mir die staubigen Plastiktüten sowie eine alte Luftmatratze, eine Sporttasche voller schlaffer Bälle und ein paar Skier vom Hängeboden gereicht hatte, hatte sie sich, während ich friedlich gelesen hatte, in den Keller verzogen. Jetzt stand sie mit aufgelöstem Haar hinter mir, einen alten Lederfahrradsitz in der Hand. Ich schwieg. Der Gedanke war mir unheimlich, daß die Kästen hier, fünfzig Jahre lang, von niemandem angerührt, ein friedliches Dasein gefristet hatten. Meine Mutter setzte sich jetzt neben mich. Ich erwartete, daß sie mir die Kästen abnehmen, schimpfen und fluchen würde. Aber sie saß nur ruhig da, und für einige Augenblicke sahen wir beide aus dem Fenster. Später habe ich mir schreckliche Vorwürfe gemacht. Dafür, in diesen Augenblicken darauf vertraut zu haben, daß die Stille beredter sein würde als Worte. Aber was wußte ich, was in Renate in diesen Momenten vorging, als ich meinte, wir würden das gleiche denken. Es klingelte, Marion und meine Mutter rannten gleichzeitig zur Tür, so daß es aussah, als wollten sie sich gegenseitig ein Bein stellen. Schließlich stapfte ein mit Army-Ruck sacken ausgerüstetes Studentenpärchen herein - die verspäteten Waschmaschinenkäufer. Ich blieb zurück, lief in der Küche zwischen den Kühlschränken auf und ab, 265 legte eine Hand auf meinen Bauch, in dem es sich fast im merklich regte, warf schnell ein paar alte Schwämme in den Müllsack, die Abgelenktheit meiner Mutter ausnui zend. Schließlich fiel mein Blick auf ein fast leeres Glas Honig. Jedesmal, wenn ich meine Eltern in nächster Zeil besuchen würde, würde ich meinen Tee mit diesem Honig süßen ... das letzte, was meine Großmutter vor ihrem Tod gegessen hat, war ein Löffel Honig ... dann stellte ich mir vor - ich konnte diese Gedanken gar nicht mehr vertreiben -, wie meine Großmutter sich in den letzten Tagen vor ihrer Einlieferung - die Diagnose »unheilbar« kannte sie schon - zum Kühlschrank schleppte und nach irgend etwas suchte, was ihr, wenn nicht Linderung, so doch vielleicht Lust verschaffen könnte. Von der Tafel Nougatschokolade hatte meine Großmutter nur ein einziges Stück genommen. Nein, nicht »genommen«: Ich sah die Bißspuren an der Tafel. Wer weiß, in welchem Zustand sie diesen Biß getan hat. Ich sah deutlich wie einen Scherenschnitt die Spur ihrer großen Schneidezähne. Das kurze Zucken in ihrem Gesicht, das ihr Lächeln war. Ich mußte an die Momente von Einsamkeit denken, die sich für die beiden immer wieder aufgetan haben mußten, nachdem zum Beispiel Jo vom Abendbrot aufgestanden war, aber die »Tagesschau« noch nicht angefangen hatte. Momente, in denen jeder Mensch meistens alleine ist und die einem, wenn es einem gutgeht, nicht weiter auffallen, die in anderen Zeiten aber plötzlich dazu führen, daß man rastlos durch die Wohnung streift, hier und da etwas herumräumt, vielleicht von einem Impuls getrieben die Kühlschranktür aufmacht, innehält und sich eingestehen muß, daß nichts darin zu finden ist, was einem die Angst vor der nächsten Nacht nehmen könnte, und dann resigniert zum Honigglas greift, um an seinem bernsteinfarbenen Inhalt zu kratzen und zu kratzen. Schließlich lutscht man an den kristallinen Krümeln mit der Sehnsucht eines Kindes ... Doch das Gefühl, das Jo in ihren letzten Tagen gehabt haben mußte, konnte nicht das gleiche Gefühl gewesen sein wie damals, als sie kurz nach dem Ersten Weltkrieg heimlich ein Zuckerstück aus dem Glas auf dem obersten Regalbrett stahl - es war nicht das hüpfende Glücksgefühl, etwas Verbotenes getan, etwas Süßes und Sündhaftes heimlich genossen zu haben: der Zucker ließ sie jetzt kalt, die Schmerzen ließen nicht mehr nach, der Trost war weder in der Schokolade noch in den Schnittblumen, die sie sich selber kaufte, zu finden noch in den Bernsteinperlen an ihrem Hals, den hellbraunen undurchsichtigen Perlen, die wie korrupte Diener zu einer alternden Königin hielten, von der sie sich noch etwas versprachen ... Wir alle hatten von ihrem Tod profitiert: Renate und Peter erbten ihr noch nagelneues Auto, mein Bruder einiges Porzellan und den Fernseher und ich die Stereoanlage von Mäxchen und einen Teil des Schmucks von Jo. Da meine Mutter nicht ihr eigenes Geschenk zurückbekommen wollte, ging auch die zweite Bernsteinkette an mich. Sie lag jetzt, ein Gegengewicht zu Lenas Kette, schwer in meiner anderen Jackentasche, links und rechts die Geschwisterketten, meine Taschen beulten sich noch weiter aus, und manchmal war mir, als würden kräftige Hände daran ziehen. Mir drängten sich Gedanken daran auf, wie Mäxchen und Jo in ihren letzten Lebenswochen allein in ihrem jeweiligen Zimmer irgend etwas in sich hineingefuttert hatten. Vielleicht hörten sie einander beim Essen und Trinken, vielleicht hörten sie, wenn dem anderen etwas aus der Hand glitt, vielleicht hörten sie sein Fluchen und Stöhnen durch die Wände, die verrieten, was immer die verschlossenen Türen voreinander verbergen wollten. Ich fragte mich, wie man jahrelang im Krieg auf jemanden warten, als junge, behütete Frau allein durch das zerbombte Europa fahren konnte, in einem fremden Land, in 266 267 einem barackenartigen Lazarett, das diesen Namen mein verdiente, zwischen Kranken und Sterbenden den eigenen Mann suchen, auf Frachtzügen mehrere tausend Kilo meter weit durch den Winter transportieren und späte) jahrzehntelang pflegen konnte - aber ihm nach der Gebtiri des ersten und einzigen Kindes im ersten Kriegsjahr jede Form von Zärtlichkeit, die über das Einreiben des Beinstumpfes mit Ringelblumensalbe hinausging, verweigerte. Ich fragte mich vieles. Was da in Jos Kopf an Geheimnissen ruhte, würde ich nie mehr erfahren. Was wußte ich schon, ich, die ich den Himmel absuchte nach Cirrus Perlucidus, davon, wen oder was sie in dem Mann mit dem kleinen Schnauzbarl gesehen hatte, dessen Portraits aus dem Münchner Foto-Studio Hoffmann sie in goldenen Kästen aufbewahrte? Wie konnte ich die vielleicht gelegentlich etwas barsche Großmutter, die, seit ich denken konnte, alle Ferien mit uns verbracht hatte, mit der Frau in Verbindung bringen, die Göring eine Gratulationskarte schrieb und die die Gesichter ihrer Mitmenschen auf edle oder unedle Züge untersucht hatte, auch wenn sie später vorgab, daß diese Dinge die Nazis »diskreditiert« hätten? Niemand war mehr hier, den ich befragen konnte. Aul nichts schien ich zurückgreifen zu können außer auf meinen unheilvoll sich wölbenden Bauch und die Erinnerung an jene »blaue Stunde«, diese Nähe zu meiner Mutter aus dem Nichts heraus, ohne Erklärung, Geschichte, Verbindung, plötzlich, wie ein unangekündigtes Hoch auf der Wetterkarte. Ich fuhr mir einmal über den kurzgeschorenen Kopf und starrte auf die mit dunklen Flecken übersäte Küchenwand. Wasserflecken, Kaffeeflecken, Schimmelflecken. Ich bildete mir ein, daß die Schimmelflecken in den sieben Tagen, in denen wir hier schon aufräumten, größer geworden waren. Es tat mir nicht gut, so lange hier zu sein, das merkte ich deutlich. Meine Gedanken marschierten ohne mich los, hinein in die Dämmerung, in die Nacht, wie ein desertierendes Heer von einem verrückt gewordenen General. Vor meinen Augen sank das hell erleuchtete Schiff, mir wurde schlecht, und ich klammerte mich an einer Türklinke fest. Es klingelte wieder, und ich erinnerte mich undeutlich, daß das Herr Deckel sein mußte. Herr Deckel mit seinen unruhigen, stets verängstigt guckenden fünfzigjährigen Kinderaugen, der die Kühlschränke für sein Geschäft »Küchen-und Badeinrichtungen aus zweiter Hand« abholen würde. Könnte es nicht ein Gefühl von Erleichterung sein, wenn die beiden Kühlschränke von Mäxchen und Jo, die, wie sie hier in gemessenem Abstand voneinander standen, wie physische Repräsentanten der beiden schienen, verschwinden würden? Doch als ich Herrn Deckel mit zwei Trageriemen in die leere Diele stürmen sah, seine Halbglatze wippte bei jedem seiner schnellen Schritte, krampfte ich die Hände ineinander. Es war noch zu früh für ihr nächstes Leben, ihr »Zweite Hand«-Leben, sie konnten uns vier Frauen nicht hier mit den Stockflecken, den unvergilbten Hitlerfotos und dem bösartig schimmernden Katzenauge allein lassen: die Kühlschränke, denen - schräg, wie sie da im Raum standen - die Dynamik dieser jahrzehntelangen Beziehung innezuwohnen schien. Für vieles war es zu spät, aber dafür war es zu früh. Ich fuhr mir noch einmal mit einer raschen Bewegung über mein kahlgeschorenes Haupt, geleitete Herrn Dek-kel schnurstracks in die Küche, Herrn Deckel, der mich neugierig musterte, den Stoff seiner geheimsten Träume vielleicht, dann machte ich fast militärisch auf dem Absatz kehrt, eilte ins Bad und legte eines der rauhen Handtücher an mein nasses Gesicht. 20 Nachtkammern Früher hatte ich Pauls Zeichnungen und Gemälde so, wie sie waren, geliebt. Nun regte es mich auf, daß sich meinem Empfinden nach kaum etwas von dem von mir Gesagten in ihnen wiederfinden ließ. Ich sah auf die Wesen in blauen Anzügen, die Paul vor schwarzem Hintergrund knapp skizzierte, und fragte mich, was diese Szenen mit einem Schiffsuntergang zu tun haben sollten. »Das ist die Kleidung aus den >Blaukammern<«, flüsterte Paul mir jetzt zu. »Und das ist für dich das Wesentliche am Untergang der >GustloffErinnerung< eben doch eine einsame Angelegenheit, ich kann es nicht ändern, ich wünschte mir ja auch, daß du meine Bilder verstehen würdest ...« »Ich will nur nicht, daß du den ganzen Müll einfach reproduzierst ...!« Dieser Satz war sicherlich nicht sehr diplomatisch. Vielleicht hatte ich ihn ausgesprochen, weil mich gerade mein Kind getreten hatte und ich wieder Angst bekam vor dieser dicken, eingeschweißten Familienkette aus Schweigen, Totschlag und nochmals Schweigen, zu der ich nun für immer gehören würde. Über meinen Tod hinaus. Denn mein Kind, meine Kinder, würden mich überleben und auch noch meine Wohnungsauflösung in Angriff nehmen ... Nachdem an einem Nachmittag wieder zwei Koffer mit alten Stiefeln, eine große Plastikbox, in der viele kleine leere Plastikboxen lagen, zwei Schuhkartons voller Ge-schenkpapierrestchen, ein Schlitten mit verrosteten und verbogenen Kufen und eine nicht mehr funktionstüchtige Mikrowelle in meinen Keller gewandert waren (als ich gerade abschließen wollte, hängte Renate noch schnell zwei pralle Leinenbeutel mit vergilbten Frauenzeitschriften an einen Haken), nahm ich nun im »Kabinett« Pauls Hände in meine und sagte: »Manchmal frage ich mich, wie wir später einmal sein werden ... Paul! Nach alldem, was wir in den letzten Wo- chen erfahren haben, ist mir eine Idee gekommen ... laß uns doch all das aufschreiben ...! Ich hab meine alten Kalender genau geführt und liefere die Fakten, die Stichworte, und du findest dafür eine Sprache ... dann brauchen wir später nichts ... nichts! ... außer diesem Buch, unserem privaten Almanach, und deinen Bildern, auf unseren Dachböden, Hängeböden und in unseren Kellern zu verwahren, keine Kisten, Schachteln, Schuhkartons, Briefe, Einmachgläser, Souvenirs, diese Sammelwut unserer Familie! Nichts!« »Das - wird - Arbeit«, gab Paul zögernd zurück mit einem Blick in sein Atelier, in dem überall halbfertige Skizzen, Zeichnungen und Gemälde herumlagen, standen oder hingen. »Ich habe einen Wunsch offen ...«, rief ich ihm ins Gedächtnis. »Aber bloß kein Tagebuch, nicht so mit Datum und Chronologiezwang, eher ein bißchen märchenhaft ...«, sagte Paul ausweichend. Seit jenem Nachmittag haben wir allerdings nicht mehr über diese Idee geredet, und Paul war ein Mensch, den man nicht drängen durfte. »Vielleicht« war eines seiner Lieblingsworte. Später, nach jenem Winter, der uns alle überraschte, der alles, unsere Erinnerungen an Fernreisen und an den letzten Abwasch, an kalte Großmutterhände und »das erste Mal«, unsere Träume, unsere Bündnisse und Antipathien, alles wie ein schwarzes Loch aufsaugen und auf einen einzigen vibrierenden Punkt des Schmerzes konzentrieren sollte, am kürzesten Tag des Jahres, in einer Nacht, in der alles in sich zusammenfiel und nicht schepperte, sondern einfach verschwand, später, nach diesem Winter, nach dem kürzesten Tag des Jahres, als das Eis des Winters schon längst in einen Sommer geflossen und in einem neuen 273 Winter gefroren war, würden Paul und ich uns über seinen Arbeiten vollständig zerstreiten. Der Grund? wie Mäxchen rhetorisch gefragt habeil würde: Paul wollte partout meine Zöpfe in einer Collage verarbeiten. Meine Zöpfe! - die schon damals gegen meinen Willen aufbewahrt und obendrein aufgehängt wurden. Paul fand mich wiederum zu kategorisch und meinte, die Zöpfe würden sich wirklich ausnehmend gut vor dieser osi seehimmelroten Leinwand und dem fein säuberlich aufge klebten Puppengeschirr machen, gegen das ich auch schon rebelliert hatte. Bei dem Puppengeschirr hatte ich mich zurückgehalten, denn ich wollte meinem Bruder eigentlich nicht in sein Werk hineinreden, aber daß nun schon wieder jemand meine Zöpfe aufbewahren wollte, ging mir entschieden zu weit. Pauls Geistesblitz, nur einen Zopf zu verwenden, schien mir die Idee des Kompromisses nun wirklich ad absurdum zu führen. Jetzt beugte sich Paul wieder über sein Gemälde, genauer gesagt, über die Gans. Ich trat zurück ans Fenster und suchte den Himmel nach Flugzeugen ab, aber heute war er mondlos und unbevölkert. Ein tiefhängender Stratus hatte sich breitgemacht, sich über die Stadt gelegt und nicht mehr gerührt wie ein müder Mensch, der sich gerade in seinem Bett ausstreckt hat. Es gab keine Orientierung an diesem Himmel, der seine Landkarte verbarg, seine Wege und Zeichen nicht freigab für die Wanderung meiner Augen, ihnen die Lust am Fliegen nicht gestattete und sie zwang, hier, in diesem nach Ölfarbe stinkenden Zimmer, auf dem türkischen Teppich zu bleiben. Ich schwieg. Ich hörte das Kratzen von Pauls kleinem Pinsel für Details. Paul malte weiter, ohne auf meine üblichen Berichte zu warten. 274 21 Honigglas Wir nahmen heute wie immer »ungehörige Mengen« von diesem »süßen Gold« für unseren Tee. Die Wohnungsauflösung war überstanden, und Paul und ich saßen bei Kaffee und Kuchen mit unseren Eltern im Wohnzimmer. Renate konnte sich eine Bemerkung über die »verwöhnte Nachkriegsgeneration« nicht verkneifen. Einer ihrer Lieblingssprüche war früher: »Und für mich ist eine Banane noch etwas Besonderes gewesen.« Über ihre Gefühle in dieser Zeit sprach sie eigentlich nie, nur Dinge, Güter, Fakten konnten aufgezählt werden. Von dem und dem Jahr an gab es wieder Kirschen, dazu Bananen, in diesem Winter endlich etwas anderes als Steckrüben oder Kohlrabi. Diese Dinge konnte Renate minutiös wiedergeben. Aber ich dachte oft an ihre Worte in jener Nacht, als Jo endlich erzählt hatte, wie sie auf die »Theodor« gekommen waren. Seitdem hatte ich Angst um Renate. Meine Mutter, deren Hängeböden voller Honiggläser standen - Holunder-, Gänseblumen-, Akazien-, Klee-, Lindenblüten-, sogar Rosenhonig besaßen wir schon, bevor Mäxchen sein gewinnträchtiges Hobby ausübte -, hatte den eindeutig für ein Tausendjähriges Elend angelegten Vorrat von Mäxchen und Jo natürlich mit zu uns geschleppt. Wenigstens Jo hatte an ihrem Lebensende ihre Form, ihre Sitten und ihren Verstand verloren und hemmunglos gegessen, worauf sie Lust hatte. Der Gedanke, daß meine Mutter vielleicht selbst noch vor ihrem Tod in ferner Zukunft mit jedem Löffel Honig 275 geizen würde, weil Honig ja etwas Kostbares und Gutes, also eigentlich nicht zum Verzehr Gestattetes, ist, deprimierte mich schon jetzt manchmal derartig, daß ich am liebsten alle Gläser in der Mitte unserer Stadt für die vielen jungen Leute, die an U-Bahnhöfen und Supermärkten mit zerrissener Kleidung und dunkel umrandeten Augen saßen, aufgetürmt hätte. Peter hatte sich in den Kopf gesetzt, Paul das Angeln beizubringen, und sie machten sich jetzt auf zu den großen Seen weit hinter unseren kleinen Tümpeln, die sich mit den Jahren für mich von riesigen Wasserflächen zu kleinen Hausteichen gewandelt hatten. Auch der Weg durch den Wald beschränkte sich jetzt auf ein paar Tannenhaine, die man in wenigen Minuten durchquert hatte. Nachdem Vater und Sohn gegangen waren, stand meine Mutter mit einem Glas Honig in der Tür und fragte mich mit ihrer üblichen, sehr leisen Stimme: »Was glaubst du, was soll ich denn dem Rudolf mitbringen, Rosen- oder doch lieber Kleehonig ...?« Ich faßte meine Mutter scharf ins Auge. Hoffentlich verschenkte sie nicht den Kleehonig, bloß weil wir von dem noch mehr Kisten hatten als von dem guten Rosenhonig. Auch von unserem Rosenhonigvorrat hatten wir so viele Gläser gelagert, daß wir damit durch den nächsten Krieg kommen würden. Ich legte meiner Mutter eine Hand mit Nachdruck auf den Arm: »Nimm den Rosenhonig, bitte!« »Wie du meinst ...« Meine Mutter fuhr mir über die nicht vorhandenen Haare und murmelte nachdenklich: »Damals konnte man dir noch nahe sein, weil du Zöpfe hattest. Wie lange haben wir da immer zusammen geklönt, wenn ich dir die Dinger geflochten habe!« Wie unterschiedlich die Erinnerung doch ist. Meines Wissens habe ich nur belanglose Kommentare in das ewige Schweigen meiner Mutter hineingerufen. 276 J »Renate, der Name Rudolf, ist das wirklich Zufall, ich meine, du denkst an diesen Mann seit über dreißig Jahren, dieser eine Kuß damals, ich meine ...« »Werd nicht esoterisch«, fuhr meine Mutter, die Horoskope und Biorhythmenkurven in Frauenmagazinen studierte, mich an. »Rudolf ...«, begann ich noch einmal. »... ist ein häufig vorkommender Name in der Generation deines Vaters«, ergänzte Renate knapp. Dann fing sie an, die ohnehin schon saubere Ablage neben dem Herd mit einem Schwämmchen abzuwischen und drückte dabei so fest auf, daß ich mir die Ohren wegen des Quietschgeräusches zuhalten mußte. »Und Pauls Zweitname, bitte?« bohrte ich weiter. »Reich mir mal das Spülmittel!« Ich gab meiner Mutter die kleine grüne Flasche, und sie spritzte etwas Spülmittel auf das Schwämmchen, das schon vorher weiß vor Schaum war. »Bist du denn jetzt etwas aufgeregt?« frage ich meine Mutter schließlich seufzend, während ich ihr weiter zuschaute. Sie sah mich einen Moment verschwörerisch an, sagte dann aber: »Nein, nein, du weißt doch, wie ich bin.« Sie schrubbte weiter, um dann um so nervöser fortzufahren: »Rudolf und ich, wir werden uns so ein bißchen über dies und das unterhalten ... und guten Kuchen gibt's da hoffentlich im >Lilienthal<.« Ich grinste in mich hinein. Meine Mutter hatte Peter erzählt, sie würde mit mir heute einen Fahrradausflug zu einem Schloß im Umland machen. Sie hatte gelogen, und es war ihr nicht einmal schwergefallen, meinte sie. Ob sie denn glaubte, daß Peter ihr immer die Wahrheit sagen würde, wagte ich zu fragen. Meine Mutter blickte verdutzt auf. Wie ich denn darauf käme, daß er das nicht täte, fragte sie, doch eine Spur arg- 277 wöhnisch. Sie wußte, daß ich früher, wie so viele Mädchen, ein besseres Verhältnis zu meinem Vater als zu ihr besessen hatte, und vielleicht ahnte sie jetzt etwas über die Tragweite dieses Bündnisses. Ich überlegte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann beschloß ich: Nein, es war Peters Aufgabe, nicht meine, die Karten auf den Tisch zu legen. Und es gab auch noch einen anderen Grund: den Blick meiner Mutter in diesem Moment. Ich brachte es nicht übers Herz. Wenn Renate Peter betrogen hätte, wären ihm wenigstens noch sein Beruf, seine Kumpels, seine Kurzreisen geblieben; wenn Peter jedoch Renate betrog, dann gab es für sie keinen Raum außerhalb ihrer Phantasie. Nur die Erinnerung an einen Kuß, der nach Massage-Öl und Spülmittel roch ... Ich sah die dünnen Haare meiner Mutter, das Blond, das aus ihnen gewichen, die Halbmonde ihrer Fingernägel, bleich, ihre blauen, auf mich gerichteten Augen ... ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, was ich wußte. »Das habe ich an deinem Vater von Anfang an geschätzt: Er ist durch und durch ehrlich, manchmal ein bißchen grob, die Spaße gehen schon mal ein bißchen weit, aber ... mit seiner direkten Art weiß man ...« - jetzt lachte sie erleichtert nach der Sorge, die ihr meine Frage unverhohlen vermittelt hatte - »wenigstens, woran man ist.« Mir wurde wieder übel, ich wandte mich ab und sah aus dem Fenster auf die Tannen. »Ich mach mir einen Fencheltee mit Honig«, murmelte ich zu meiner Mutter. »Hast du Magenschmerzen, Freia?« »Ja, ein wenig.« Ich öffnete einfach das Kleehonigglas, um den Rosen den Weg zu Rudolf zu ebnen (meine Mutter würde niemals zwei Gläser einer Sorte an einem Tag öffnen), und tat mir drei sündige Löffel in eine kleine Tasse. 278 Meine Mutter warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, seufzte und sagte nichts. »Ich finde, Renate, du solltest dir vorher ein paar interessante Gesprächsthemen ausdenken, damit du nachher nicht dasitzt und nur über Blumen und Bäume redest.« »Was spricht dagegen?« fragte meine Mutter ungewöhnlich schnell. »Eure Gefühle füreinander«, antwortete ich ebenso schnell. »Aber ich bin ge-bun-den ...«, sagte meine Mutter gedehnt wie ein Gummiband. »Ein Kuß, wäre das schon zuviel?« Eigentlich hätte ich sagen wollen: Man lebt nur einmal, und: Hast du je gedacht, daß du soviel allein gelassen werden würdest? Hast du je gedacht, daß die einsamsten Momente deines Lebens nicht die als Kmd im Krieg, sondern die als Erwachsene im Wohlstand sein würden? Plötzlich weinte meine Mutter. Früher wäre ich jetzt genervt hinausgegangen, hätte mit meinem Fußballtöppen noch einmal an die Tür getreten. Doch jetzt ging ich zu ihr und legte meinen Arm um sie. Das ganze Make-up, das sie aufgetragen hatte, ihr Lidschatten, verschmierte, lief in dunklen Tränen ihre Wangen herab. »Ma-ma, was ist?« »Ich kann da nicht hingehen ... Ich kann da nicht hingehen, alleine, das ist doch schon ein Verrat. Ich meine, der Rudolf hat keine Frau mehr, die ist doch vor zwei Jahren gestorben ... ich meine, das sind zu unterschiedliche Verhältnisse, und unter der Voraussetzung ... mit dem, was zwischen uns ... stand ... steht ... ist ... das ... nicht ... gut.« Ich hielt meine Mutter in den Armen. Weshalb auch immer sie so viel für Rudolf empfand: Vielleicht hätte ich ihr sagen können, daß sie auch mal an sich denken sollte, daß Gefühle über Prinzipien Priorität haben können, hatte ich mich nicht mit Paul auch wieder ausgesöhnt? 279 »Verstehst du«, sagte meine Mutter plötzlich mit rauher, roh klingender Stimme: »Ich würde mich von ihm küssen lassen, und ... ich weiß, er würde es tun.« Ich wußte es auch, wußte, daß von diesem Treffen alles abhing. Und daß meine Mutter wunderschön heute aussah - bis eben. Und ich merkte, wie schwer es mir fiel, meiner Mutter nicht zu sagen, was sie ohnehin schon ahnte: daß sie Rudolf nie mehr sehen würde. Ich hielt meine Mutter noch einen Moment in den Armen und war reichlich verwirrt. Mir war wieder schlecht, und mir würde noch lange schlecht sein. Wer auch immer da in mir heranwuchs, würde es nicht leicht haben. Trotz Christian an meiner Seite. Ich war auch nur eine der vielen tausend jungen Frauen, die sich vornahmen, »alles anders zu machen«. Meine Mutter rief Rudolf an und sagte ab. Und log heute schon zum zweitenmal. Und wieder mußte ich herhalten. »Meine Tochter ist im siebten Monat schwanger und liegt hier bei mir mit Fencheltee und Kleehonig auf dem Sofa - ihr ist permanent übel, ich kann sie jetzt unmöglich alleme lassen«, haspelte sie herunter. Wie gut, daß es mich und das Kind gab. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, sagte meine Mutter noch zu Rudolf, und das war Lüge Nummer drei: »Aufgeschoben ist aufgehoben!« sprach die Stimme deutlichst. »Was würdest du machen, wenn Peter morgen nicht mehr da sein würde?« fragte ich meine Mutter, nachdem sie den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, und ließ damit eigentlich offen, aus welchem Grund er »nicht mehr da« sein könnte. Renate trocknete sich ein paar Tränen ab und murmelte trotzig: »Ich würde Rudolf zur Beerdigung einladen!« Jetzt mußten wir beide lachen. Zwei Wochen später waren Paul und ich wieder bei unseren Eltern zu Kaffee-und-Kuchen eingeladen. Es war ein wolkenloser Sonntag, Cirrus nicht unter 14000 Metern. Trotzdem blieben Peter und Paul bei uns sitzen, denn der Angelunterricht meines Vaters hatte sich neulich nicht als erfolgreich erwiesen. Paul taten die Fische leid. Er ließ sie sofort wieder los, wenn sie an seinem Haken zappelten. Bald strengte mich die laute Art meines Vaters an - ich war in den letzten Wochen zunehmend gereizt -, und ich legte mich im Wohnzimmer auf die Couch. Als ich nach einer Weile schwankend aufstand und aus dem Halbdunklen hinausging, bat meine Mutter mich, aus der Speisekammer ein Glas Aprikosenkompott mitzubringen, wenn es mir nicht zu anstrengend wäre ... Paul erzählte gerade begeistert von einem Strawinsky-Konzert, das er kürzlich gehört hatte. Ich ertappte mich dabei, Paul zu beobachten, wie er kurz innehielt, die Augen schloß. Manchmal fragte ich mich, was in meiner Mutter vorging, wenn sie erlebte, wie Paul sich so offensichtlich einem Genuß, welcher Art auch immer, hingeben konnte. Da er für sie ein bemitleidenswerter Angehöriger einer unterdrückten Randgruppe war und sie wahrscheinlich seit jenem Tag, an dem sie ihr Schicksal in die Hand genommen hatte und heil übers Wasser gekommen war, während ein gleichaltriges Kind ertrank, für »die Unterdrückten und Entrechteten« eintrat - die Formulierung stammte von ihr -, wagte sie es natürlich nicht, Paul in irgendeiner Hinsicht zu kritisieren. Das eingestaubte Kompottglas fand ich flankiert von gut zwei Dutzend Preiselbeergläsern vom letzten Herbst. Dahinter stand majestätisch einsam ein Honigglas aus Jos Kühlschrank. Ich erkannte es an seinem fettigen Etikett und den Kugelschreiberkritzeleien, die meine todkranke Großmutter noch darauf hinterlassen hatte. Aber in dem Glas befand sich kein Honig mehr. Als ich es hochhob und schüttelte, klapperte es. Jetzt entdeckte ich eine Streichholzschachtel darin und ein Stück Papier, aus dem beim Schütteln ein eingewickeltes Gebiß gerutscht war. 280 281 Mit dem Aprikosenkompott in der Linken und dem Honigglas in der Rechten schritt ich zurück auf die Terrasse. Prompt stieß ich mit meinem Bauch gegen die Glastür - manchmal vergaß ich meinen veränderten Körperumfang einfach. »Hier ...«, ich stellte das Kompottglas zwischen die Kaffeetassen, die Keksdose, die Sahneschüssel und das Honig-Gebiß-Glas auf den Kuchenteller meiner Mutter. »Freia ...«, meine Mutter saß da mit zusammengesunkenen Schultern. »Renate, was ist das da? Was hast du hier schon wieder aufbewahrt? Mit Augenaufschlag kommst du bei mir nicht durch, raus mit der Sprache!« Ich weiß auch nicht, was in mich fuhr, vielleicht war ich einfach nur angespannt und erschöpft, mir gingen jedenfalls beinahe die Nerven durch. »Sag mal, du bist hier nicht bei dir zu Hause, deine Mutter muß sich nicht rechtfertigen, bloß weil du so einen übertriebenen Ekel vor allem hast, was im weiteren oder weitesten Sinne mit Krankheit oder Tod zu tun hat! Und das als Tochter eines Arztes. Also, stell das Glas dahin, wo es hingehört, rede deiner Mutter keine Neurosen ein, die sie nicht hat, komm zu uns, und trink noch eine Tasse Kaffee!« Mein Vater fläzte sich in seinen alten Jeans auf dem Gartenstuhl, verscheuchte eine Fliege von seinem braunen Arm und blickte mich ungehalten an. Er wirkte immer wie ein großer Junge, der Angst davor hat, daß man ihm den Spaß verdirbt. Plötzlich hörte ich meine Armbanduhr. Es war so leise, daß ich jedes Sekundenticken hörte. Mir schien, wir alle hörten es. Schließlich begann ich mit leiser Stimme: »Hör mal zu, Peter, wenn du mir noch einmal zu verstehen gibst, daß ich meiner Mutter mehr Schaden zugefügt habe als du, dann werde ich hier gleich ein wenig von >Waldgeistern< erzählen und von einigen Dingen mehr, dann wirst du hoffentlich begreifen, daß du hier der ganz große Abstauber gewesen bist ...!« Mein Vater und ich sahen uns an. Vielleicht dachten wir beide an das Ehrenwort, das ich ihm im Alter von acht Jahren gegeben hatte, doch wir mußten spätestens in diesem Moment begriffen haben, wie lächerlich solche Indianersitten in Anbetracht einer gescheiterten Ehe sind. Mein Vater wußte genau, daß ich meine Mutter mit gutem Recht zu mir nach Hause zum Tee einladen und ihr alles erzählen könnte. Waldgeister. Feen. So wie meine Mutter einst seine Fee war - so blaß und zart. So ungreifbar und doch so nah. Hausgeist. Ich starrte in das finstere Heer von Tannen. Einen Moment schloß ich meine Augen, um mich zu beherrschen. Meine Gedanken waren in zu großer Unruhe ... Mein Vater ... dieser Pragmatiker, der als Orthopäde sein Leben mit Füßen, Knöcheln und ausgerenkten Schulterblättern verbrachte ... den höchst prosaischen Seiten des Menschen ... war süchtig nach diesen ätherischen Frauen ... Frauen wie Glas ... wie Kristall ... wie Schneeblumen ... wie Luft ... »Das ist wie in Ohnmacht zu fallen und doch zu wissen, daß man geborgen ist«, hatte er damals zu mir gesagt. Sollte ich ihn dafür hassen? ... Ich liebte ihn doch, meinen Vater ... der einfach keine Lust hatte, nur Arzt, Kriegsknirschhüften-Flicker, Korinthenkacker, Steuerzahler zu sein. Mein Vater, der meine Mutter betrog, es aber nie im Leben fertigbringen würde, sie im Stich zu lassen ... Mein starker schwacher Vater ... Mein Vater ... dieser verrückte, schreckliche, egozentrische Romantiker ... »Freia, bitte, tu das nicht«, sagte Peter jetzt, und ich öffnete die Augen wieder. Mein Vater starrte schuldbewußt auf die Tischkante. Wenn er mich wenigstens anschauen würde. Feigling. Ich fixierte ihn, ließ ihn einen Moment 283 zappeln. Er wußte wie ich, daß meine Mutter unberechenbar war. Sie stand jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit auf, ging immer nach dem Früstück zum Briefkasten, zum Gymnastikkurs, zum Markt. Aber plötzlich, alle sieben Jahre einmal, konnte sie sich völlig verändern und dann kälter und gnadenloser sein als wir alle; wie damals, als sie plötzlich auf dem Schimmel im Birkenwald verschwand. Die Waidgeistgeschichten dürften meine Mutter von einem Tag auf den nächsten zum Scheidungsanwalt stiefeln lassen. Weder die Uhrzeit, zu der sie aufsteht, noch die, zu der sie zum Briefkasten, zum Gymnastikkurs, zum Blumenladen und zum Markt geht, würden sich ändern. Nur um das Herrenmode- und um das Tabakgeschäft würde sie einen scharf zirkulierten Bogen machen. Mein Vater hatte endlich den Blick von der Tischdecke-gehoben und sah mich bittend an. Warum sollte ich ihn eigentlich schon wieder schützen, immer gegen meine Mutter? Warum war ich gezwungen, immer Partei zu ergreifen? Ich merkte, wie die Wut in mir aufstieg. Plötzlich fragte Peter: »Was sind das denn für Zähne, Renate?« »Das ist das Gebiß meiner Mutter. Ich bewahre so etwas eben auf, das sind für mich Erinnerungen, Erinnerungen an ihr Lächeln, an früher, und ich kann das nicht einfach wegwerfen, das ist, was uns noch von ihr geblieben ist«, antwortete meine Mutter leise und ausführlich. Ich sah auf die Hände meiner Mutter. Diese sehnigen Hände mit langen, schmalen Fingern und kleinen Nagelbetten, die ich geerbt hatte. Vielleicht, dachte ich, während ich noch auf die deutlich hervortretenden Adern auf den Handrücken starrte, würde Renate nicht so sehr an ihren Eltern hängen, vor denen sie doch immer zu Onkel Kazi-mierz geflohen war, wenn sie nicht Einzelkind gewesen wäre. Nach der großen, gemeinsamen, erfolgreichen Flucht, deren Ausgang sie als kühne Fünfjährige bestimmt hatte in einem Moment, wo es ihrer Mutter die Sprache verschlagen hatte, war sie später zu nicht mehr als kleinen, heimlichen, bequemen Fluchten mit der Deutschen Bahn in der Lage gewesen. Immer wieder war sie in die düstere, elterliche Wohnung zurückgekehrt, hatte sich um alles gekümmert, hatte das Ungetüm von einem Fünfziger-Jahre-Staubsauger, auf das Jo so stolz war, leise über den Saum des Brokatvorhangs schnurren lassen, den sie gegen den Willen ihrer Mutter nicht zu öffnen wagte. Kein weiteres Geschwisterkind konnte diese Last mit ihr teilen. »Kannst du bitte Jos Gebiß wegschmeißen?« forderte ich. Der Anblick der dritten Zähne mit den gelben Ablagerungen von exzessivem Teegenuß, die vollkommen verrückte Vorstellung, daß von Jo nichts mehr übrig sein sollte außer diesem Gebiß, einem gesichtslosen Gebiß in einem Glas, wie ein Blinddarm in einem Formaldehyd-Behälter einer pathologischen Sammlung, überwältigte mich. Diese künstlichen Zähne, plötzlich sinnlos, Pars pro toto, Geschenk der Toten an die Lebenden, herausgebrochen aus dem Gesicht meiner Großmutter, ihrem Mund, ihrer Mimik, ohne Verbindung zu ihren Worten, ihrer ostpreußisch gefärbten Sprache, ihrer Vergeßlichkeit, ohne Verbindung zur Zeit der langsamen, stockenden Worte, der plötzlich auftauchenden Erinnerungen, des Schweigens -diese verdammten dritten Zähne konnten Erinnerung doch nicht verwahren, lebendig erhalten, sondern nur verzerren, entstellen, massakrieren. Vielleicht würde meine Mutter dieses Gebiß in ein Kästchen schließen, und sein kleines Schlüsselchen würde ihr Sicherheit geben. Ich wußte es nicht. »Kannst du bitte Jos Gebiß ...?« ich brachte den Satz nicht noch einmal zu Ende. Erschöpft ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, zog die Beine an mich, an meinen dik-ken Bauch, meine Leibesfrucht, und legte die Hände vors Gesicht. 285 »Aber warum denn, Freia? Ich bewahre so etwas eben auf, das sind für mich ...«, fing Renate den gleichen Satz noch einmal an. Ich schluchzte durch meine nassen Hände hindurch, fiel ihr ins Wort: »Und was ist überhaupt in der Streichholzschachtel?« »Eure Milchzähne, Freia. Ich hatte Angst, daß die mal aus Versehen weggeworfen werden, da habe ich sie lieber in das Glas gesteckt ...«, gab meine Mutter brav zur Antwort. »Kannst du bitte wenigstens meine Zähne wegschmeißen, wenn du dich schon nicht von dem Gebiß deiner Mutter trennen kannst?« Ich schrie fast in meine zitternden Hände, die jetzt nicht nur von Tränen, sondern auch von Spucke naß wurden. »Freia, nun setz dich mal zu uns. Komm mal her, meine Große. Du bist einfach ein bißchen überreizt, oder? Laß deiner Mutter doch ihre Sammelei, wenn sie das glücklich macht. Es tut dir doch nichts. Laß sie doch, und vergiß das alles einfach jetzt mal. Komm, iß Kuchen, komm wieder zu uns, aber stell das Glas erst mal zurück!« Kaum hatte mein Vater erfolgreich das Thema gewechselt, ging er gleich zum Angriff über. Ich holte weit aus und warf das Glas in einem hohen Bogen von der Terasse. Irgendwo zwischen den düsteren Tannen knackte es. »Freia!« Mein Vater und ich sahen uns an. Komplizen. Und wieder hatte ich sie verletzt und ihm nur gedroht. 22 Cirrus Perlucidus (Gdynia) Meine Mutter saß mir gegenüber; auf ihrem Schoß lag eine ausgebreitete Papierserviette mit einigen Apfelstücken. Kauend fragte ich sie, wann wir denn in Szczecin wären und wieviel Aufenthalt wir dort haben würden. Renate murmelte, während sie einen weiteren Apfel viertelte und schälte: »Sind gleich da, eine halbe Stunde zum Umsteigen haben wir. Aber dann können wir noch mal fünf Stunden in der Hitze schmoren, Freia.« Erst später, in Gdynia, würde die Tatsache, daß es jetzt Sommer war - einer der heißesten Sommer an der Ostsee, die es seit den ersten Messungen je gegeben hatte -, mein Gefühl, einen ganz und gar fremden Ort vorzufinden, noch steigern. Wir fuhren nun an den die Stadt säumenden Plattenbauten und an vom Autoverkehr schmutzig-schwarzen Altbauten vorbei in den Bahnhof von Szczecin ein. Hier mußten wir vom deutschen in den polnischen Zug umsteigen - über den Norden, also Szczecin, dauerte die Fahrt zum ehemaligen Gotenhafen nur sieben Stunden, über Warschau waren es elf. Gäbe es schnellere Züge, könnte man die Strecke, die kürzer war als Berlin-Bonn, wesentlich schneller bewältigen. Renate und ich hatten nicht viel Gepäck. Ich reiste seit Jahren mit einem alten Seesack herum; diesmal baumelte er schlaff über meine Schulter, da ich nur für zwei Tage gepackt hatte. Meine Mutter hatte ihren kleinen Koffer mit Rollen dabei, der jedoch in dem brüchigen Asphalt des Szczeciner Bahnhofs so oft steckenblieb, daß sie ihn schließlich trug. 286 287 Der polnische Zug war hoffnungslos überfüllt. Da die Idee, gemeinsam nach Gdynia zu fahren, meiner Mutter gestern nacht spontan gekommen war, hatten wir weder Platzkarten noch ein Hotel gebucht. Aber meine Mutter schien sich keine Sorgen zu machen. Nur ich, hochschwanger, wie ich war, fühlte mich etwas beunruhigt bei dem Gedanken, noch eine Unterkunft suchen zu müssen. »Ich möchte sehen, wie es da jetzt aussieht! Ich muß noch mal an diesen Ort zurück!« hatte meine Mutter gestern abend zu mir gesagt, als ich zum Essen zu Besuch war und Peter irgendwann mit seinem Freund Jochen verschwunden war. Die Sache mit dem Honigglas hatte Renate mir übelgenommen, aber wie üblich diesen Ärger durch Schweigen zum Ausdruck gebracht. Nach einigen Wochen jedoch schien ihr Wunsch, sich jemandem mitzuteilen, größer zu sein als ihr Groll auf mich, und so war ich, die ich Überraschungen von meiner Mutter gewöhnt war, nicht wirklich verblüfft, als sie relativ zusammenhangslos wieder von der »Festbeleuchtung« der »Gust-loff« erzählte und davon, daß das Schiff immer noch auf dem Grund der Ostsee lag und daß sie seit dem Januar 45 nie wieder in Gotenhafen beziehungsweise Gdynia gewesen war. Es war ein Freitagabend gewesen, und ich hatte meine Mutter vorsichtig gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, einmal - ich meinte: irgendwann einmal - mit mir an diesen Hafen zu fahren. Renate stand am Fenster und antwortete nicht, was mir zunächst das Gefühl gab, zu weit gegangen zu sein, sie mit dem Gedanken, an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren, restlos überfordert zu haben, doch dann marschierte sie schnurstracks mit gesenktem Kopf zum Telefon und rief die Bahnauskunft an. Am nächsten Morgen saßen wir im Zug. Jetzt drängelten sich vor uns ein paar deutschsprechende Rucksack-Touristen in das Abteil, das wir gerade ansteuerten. Die Hitze machte mich müde, seit der Schwangerschaft hatte ich starke Kreislaufprobleme. Eine Schwingtür knallte gegen meinen Bauch. »Komm, wir gehen ins Bistro«, Renate zog mich an einer schimpfenden Mutter mit zwei weinenden Kleinkindern vorbei in den nächsten Waggon, dessen grelle Farben mir den Atem verschlugen: Rosarote Vorhänge, Tischdecken, dunkelroter Teppich leuchteten uns entgegen; auf den Tischen standen große rote, halbrunde Serviettenhalter mit schwarzen Marienkäferpunkten, daneben knallgelbe Plastikblumen. Der Anblick hatte etwas Schwindelerregendes. Kaum hatten wir Koffer und Seesack auf dem Boden abgestellt, eilte schon der Verkäufer aus dem Imbiß-Kabuff heran und fuchtelte mit den Händen herum. »Nie, nie!« rief er und war so aufgebracht, daß ich Angst hatte, er würde unser Gepäck gleich aus dem Fenster werfen. Renate blieb gelassen, antwortete etwas in polnisch und begann zu bestellen. Schlagartig hellte sich das Gesicht des Verkäufers auf, und ohne noch ein Wort über den Koffer und den Seesack zu verlieren, machte er sich an die Arbeit. In den nächsten fünf Stunden blieb das Bistro-Abteil vom Ansturm der Zuggäste eigenartig unberührt; bis auf die Rucksacktouristen, die sich Cola holten, und eine alte Dame mit grell blondiertem Haar und violettem Lippenstift, die die Tagessuppe nahm, kam niemand. Wahrscheinlich, überlegte ich, fuhren in erster Linie Einheimische, die sich die Preise des Bord-Bistros nicht leisten konnten, von Szczecin nach Gdynia. Ich kam mir ein wenig seltsam vor, wie ich einmal pro Stunde nach vorne lief, um eine weitere Bestellung aufzugeben, für Getränke und Sandwiches ein Viertel von dem bezahlte, was sie im deutschen Zug gekostet hatten. Als ich aus dem Fenster schaute - wir passierten gerade Siupsk -, entdeckte ich einen deutschen Lastwagen mit der Aufschrift: »Schäfer, Büroeinrichtungen, D-57290 Neunkirchen, Siegerland«. Siegerland, das muß für einen des Deutschen kundigen Polen merkwürdig 289 klingen, dachte ich, und gleichzeitig ging mir durch den Sinn, wie absurd es war, daß ich gerade diesen LKW hier entdeckte. Wenn ich das Christian oder Paul später in Berlin erzählte, würden sie bestimmt sagen: »Das erfindest du jetzt, nun übertreib mal nicht.« Lange konnte ich den Lastwagen nicht verfolgen, denn plötzlich stand der Verkäufer wieder neben mir und fuchtelte herum. Dann packte er mich an der Schulter und zeigte auf zwei, drei Servietten, die aus ihrem Sechziger-Jahre-Marienkäfer-Halter, vom Wind in Bewegung gebracht, auf den Boden segelten. Mit einem entschlossenen Ruck stemmte der Verkäufer das Fenster wieder hoch. »Nie, nie, nie!« Seine Laune hellte sich erst wieder auf, nachdem ich eine Portion Schaschlik, einmal Tagessuppe und zweimal Orangensaft bestellt hatte. Am Abend kamen wir in Gdynia an. Den restlichen Teil der Fahrt hatten wir ausgerechnet Schiffe versenken gespielt. Wir hatten einfach auf zwei Servietten zehn mal zehn Kästchen gemalt, uns über die Schiffsgröße bzw. Kästchenanzahl unserer »Flotten« verständigt, und schon ging es los. Treffer, versenkt, Treffer, Treffer. Meine Mutter schlug mich in vier Runden vernichtend, systematisch kämmte sie meine Gewässer durch und bombte, was das Zeug hielt. Meine Treffer nahmen sich dagegen äußerst bescheiden aus. Ihre längsten Schiffe gingen mir bis zum Schluß durch die Lappen, während sie noch in den hintersten Ecken meine U-Boote aufspürte und versenkte. Nach vier Spielen gähnte meine Mutter und wollte aufhören, ich war einfach keine adäquate Gegnerin. Also las ich noch etwas in einer Fachzeitschrift über das Phänomen »El Nino«, während meine Mutter die Augen schloß und sich vom Zug schaukeln ließ. Der Bahnhof von Gdynia war ein altes Gebäude, das noch vor dem Krieg gebaut worden sein mußte. Mir fiel auf, wie kühl es hier trotz der hochsommerlichen Temperaturen war. Die dicken Wände waren von Staub und Schmutz bedeckt, nur wenige Lampen erhellten die düsteren Hallen und Flure. Leuchtreklamen, handgeschriebene Produktwerbungen, Plakate und Informationen hingen überall, auf Hinweis-Tafeln fehlten Plastikbuchstaben; wie bei einem Lückentext mußte man die entsprechenden Vokale und Konsonanten im Geist ergänzen. Irgendwo las ich vor einem schummrigen Licht »Salon Gier«, und ich erinnerte mich, daß dies nichts weiter als »Spielothek« auf polnisch hieß. »Warszawa Centralna«, der Warschauer Bahnhof, war schon vor zehn Jahren in bedeutend besserem Zustand gewesen. Meine Mutter ging sofort zur Touristen-Information, zehn Minuten später traten wir, vom Licht geblendet, nach draußen, um gleich darauf wieder ins Dunkel eines Taxis mit getönten Scheiben zu tauchen. »Hotel Dom Ma-rynarza, Aleja Pilsudskiego i - prosze«, gab Renate an den Fahrer weiter. Wir rasten eine breite Straße entlang, die vom Meer nur noch durch eine Plattenbauwand getrennt war; oben von Abgasen geschwärzte Balkons, unten kleine Lädchen aller Art; viel »ryby«, Fisch, wurde verkauft. Mir fiel wieder auf, daß manche Geschäfte einfach nur mit »sklep«, Laden, beworben wurden. Die Räder des Taxis quietschten, wir nahmen eine scharfe Kurve nach links und sahen im nächsten Moment das Meer. Riesige Schiffe, war das erste, was ich dachte. Das Hotel lag zwei Minuten vom Strand entfernt und war ein großer Kasten aus der Ära des Realsozialismus mit imposantem, beflaggtem Portal. »Kennst du diese Gegend noch von früher?« fragte ich, während wir die Treppen hochliefen. Neben unserem 291 stand ein weiteres realsozialistisch anmutendes Hotel, auf dem Dach die großen grauen Neon-Blockbuchstaben ANTRACYT. Renate schüttelte nur den Kopf, ohne sich umzudrehen. Während der ganzen Fahrt hatte ich sie beobachtet, auf Anzeichen von Aufregung oder gespannter Neugierde geachtet, aber sie hatte nicht anders gewirkt, als wenn wir zum Schlachtensee picknicken fuhren. Renate hatte hingebungsvoll Obst geschält, in, wie es schien, ruhigem Einverständnis mit ihrer Umgebung, dem Ziel der Reise, der Reise selbst. Kurz dachte ich daran, wie meine Mutter und ich uns in Hannover verpaßt hatten, wie ich ihr nachgeschaut, sinnlos an die Plexiglasschreibe geklopft hatte. Ich hatte Renate nie von dieser Nicht-Begegnung erzählt. Wozu von einem ebenso traurigen wie irreversiblen Ereignis erzählen, wozu sie unglücklich machen, hatte ich gedacht und versucht, das Bild ihrer zielstrebig von mir forteilenden Schritte, ihres kleinen, geraden Rückens, der unablässig auf ihrem blonden Haar zitternden Spange und unsere sich in unterschiedliche Richtungen in Bewegung setzenden Züge zu vergessen. Unser Hotel hielt innen, was es von außen versprach: Das Foyer war holzgetäfelt, mit einer riesigen Weltkarte und vielen kleinen Wimpeln versehen. Rettungsringe mit dem schwarzen Schriftzug »Viking Gdynia« schmückten die Halle. An einer Wand konnte man Wappen bewundern: »Mare Confidemus«, »Port of Southampton«, »Leszno«, weiter oben konnte ich die Namen auf Schiffsbäuchen, Walen oder auf Spruchbändern zwischen Löwenkrallen nicht mehr lesen. Ich sah zu meiner Mutter, die sich mit großer Selbstverständlichkeit mit einem jungen Mädchen in einer blütenweißen Bluse an der Rezeption auf polnisch unterhielt. Ob es sie wohl freut, wenn man sie für eine Polin hielt, fragte ich mich. Ich dachte an Fotos der von den Deut- schen geplünderten und zerstörten polnischen Städte, selbst die Kirchenglocken hatten die Deutschen mitgenommen, um das Metall einzuschmelzen. Die Grausamkeit, den tiefgläubigen Polen ihre Kirchenglocken zu stehlen, hatte mich lange Zeit, so irrational dies war, mehr erschüttert als die Tatsache, daß insgesamt sechs Millionen Polen umgebracht wurden oder im Krieg fielen. Ich stellte mir die Stille vor, nach der Einnahme der Stadt durch den Feind. Das Ausbleiben des mittäglichen Glockenschlags. Die Hochzeit, die Beerdigung ohne Glocken. Von diesen Dingen hatte Renate einmal erzählt, plötzlich im Zug, als wir zu Onkel Kazimierz fuhren. Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, daß die »Unvermitteltheit« meiner Mutter daher rührte, daß nur für Außenstehende ein Thema überraschend angeschnitten wurde, sie aber innerlich die ganze Zeit mit ihm beschäftigt war. Wie im Zugbistro war ich auch auf unserem Zimmer von den knalligen, kontrastreichen Farben, die offenbar mit der Öffnung der Grenzen Einzug gehalten und die matten Töne ersetzt hatten, überwältigt: der Teppich bordeauxfar-ben mit grünen Blumengirlanden, die Bettdecken in Hellblau, Violett und Rosa gestreift und mit weißen Wellenlinien versehen, die Vorhänge wiederum waren cremefarben mit orangen und hellgrünen Ornamenten. So hatte ich mir einen LSD-Trip vorgestellt. Ansonsten war die Einrichtung solide, Holztäfelung bis Hüfthöhe, ein robustes Tischchen mit Ikea-artigen Stühlen, ein etwas älteres Fernsehmodell und ein frisch renoviertes Bad. Es war früher Abend, und wir beschlossen, einen Spaziergang zum Hafen zu machen. Ich wurde plötzlich so aufgeregt, daß ich Herzklopfen bekam. Statt den Aufzug zu nehmen, ging ich diesmal die Treppen hinunter. Auf jedem Zwischenstockwerk fielen mir große, reliefartige Schiffsbilder auf. Auf jeder Etage ein anderes Schiff, alles Frachtschiffe, die harte Arbeit nahelegten. Auf unserem 293 Stockwerk konnte man im aufgeschnitten dargestellten Schiffsbauch plastisch hervorgehobene Kohleberge bewundern. Eine Etage tiefer Zement oder Sand. Im Foyer rief ich schnell Paul an. Als ich ihm erzählte, daß wir im Zug Schiffeversenken gespielt hatten, meinte er, das sei ein gutes Zeichen. Meine Mutter hatte sich, während ich mit Paul telefonierte, umgezogen und trug nun ein schickes blaues Kleid, das ihre schlanke Figur gut zur Geltung brachte. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt, was sie selten tat, und sogar ein wenig Lippenstift aufgetragen, als wolle sie dem Hafen Reverenz erweisen. Auf der Promenade mußten wir kichernden Mädchengruppen mit T-Shirts, auf denen in Brusthöhe »Keep your distance« stand, ausweichen; ältere, stark blondierte Damen mit leichten Sportjacken in Tigermuster oder betont jugendlichen Farben und weißhaarige Herren mit Schirmmützen liefen Hand in Hand mit Badetaschen vor uns. Der Einzug westlicher Moden war hier unübersehbar. Plötzlich standen wir mitten in einem Rentnertrupp; die ungefähr dreißig rüstigen Senioren trugen weiße T-Shirts mit der Aufschrift »Spotkania« in Einheitsgröße, so daß bei manchen Männern der Bauch hervorlugte, einigen Frauen aber der Stoff bis fast in die Kniekehlen hing. Sie redeten lebhaft in russisch und deutsch miteinander. »Da hinten lagen die Schiffe, und das Zwanziger-Jahre-Haus steht auch noch!« rief eine Frau in breitem schwäbischem Dialekt, die völlig überflüssigerweise einen pinkfar-benen Regenschirm mit sich führte. Renate und ich waren also nicht die einzigen, die sich hier auf Spurensuche gemacht hatten. Die Promenade war von unzähligen kleinen Buden gesäumt, an denen man Kodak-Filme, Postkarten, Sonnenbrillen, Schlüsselanhänger, Karabinerhaken in Neonfarben, Süßigkeiten und Getränke kaufen konnte. Am Ende der Promenade befand sich unmittelbar vor dem Hafen ein Sandstrand, wo trotz des einbrechenden Abends immer noch Kinder im Wasser herumsprangen, Jugendliche sich lachend nasse Handtücher auf die Rücken klatschten und Verfolgungsjagden veranstalteten, Mütter Kinder riefen, Väter Kinder huckepack nahmen und mit ihnen jenseits der durch Bojen markierten Grenze schwammen. Ein Eisverkäufer bahnte sich seinen Weg mit zwei großen Kühltaschen durch das Gewimmel brauner und blasser Gliedmaßen, bückte sich, um Geld entgegenzunehmen und Eis am Stiel auszuteilen. Ich bemerkte, wie meine Mutter sich schüchtern umschaute und sehr langsam ging, als wäre ihr das ganze Treiben nicht geheuer. Als wir am Meer standen, zog sie hastig eine ihrer Sandalen aus und tauchte einen Fuß vorsichtig und kurz ins Wasser. Dann streifte sie gleich wieder ihren Schuh über, sah sich um, ob jemand sie beobachten haben könnte, und trat zurück. »Freia, als ich das letztemal hier war, herrschten zwanzig Grad minus ...«, sagte sie dann leise. Und ich dachte an Jos Beschreibungen der Januartage des Jahres 45, dachte wieder an die Schwarzweißbilder, die ich von der Stadt und dem Hafen kannte. Für einen Moment wurde mir schwindelig. Vielleicht, weil ich wieder starke Bewegungen in meinem Bauch spürte, vielleicht, weil mir meine Umgebung auf einmal vollkommen irreal vorkam. Die Tatsache, daß es jetzt Hochsommer war und wir auf Besuch in einer Art polnischem Mallorca waren, drang nicht recht zu mir durch. Die Fotos, die Erzählungen waren meine Wirklichkeit gewesen, und ich wußte nicht, wie ich sie auch nur im entferntesten mit dieser gelösten Strandatmosphäre in Übereinstimmung bringen sollte. Mir schien, jemand könnte gleich eine Leinwand vor mir hochziehen, hinter der die »Gustloff« zum Vorschein kommen würde, das Schiff von dicht gedrängten, 295 in dicke Mäntel und Schals gehüllten Menschen umgeben, am Horizont schwarzer, hochaufgetürmter Cumulonim-bus. »Wollen wir noch bis zum Hafen weiterlaufen?« fragte ich meine Mutter. Sie zuckte die Schultern, plötzlich eigentümlich entschlußlos. An den Buden entlang schlenderten wir zum Hafen. Tatsächlich erkannte ich sofort den Bau mit dem runden, halb gläsernen Turm, der auf jedem alten Foto von Gotenhafen zu sehen ist. An der Fensterfront hing ein sehr langes giftgrünes Plakat mit der Aufschrift »Idea«. Im Hafen lagen riesige Schiffe, größtenteils ziemlich rostig, Wasser aus Schiffskiappen hatte eine braune Spur auf dem weißen Lack hinterlassen, die Farbe der Container auf den großen Frachtern, die einfuhren oder etwas entfernt vom Hafen »parkten« und auf ihr Signal warteten, blätterte ab. Schiffsmotoren brummten, Männer liefen hektisch herum, winkten, gaben Anweisungen. Weiter am Horizont sahen wir riesige Hebewerke. Der Frachthafen schien sich endlos hinzustrecken. Mit meinem Minifernglas sah ich zu, wie zwei mächtige Schiffe - die »Antarc-tica« und die »Baltica« (doch auch sie würden nach meinem Augenmaß noch nicht die Länge der »Gustloff« erreichen) - unter majestätischem Hupen in Richtung Hafen fuhren. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Renate borgte sich nun mein Fernglas. »Da hinten kommt noch ein Tanker«, murmelte sie und hob das Kinn in Richtung Horizont, wo ich ohne Fernglas natürlich nichts als die roten und violetten Töne der Dämmerung sehen konnte. Plötzlich stutzte ich: Ein Wikingerschiff tauchte unvermittelt direkt vor uns auf. Im Gegensatz zu den anderen Schiffen war es frisch gestrichen, das Segeltuch leuchtete in den polnischen Nationalfarben, rot und weiß. Lautes Johlen wehte zu uns herüber, Menschen 296 tanzten jetzt in einer langen Reihe über das Deck. Renate schüttelte den Kopf. »So was gab's damals nicht.« Am Kai lag ein Mihtärschiff mit dem nüchternen Namen »H 34«, das sich von nahem als Museumsschiff entpuppte; nun war es allerdings schon zu spät, es zu besuchen. Ich fand, daß es sehr modern aussah mit seinen vielen schmalen Kanonen an Bord, die pfeilartig in alle Richtungen wiesen, aber Renate erläuterte mir, daß es noch dampfbetrieben sei und Kriegsschiffe heute nicht mehr so aussehen würden. Im Weitergehen entdeckte ich eine kleine Stelltafel, deren polnischen Text ich bis auf die Jahresangabe »1944« nicht richtig lesen konnte. Dem Kriegsschiff folgten unmittelbar Restaurant- oder Hotelschiffe, deren Eingänge mit Lichterketten geschmückt waren. Vor der »Bar Uniwersalny« drängelten sich polnische und deutsche Touristen. Volksmusik drang aus vor der Reling aufgebauten Lautsprechern, ein Mann mit Zylinder spazierte an Deck und plapperte ohne Unterbrechung, bisweilen sang er mit. »Hier war's«, sagte meine Mutter knapp. Und danach, ohne zu zögern: »Laß uns irgendwo einen Happen essen gehen, Freia.« Ich hakte mich bei meiner Mutter ein, um ihr nahe zu sein; auf der gegenüberliegenden Dock-Seite las ich noch die Schriftzüge »Klub Studencki« und »Klub Marynarki«. In einem der grauen Kästen aus den zwanziger Jahren, die offensichtlich nach der Wende noch nicht renoviert worden waren, flackerte Disko-Licht. »Möchtest du lieber in die Kawiarnia Letnia oder in die Restauracja Akwarius?« fragte meine Mutter nach langem Schweigen. »Mir liegt das Schaschlik aus dem Zug noch schwer im Magen, laß uns was Kleines essen«, schlug ich vor. Nachdem wir beide in der Kawiarnia Letnia einen Salat und ein Piwo Amber bestellt hatten, erläuterte Renate mir 297 einige grammatikalische Besonderheiten der polnischen Sprache und brachte mir ein paar neue Redewendungen bei. Ich wartete die ganze Zeit auf eine Äußerung, eine Bemerkung von ihr, die mir etwas darüber verriet, was in ihr vorging, aber sie beschäftigte sich für den Rest unseres Abendessens damit, ein Stück Brot, das uns mit dem Salat gebracht worden war, an eine Möwe zu verfuttern. Schließlich tranken wir schweigend unser Bier aus und machten uns auf den Rückweg. Die fliegenden Händler waren nun von der Strandpromenade verschwunden, dafür grölten einige angetrunkene Jugendliche herum, kickten Bierdosen und taten so, als würden sie einander von der Brüstung stürzen wollen. Als sich ein großer Frachter mit einem lauten Hupen ankündigte, blieb ich stehen. Das Schiff hatte riesige Aufbauten und einen gewaltigen Bug. Sein Herkunftsland oder seinen Namen konnte ich trotz des Fernglases nicht feststellen. Wie mußte der Hafen von Gdynia wohl damals ausgesehen haben, als fast die gesamte den Deutschen noch verbliebene Kriegs- und Handelsflotte hier versammelt war. Ich zog einen Stadtplan aus der Hosentasche, den ich mir im Hotel mitgenommen hatte, und warf einen Blick auf die Hafenanlage. Die vielen Hebewerke in der Ferne waren nur kleine Indikatoren für die wirkliche Größe des Hafens, das Gelände samt Frachtbahnhof, Lagerhallen und Zufahrtswegen war weitaus größer als die gesamte Stadt! Ich entdeckte sogar Docks für den Schiffsverkehr nach Albanien und Indien. Und westlich von unserer Strandpromenade, auf der man vom Hotel bis zum ersten Dock auch schon eine halbe Stunde lief, erstreckte sich noch ein endloser Sandstrand bis über Sopot, ja bis über den Rand der Karte hinaus. »Bist du da manchmal gewesen?« fragte ich Renate, die jetzt zu mir getreten war und auch auf das Schiff in der Ferne schaute. Nun blickte sie auf die Karte, verfolgte den 298 Weg meines Fingers. Und sie nickte. Mir fiel wieder eines der wenigen Kinderfotos ein, die ich von meiner Mutter gesehen hatte: Renate hockte neben Jo, die einen unglaublich altmodischen Badeanzug trug, vor einer Sandburg, ein Schippchen in der Hand, die Augen wegen der Sonne etwas zusammengekniffen. »Aber so viele heiße Sommer gab es hier damals nicht«, fügte sie noch schnell hinzu. Ich beschloß, die Tatsache, daß Renate vielleicht doch ein wenig in Redestimmung zu sein schien, auszunutzen. »Und hast du damals die vielen Kriegsschiffe bewußt wahrgenommen, ich meine, wußtest du, warum die hier stehen ...?« Renate zuckte die Achseln. »Guck mal, der große Pott kommt langsam heran ...« Sie starrte auf das in der Abendsonne aufleuchtende Meer, das für das riesige Schiff einen endlosen roten Teppich ausgelegt zu haben schien. Schließlich murmelte sie: »Nein, ich weiß nur, daß ich damals die Kriegsschiffe langweilig fand, weil die alle nur grau waren. Die KdF-Schiffe fand ich hübscher.« »Und erinnerst du dich, worüber Jo und Mäxchen in dieser Zeit so geredet haben? Hast du etwas von Stalingrad mitbekommen? Wie haben sie das kommentiert?« »Freia, Stalingrad kommentiert, da war ich ein Kleinkind! Keine Ahnung ... Einmal hat Mäxchen >Russe< gespielt und meine Sandburg kaputtgemacht, einfach so, einmal mit dem Stiefel draufgetreten, das weiß ich noch ...« »Hast du da geweint?« »Und wie. Vati hat nie wieder >Russe< mit mir gespielt.« »Mama, warum bist du immer so oft nach Polen zu Onkel Kazimierz gefahren? Was hast du da eigentlich gemacht oder beredet?« Mein Blick hing an meiner Mutter. Seit über zwanzig 299 Jahren war sie mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder heimlich verschwunden. Und jedes einzelne Mal hatte meinen Bruder und mich die Angst gequält, sie könnte einmal nicht mehr zurückkehren. »Kazimierz war der einzige, bis auf meine Eltern, der Bescheid wußte, Freia. Er war der einzige, der genau wußte, wie und warum wir auf das Minensuchboot gekommen sind. Deshalb war er meinen Eltern gar nicht geheuer. Sie hatten Angst, daß er mir fern von ihrem Zugriff Dinge erzählt, die mich gegen sie aufwiegeln könnten. Immer wieder haben sie auf die eine oder andere Weise versucht, unseren Kontakt zu unterbinden. Daß wir privilegiert, als Nazis der ersten Stunde seit langem sehr privilegiert waren und dadurch natürlich Fluchtvorteile besaßen - Flucht war ja nicht gleich Flucht! -, das war allgemein bekannt. Nicht aber meine persönliche Verstrickung. Das habe ich Kazimierz Jahre später in einem ziemlich verworrenen Brief geschrieben - irgend jemandem mußte ich mich ja anvertrauen! Nachdem ich alt genug war, um richtig zu begreifen, daß dieses riesige Schiff in der gleichen Nacht gesunken ist - die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten, Freia - und was für Folgen mein Handeln gehabt hat. Weißt du übrigens, daß ich nie wieder in meinem Leben ein Schiff betreten habe? Ich meine, ein richtiges, nicht so eine Fähre zur Pfaueninsel. Schon wenn ich nur das Wort >Schiff< denke, meine ich, daß der liebe Gott, wenn ich es je wagen sollte, einen Fuß auf so ein Ding zu setzen, mich gleich bestrafen würde! Und meine Eltern taten immer so, als wäre ich die Lebensretterin. Tante Lena und Onkel Kurt genauso. Tante Lena war ja auch dabei. Nachher waren sie alle so schön demokratisch und so weiter, aber ich hab's anders im Ohr.« Ich starrte auf das Wasser, das sich in schmutzigen Strudeln vor der Brüstung drehte. Ich hatte auch Angst vor Wasser, vor seinem Sog, vor großen Schiffen - die Bilder der sinkenden »Estonia« im Fernsehen hatten einen stär- keren Eindruck bei mir hinterlassen als viele andere Katastrophen. Vor Seekrankheit, vor Schlingpflanzen, vor großen Fischen, vor Quallen, vor zersplittertem Glas, in das man barfuß läuft, vor allem dort unten fürchtete ich mich. Der Himmel war mir lieber. »Und wie hat Kazimierz darauf reagiert, auf deinen Brief meine ich?« »Der hat mir gleich zurückgeschrieben. Also, was heißt gleich. Gleich geschrieben ja, aber bis damals die Post ankam ... Kazimierz war ja sechs Jahre älter als ich, der wußte also schon mehr von all dem, was da draußen passiert war. Er schrieb mir, ich weiß das noch heute auswendig: >Du bist nicht schuld daran, aber deine Eltern. Die haben schon immer den Arm höher gekriegt als alle anderen. Hat meine Mutti gesagt. Bin aber schrecklich froh, daß du lebst, NatiÜ! Immer-Dein Kazi.«< »Und dann war Kazimierz so ein bißchen der große Bruder, mit dem du reden konntest, in all den Jahren danach?« »Ja, wir haben viel geredet. Auch viele Wässerchen zusammen getrunken, aber vor allem geredet. Ohne Kazimierz ...« Meine Mutter beendete den Satz nicht und schloß die Augen. Ich starrte auf die öligen Schlieren in der einst deutschen, jetzt polnischen Bucht, Schlieren, in denen sich ein Kaugummipapier, eine Zigarettenschachtel und ein hüpfender bunter Ball, den ein Kind vielleicht zu weit geschossen oder an irgendeiner anderen fernen Küste verloren hatte, immer schneller um sich selbst drehten. »Und warum, glaubst du, hat Kazimierz sich umgebracht?« Ich sah meine Mutter fest an und erwartete eine Offenbarung. Das Herz schlug mir bis in den Hals. Meine Mutter warf ein Stück ihres Brots, das sie von der Kawiarnia mitgenommen hatte, einer herantrippelnden Möwe hin und schwieg. Ich wurde unruhig, ich hatte sie 301 oft genug schweigend erlebt. Aber Renate zuckte mit den Schultern. »Freia, ich weiß es wirklich nicht, hab mir darüber natürlich auch den Kopf zerbrochen.« »Nichts, was du mir wieder nicht erzählen willst?« »Freia, nein. Es ist überhaupt nichts in seinen letzten Lebensjahren passiert, soweit ich weiß - und ich glaube, ich weiß ganz gut über ihn Bescheid -, das dafür Anlaß gegeben haben könnte. Es ging ihm ja eigentlich immer besser ...« Ich schaute zu, wie meine Mutter zwei, drei weitere Brocken warf und einige Möwen sie im Flug auffingen. In Sekundenschnelle waren sie dann mit ihrer Beute aus unserer Sichtweite verschwunden. »Aber weißt du, Freia ...«, setzte Renate noch einmal an, »ich glaube einfach, daß dein Onkel sein Leben lang depressiv war. Vielleicht reicht es, das ... das erlebt zu haben, was er erlebt hat: als Kind im zerbombten, entvölkerten Warszawa aufgewachsen zu sein« - meine Mutter sagte immer >Warszawa< - »und die eigenen Eltern gleich in den ersten Jahren nach dem Krieg verloren zu haben. Vielleicht ist da eben doch kein Wässerchen stark genug, ich weiß es nicht, Freia, ich weiß es wirklich nicht. Das ist es aber, was ich glaube. So eine grundsätzliche, mit nichts zu stillende Melancholie.« Ich starrte in den jetzt schieferfarbenen Himmel, die Farbe, die ich am meisten haßte, und dachte nach über die Worte meiner Mutter. Mein so theatralischer Onkel und meine so spröde Mutter, seelenverwandt, doch, ich hatte es immer gewußt. Gewußt, wenn meine Mutter ihre plötzlichen Energieschübe bekam und auf ungesattelten Pferden einfach davonritt mit vorgerecktem Kinn, gewußt, wenn mein Onkel mich in Warschau an die Hand nahm und ich die überraschende Zartheit, Weichheit seiner ungewöhnlich kleinen, zierlichen Hände spürte. Gewußt, als ich in Warschau Lakritzpastillen lutschte und an den Mund meines Onkels denken mußte, dessen Lächeln in sich zusammenfallen konnte, als hätte man die Fäden einer Marionette aus der Hand gelassen. Geahnt, wenn ich die Katjes-Lakritz-kätzchen in umgedrehten Deckeln von Einmachgläsern bei Renate in der Küche sah. »Manchmal frage ich mich nur, welche Lebensberechtigung ich eigentlich noch habe, wenn schon jemand, der nur Opfer war, sich später umbringt ...« Meine Mutter verweigerte einer direkt vor ihren Füßen hockenden Möwe das letzte Stück Brot und steckte es sich selbst in den Mund. »Renate, du warst damals ganze fünf Jahre alt!« sagte ich vorwurfsvoll - vielleicht in einem Tonfall, den meine Mutter oft von ihrer Mutter gehört hatte. Jedenfalls schien Renate keinen Heller auf das zu geben, was ich da gerade gesagt hatte. Sie schaute den Möwen nach, die kreischend spiralenförmige Bahnen zogen, bis sie vor unseren Augen im schieferfarbenen Nichts verschwanden. Da entdeckte ich auf einmal etwas. Ich griff nach meinem Minifernglas und starrte in den Himmel. Eine Wolke, wie aus Seide, aus unendlich fein verschütteter Milch, aus Spucke, durchsichtig wie der so eigenartig fleischlose Körper von Quallen und doch deutlich erkennbar ihre Ränder, dort oben, in ich schätzte 15000 Meter Höhe, leicht bewegt. Im nächsten Moment lag ich trotz meines Bauches der Länge nach auf dem Boden und richtete meine kleine Digitalkamera direkt in den Himmel über mir. Ich zitterte, ich verschoß eine Unzahl von Bildern, ich spürte meinen Herzschlag in meinen Schläfen. Meine Mutter schenkte meinem Treiben, das ihr seit jeher geläufig war, keine weitere Beachtung. Später, meine Mutter schlief schon, sah ich mir noch einmal in Ruhe meine Fotos an und war höchst zufrieden. Wenigstens ein paar waren nicht verwackelt. Ich beschloß, 302 die Neuseelandreise abzusagen, denn ich war nun am Ende des achten Monats, der Druck und die Strahlung während des Flugs hätten sich negativ auf das Kind auswirken können, außerdem hatte ich keine Lust, Christian so lange nicht zu sehen, und das Kind drückte auf meine Blase, ich mußte andauernd auf die Toilette - mir graute vor dem Zwanzig-Stunden-Flug. Wenn Dr. Remler wüßte, was ich nicht auf der Südhalbkugel, sondern eine Tagesreise von zu Hause entdeckt hatte! »Clouds For The 21 st Century« -ein abgeschlossenes Projekt. Ich beschloß, meinen Doktorvater noch etwas zappeln zu lassen, und schickte am nächsten Morgen zuerst Tuben eine SMS, der sofort begeistert antwortete: »Wir zs. im n. Jahr 1 Sympos. über Wolken als >Ge-schichtsspeicherkosmische Hintergrundstrahlung<. Etwas, das immer da ist.« Ich nahm Pauls Hand. Mein Blick glitt hinaus auf die Akazie im Hof. Hin und her schwankten ihre Zweige, bewegt von einer unsichtbaren Kraft. »Weißt du, Freia, inzwischen kann ich sogar Wieland verstehen ...« Mein Bruder brach ab und schien in meinem Gesicht eine Gefühlsregung zu suchen. »... der uns beide geliebt hat und, wie ich glaube, aus dem gleichen Grund verlassen hat ... mir ist egal, ob er schwul, hetero oder bi ist, ob das eine oder andere eine Jugendphase war oder nicht ... er hat dich nicht verlassen, weil du eine Frau bist, und mich nicht, weil ich nicht der richtige Mann für ihn war, sondern weil er unser Familiendickicht, die Stille am Stadtrand, diese Westberliner Provinzidylle nicht mehr ausgehalten hat! Ich bin Wieland nicht mehr böse, aber ich will nicht so werden wie er ... so rastlos und bindungslos ... Ich hab dir übrigens noch gar nicht erzählt, daß ich vor zwei Monaten wieder eine Karte von ihm bekommen habe ... ein ziemlich verwackeltes Foto, darauf er mit einer jungen, knabenhaft aussehenden Asiatin, irgendwo an einem schäumenden Meer. Den Poststempel hab ich nicht richtig lesen können. Naja. Er ist auf eine seltsame Art anhänglich, findest du nicht? Jemandem, den man nie mehr gesprochen, geschweige denn gesehen hat, nach über zehn Jahren noch Karten zu schreiben ist doch seltsam, oder? Als hätten wir, die er verlassen hat, für seine innere Orientierung immer noch eine enorme Bedeutung. Vielleicht sind wir so etwas wie sein, sagen wir mal, personifizierter Ausgangspunkt. Wahrscheinlich braucht er uns jetzt viel mehr als wir ihn. Er muß diese Karten schreiben - und wir warten schon lange nicht mehr auf sie ... aber worauf ich nicht warten will, ist, daß dieses Rauschen, diese seltsame Hintergrundstrah- 317 lung in meinem Kopf einmal von selbst aufhört. Vermutlich erst, wenn ich sterbe ...! Ich muß etwas dagegen tun, Freia. Ich möchte hier in Frieden leben und Jacques nicht immer mit unserer Geschichte belasten, und deshalb müssen wir dieses Buch schreiben, Freia. Ich sehe es jetzt schon vor mir: Ein 6-Uhr-winterblauer Deckel, ein Ostsee-Karten-Ausschnitt, ein untergehendes Schiff, einige fahl leuchtende nächtliche Wolken. Die Buchstaben >Him-melskörper< gleiten über ...« »Wieso Himmelskörper?« unterbrach ich ihn. »Das habe ich mir so ausgedacht. Einfach so.« »Aber Wolken sind doch keine Himmelskörper, Paul.« »Nun sei bitte nicht gleich wieder so zwanghaft!« »Na gut. Den Titel bestimmst du also. Aber ansonsten überlasse ich das Schreiben nicht dir allein, das wird wirklich eine Gemeinschaftsarbeit«, forderte ich. »Du hast sogar gewisse Vorrechte, finde ich. Denn du hattest ja einen Wunsch frei. Wir schreiben also deine Geschichte, in die meine mit aufgeht. Mir reicht es, wenn ich die >Dekoration<, die Sprache bestimmen kann. Die Fakten habe ich sowieso nicht halb so gut wie du im Kopf ... Struktur und Entwicklung ist auch eher dein Feld ... Freia, es fängt an zu gewittern, laß uns schnell die Fenster zumachen!« Als ich später mit Jacques am Herd stand, schloß ich für einen Moment die Augen. Das Knistern der Zwiebeln, die ich gerade anbriet, und die Wärme an meinem Gesicht versetzten mich in ein Gefühl erregter Vorfreude. Pauls und meine Einheit: Wenn schon nie mehr in Wirklichkeit, dann wenigstens einmal auf der Welt, in einem Erinnerungsstück, an einem »Ort«: Papier, so leicht wie Wolken, Luft, wie Cirrus Perlucidus, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt habe und der unter meinem Kopfkissen spielend Platz finden könnte. 318 Danksagung Ich danke Anton Landgraf für seine Liebe und Anwesenheit. Bei Angela Drescher möchte ich mich für das feinfühlige Lektorat bedanken. Mein Dank gilt ferner Margarethe und Alexander Dückers, Daniel Dückers, Hans Schmöle (|), Anne Ursel Schmöle, Hildegund und Oswald Hölscher, Ursula Krechel, Robert Schindel, Nina Petrick, Franz Stintz, Caroline Hartge, Elzbieta Zimmermann, Stephan Schmidt, Tanja Krüger, Uwe-Michael Gutzschhahn, Elisabeth Scharf und Kurt Ruhstorfer, Jutta Schiecke, Patrick Wilden, der Max-Kade-Stiftung und dem Allegheny College in Pennsylvania/USA, insbesondere Peter Ensberg und Roz Macken, sowie dem »Deutschen Haus«, dem »Baltischen Zentrum« auf Gotland/Schweden, insbesondere Gerda Lindskog und Lena Pasternak, für Informationen, Recherchehinweise, Reisebegleitung, Leseresonanz oder die freundliche Vergabe eines Stipendiums für diesen Roman. Besonderer Dank gilt der französischen, in Berlin ansässigen Künstlerin Geraldine de Faucher, die Pate stand für Pauls eigenwillige Art der Bildbetitelung durch Zahlen. Pauls Bilder selbst sind alle vollständig erfunden. Mit besonderem Gewinn habe ich das Werk »Die Erfindung der Wolken. Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmels erforschte« (Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2001) von Richard Hamblyn gelesen. Dank auch post mortem an Mozart, Beethoven, Dvorak, Rachma-ninow, Strawinsky und Townes Van Zandt - und ante mortem an Johnny Cash, Cowboy Junkies, The Thievery Corporation, Denzel & Huhn, Mane-Cecile Rebes und Jazzbo - ohne ihre Musik wäre die Arbeit an diesem Buch sehr viel beschwerlicher gewesen. 319