Genus und Flexionsklasse bei morph. komplexen Wörtern 1. Morphologisch einfache und morphologisch komplexe Wörter Der Wortschatz lässt sich in zwei großen Gruppen einteilen: · morphologisch einfache Wörter, · morphologisch komplexe Wörter. Morphologisch einfach sind Wörter, die keine interne morphologische Struktur aufweisen: Sie sind nicht mit Hilfe von Suffixen von anderen Wörtern abgeleitet. Zum Beispiel machen Morphologisch einfache Substantive den Kern des Wortschatzes aus (z. B. Haus, Wald, Stadt, Blume). Ihre Zahl ist jedoch begrenzt. Bei morphologisch einfachen Substantiven lässt sich das Genus in den meisten Fällen nicht eindeutig am Wort bestimmen, vgl. z. B. Sand (m), Land (n), Hand (f); in vielen Fällen muss man solche Substantive zusammen mit dem Genus lernen. Morphologisch komplexe Wörter haben eine interne morphologische Struktur: Sie enthalten Suffixe (Derivate) oder sind aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzt (Komposita). Morphologisch komplexe Wörter entstehen durch Ableitung (Derivation) von anderen Wörtern bzw. durch Zusammensetzung (Komposition) lexikalischer Stämme. Da viele Derivationsmuster entweder heute noch oder in einer früheren Phase der Sprachentwicklung produktiv sind/waren, gibt es eine unübersehbar große Zahl von morphologisch komplexen (abgeleiteten) Wörtern. Die Suffigierung (Ableitung durch Suffixe) ist besonders bei Substantiven sehr produktiv. Bei Verben ist sie auf einige wenige Fälle (v. a. -ier, -el, -er) beschränkt (vgl. Meibauer 2007: 30 Zwischen den beiden Typen gibt es eine unscharfe Übergangszone mit Wörtern (unten Substantive als Beispiele), bei denen aus synchroner Sicht schwer zu entscheiden ist, ob sie als einfach oder komplex betrachtet werden sollten: - unproduktive oder nur noch schwach produktive Suffixe, die synchron nicht mehr als Suffixe, sondern als feste Wortbestandteile analysiert werden, z. B. -t in Fahrt (fahr-t) oder Bucht (bieg-/buch-t) (Duden-Grammatik 2009: 722); -el in Flügel (flieg-/flug-el) oder Löffel (< ahd. laffan ‚lecken‘) (Fleischer 2007: 150); vgl. für -el, -en und -er den Begriff „Pseudo-Suffix“ bei Nübling (2008); - Lautkomplexe, die bei einer ganze Reihe von Substantiven am Wortende auftreten, obwohl sie (wegen fehlender Derivationsbasen) nicht als selbständige morphologische Elemente (Suffixe) betrachtet werden können: Käfig (*Käf), Honig (*Hon), Essig (*Es); die Duden-Grammatik (2009: 163) spricht hier einfach von „Wortausgängen“; - Entlehnte Suffixe, die in der Herkunftssprache, nicht aber im Deutschen als Suffixe analysierbar sind (Duden-Grammatik 2009: 163), z. B. -ion: Nation (*Nat), Fusion (*Fus), aber lat. nasci (nas-) ‚geboren werden‘ (vgl. tsch. ná-rod), fundere (fund-) ‚gießen‘. Die Derivationsmorphologie ist für die Flexionsmorphologie deshalb wichtig, da das Suffix (als Zweitglied oder „Kopf“ des Wortes) die morphologischen Eigenschaften des Gesamtwortes bestimmt: - Bei Substantiven legt das Suffix das Genus und die Flexionsklasse fest. - Mit Suffixen derivierte Verben gehören in die Klasse der schwachen Verben. 2. Morphologisch komplexe Substantive mit Suffix Bei morphologisch komplexen Substantiven lässt sich das Genus eindeutig am Suffix bestimmen: Jedes Suffix ist obligatorisch mit einem bestimmten Genus verbunden.[1] Wie bei den Komposita spielt dabei das Genus des Substantives, von dem die Wurzel übernommen wird, keine Rolle: der Mensch → die Mensch-heit der Mann → die Mann-schaft der Bub → das Büblein Daher auch das neutrale Genus bei Mädchen, obwohl synchron das Suffix -chen (Neutrum) nicht mehr analysierbar ist. In folgender Tabelle (nach Duden-Grammatik 2009: 164–166) führe ich die wichtigsten Suffixe, ihr Genus und Beispiele an. Feminina: -ei die Datei, die Slowakei, die Schlägerei -heit die Blindheit, die Menschheit, die Schönheit -igkeit die Festigkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Leichtigkeit -keit die Brüderlichkeit, die Sichtbarkeit, -schaft die Eigenschaft, die Gesellschaft, die Kundschaft -ung die Nahrung, die Bildung, die Zeitung, die Umgebung Vorsicht: -ung muss Suffix sein, sonst gilt die Genus-Regel nicht! Vgl. der Ursprung (Ablautstufe von spring-); Maskulina: -er der Fahrer, der Lehrer; der Fehler, der Boiler -ling der Lehrling, der Schmetterling, der Setzling -or der Direktor, der Motor, der Monitor Vorsicht: -er (maskulin) muss wirklich ein Suffix sein, wenn die Genusbestimmung zuverlässig sein soll, vgl. das Fenster ( kühl-en, krank > kränk-en, tot > töt-en), ist umstritten. Gewöhnlich wird dieser Typ als „Konversion“ (Ableitung ohne formales Kennzeichen) betrachtet (z. B. Fleischer/Barz 2007: 313). -el hat häufig eine diminuierende oder iterative Wirkung; Ableitungsbasis sind Substantive (Faden > fäd-el-n, Schlange > sisch schläng-el-n, FB, 310) oder andere Verben (lachen > läch-el-n, husten > hüst-el-n); häufig fehlt synchron eine Derivationsbasis (? > bett-el-n). Mit Suffixen derivierte (oder konvertierte) Verben werden grundsätzlich schwach konjugiert. Zitierte Literatur: Duden-Etymologie (1989): Duden Bd. 7. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. von Günther Drosdowski. 2. Aufl. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. Duden-Grammatik (2009): Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Hrsg. von Kunkel-Razum, Kathrin/Münzberg, Franziska. 8. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag. Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild (2007): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen: Niemeyer. (FB) Geislerová, Olga (2007): Einführung in die Morphologie der deutschen Sprache. Studienmaterial für die Lehramtsstudenten. 2. Aufl. Brno: Masarykova univerzita. Meibauer, Jörg (2007): Lexikon und Morphologie, in: ders. et al. (Hrsg.): Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler. Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, 75, 2008 (3), 282–330. Selkirk, Elisabeth O. (1982): The syntax of words. Cambridge/Massachusetts, London/England: MIT Press. Zubin, David/Köpcke, Klaus-Michael (1981): Gender: A less than arbitrary grammatical category, in: Chicago Linguistic Society, 17, 439–449. ________________________________ [1] Selkirk (1982) betrachtet Suffixe daher als „Wortkopf“.