Flexionsklassenwechsel bei starken Verben 1. Übergänge zu den schwachen Verben Bereits seit Jahrhunderten gibt es die Tendenz, dass starke Verben (v. a. selten gebrauchte Verben) die Klasse der starken Verben verlassen und in die Klasse der schwachen Verben wechseln. Wurzel (1984) und nach ihm Bittner (1996) erklären dies mit der größeren „morphologischen Natürlichkeit“ der Formen der schwachen Verben. 1. Zwischenprodukte beim Klassenwechsel Klassenwechsel vollzieht sich so, dass das betreffende Verb zunächst gleichzeitig in verschiedenen Formvarianten gebraucht wird, z. B. flocht/flechtete (flechten ‚splétat, zaplést‘), sandte/sendete (senden ‚poslat, vysílat‘). Bei der weiteren Entwicklung gibt es verschiedene Möglichkeiten: · Eine Variante (und zwar die „natürlichere“, merkmallosere) hat sich durchgesetzt, die andere ist aus der normalen Umgangssprache bereits verschwunden oder höchstens noch als Archaismus bekannt. fragen: ^†frug/fragte, gefragt; stecken (intrns.): ^†stak/steckte, gesteckt; hauen: ^†hieb/haute, gehaut; Sieden: ^†sott/siedete, ^†gesotten/gesiedet ‚vřít‘; Manchmal hält sich die verschwundene/archaische Form noch als Derivationsprodukt (z. B. der Hieb ‚úder‘) oder in Redewendungen (z. B. Gesottenes und Gebratenes, vgl. im Tsch. ‚země mléka a strdí‘). * Die Konkurrenz der beiden Formen ist noch nicht entschieden: Beide werden gleichzeitig verwendet, evtl. ist die „natürlichere“ noch nicht verbreitet oder noch nicht voll akzeptiert (fehlt z. B. noch in den normativen Werken wie dem Duden). Saugen: sog/saugte, gesogen/gesaugt ‚sát‘; Melken: melk/melkte, gemolken/gemelkt ‚dojit‘; Schwören: schwor/schwörte, geschworen/ ^?geschwört Flechten: flocht/flechtete, geflochten/geflechtet. Die Formen flechtete und geflechtet fehlen im Rechtschreib-Duden (1996, 283). Dass sie benutzt werden, zeigt die Recherche im Internet (google.de): (1) Wer webte Athenes Gewänder? - Die Arbeit von Frauen im antiken Griechenland. (Rosa Reuthner, Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2006) (2) Meister der Tasten webte Klangteppich (Aachener Nachrichten) · Beide Formen halten sich, nehmen aber eine unterschiedliche Bedeutung, Syntax oder stilistische Zuordnung an. Senden^1: sandte, gesandt (‚poslat‘) × Senden^2: sendete, gesendet (‚vysílat‘ aber auch schon ‚poslat‘, z. B. ein E-Mail senden); Schleifen^1: schliff, geschliffen (ein Messer schleichen ‚scharf machen‘) × Schleifen^2: schleifte, geschleift (einen Sack Kartoffeln zum Auto schleifen ‚über den Boden ziehen‘) Weitere Beispiele: bewegen, hängen, schaffen, wenden u. a. → Seminararbeit! Bei Verben der letzten zwei Gruppen ergeben sich interessante Möglichkeiten, den tatsächlichen Gebrauch im Internet zu prüfen und mit den Vorgaben der normativen Grammatiken zu vergleichen. 2. Klassenwechsel innerhalb der starken Verben Die starken Verben kann man nach der Vokalveränderung in verschiedene Ablautreihen einteilen. Traditionell werden in der Germanistik 7 Ablautreihen unterschieden (Paul 1956). Nicht alle heute existierenden Ablaut-Muster haben denselben Status. Das Muster, das z. B. bei Helbig/Buscha (1999) als „Klasse 6“ bezeichnet wird, ist erst in neuerer Zeit entstanden: Klasse 6: (Vokal) – o – o: heben – hob – gehoben lügen – log –gelogen „Klasse 6“ ist dadurch entstanden, dass bestimmte Verben ihre ursprüngliche Klasse verlassen haben (früher z. B. weben – wab – gewoben) und sich der neu entstehenden Klasse angeschlossen haben (heute weben – wob – gewoben). Nowak (2010) nimmt an, dass der Grund das einfachere Schema (o – o) ist. Die Klasse stelle damit eine nicht mehr vollständig starke Übergangsklasse zu den schwachen Verben dar. Diese These lässt sich auch dadurch stützen, dass (a) viele der Verben in „Klasse 6“ den typisch starken Vokalwechsel im Präsens nicht zeigen (du hebst, du webst); (b) sich viele der Verben weiter in die Klasse der schwachen Verben verschieben (wob – gewoben → webte – gewebt). Manche Verben (vor allem seltene) zeigen erst in neuester Zeit gewisse Tendenzen, sich der „6. Klasse“ anzuschließen. Nowak hat die Verben rinnen, schwimmen, sinnen und spinnen im Korpus getestet und z. B. bei rinnen 1,5 % ronn-Formen festgestellt. → Tendenz, die in Seminararbeiten überprüft werden könnte. Zitierte Literatur: Bittner, Andreas (1996): Starke „schwache“ Verben – schwache „starke“ Verben: Deutsche Verbflexion und Natürlichkeit. Tübingen: Stauffenburg. Duden-Grammatik (2009): Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Hrsg. von Kunkel-Razum, Kathrin/Münzberg, Franziska. 8. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler. Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (1999): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 19. Aufl. Leipzig, Berlin etc.: Langenscheidt/Enzyklopädie. Nowak, Jessica (2010): Im Spannungsfeld starker und schwacher Verben. Zur Entstehung einer „8. Ablautreihe“ im Deutschen, Niederländischen und Luxemburgischen, in: Dammel, Antje / Kürschner, Sebastian / Damaris, Nübling (Hg.): Kontrastive Germanistische Linguistik. Teiband 2. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Ohm Verlag, 429–472. Paul, Hermann (1956): Deutsche Grammatik. Bd. II/Teil III: Flexionslehre. 3. Aufl. Halle: VEB Max Niemeyer. (1. Aufl. 1917). Rechtschreib-Duden (1996): Duden Band 1: Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21. Aufl. Hrsg. von Werner Scholze-Stubenrecht, Matthias Wermke und Günther Drosdowski. Mannheim: Bibl. Institut/Brockhaus. Wurzel, Wolfgang Ullrich (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Ein Beitrag zur morphologischen Theoriebildung. Berlin: Akademie Verlag. Morphologische Verbklassen nach Natürlichkeit (adaptiert nach Bittner 1996) Kriterium Starke Verben Übergangsklasse Übergangsklasse Gemischte Verben Schwache Verben Ablaut half hob mahlte rannte sagte Partizip geholfen gehoben gemahlen gerannt gesagt Imperativ hilf! hebe! mahle! renne! sage! Präsens sie hilft sie hebt sie mahlt sie rennt sie sagt Beispiele: helfen, geben, etc. heben, bewegen → weben; hauen →; kommen; bieten, frieren; bitten, binden, sinken; schwören; gleichen, bleiben; schleifen → raten (rätst, rate! × *rät!) als weitere Zwischenklasse? Rufen? mahlen, salzen, spalten brennen, bringen, nennen, kennen, denken; senden, wenden → fragen, lachen; telefonieren; lächeln; kündigen; verniedlichen; einscannen; senden, wenden; Die „weniger natürlichen“ Merkmale, die diachron abgebaut werden, sind durch Fettdruck gekennzeichnet: Sie nehmen von links nach rechts ab! → zeigt (ggf. partiellen) Klassenwechsel an