u ľ! •cl rill \,r lull /iii ( Mi < I H « " U. rid] unc /.I'll l.l.-l vrrii «•iii«- M.l.l I in vll 1. ■»ir< iiikI s, |„ Ulli. II... li Christa Wolf Was bleib! Erzählung Luchtcihand Literaturverlag —NK Brno Was bleibt 2610008020 Ö BRÜNN -A] ZU*:. ■ k Luchterhand Literaturv erlag (i mbH, Krankflirt am Main. 1900 Lizenzausgabe mit freundliche i (iciielimigung des \ufhau-\crlags Berlin und Weimar I .11|»v t it;111 1 K)i|<> \ulliaii-\erlag Merlin und Weimar Mir- Hechte lurilie Bundesrepublik I )eulscliland. West-Berlin. Osterreicli und die Schweiz beim l.ui bli'i Ii,nid I .iteralim erlag (iinbM. Frankfurt am Main l mschlagcntwurf Max Bartboll Satz JungSatzCentrum. Lahnau I hack und Kindling Clausen & Bosse, Lerk Printed in (iennanv ISBN v»y>-8675«)- i 261D008020 Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es im< Ii eu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist? Würde ich meine Sprache je finden? Kinmal würde ich alt sein. Und wie würde ich mit Ii dieser Tage dann erinnern? Der Schreck zog etwas in mir zusammen, das sich bei Freude ausdehnt. Wann war ich zuletzt froh gewesen? Das wollte ich jetzt nicht wissen. Wissen wollte ich-es war ein Morgen im März, kühl, grau, auch im Iii mehr allzu früh -, wie ich in zehn, zwanzig Jahren an diesen noch frischen, noch nicht abgelebten Tag zurückdenken würde. Alarmiert, als läute in mir eine Glocke Sturm, sprang ich auf und fand mich schon barfuß auf dem schön gemusterten Teppich im Berliner Zimmer, sah mich die Vorhänge zurückreißen, das Fenster zum Hinterhof öffnen, der von überquellenden Mülltonnen und Bauschutt besetzt, aber menschenleer war, wie für immer verlassen von den Kindern mit ihren [Fahrrädern und Kofferradios, von den Klempnern und Bauleuten, selbst von Frau G., die später in Kittelschürze und grüner Strickmütze herunterkommen würde, um die Kartons der Samenhandlung, der Parfümerie und des Intershops aus den großen Drahtcontainern zu nehmen, sie platt zu drücken, zu handlichen Ballen zu verschnüren und auf ihrem vierrädrigen Karren zum Altstofihändler um die Ecke zu bringen. Sie würde laut schimpfen über die Mieter, die ihre leeren Flaschen aus Bequemlichkeit in die Mülltonnen warfen, anstatt sie säuberlich in den bereitgestellten Kisten zu stapeln, über die Spätheimkehrer, die beinahe jede Nacht die vordere Haustür aufbrachen, weil sie immer wieder ihren Schlüssel vergaßen, über die Kommunale Wohnungsverwaltung, die es nicht fertigbrachte, eine Klingelleitung zu legen, am meisten aber über die Betrunkenen aus dem liotelre-staurant im Nebenhaus, die unverfroren hinter der aufgebrochenen Haustür ihr Wasser abschlugen. Die kleinen Tricks, die ich mir jeden Morgen erlaubte: ein paar Zeitungen vom Tisch raffen und sie in den Zeitungsständer stecken, Tischdecken im Vorübergehen glattstreichen, Gläser zusammenstellen, ein Lied summen (»Geht nicht, sagten kluge Leute, zweimal zwei ist niemals drei«), wohl wissend, alles, was ich tat, war Vorwand, in Wirklichkeit war ich, wie an der Schnur gezogen, unterwegs zum vorderen Zimmer, zu dem großen Erkerfenster, das auf die I riedrichstraße blickte und durch das zwar keine Morgensonne hereinfiel, denn es war ein sonnen armes Frühjahr, aber doch Morgenlicht, das ich liebe, und von dem ich mir einen gehörigen Vorrat anlegen wollte, um in finsteren Zeiten davon zu zehren. Aber das weiß ich doch, daß man durch wil-lentlichen Entschluß keinen Himmelsschatz erwirbt, der sich unter der Hand vermehrt; weiß doch: Alle Nahrung über des Leibes Notdurft hinaus wächst uns zu, ohne daß wir sie Stück um Stück zusammentragen mußten oder dürften, sie sammelt sich von selbst, und ich fürchte ja, alle diese wüsten Tage würden nichts beisteuern zu dieser dauerhaften Wegzehrung und deshalb unaufhaltbar im Strom des Vergessens abtreiben. In heller Angst, in panischer Angst wollte ich mich 8 9 jetzt an einen dieser dem Untergang geweihten Tage klammern und ihn festhalten, egal, was ich zu fassen kriegen würde, ob er banal sein würde oder schwerwiegend, und ob ersieh schnell ergab oder sich sträuben würde bis zuletzt. So stand ich also, wie jeden Morgen, hinter der Gardine, die dazu angebracht worden war, daß ich mich hinter ihrverbergen konnte, undblickte,hoffentlich ungesehen, hinüber zum großen Parkplatz jenseits der Friedrichstraße. Übrigens standen sie nicht da. Wenn ich recht sah - die Brille hatte ich mir natürlich aufgesetzt -, waren alle Autos in der ersten und auch die in der zweiten Parkreihe leer. Anfangs, zwei Jahre war es her, daran maß ich die Zeit, hatte ich mich ja von den hohen Koptstützen mancher Kraftfahrzeuge täuschen lassen, hatte sie für Köpfe gehalten und ob ihrer Unbeweglichkeit beklommen bestaunt; nicht, daß mir gar keine Fehler mehr unterliefen, aber über dieses Stadium war ich hinaus. Köpfe sind ungleichmäßig geformt, beweglich, Kopfstützen gleichförmig, abgerundet, steil - ein gewaltiger Unterschied, den ich irgendwann einmal genau beschreiben Könnte, in meinerneuen Sprache, die härter sein Wörde als die, in derich immernoch denken muß- te. Wie hartnäckig die Stimme die Tonhöhe hält, auf die sie sich einmal eingepegelt hat. und welche Anstrengung es kostet, auch nur Nuancen zu ändern. Von den Wörtern gar nicht zu reden, dachte ich. während ich anfing, mich zu duschen -den Wörtern, die. sich beflissen überstürzend, hervorquellen, wenn ich den Mund aufmache, angeschwollen von Überzeugungen, Vorurteilen, Eitelkeit, Zorn, Enttäuschung und Selbstmitleid. Wissen möchte ich bloß, warum sie gestern bis nach Mittemacht dastanden und heute früh einlach verschwunden sind. Ich putzte mir die 'Zähne, kämmte mich, be-nutzte gedankenlos, doch gewissenhaft verschiedene Sprays, zog mich an. die Sachen von gestern, 1 losen, Pullover, ich erwartete keinen Menschen und würde allein sein dürfen, das war die beste Aussicht des Tages. Noch einmal mußte ich schnell zum Fenster laufen, wieder ergebnislos. Eine gewisse Erleichterung war das natürlich auch, sagte ich mir, oder wollte ich etwa behaupten, daß ich auf sie wartete? Möglich, daß ich mich gestern abend lächerlich gemacht hatte; einmal würde es mir wohl peinlich sein, daran zu denken, daß ich mich alle halbe Stunde im dunk-len Zimmer zum Fenster vorgetastet und durch io i i den Vorhangspalt gespäht hatte; peinlich, zugegeben. Aber zu welchem Zweck saßen drei junge I lerren viele Stunden lang beharrlich in einem weißen Wartburg direkt gegenüber unserem Fenster. Fragezeichen. Die Zeichensetzung in Zukunft gefälligst ernster nehmen, sagte ich mir. Überhaupt: sich mehr an die harmlosen Uberein-künfte halten. Das ging doch, früher. Wann? Als hinter den Sätzen mehr Ausrufezeichen als Fragezeichen standen? Aber mit simplen Selbstbezichtigungen würde ich diesmal nicht davonkommen. Ich setzte Wasser auf. Das mea culpa überlassen wir mal den Katholiken. Wie auch das pater noster. Lossprechungen sind nicht in Sicht. Weiß, warum in den letzten Tagen ausgerechnet weiß? Warum nicht, wie in den Wochen davor, tomatenrot, stahlblau? Als hätten die Farben irgendeine Bedeutung, oder die verschiedenen Automarken. Als verfolgte der undurchsichtige Plan, nach dem die Fahrzeuge einander ablösten, verschiedene Parklücken in der ersten oder /«iiien Autoreihe auf dem Parkplatz besetzten, irgendeinen geheimen Sinn, den ich durch inständiges Bemühen herausfinden kannte: oder .'ls k.>imt.< es sich lohnen, darüber nachzuden- ken, «as die Insassen dieser Wagen - zwei, drei kräftige, arbeitsfähige junge Männer in Zivil, die keiner anderen Beschäftigung nachgingen als im Auto sitzend zu unserem Fenster herüberzublik-ken - bei uns Hieben mochten. I )rr Kaffee mußte stark und heiß sein, gefiltert, das Ei nicht zu weich, selbsteingekochte Konfitüre war erwünscht, Schwarzbrot. Luxus! Luxus! (lachte ich wie jeden Morgen, als ich das alles beieinanderstehen sah - ein nie sich abnutzendes Schuldgefühl, das uns, die wir den Mangel kennen, einen jeden Genuß durchdringt und erhöht. Die Nachrichten aus dem \\eslsender (Energiekrise. Hinrichtungen im Iran. Abkommen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen: \i-r^angenheitslliemen!l hörte ich kaum, mein Blick war auf die Eisenstange gefallen, die den zweiten Ausgang unserer Wohnung - jene Tür, die von der Küche über die Hintertreppe zum I lofausgang führt - einbruchsicher verrammelt. Mir fiel ein. in meinem nächtlichen Traum war diese unbenutzte, schmale, verdreckte, mit aus- ' S» V4** i rangierten Möbeln vollgestellte Treppe reinlich gewesen und lebhaft begangen von allerlei dreistem Volk, das ich in meinen Traumgedanken •Gelichter« nannte - ein Wort, das ich diese r/L. i. ). i a »3 drahtigen,,behenden, lemurenhaften, jeden Schamgefühls baren Männer niemals hören lassen würde, die sich, was ich schon immer so sehr gefürchtet hatte!, durch die todsichere Hintertür Einlaß in unsere Küche verschafft hatten, sich nun auf der Schwelle drängten, sich an die im serne Stange preßten, die unerschütterlich in ihren 1 laltrrungen lag und merkwürdigerweise von jenen Elenden respektiert wurde, die doch leicht unter ihr hätten durchschlüpfen können, statt dessen aber ihre Leiber gegen sie quetsch-I<• 11. während immer neue, von einem mir unsichtbaren I löllenrachen ausgespiene Figuren -ja. sie wirkten wie Pannfiguren, flach—von hinten nachschoben, unglaublich agil und beredt. Was hatten sie eigentlich gesagt. Daß wir uns nur ja nicht stören lassen sollten. Daß wir so tun sollten, als seien sie gar nicht da. Daß es das allerbeste wäre, wir würden sie vollständig vergessen. Sie li'plmlen nullt, es war ihr Ernst, das erbitterte i n ich am meisten in meinem Traum. Da man sich einen Traum nicht verbieten, wohl auch nicht vorwerfen kann. I.i. bleich auf. um mirzu beweisen, daß ich eigentlich schon über den Dingen stand. Das Lachen klanggezwungen. Keine Angst. Meine andere Sprache, dachte ,rh. weiter darauf aus, mich zu täuschen, wäh-r.-ml ii Ii <1.i> < iesi lnrr in das Spülbecken stellte, mein Bett machte, ins vordere Zimmer zurück-png und endlich am Schreibüsch saß -meine an7 .,... s|,r,,i |,r dir in mir zu wachsen begonnen hatte, zu ihrer vollen Ausbildung aber doch nicht gekommen war, würde gelassen das Sichtbare dem I Dtii litharen opfern; würde aufhören, die (iegrnstände durch ihr Aussehen zu beschreiben - tomatenrote, weiße Autos, lieber I limmel! -und würde, mehr und mehr, das unsichtbare We-«■nilii In' aufs« heinen lassen. Zupackend würde dir*c Spr* he sein, soviel glaubte ich immerhin /i .i 11iit-ii. schonend und liebevoll. Niemandem wurde nie weh tun als mir selbst. Mir dämmerte, wanim ich Über diese Zettel, über einzelne Sätze mrht hinauskam. Ich gab vor, ihnen nachzuhängen In Wirkiii hkeit dachte ich nichts. ■* ■ '•landen \\ ieder da. Ks war neun l hr fünf. Seit drei Minuten standen sie wieder da. ich hatte es sofort gemerkt. Ich halte einen Km k gespürt, den Ausschlag eines ■r- in mir. der nachzitterte. Ein Blick, beinahe überflüssig, bestätigte es. Die Farbe des Auto« war heute ein gedecktes Grün, seine Besat-iun* bestand aus drei jungen I lerren. Ob diese »4 »5 Herren ausgewechselt wurden wie die Autos? Und was wäre mir lieber gewesen — daß es immer dieselben waren oder immer andere? Ich kannte sie nicht, das heißt, doch, einen kannte ich: den. der neulich ausgestiegen und über die Straße auf mich zugekommen war. allerdings nur, um sich an dem Bockwurststand unter unserem Fenster anzustellen, und der mit drei Bockwürsten auf einem großen Pappteller und mit drei Schrippen in den Taschen seiner graugrünen Kutte zu dem Auto zurückgekehrt war. Zu einem blauen Auto, übrigens, mit der Nummer.. .Ich suchte den Zettel, aufdem ich die Autonummern notierte, wenn ich sie erkennen konnte. Dieser junge Herr oder Genosse hatte dunkles Haar gehabt, das sich am Scheitel zu lichten begann, das hatte ich von oben sehen können. Einen Augenblick lang hatte ich mir in der Vorstellung gefallen, daß ich als erste die beginnende Glatze des jungen Herrn bemerkte, eher als seine eigene Frau, die womöglich nie derart aufmerksam auf ihn herabsah. Ich hatte mir vorstellen müssen, wie sie dann gemütlich in ihrem Auto beieinanderhockten (im Auto kann es ja sehr gemütlich sein, besonders wenn draußen Wind geht und sogar einzelne Tropfen lallen), wie siedle Bork wurste aufaßen und nicht einmal frieren mußten, denn der Motor lief leise und heizte ihnen ein. Aber was tranken sie dazu? Führten sie. wie andere Werktätige, jeder eine Thermosflasche voll Kaffee mit? Unsere Empfindungen bei solchen Gelegenheiten sind kompliziert. Und die richtigen Wörter hatte ich immer noch nicht, immer noch waren es Wörter aus dem äußeren Kreis, sie trafefi zu, aber sie trafen nicht, sie griffen Tatsachen auf. um t'iV, fr/r«*** das I atsächlichezu vertuschen, so unbekümmert würde ich nicht mehr lange drauflos reden können, aber was ist einer, der nicht unbekümmert ist? Bekümmert? Kummervoll? »Kummer«, las ich in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch, immer tiefer Inneintreibend in meine Besessenheit: »Kummer« habe im Mittelhochdeutschen »Schutt. Beschlagnahme, Not«, in der älteren Rechtssprache sogar »Arrest« bedeuten können. Beschlagnahme, ja. das traf es, in Beschlag ge-nommen dahinkümmern. »Es reuete ihn. daß er die Menschen gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.« Doktor Martin Luther, der mir weismachen wollte, daß wir nur zustimmen oder ablehnen, Freund oder Feind sein können. Deine Bede sei ja. ja und nein, nein. Was darüber ist. ist vom Übel. Des Doktor Lu- ther Geschimpf auf den Papst, die gefräßige Sau, dann auf die Bauern, die tollwütigen Hunde. Glücklicher Mensch, der seinen Erzfeind aus sich herausstellen kann. In meiner Sprache werden Tiernamen nur auf Tiere angewendet werden, nie würde ich, wie andere es taten, die Namen von Schweinen und Hunden, nicht einmal die von Frettchen oder Reptilien auf die jungen Herren da draußen münzen können. Was mir fehlte, war wahrscheinlich ein gesunder nivellierender Haß. Ich kannte sie ja nicht. Was wußte ich schon von ihnen. Selbst das Kennzeichen »Ledermantel« war ja ein überholtes Klischee. Dederonanoraks hatten sich schon längst durchgesetzt, aber ob dieses Einheitskleidungsstück ihnen von ihrer Dienststelle für den Außendienst geliefert wurde oder ob sie zum Jahresende eine Verscnleißge-bühr bekämen und wie hoch die etwa sein könnte — das alles hätte ich nicht zu sagen gewußt. I nd kannte man heutzutage nicht schon den halben \ Fetischen, wenn man seine Arbeitsbedingungen kannte? Zum Beispiel hätte mich auch interessiert, wie bei ihnen die tägliche Arbeitseinteilung vor sich ging, oder der Befehlsempfang, w ie man das wohl nennen mußte, und ob bestimmte Po- sten beliebter waren als andere, die Autoposten zum ßeispiel beliebter als die Türsteherposten. Und. wenn ich schon mein Interesse anmeldete: Ob jene, die mjhL ihren Umhängetaschen auf den Straßen patroullieren, tatsächlich in diesen Täschchen ejn Sprechfunkgerät mit sich führen, wie das Gerücht es steif und fest behauptet. Ich hatte manchmal den Verdacht, in den Taschen wäre nichts als ihre Butterbrote, die sie aus menschlich verständlicher Imponiersucht kon-spirativ versteckten. Eine verzwickte Art von Amtsanmaßung. Jedenfalls verbot es sich, vor einen von ihnen hinzutreten und höflich zu fragen: Verzeihen Sie bitte, was haben Sie eigentlich in Ihrer Tasche? Ebensowenig konnte man sich bei den Autobesatzungen erkundigen, ob sie mit Abhörgeräten ausgerüstet waren und wie weit »eirebenenfalls deren Racjius reichte. Andere Vertraulichkeiten hingegen würden sich nicht verbieten, auch im Umgang mit ihnen gab es einen Codex, der sich allerdings kaum erlernen Heß, man hatte ihn oder man hatte ihn nicht. Zum Beispiel bedauerte ich es immer noch, daß ich nicht gleich damals, als es anfing, in den ersten kalten Novembernächten, meinem Impuls gefolgt war und ihnen heißen Tee hinuntergebracht »9 hatte. Daraus hätte sich eine Gewohnheit entw ik -kein können, persönlich hatten wir doch aicfatl gegeneinander, jeder von uns tat, was er tun mußte, man hätte ins Gespräch kommen können - nicht über Dienstliches, Gott bewahre! -. aber über das Wetter, über Krankheiten, Familiäres. Nun aber Schluß. Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen. Den Tee damals hatten wir selber getrunken, spät in der Nacht, im dunklen Zimmer am Fenster stehend, an das wir am nächsten Tag diese Gardine hängten. Plötzlich habe ich das Licht anknipsen, dicht ans Fenster treten und zu ihnen hinüberwinken müssen. Worauf sie ihn Scheinwerfer dreimal kurz aufblitzen ließen. Sie hatten Humor. Ein bißchen beruhigter, ein bißchen weniger bedrückt als sonst waren wir schlafen gegangen. Bedrückt? Das hatte ich mir doch nie z^gelieh wollen. Jetzt tat ichs eben, vielleicht war das ein erster notwendiger Schritt auf Un-rühmliches hin. Empfanden nicht Kinder K>, emi der -erzürnte Vater ihnen durch ein kurzangebundenes »Gute Nacht!« bedeutet bat. daß er nie h t u n versöhnlich ist ? Und wie ander? als kind-In Ii. k um Ii sc Ii. sollte in.in die iin.iiifliorln heu de-dankentuonolo^e in nneu. .111/denen k Ii um Ii er- läppte und die allzu oft in der absurden Frage endeten: Was wollt ihr eigentlich? Wieviel ich noch zu lernen hatte! Eine Institution anreden, als sei sie ein Mensch! Aber über diese frühe Phase war loch hinaus, beschwichtigte ich mich selbst, Beteuerungen unterHefen mir nicht mehr, seit wann eigentlich? Eines Tages hatte ich begriffen, für Beteuerungen und Erklärungsversuche gab es keinen \dressaten, ich mußte annehmen, wo-liegen ich mich so lange gesträubt hatte, die iun-i;en I lerren da draußen waren mir nicht Zugang-lieh. Sie waren nicht meinesgleichen. Sie waren \bgesanate des anderen. Lange schon war es mir nichl mehr in den Sinn gekommen, dicht an jenen \utos vorheizustreichen und grimmigen Gerichts liineinzustarren, um den gläsernen Blicken der Insassen zu begegnen, deren Auftrages doch seinmußte, als das,was siewaren, ausgemachtzu werden und dadurch Wut, besser: Angst zu erzeugen, die bekanntlich manche Menschen zum Einlenken treibt, andere zu lÄrfe^en Handlungen, welche ihrerseits wieder als Indizienbeweis dienen konnten für die Notwendigkeit der Observation. Irgend jemand, das fühlteych stark mußte versuchen, diesen Teufeln zu durch-brechen. jty^Y ao 21 Einmal, in meinerneuen freien Sprache, würde ich auch darüber reden können, was aber schwierig werden würde, weil es so banal war: Die Unruhe. Die Schlaflosigkeit. Der Gewichtsverlust. Die Tabletten. Die Träume. Das ließe sich wohl schildern, doch wozu? Es gab ganz andere Ängste auf der Welt. Das Haar, wie es büschelweise ausging. Na und? inzwischen war es dichter nachgewachsen als zuvor, und die Tabletten lagen unbenutzt in der Schublade. Alles renkte sich ein. Die Träume. Das ja. Das bestritt ich mir nicht, aber wo auf der Welt können Menschen heutzutage ohne Alpträume leben? Nein. Jeden Tag sagte ich mir, ein bevorzugtes Leben wie das meine ließe sich nur durch den Versuch rech (fertigen, hin und wieder die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, der Tatsache eingedenk, daß Grenzverletzungen aller Art ge-iihiidet werden. Doch, sagte ich mir. während mir bewußt wurde, daß ich seit Minuten schon auf den Fernsehturm starrte, der sich halbrechts in meinem Gesichtsfeld über dem I läusermassiv von Augen- und Frauenklinik erhob, doch der Sprachgrenze würde idi mich erst nähern, wenn ich mir zutraute zu erklären, warum an jenen Tagen, an denen die Autos nicht in \\ irklichkeit. nur ,ils Phantombild auf meiner Netzhaut vorhanden" waren*die Angst nicht von mir wich, nicht einmal inniger war als an Tagen der offensichtlichen ()bservation. Dazu, dachte ich, müßte ich mir mal was einfallen lassen, egal in welcher Sprache. Wieviel Zeit wollte ich mir eigentlich noch geben? Zeit war eines meiner Stichworte. Eines Tages war mir klar geworden, daß es vielleicht mehr als alles andere, ein gründlich anderes Verhältnis zur Zeit war, daß mich von jenen jungen Herren da draußen - sie standen noch dort, ja doch! — unterschied. Jenen nämlich war ihre Zeit wertlos, Mc vergeudeten sie in einem unsinnigen, gewiß aber kostspieligen Müßiggang, der sie doch auf die Dauer demoralisieren mußte, aberdasschien ihnen ja nichts auszumachen, oder ihnen im Gegenteil, die Vermutung kam mir plötzlich, ge-r.ide recht zu sein. Mit beiden Händen, lustvoll geradezu, warfen sie ihre Zeit zum Fenster hinaus; oder nannten sie das womöglich Arbeit, was sie taten? Vorstellbar war sogar das. Vorstellbar. Dein:wahrscheinlich war es, daß sie abends ihrer 1 rau ein Gesicht zeigten, aus dem abzulesen war, wie unersetzlich sie sich an diesem Tag wieder hatten machen dürfen. Allerdings hörte man auch gerüchtweise, daß sich manchmal ein« von ihnen am Abendbrottisch, in Gegenwart di halbwüchsigen Kinder, mit den Erkennbii des Tages brüstete: menschliche Schwächen der observierten Objekte, abstruse Liebesallären zum Beispiel, die, dürfte man reden, manchen oder manche ganz schön in die Bredouillebräi Ilten. Doch schwieg man zuverlässig wie ein Grab. Man schwieg wirklich, davon war ich überzeug! Bramabarsierende Väter die Ausnahme. In Wirklichkeit mußten sie alle wissen, daß sie, jeder von ihnen, von einer Sekunde zur anderen überflüssig werden konnten. Jedesmal, wenn mir dieser Gedanke kam. wurde mir kalt wie beim erstenmal. Das Telefon. Ein Freund. Grü/5 dich, sagte i< h Nein, er störe mich bei keiner wichtigen Arbeit. Warum denn nicht, sagte er strafend. Ach, sagte ich, die Frage ließe sich nicht in einem Satz beantworten. Ich könne ruhig mehrere Sätze machen, sagte er. Zum Mitschreiben, sagte ich. Aber da unterschätze ich doch wohl untere technischen Möglichkeiten, sagteer. Ein Tonband werde' man für uns beide doch übrig haben! Was d.i» kostet, sagte ich. Folgte die Art von l.m hcn. die \\ir uns li/r iz<- nau diese Gelegenheiten angewöhnt hatten, ein bißchen herausfordernd, ein bißchen eitel. Und wenn keiner mithörte? Wenn wir mit unserer Selbstüberschätzung und Mutspielerei ins Leere liefen? Das würde nicht den geringsten Unterschied machen. Darüber wollte ich nachdenken. Wie ich denn klinge, heute morgen. Na wie denn? Na, sagte mein Freund, nicht unbedingt high, würde ich sprechen. Oder täuschet mich mein Ohr. Oh. sagte ich. wie könnte ich anders als high sein, wenn du mich schon mal anrufst — und so weiter. So sprachen wir immer, am wahren Text vorbei. Ich mußte an die zwei, drei Male denken, als der wahre Text mir doch entschlüpft war, weil ich keine Kraft hatte, ihn zurückzuhalten, und wie seine Augen, seine Stimme sich da verändert hatten. Wie es 11. gehe, fragte er jetzt. Gut, sagte ich, ich kann ihn nachmittags besuchen. Und wir, Mail ame? fragte er. Wann sehen wir uns? Ich sagte, den wahren Text: möglichst bald. Na denn, sagte er. Er werde in den nächsten Tagen in der Stadl sein und mir vorher durchgeben, wann ich das Kaffeewasser aufsetzen solle. Da sollten sich »5 gewisse von uns beiden hochgeschätzte Person lichkeiten ruhig ihren Kopf darüber zerbrechen, wofür »Kaffeewasser« das Codewort sein könnte Diese Art Spaße liebe ich nicht besonders. Kaffee ? sagte ich. Und ich dachte, du würdest Tee bevorzugen. Mitnichten, sagte er. und ich solle nun nicht den ganzen Code durcheinanderbringen Bon, sagte ich. Und er, nach einer kurzen Pause, mitunveränderter Stimme: Du hastßesuch. wie!' Auch diese Fragen liebte ich nicht, sagte abei ja, außerstande zu lügen. Na, hervorragend, sagte mein Freund Aul bald also. Da hörte ich mich auf einmal laut ins Telefon rufen: Du! Hör mal! Einmal werden wir .dl lein, bedenkst du das! Er hatte aufgelegt. Ich abersetzte mich wieder an meinen Schreibtisch und schlug die ll.uidi-vors Gesicht. Ja. So verbringen u ir unsere kurzen Tage. Ich weinte nicht. Ich hatte wenn ich es mir recht überlegte, schon ziemlich lange nicht mein geweint. Obwohl ich an diesem Tag noch nicht'« getan hatte, würde ich jetzt, mitten in dei Vrbeits/eil. einkaufen gehen. Es war ein Sieg der anderen, d.i machte ich mir nichts vor. denn wenn es eine Mo- ral gab. an der ich festhielt, so war es die Arbeitsmoral, auch weil sie imstande zu sein schien, Ver-lehlungen in anderen Moralsystemen auszuglei-chen. Ich wollte nicht aufgeben, wie jene jungen I lerren aulgegeben hatten, als sie sich, anstatt ordentlich zu arbeiten, vielleicht aus einem un-tilgbaren I lang zur km- und l nterordnung zu vv»wV»">, tf"t t**** . ufi Viv»L solch notdürftig verbrämtem Nichtstun anheu- ' ern ließ en. Was denn. Schon wieder den Kopf anderer Leute zerbrechen? Schuhe überstreifen. Mantel an. dieTür doppelt, am liebsten, wenn es möglich wäre, dreifach verschließen, so wenig das, wie ich ja wußte, im Ernstfall nützen würde, denn mindestens ein-.wahrscheinlich aber zweimal hatten im vorigen Sommer jene jungen Herren oder deren Kollegen mit einer Spezialausbildung im Tü-renöffnen unsere Wohnung in unserer Abwesenheitaufgesucht, ohne allerdings mit dem Sauberkeitsfimmel von Frau C. zu rechnen, die, wenn sie nach getaner Arbeit die Wohnung verläßt, ihre eigenen Kußstaplen mit einem weichen Tuch hinter sich wegwischt, so daß es ihren Verdacht erregen mußte, als sieb am nächsten Tag die Profilsohle eines Männerschiüjs. Größe ]\/\2. deutlich auf einigen Türschwellen und auf dem 2b 27 dunklen Parkett im Mittelziinmer abgedruckt hatte. Worauf Frau C, die nicht leicht zu entmutigen ist, nach sorgfältiger Beseitigung dieser Spuren und ehe sie wiederum aus der WoIiiiiiii» ging, »nach altbewährter Manier«, wir sie srehen; einkau-Ich. das bewahrte Betäubungsmittel, schlug nicht an. aber ich bekam Sanddornmost für II., er habe immer Durst, hatte er mir gesagt DieFrauen.die an der Kasse anstanden, waren fast alle zu dick und hielten sich schlecht. Ich suchte gewolui- heitsmäßig das eine Gesicht, das sich mir auf Anruf zuwenden würde, fand es nicht, bis eine jüngere brau, die nach gar nichts aussah, einer anderen, älteren, den Vortritt ließ, weil sie nicht mehr stehen konnte. Also ist es doch möglich, dachte ich. Es müßte doch möglich sein. Trotzdem wich das starke absondernde Gefühl von Fremdheit nicht, aber ich wußte, daß ich mich nicht daran klammern durfte. Selbst wenn die vor mir in der Schlange nichts wußten; kaum etwas ahnten; was schlimmer war: nichts wissen wollten —so durfte man doch nicht zu kurz zielen, um sie zu errei-i heu. lieber etwas höher, weiter, auf Zukunft hin. Ja, ja doch. Ich wurde mir selber lästig. Ich ging noch in die Post. Geld holen. Jemand, der mich gekannt hätte, hätte mir angesehen, wie'gereizt ich u a r. Mir wa r jetzt alles zuviel, mir dauerte jetzt alles zu lange, obwohl ich mich gleichzeitig fragen mußte, wohin ich so schnell wollte, wonach es mich so eilig verlangte. Dieses tief verschwiegene Doppelleben immer. Dieser Reiz des Ungewissen, von dem man abhängig werden kann wie von einer Droge. Daß ich immer den Zwang fühlte, alles auszudrücken. Dabei hatte ich meinen alten Bekannten längst entdeckt, und er mich auch, da war ich sicher. Für den Bruchteil einer Sekunde 38 39 hatten unsere Blicke sich gepackt, aber Jürgen M. wollte mich nicht kennen, um Bruchteile von Se-kundenbruchteilen hatte sein Blick sich eher zurückgezogen als der meine. Das kannte ich ja. Und wie ich das kannte: der Vorhang, dervor den Augen des anderen niedergeht; die Fischhaut, die das Weiße im Auge des Freundes überzieht: das Gewölk, das seine Linse trübt. Wir haben uns nicht gesehen, nie gekannt. Auch gut. Besser so. Da läßt man sich eben am anderen Schalter abfertigen. Da ist man auffällig mit den Papieren beschäftigt, die man dem Postfräulein vorweisen muß, da macht man sich noch mit unnötigen Formularen zu schaffen, um nur ja nicht am Ausgang mit mir zusammenzutreffen. Aber der andere diesmal also Jürgen M., kann ruhig sein: Ich spiele mit. Ich bin schon draußen. Ich denke nicht daran, mich umzudrehen. Seit wann ging ich eigentlich nicht mehr auf einen alten Bekannten zu. ohne sicher zu sein, daß er mir begegnen wollte? Seit wann streckte ich niemandem mehr als erste die Hand hin? Fing kein Gespräch mehr an? Zog mich zurück? Preisfrage: Wieviele müssen bei deinem Anblick auf die andere Straßenseite ühergewerhselt sein, angelegentlich die nächste Schaufensterauslage betrachtet, im Bestaurant den Platz gewechselt, dir in der Versammlung den Rücken zugedreht haben, bis du begreifst und dich passend verhältst? Wie oft mußt du »Zufall«gedacht haben, bis du bereit bist, »Absicht« zu denken? Ich mußte grinsen,rweil es mich immer aufs neue freut, wenn ich herausfinde, daß die Statistik die wirklichen fragen nicht beantworten kann. Kein Verlust, dachte ich. Jürgen M. war kein Verlust, warum störte es mich also, wenn er mich ' mied? Warum störte es mich jedesmal wieder? Warum härtete man dagegen nicht ab? Was funktionierte da nicht bei mir? Welcher Mechanismus war da nicht intakt? Also nun mal der Reihe nach, und keine I lek-tik. Jürgen M. Wann habe ich diesen Jürgen M. zum letzten Mal gesehen. Vor Jahr und Tag, so-viel steht lest. I nangenehm kann der Atdaß nicht gewesen sein. Hatte ich ihn nicht wegen seiner großgemusterten Krawatte aufgezogen? Er aber überreichte mir mit einer spöttischen Verbeugung das Glas Sekt, das er sich gerade von einem Tablett genommen hatte, holte sich selbst ein neues und stieß mit mir an. Lange nicht gesehen und doch w iedererkannt. Ob mir die Bilder gefielen, wollte er wissen, ich sagte, teils, teils. Es war 40 r 4» diese Ausstellungseröffnung im Marstall. die Dinge liefen gerade nicht ganz schlecht, Leute trafen sich, die sich lange nicht begegnet waren und fragten sich gegenseitig ihre Lebensumstände ab, als hätten sie die vergangenen Jahrein verschiedenen Ländern verbracht./Wir hatten die Jahre in verschiedenen Ländern verbracht. Wie immer, wenn es sich einigermaßen machen läßt, hielt ich mich an die Spielregeln und fragte Jürgen M., womit er seine Tage verbringe. Ich ? sagte er. Ach weißt du. man schlaucht sich so durch. Mehr hatte er nicht gesagt, wenn ich es mir genau überlegte. Jürgen M.. Freund der Studien-freundin. dem seine freunde eine glänzende Zu-kiuift prophezeiten. Jürgen M., der Philosoph. Hatte er nicht mit ein paar brisanten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht? Damals, fiel mir ein, war er schlanker und trug das I laar gescheitelt, längst nicht mehr Freund der Freundin, erst verlor ich ihn aus dem Auge, dann sie. Publizierte er eigen! lieh noch in den einschlägigen Zeitschriften? War das Buch, von dem er unaufhörlich geredet hatte, jemals erschienen? War er gescheitert, enttäuscht von sich und der Welt, mied vielleicht deshalb die Begegnung mit linderen Bekannten' I lätte ich also auf ihn zuge- hen sollen.' Aber war da nicht noch irgend etwas gewesen mit Jürgen M.? I unter mir kam jemand und pfiff so laut und schrill, daß es in der S-Bahnimterlührung wider-hallle und den Verkehrslärm übertönte. Was pfiff der eigentlich, das Lied kannte ich doch: »Dein Karl Liebknecht, dein haben wies geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die 1 land«. pfiff der Mann. Ich weinte. Das mußte aufhören. Ks wurde ja auch leider aufhören, wahrscheinlich schon bald. Der Mann, der das Lied pfiff, ein breiter, schwerer Mann um die vierzig, hatte einen schwarzen Manchesteranzug an, wie die Zimmerleute ihn tragen, aber ohne blanke Knöpfe; breitbeinig und pfeifend ging er. unbekümmert darum, ob die I .eilte sich nach ihm umsahen, bis zur Tür der kleinen Konditorei, in der er verschwand. Konnte ich mir zu diesem Mann eine Frau vorstellen? Ich konnte es nicht. Immer kann ich mir zu bestimmten Frauen keinen Mann vorstellen, dieses eine Mal war es umgekehrt. Der Mann war eine Ausnahme. Zu Jürgen M. konnte ich mir ohne w£Sereseine Frau vorstellen, eine von diesen gehobenen Dutzendfrauen, denn von meiner Freundin, die schw ierig. aber doch etwas Beson- 42 45 deres gewesen war, konnte er doch nur zu einer Dutzendfrau gegangen sein. Oder hatte meine Freundin ihn damals verlassen? War es uns allen nicht etwas rätselhaft gewesen, warum die beiden sich getrennt hatten, nach all den Jahren ? Verdammt noch mal, was ging dieser Jürgen M. mich eigentlich an. War er es überhaupt wert, daß ich mich mit ihm beschäftigte. Hatte er nicht damals, in einer ähnlich angespannten Zeit wie dieser hier, diesen widerlichen Artikel gegen seinen Professor geschrieben! Das sah mir ähnlich, daß ich das vergessen, daß ich nicht wahr gemacht hatte, was ich mir vorgenommen hatte: nicht mehr mit ihm zu reden. Ihn wegen dieser blöden Krawatte anzusprechen und mich dann noch zu wundern, wie diensteifrig er mir seinen Sektgegeben hatte! Er war einfach erleichtert gewesen, daß ich überhaupt mit ihm sprach. Nun aber hatte sich alles noch einmal gedreht, die Dinge liefen nicht gut. nein, das taten sie wirklich nicht, und Jürgen M. konnte es sich ohneweiteres leisten, mich nicht zu kennen. Mehr noch: Er durfte mich gar nicht ansprechen. Vielleicht wußte er sogar, daß ... Kita nun mal der Reihe nach. Und keine I lek-tik. W.is sollte er wissen.' W.o. konnte ein Mann wie Jürgen M. wissen, über die kargen öffent-liehen Verlautbarungen und die üppigen (ie-rüchte hinaus, die ihm vielleicht dun haus genügen mochten. Immerhin mußte ja, außer meinen Freunden, noch irgend jemand von der Existenz der jungen 1 lerren vor meiner Tür informiert sein. Zum Beispiel derjenige, der sie dort aufgestellt hatte. «tW**«.' f^JlHv* Da war sie wieder, meine fixe Idee, ich erkannte sie sofort, mußte mich aber doch genußvoll in sie hineinbohren: daß es jemanden geben mußte, der außer dem wirklich Wichtigen alles über mich wüßt«'. Auf irgendeinem Schreibtisch, in irgendeinem Kopf mußten schließlich alle Informationen über mich - die der jungen I lerren, die der Telefonüberwacher, die der Fostkontrol-leure-zusammenlaufen. Wie, wenn es der Schädel von Jürgen M. wäre? In dem Gedanken schien eine Wahrschein-lichkeitzu stecken, denn mein zweiter unwillkürlicher Gedanke war: Da hätte er endlich, was er braucht. Dieser zweite Gedanke erstaunte mich. Seit wann hatte ich etwas gegen Jürgen M.? Seit wann glaubte ich zu wissen, was der brauchte? Was hatte ich denn noch, ohne es überhaupt zu merken, über Jürgen M. gespeichert? Jürgen M. 45 als Referent- wahrhaftig, auch das hatte es gegeben. Vor oder nach der Affäre mit seinem Professor? Das wußte ich nicht mehr. Der Ruf der Offenheit ging ihm voraus, und es stimmte, er «rat offen, aber auf mich wirkte alles, was er sagte, wie eine Rechtfertigung für frühere oder, spätere Handlungen. Ich erinnerte mich, wie fasziniert viele unserer Kollegen von Jürgen M. waren: Endlich mal einer, der's sagt, wie es ist. Er bekam starken Beifall, erinnerte ich mich, und ich wollte, schwer bedrückt, schnell nach 1 lause gehen, aber er paßte mich an der Tür ab und schleppte mich mit in die Bierstube. Es wurde eine große Runde, ein langer Abend. Daß Jürgen M. trank, hatte ich nicht gewußt. Als er anfing, unkontrolliert zu reden, machte ich den Kehler. ihn zu fragen: Warum trinkst du? Da warf er seinen Kopf zu mir herum, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt. Immer obenauf, Madam! sagte er. Der Mensch haßte mich. 1 lab ich dir was getan, sagte ich hilflos, und dereine Satz du n hstach den Damm, den Jürgen M. um sich aufgeschüttet hatte, und unaufhaltsam entströmte ihm ein Selbstbekenntnis, das ich anhören mußte und nicht anhören wollte, denn ich wußte Danach haßt er mich nicht nur: danach wird er mir ge- fährlich. Aber ich war im Bann seiner Wut und meiner eigenen Neugier, und so erfuhr ich denn, daß er, Jürgen M., seit Jahren mich und mein Leben verfolgte. Daß er jedes Wort kannte, daß ich gesagt oder geschrieben, vor allem jedes Wort, das ich verweigert hatte; daß er meine Verhältnisse so genau kannte, wie ein Außenstehender die Verhältnisse eines anderen überhaupt kennen kann; daß er sich in mich hineingedacht, hin-eingefühlt hatte mit einer Intensität, die mich bestürzte, und daß er mich - was ihn zur Weißglut reizte - für erfolgreich und glücklich hielt. Und für hochmütig, das vor allem. Hochmütig, fragte ich töricht, inwiefern denn das. Insofern ich zu glauben scheine, man könne alles haben, was ich hatte, ohne dafür seine Seele zu verkaufen. Aber ich bitte dich, sagte ich, um nur die Beklemmung zu durchbrechen, wir sind doch nicht mehr im Mittelalter! - An dem Abend hatte ich Pech, ich gab ihm nur Stichworte, auf die er gewartet zu haben schien, denn nun packte es ihn erst richtig. Nicht im Mittelalter! Da habe man es. Das sei es ja gerade, was zu glauben ich mir herausnähme, wahrscheinlich sogar wirklich glaube, und nicht nur. wie er lange gedacht habe, als Losung raffiniert vor mir hertrage, um mir dahinter alles er- 46 47 lauben zu können, denn wer würde einer solchen Losung heu tzu tage widersprechen ? De i 11 < • g, 111 /<• Traumtänzerei. sagte .Jürgen dieses (íehabe aufdem Seil, ohne abzu^slíurzen. Nun aber, unter vier Augen, wolle er mir mal den Star stechen. Nicht im Mittelalter? O doch, Madam. Wir sind im Mittelalter. Es hat sich nichts geändert, abgesehen von Äußerlichkeiten. Und es wird sich nichts ändern, und wenn man sich als Wissender über die Masse der Unwissenden erheben wolle, dann müsse man seine Seele verkaufen, wie eh und je. Und. wenn ich es genau wissen wolle. Blut Hieße auch dabei, wenn auch nicht das eigene. Nicht immer das eigene. Jetzt wußte ich wieder, was ich damals plötzlich begriff: Sie hatten ihn in der I land. I hui ich erinnerte mich, daß mein I loehmut-darin mochteer recht haben, begabter Psychologe, derer war-mich hinriß, ihn leise zu fragen: Warum steigst du nicht aus. I nd wie er weiß wurde wie die Wand, die Augen aulriß. sein Gesicht dem meinen nah brachte, daß ich seinen Bieratem roch, und deutlich und stocknüchtern drei Worte sagt«', ich -habe—Angst. Gleich danach spielte er wieder den Betrunkenen, ich stand auf. klopfte auf den Tisch und ging. I )auai h habe ich Jürgen M. jahrelang nicht gesehen, habe die Szene vergessen, die er niemals vergessen wird, und nun muß er mich nicht mehr kennen, sitzt in dem 1 laus mit den vie- f*mtß Main len Telefonen und sammelt nach 1 lerzenslust alle Nachrichten über mich, die kein anderer bekommen könnte, und dankt jeden Morgen seinem Schicksal, das ihn an diesen Platz gestellt hat, an dem er seinem leidenschaftlichen Gelüst ( .einige tun und zugleich der (iesellschalt nützlich sein kann. Wie ich selbst, auf meinem Platz. Blind lief ich über die Weidendammer Brücke, auf der anderen Seite und in entgegengesetzter Richtung, und mußte an die Aktendeckel denken, in denen doch sicherlich all die Nachrichten über mich gehortet wurden. Dazu aber mußten sie zuvor ausgewählt, formuliert, womöglich einer Sekretärin diktiert werden. Oder wie hatte man sich das vorzustellen. I latte ich mir vorzustellen, daß Jürgen M. morgens pünktlich um acht sein Büro betrat und als erstes — diese kleine Eitelkeit gestattete ich meiner Phantasie - nach einem dünnen Aktendeckel mit meinem Namen griff. Darin also der Bericht vom Vortag. Jürgen M. konzentrierte sich genußvoll. Aha. Gestern — das war heute - hatte sie um neun Uhr fünfund- 4« 49 vierzig ein Telefonat geführt. Anrufer: Folgte ein Name meines Freundes. Folgte die Mitsrhnft unseres Gesprächs, über die Jürgen M.. der» jetzt sicherlich Humor leisten konnte, sclimim-zeln würde. Auch Geringschätzung würde er si« Ii leisten. »Codewort«, »Kaffee«, »Tee« - ach ihr armen Laien! Jürgen M. war Fachmann, wenn ich ihn mir richtig vorstellte, und, intelligent, an er auch war, mußte ihn doch eines schönen Morgens bei der Lektüre des zweihundertsieheniind-dreißigsten Tagesberichts seiner Gewährsleute unvermeidlich das Grauen packen ob der \ i geblicnkeit seines Tuns, denn wenn er in all den Aktendeckeln blätterte, hier eine Zeile las. dort ein Stenogramm, da ein Gesprächsprotokoll. und wenn er sich dann fragte, was er über dieses Objekt jetzt wußte, was er vorher nicht gewußt halle so mußte er sich ehrlicherweise^sagen, nicht» I iid wenn ersieh weiter fragen w ürde. was er er-reicht hatte, würde er sich abermals sagen müssen: nichts. Das aber wußte ich besser. Viel hatte er erreicht, der Gute, ziemlich viel, aber er konnte nicht wissen, was, denn das haben seine Spitzel nicht gehört, seine Tonbänder nicht aufgrzeidl« net. es ist aus zu feinem Stoff, es entschlüpft ihnen, auch das dichteste Netz fängt es nicht ein, und wenn ich mich nun selber fragte, was dieses geheimnisvolle »Es« denn eigentlich war, so hatte ich keinen Namen dafür, unzufrieden mit mir und ohne billigen zu können, was ich jetzt vorhatte, ging ich über den Parkplatz, steuere auf das flaschengrüne Auto zu (sie standen noch da. was hatte ich denn gedacht?), es war elf Uhr fünfzehn, ich strich ganz nahe am Auto vorbei und ertappte die drei jungen Herren just beim Frühstück. Oer hinterm Lenkrad saß. hatte seine Brot-bücnseaulden Knien, der neben ihm biß in einen Apfel, und der hinten im Fond trank hingegeben aus einer Bitterlemon-Flasche. Er verschluckte sich nicht, als mein Gesicht vor ihm erschien, ungerührt trank er weiter, aber alle drei bekamen sie wie auf Kommando diesen gläsernen Blick. Mag sein, sagte ich mir. während ich anstandshalber quer über den Parkplatz zum Briefkasten ging, als hätte ich irgendwelche Postsachen einzuwerfen, und es sogar so weit trieb, die Geste des Ein-werfens vorzutäuschen — mag ja sein, sie lernen diesen gläsernen Blick auf ihrer Schule. Außer Gesellschaftswissenschaften müssen sie doch auch irgendwelche praktischen Fertigkeiten lernen. Mag doch sein, im zweiten Ausbildungsjahr 5» steht wöchentlich einmal auf dem Stundenplan: Training des gläsernen Blicks. Und wenn es gar nicht Jürgen M. ist, sondern jemand anders? Die Stimme kannte ich. Schön guten Tag. lieber Selbstzensor, lange nichts von Ihnen gehört. Also wer soll es denn sein, wenn nicht Jürgen M., nach deiner Meinung? — Ein unvoreingenommener Beamter, der dich gar nicht kennt. -Das wäre mir sogar lieber. - Lieber ist gut. -Immerhin. Einer, der kein persönliches Interesse an mir hat. Der mir nichts beweisen will. Der mich nicht auf meinem ureigenen Feld ausstechen will. Wie Jürgen M.? Komm zu dir! Aus Erfahrung wußte ich: Innerer Dialog ist dem inneren Dauermonofog vorzuziehen. Abu gab ich meinem inneren Zensor zu bedenken, was den Jürgen M. sicherlich antreibe: Nämlich daß er danach gierte, mir zu beweisen, nicht nur ein Schreiber könne alles über eine Person herausfinden — er könne das, auf seine Weise, auch. Auch er könne sich, wie jeder Y-beliebige Autor, zum Herrn und Meister seiner Objekte machen. Da aber seine Objekte aus Fleisch und Blut sind und nicht, wie die meinen, auf dem Papier stehen, ist er der eigentliche Meister, der wirkliche Herr. Und du, sagte die unwillkommene Stimme, die sehr taktlos sein kann, willst also mit ihm in den Wettbewerb treten? Willst den Fehdehandschuh rnelnnen? Ihm zeigen, wer der Meister ist? I )a A U U A • t er doch schon gewonnen, dein sauberer Jur- .nil hat gen. Aberwas soll ich denn sonst machen, fragte ich mich, während ich den Briefkasten im Hausflur «mischlob. Post und Zeitungen herausnahm, was soll ich denn machen. Die Treppe hoch, auf den Flurspiegel zu, der noch nicht zerschlagen ist. Daß ich blaß war. hatte nichts zu sagen, Luftmangel eben, da wünschte die Stimme mir viel Vergnügen im Mittelalter, und ich nannte sie un-verschämt. Übrigens, habe der brausetnnkende junge Mann da unten im Auto nicht etwas Rüh-rendes gehabt?-Ich solle einen miw ürdigen \or-gang nicht verniedlichen. - So gehe es noch um Würde? — Noch? Aber das fange doch gerade erst an. Wer aber sagte uns. was Würde sei? Ich fingan. meine Postzu lesen, nach den übli-chen Präliminarien: nachdem ich mich vergewis-sert hatte, daß kein unliebsamer Absender dabei war, keiner, der mich ängstigte. Nachdem ich dir Umschläge so gegen den Lichteinfall gehalten hatte, bis jener sich spiegelnde Kleberand trat, der offenbar durch das zweite Zukleben entstand. Viel seltener waren die Klebränder der Briefumschläge stärker gewellt als üblich, und nur vereinzelt fand ich den Briefbogen innen an das Kuvert angeklebt. Derartige Pannen sollten vermeidbar sein. Irgendwo - sicherlich nicht mal im verborgenen - mußte es ein riesiges I hingeben (oder gab es etwas kleinere I läuser in allen Bezirken?), in dem täglich waggonweise Post angeliefert wurde, die dann an einem langen Fließband von fleißigen Frauenhänden sortier) und nach uns undurchschaubaren Gesichtspunkten anderen Stockwerken zugeleitet wurde, wo wiederum Frauen über Dampf - oder gab es inzw i sehen effektivere Methoden? - vorsichtig, vorsichtig die Briefe öffneten und sie dem \llerhei-ligsten zuführten, in dem versierte Kollegen die In fW.-v*S«.' , j. Ablü htungsapparaturen bedienen mochten, die wir in unseren Bibliotheken und VerlagshaiiM-ni so schmerzlich vermißten. Km Heer \oti Mit-arbeiten), dem niemals eine Würdigung in der Presse zu teil w u nie.: dem kein'lag im Jahr id- ■JL met war. wie den Bergleuten! den I.ehreni oder den Mitarbeitern des Gesundheitswesens; eine "(•will im iiier weiter anwachsende Schar, die sich damit abfinden mußte, im Dunkeln zu wirken. I )as Wort I )unkelziffer« hakte sich in mir lest, ich schrieb es auf einen Zettel. Die Tätigkeit großer Bevölkerungsteile verschwindet in einer I lunkelziffer. Ich sah Menschenmengen in einen tiefen Schatten eintauchen. Ihr Los kam mir nicht beneidenswert vor. Die Zeitungen legte ich beiseite, nachdem ich die Schlagzeilen überflogen hatte. Drei Briefe hatte ich noch nicht geöffnet. Ich wußte, von wem sie kamen, obwohl auf dem einen weder ein Absender stand noch eine Briefmarke klebte: Der Absender, ein sehr junger Dichter, pflegte seine Post selbst in meinen Hausbriefkasten zu stekken. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Nach seinen Gedichten - diese neuen waren in einem Lager für vormilitärische Ausbildung entstanden -stellte ich unreinen zartgliedrigen stillen Jungen mit sanften blauen Augen vor, der litt, ohne sich wehren zu können, und überlebte, indem er Gedichte schrieb; ich las die Gedichte dieses Jungen widerstrebend, weil ich ihm nicht helfen konn-te, ich schrieb ihm ausweichend, und ich war manchmal wütend auf ihn. mehr noch auf mich. 54 55 Er konnte mein Sohn sein. Ich glaubte vorher/n-sehen, was auf ihn wartete. Sie rannten ins ser. Die jungen Herren, die vor meiner Tür standen - in seine Tür würden sie ohne weitem antreten. Dies war der Unterschied /.wischen in:« beiden - ein entscheidender unterschied En Graben. Mußte ich rüberspringen? Jetzt kämen wir endlich an die richtigen Fragen, teilte mir die bewußte Stimme mit Man BT« kenne sie daran, daß sie einem außer Schmerz auch einegewisseßefriedigunghereiteieii.-Meister Neunmalklug wußte wieder mal alles besser. Gebe es nicht Tage, an denen ich süchtig auf diese Fragen sei? Na und? Ein solcher Tag sei heute jedenfalls nicht. Auch darüber behauptete mein Partner unterrichtet zu sein. Es sei wohl eher einer meiner schwächeren Tage. Ich Verbat mir die Kinn»-^sc^ung.'- Okay, okay. Er sei ja schließlich nu hl alsHichterüberniK Jieingese{zt.-Sondeni?-Al» Begleiter, lautete der lakonische Besi fünf, den ich nur sarkastisch kommentieren konnte ab persönlicher Begleiter. Dir Vnspirliing ließ ihn kalt, \iifgebr.n ht wollte i. h wissen, »er ihn denn eingesetzt habe, und«*r antwortete iui£rniliri Du r selbst, Schwester. Wenn du dich bitte erinnern willst. Ich selbst. Über die zwei Worte kam ich lange Bichl hinweg. Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen »ich selbst« mich zusammensetzte. Das. das sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immernoch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür? He, Freundchen: Mit welchem von den dreien hältst du es? Da schwieg mein Begleiter, verstimmt, aber hilfreich. Das wars. was ich brauchte: glauben zu können, daß ich jenen Dritten eines nahen Tages ganz und gar von mir abgelöst und aus mir hinausgestoßen haben würde; daß ich das wirklich wollte; und daß ich. auf Dauer gesehen, eher diese jungen I lerren da draußen aushalten würde als den Dritten in mir. Woran mochte es liegen, daß seit einiger Zeit eine jede Wahl, vor die ich mich gestellt sah, nur eine Wahl zwischen schlimm und schlimmer war? Lernte man einfach schärfer sehen mit den jungen Herren vor der Tür? Ablenkungsmanöver. Ich hatte jetzt endlich den zweiten Brief zu öffnen, der von einem mei- 57 nernächsten Freunde kam. Der, nach den Einflüsterungen eines anderen Freundes, seit langem ein fester Mitarbeiter der anderen und auf mich angesetzt sein sollte. Falls das stimmte, hätten die sich ihre Post- und Telefonüberwachung, ihre eingebauten Mikrophone und die jungen 1 lerren vor unseren Fenstern sparen können:^ Dieser Freund würde sie alle an Effektivität überbieten. Jürgen M. könnte alle anderen Protokolle und Tonbänderinden Papierkorb werfen und brauch-te nur die Berichte meines Freundes abzuheften. Nicht, daß die mir im Sinne der Behörde gefährlich werden konnten. In einem tieferen Sinn allerdings hätteeskaumetwasGefährlicheres für mich geben können. Gewiß: Jürgen M. könnte sich an meinen innersten (iedanken delektieren; vor al-lern aber wäre dann kein Verlaß auf irgendeinen Menschen, und der Zug zur dunklen Seite des Lebens hin. den ich wieder stark spürte, wurde stärker werden, vielleicht allzu verführerisch, vielleicht unwiderstehlich, und »Leben« würde d.is. wohin es mich zog. nicht mehr heißen \\ ie aber hieß das, was nicht mehr Leben war? Nein. Ich wollteden Brief jetzt noch nicht lesen. Also nun mal langsam. Eins nach dem anderen. Und keine Hektik. Stehn sie noch da? Sie stehen da, und sie werden auch heute stehenbleiben, das weißt du ganz genau. Und wozu haben die das nötig. Wenn er ihnen doch alles sagt? Also nun hör mal zu. Trotz kann j a was Schönes sein, aber ein kühler Kopf wäre besser. Gut: Nehmen wir unseren Freund. Nehmen wir an, er müßte ihnen zu willen sein. Müßte? Müßte! Dein verdammter Hochmut immer! Was sollte er also machen? Uns sein Herz aus-schütten? Damit wir niemals wieder ein unbefangenes Wort mit ihm reden können? Was sonst? Heilige Einfalt! Zum Beispiel: Seinen Auftrag zum Schein erfüllen. Nichts lieferri, was sienicht sowieso wissen. Ihnen keine Handhabe geben, weder gegen dich noch gegen sich selbst. Auf dem Seil tanzen. Artisten, redete ich kummervoll in mir mit mir, \ rüsten wir alle. Doch will ich ihn dann nicht zum Freund haben. Du bist und bleibst ein Luxusgeschöpf. Was denkst du übrigens, auf welche Weise und mit wessen 1 lilfe er von denen loskommen könnte. 59 Doch wohl nicht - Genau. Nur mit deiner f lille. Wenn er es überhaupl will. Warum sollte er es nicht wollen. Du kennst seine Biografie. Mein Freund schrieb aus II., wo er an einem Kongreß teilnahm, er sehne rieb danach, m meiner Küche mit mir Tee zu trinken und nach Herzenslust mit mir zu reden Wenn das ein \er steckter Hinweis darauf sein soll, daß in unserer ••i I • i sVt£* Küche keine Wanzen versteckt sind... Ist ja gut Ich schäme mich. Ich setzte mich an den Schreibtisch und schrieb meinem Freund, ich stecke gerade in einer schwierigen Phase, (iedanken kämen m mir auf. vor denen ich selbst erschrecke. Minnen kurzem, wenn wir in meiner Km he zusammen Tee trinken würden, kannten wir darüber reden. Wer weiß, dachte ich. und mein innerer Begleiter war mir böse wegen des Vorbehalts und ich fragte: Soll ich ihn ohne Vorbehalt in moiiir Küche lassen, und er s.i^te (Huie \onVh.dt -Aber er würde nichts merken, ich wurde gpnr natürlich wirken, das kann ich nämlich I nd sogar, bis zu einem gewissen Grad. offen Die famose innere Stimme schwieg, schwieg, schwieg. Ein Brief lag noch da, der auffallendste von allen, ein langgestrecktes weißes Viereck, Ihn hatte ich nicht nach verdächtigen Anzeichen überprüft: Gab es sie, wollte ich es nicht wissen. Ein amtliches Schreiben. Zerstreut schlitzte ich den Umschlag mit dem Brieföffner auf. Die Sekunden, die ich dafür brauchte, die ich brauchte, den Brief herauszunehmen und ihn zu entfalten, genügten, eine Kette von entlegenen Einfällen passieren zu lassen. Puschkin. Der Briefband, der gerade herausgekommen war. Seine schäumende Wut. als er entdeckte, daß die zaristische l'ostzensur einen seiner Briefe an seine Frau erbrochen hatte. Sein Pathos: So war ihnen nicht einmal der vertrauliche Gedankenaustausch zwischen Gatten heilig! Seine Uberreaktion: daß er dann lange nicht an seine Frau schreiben konnte. Und mein unwillkürliches Gelächter, als ich das las. mein Gefühl der Überlegenheit: Diese überempfindlichen Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert! Wie lange war es her. daß ich keine vertraulichen und vertrauten Briefe mehr geschrieben hatte. Daß ich mich zwingen mußte, überhaupt 6l zu schreiben. Ich wußte es nicht mehr. Wann hatte die Zeit der Als-ob-ßriefe begonnen - aJs ich mich entschlossen hatte, zu schreiben, all ob niemand mitläse; als ob ich unbefangen, als ob ich vertraulich schriebe. Ich wußte es nicht mehr. Nur soviel wußte ich: Für spontane Briefe war icfa verdorben, und die Verbindung zu entfernt wohnenden Briefpartnern trocknete aus. Konnte ii Ii darüber noch Bedauern empfinden? Entsetzen? War es mir nicht selbstverständlich geworden Sie schaffen es, dachte ich. Und wie sie es schaffen. Der Brief hatte einen imponierenden Briefkopf, und er war kurz. Der Mann, der ihn gr-schriebenhatte.warbeidemBriefkopf-Amtangestellt und wollte sich mir als anständiger Mensch präsentieren. Auch in schwierigen Zeiten bliebe er ein anständiger Mensch, sollte ich dem Brief entnehmen, auch in schwierigen Zeiten ließe er mich nicht fallen. Mehr nicht? dachte i< h. halb erleichtert, halb enttäuscht, und zweifellos un-gerecht. Immerhin schriebermir-auf Dienstboten! - . es wäre doch gelacht, wenn es ihm nicht gelingen sollte, mich in den Veranstaltungsplan seiner Institution »einzubauen« - er schrieb »einbauen« in Anführungsstrichen, als Zeichen. daß ihm die Ironie in seinem Angebot bewußt war. Dachte er, daß ich Geld brauche? Nein, das dachte er nicht. Mein Rat, meinte er feinfühlig, meine gelegentliche Mitarbeit könne seinem Laden —er schrieb: »Meinem Laden hier« — nur gut tun. Es wäre doch gelacht, wenn er mich nicht demnächst dazu überreden könnte. Bei der Gelegenheit werde er mir dann auch erzählen, wie es ihm »seitdem« - das einzige Wort, das ihm unkontrolliert entschlüpft war — ergangen sei. r^Klx^ Aber ich wisse ja: Unkraut vergeht nicht'' *t«Ü!«A-v***" Schweigen. Schweigen. Sendepause. Falls du denkst, der kann mir noch weh tun ... Übrigens denkst du richtig: Er kann mir weh tun. Er kann es wieder. , tJ. /^A^ , Dem Brief entströmte ein feines Aroma von Selbstaulgabe. I )as war ja wohl bei ihm angelegt. Und jetzt schreibt er mir diesen Brief, um mir das Gegenteil zu beweisen. Und den hebt er sich gut auf. als Beweisstück für seinen solidarischen Mut. Aber: Einladen wird er mich nicht. Meinen Bat erfragen wird er nicht. In seinen Veranstaltungsplan einbauen wird er mich auch nicht. Die Liste, die ihm das verbietet und auf der auch mein Name steht, wird er womöglich hinter seinem Brief an mich abheften, im gleichen Aktenstück. 6a 63 Na und? Tun wirs zu den Kuchenkrümeln Zum zweiten MaJ an diesem Tag klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme. Warum ist dir n aufgeregt, fragte ich mich, noch ein-1< h wiami konnte, mit wem ich sprach. Sie war aufgeregt, weil sie fürden Abend Komplikatiimrii Inn hii Ii Sie wardie Kollegin K. vom Kulturhaus,dirmu h zu meiner Überraschung für diesen \l>end zu einer Lesung eingeladen hatte, und •>»• w«illtr nun wissen, ob ich nicht eine halbeStundevor Beginn erscheinen könnte. Gewiß, sagte ich. aber warum? Um jede Gefahr, daß es zu unliebsamen Zwi schenfällen kommen könnte. ibraUft km Sie hatte »ahbloi ken« gesagt. Es war dir Sprache, es war der Tonfall, die midi im Schwitten brachten. Welche unliebsamen Zwi^henfahV denn, fragte ich munter. Frau K. bereute schon ihre \iisdru« k»»«-i»«-wiegelte ab. Ach. nichts Besonder«. Nur tonn allgemeinen. Daraufließ sich nun nichts mehr sagen. «utVr Ist gut. Ich komme 1 ruber. Dann mußte ich all Hörer auflegen I« h witterte Unrat Jetzt war es na« h zwölf. Standen sie noch da. Sie standen da. 64 \lso essen wiretwas. Man solltean solchen Tagen nicht allein sein müssen. Allein? Fast nichts konnte ich mehr denken oder sagen, ohne meinen Zensor gegen mich aufzubringen. Wenn du mit diesem selbstmitleidigen (Jeflenne nicht aufhöret... Nun, nun. Übrigens gebe ich dir recht. Ich werde, du weißt schon, wen, ohne Vorbehalte in meine Küche lassen. Ich werde nicht vergessen haben, was ich heute über ihn gedacht habe. Ich werde ihm aber glauben, daß er an mir hängt. Und wer soll ihn da herausholen, wenn nicht einer, an dem er hängt. —Wenn er wirklich heraus will. - Wenn er wirklich drinsteckt. - Einer muß es ja sein. 1 last du vergessen, wieviele Angriffsflächen er ihnen bietet? — Ach scher dich doch zum Teufel mit deiner bigotten Moral. \ ielleicht hatten wir doch nicht einen der aller- hw iichsten Tage erw is< hl. Ich wärmte mir die Rindfleischsuppe vom Nortag und aß achtlos, dabei hörte ich die gleichen Nachrichten wie am Morgen. Vom I lof her kamen jetzt Kinderrufe, aus dem fünften Stock des Nebengebäudes, das meiner Küche gegenüberliegt, antwortete Schlagermusik, gleich würde Frau G. mit ihrer grünen Mütze erscheinen 65 und sich erbittert gegen den Lärm zur Wehr setzen. Sie tat es. Ich stand wieder am Schreibtisch, hatte es aber vermieden, aus dem Fenster zu sehen. (Sie waren noch da.) Ich setzte mich und begann, die Eintragungen in meinem dicken grünen Taschenka-lender nachzuholen, die ich in den letzten Tagen versäumt hatte. Einmal würdeich in einem Zim-mer sitzen - ich stellte es mir kahl vor, ein normales Bürozimmer —, und man würde mir Fragen stellen. Fragen verschiedenen Grades, darunter unverfängliche; ich aber hatte mir vorgenommen, auf keine einzige Frage zu antworten und /..„vi würde mich daran halten (o deine Einbildungen. Schwester!). Dann, nach ein. zwei oder zwanzig Stunden - sprach man nicht von Verhören, die über Tage gingen, mit kurzen Pausen? -. würde mein Verhörer dieses dicke grüne Notizbuch Ii« i vorziehen, in das ich gerade gewissenhaft eintrug, was ich heute, gestern, vorgestern getan, gelesen, gehört, wen ich gesehen hatte, sogar, welches Wetter mir aufgefallen war. Nun. \\ ürde mein Verhörer sagen — er würde bis zu den fragen dritten, auch vierten Grades sehr höflich hlei ben und erst bei den Fragen fünften Grades ganz plötzlich sehr grob werden, aber ich wäre darauf gelallt und würde auch der Grobheit standhalten, ihr vielleicht sogar leichter als der I löllü hkeit (Schwester! Schwester...): Nun. würde er sagen. Reden wir Klartext. I iid er würde mir aus meinem eigenen Notizbuch mit meinen eigenen Worten auf jede Frage die Antworten vorlesen, die ich eben noch so stolz verweigert hatte. Und nun. 1 lerr Neunmalklug, kannst du mirerklären. warum ich trotzdem alle diese Eintragungen ma-che, außer aus Stolz» Tollkühnheit. I lorhmut? Weil du denkst: Sie werden es nicht wagen. Schweigen. Jetzt muBte ich zum Telefon gehen, wühlen, lauschen. I lab ich dich etwa geweckt, sagte ich. etwas zu schuldbewußt. Nein, sagte meine jüngere Tochter. Aber sie frühstücke gerade. - Was v/ri* »- denn. — Die Aufzählung war lang und wurde gebilligt: Das sei also, was sie »Frühstück« nenne. Andere Leute würden sich davon zwei Tage ernähren. - Dafür esse sie dann auch zwei Tage lang nichts. — Dies sei ja das Unglück. - Sie er- ' t2^~ « mm fragte und erhielt Auskunft über ihren Vater. -And what about yourself, Ma'am? - O marvel-lous. sagte ich. und sie sagte: Primiximo, worauf ich sie aufforderte, sich einer allgemein verstand-liehen Redeweise zu bedienen, was sie entrüstet Mi 67 ablehnte. Wie Sie denken. FroJI.-m sagle vi Aber womit verbringen Sie ihre Dulden Tagr*-Oh, dear! sagte die jüngere Tím hier Bitte krar Indiskretionen!-Jetzt mal im Krmi Nhl kurifliK um I larlr grltrti Da» (rrj-rnlril \.m wn. Ii itl m« Iii hart Da« I ertilrtli«.*! w.i. I. i«| unn.,. Iifiir»f, .. I |t»rt »i« Ii phanl^«lM< Ii an I ml in *»rl« lir «|ri> tirrxirlrn law hrn /aiil*rr»l du ijrmr \nj-*l ' \Irin IntU hrn \nc»l ' Damit mu»*rti *» ir Irlirn \N rin tla« tu« hl |«alil. Art kann \m grhm I r»d wrr mir \njr»t nuuh«-ti «tili mit dw*m Htldrm. fl-nete? - Dies konnte Frau K. aus feuerpolizeih-chen Gründen nur als unsittlichen Antrag ablehnen. - Allein gelassen, blätterte ich in meinem Manuskript, trocknete mir den Schweiß vom Gesicht und bespritzte mich mit Kölnisch Wassel Hatten diese alten unübersichtlichen Berliner Häuser nicht alle einen versteckten Hinterausgang? Mündete der nicht vielleicht neben der Tür zur Toilette, die ich noch unauffällig aufsuchen könnte? Wobei ich. ebenso unauffällig, die Im lettentürmit dem Ausgang verwechseln konnte ' Daß es das erste Mal wäre, war schließlich kein Argument. Einmal muß man mit allem anfangen. Da kam Frau K. schon zurück. Hatte die wartende Gruppe sich zerstreuen hissen.' - leider nein. - Frau K.. die an vielen Stellen gebebt hatte, seit ich sie kannte, bebte nun auch am Kinn. Was immernoch gesi heben iikm hte. ließ sie tun Ii wissen, sie sei entschlossen, die Veranstaltung beginnen zu lassen. Da unten, an der Einlaßtür. mußte mit ihr etwas passiert sein. Wie sie nun vor mir herging, geht nur ein zum Äußersten entschlossener Mensch. Wenn Grün wirklich die Farbe der Hoffnung ist, ihr grüner Pullover signalisierte alles Mögliche, Hoffnung nicht An der Tür zum Veranstaltungsraum stellte sieh heraus, daß sie nicht gedachte, mich zu begrüßen. Ich solle einfach vorgehen und Irisch von der Leber weg beginnen. Die Leute merken schon von selbst, wenns anfängt, sagte Frau K. Mein lieber Mann, dachte ich. Das hatten wir allerdings noch nicht. In dem Baum war es still. In einem schmalen Gang zwischen Stuhlreihen schlängelte ich mich zum Podium durch, auf dem ein nackter I lolz-tisch stand, ein einfacher Stuhl, eine Lampe. Ich nahm die hohe Stufe, setzte mich. Zwei, drei Händepaare klatschten. Die gehörten also nicht zu den sechsen in der Liste. Oder gerade doch? Ich sagte, was ich lesen wollte, und begann. Den Text kannte ich auswendig. Die Sätze betonen sich von selbst, die Stimme hebt sich, senkt sich, wird weicher, härter. Wie es sich gehört. Alles mechanisch, keiner wird es merken. Aus 90 0 9« welchen Gründen Sie, meine Damen und I Irrren, immer gekommen sein mögen: Sie werden korrekt bedient werden. Das Honorar, mit dem Sie mich gedungen haben, ist bescheiden, aber ich liefere Ihnen den vollen Gegenwert. Was j( b ganz gerne wüßte: Mußten Sie etwa in die eigene Tasche greifen, oder haben Ihre jeweilig« Dienststellen Ihnen die eine Mark fitnfrjg pro Eintrittskarte bezahlt, wie ich doch hoffen will' Müssen Sie Kulturbeflissenheit wenigstens vortäuschen für diesen Job, oder nicht einmal das? Und wie sind Ihre Instruktionen!' Heil,dl am Ende, und wenn ja. wie stark? Oder .Mißfallenskundgebungen? Aber bei welcher Gelegenheil ' Arbeiterfäuste sind ja wohl nicht mehr zeitgemäß. WACHSTUMWOHLSTANDSTABIUT VI Oja. Sie werden bedient werden. Eines Tages werdet ihr bedient sein. Kolleginnen und Kollegen. Übrigens: Warum gerade ihr? Warum gerade dieser junge Kerl da vorne links, dem der Schweiß von der Stirn rinnt, aber er wis< hl ihn nicht ab? Traut er sich nicht, um nicht aufzufallen ? Ist er so interessiert, wieer tut ? I Ind das Mädchen hinter ihm. die Langhaarige-wo könntedie angestellt sein. Oder sind die beiden gar nicht herbeordert, sondern gehören zu denen «von der 92 Straße«? Zu denen, für die ich ganz anders lesen müßte. Warum müßte: Muß. Und wenns nur die beiden wären. Aber es können auch zwei, drei I hitzend sein, und ich habe nicht melirnn liege* dacht. Und warum ist mir nicht eingefallen, daß es auch für die anderen lohnen würde, für die, die man hergeschickt hat? Denn wo steht geschrie-I ich. daß sie aus Eisen, daß sie nicht auch vertu br-bar sind. Also gut. Jetzt streng ich mich an. Jetzt legte ich keinen Wert mehr auf eine Einteilung des Publikums, nach welchen Gesichtspunkten auch immer. Wie sich in den über hundert verschiedenen Köpfen die Welt spiegeln mochte - ich wollte für diese eine Stunde meine Welt in ihre Köpfe pflanzen. Ich hatte keine Einwände, nicht den mindesten Vorbehalt mehr gegen irgendeinen dieser Zuschauer, und — zwar konnte ichs nicht schwören, doch glauben wollte ich es nur zu gerne - auch die sechs oder wieviele es sein mochten vergaßen vielleicht für kurze Zeit nicht ihren Auftrag, doch ihr Vorurteil. Denn wo kämen wir hin. wenn es Mode würde, in die Hand zu spucken, die einer dir offen hinhält. Ich sah. wie gerne die Kollegin K. die Pause, die vor dem ersten Diskussionsredner eintritt, dazu 95 benutzt hätte, die Veranstaltungzu schließen, die zu eröffnen sie sich standhaft geweigert li.itu-Noch war nichts passiert, aber in jeder Sekunde -zum Beispiel jetzt, da der junge Mann aus der ersten Reihe aufstand, der, der so schwit/tr -konnte es passieren. Aber der junge Mann wollte ja nur wissen, wann das Buch erscheinen wurde, und schlauer hätte auch keiner von den sechseri die Diskussion eröffnen können, denn nun verstrich Zeit mit Sachinformationen über die Herstellung von Büchern. »Sachliche Atmosphäre« könnte in den Berichten stehen, die hoffentlich morgen an geeigneter Stelle zusammenliefen. Die Diskussion fand in einer sachlichen Atmosphäre statt. Aber man soll sich nicht zu früh freuen. Man soll die Wachsamkeit den eigenen Gefühlen gegenüber niemals vernachlässigen. Ks erhol» sich in der letztem Reihe eine junge Frau von der Art. gegen die ich wehrlos bin. und brachte das Wort »Zukunft« ins Spiel - ein Wort, gegen das wir alle wehrlos sind und das imstande- ist. die \t-mosphäre eines jeden Raumes zu verändern und eine jede Menschenansammlung zu bewegen. Die junge Frau - Lehrerin? Musikstudentin? Technische Zeichnerin ? - hätte sich nie das I lerz gefaßt, öffentlich zu sprechen, wenn sie nicht extra gekommen wäre, um die für sie unaufschiebbare Frag«'zu stellen: aufweiche Weise aus dieser (iegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukunft herauswachsen solle. Sie sprach ohne Betonung, sie warf sich nicht auf. klagte nicht an, ließ nichts durchblicken. Sie wollte nur wissen. Alle im Saal hatten das Signal vernommen, ein jeder auf seine Weise. Das Bronzeschild der Kollegin K. begann verzweifelt zu scheppern, das half ihr nun rein gar nichts mehr. Und wenn in großer Leuchtschrift die Wörter WACHSTUM WOHLSTAND STABILITÄT an der Wand erschienen wären — nichts hätte mehr geholfen, denn nun standen die wirklichen Fragen im Raum. die. von denen wir leben und durch deren Entzug wir sterben können. Ich sagte etwas in dieser Art und gab mir Mühe, wie ich es mir angewöhnt hatte, die junge Lehrerin, die vielleicht arglos unter Argen saß, nach Kräften zu decken und den Anlaß für ihre Frage auf mich zu nehmen. Gleich schämte ich mich dieses Manövers, denn an mehreren Stellen im Saal gingen die I lande hoch, erhoben sich Stimmen, die die Frage der jungen Frau nicht nur als ihreeigene wiederholten, sondern sie erweiterten 94 95 und sich in unbekümmerter und rücksichtsloser Manier auf sie einließen. Was taten diese Leute. Sie brachten sich in Gefahr. Aber mit welchem Recht hielt ich sie für dümmer als mich? Mit \\ rl-chem Recht nahm ich mir heraus, sie vor ril Ii selbst zu schützen? Da schwieg ich denn und hörte zu, wie ich in meinem Leben nicht oft zugehört hatte. Ich vergaß mich, man vergaß mich, zuletzt vergaßen wir alle Zeit und Ort. Der Raum lag im I lalbdunkel. Mit den Formen fiel bald die Förmlichkeit. Es fiel die entsetzliche Angewohnheit, für andere zu sprechen, jeder sprach sich selbst aus und wurde dadurch angreifbar, manchmal zuckte ich noch zusammen: Wie angreifbar. Aber das Wunder geschah, keiner griff an. Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmachen, wenn sie nicht sofort, bei dieser vielleicht letzten Gelegenheit, ihr Scherflein beisteuerten für jenes merkwürdig nahe, immer wieder sich entziehende Zukunftswesen. Jemand sagte leise »Brüderlichkeit«. Wahnsinn, dachte ich: ein anderer sprang auf. schüttelte die Fäuste, griff sich an den Kopf vor soviel Naivität und wußte nicht, wie ihm geschah, als sie ihm von verschiedenen Seiten ganz ruhig den Gebrauchswert des utopi- schen Wortes vorhielten: er setzte sich kopl schüttelnd, ein anderer, der sich gerne reden hörte, wurde heiter auf das Wesentliche hingelenkt, das immerhin auch er meinen mochte. Als stehe man vor einem Fest, wurde die Stimmung im Saal immer lockerer. Buchtitel wurden durch den Kaum gerufen, manche notierten sie sich, andere fingen an, mit ihren Nachbarn zu reden, um die junge Erau.diezuerstgesprochen hatte, bildete sich ein Kreis. Wo hatte nur die Kollegin K. ihre Sinne. Trug sie nun Verantwortung oder nicht. Aber da war sie schon, leise klirrend, sporenklirrend, hätte man denken können. Noch grüner war ihr Pullover, noch röter schimmerten ihre Wangen. Bebte sie? Gewiß, sie bebte. Ihr Körperbeben übertrug sich auf ihre Stimme, die dennoch entschlossen klang. Dies sei nun aber der rechte Moment. Ein jedes Beisammensein müsse einmal. Daher beende sie hiermit, und sie glaube im Namen aller zu sprechen. Die Dankesformel. Die Blumen: fünf Gerberastiele, in Asparagis eingebunden. Einen guten Nachhauseweg allerseits. I )och blieb man sitzen. I latte Frau K. sich geirrt? War es doch nicht der rechte Moment? Andererseits: Worauf wartete man noch? Das wußte 97 keiner, aber als der alte Mann in der zweiten Reihe sich erhob, der aussah wie ein Arbeiterveteran, da schien man gerade auf ihn gewartet zu haben. Er wollenur, als derweitaus Älteste in dieser Runde, sich das Recht nehmen zu einer kleinen Freundlichkeit. Damit holte er aus einem uralten Leinenbeutel einen flachen, in Seidenpa-pier gewickelten Karton, den er mir überreichte. Jetzt konnte gelacht, geklatscht werden, man konnte aufstehen und sich allmählich zerstreuen. Einige brachten Bücher zum Signieren nach vorn, unter ihnen die junge Frau, die nach unserer Zukunft gefragt hatte. Was sie mache. - Ach. Krankenschwester. - Warum sie da »ach« sage -Ach, das sei doch nichts Besonderes. Hier hätte der Abend enden müssen. Statt des sen gab es ein Nachspiel. Die beiden jungen Leute, die sich von der Tür her näherten und bisher nicht im Publikum gewesen waren, erollne-ten es. Ein harmloser junger Mann, ein nettes junges Mädchen mit blondern krausen Haar. Während ich ihre Bücher signierte, nannte der junge Mann seinen Namen. Er war es also, der mir seit einigen Monaten seine < iedi« hie in den Briefkasten steckte. Das träfe sich ja gut. daß man sich auf diese Weise einmal zu Gesicht bekäme. I ),i fragte der junge Mann: Wissen Sie eigentlich, daß man die Wartenden unten vor der Tür mit der Polizei auseinandergetrieben hat'.' Das Gefühl, als sinke in mir ein Fahrstuhl sein ichnel] nach unten, kannte ich ja. Mit der Polizei? \her warn in denn'.' lud ich soll das gewußt . . . Kollegin K.! Die Kollegin K. stand bereit. Ja leider. Leider sei es nötig gewesen, polizeilichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Die Zusammenrottung sei ausfallend und aggressiv geworden. Die beiden, Junge und Mädchen, sagten leise: Das ist nicht wahr. Nicht wahr? Das wußte die Kollegin K. nun aber besser. Sie selbst habe man beschimpft, als sie versucht hatte, die Zusammenrottung gütlich aufzulösen. Gütlich! sagten die beiden Jungen wie aus einem Mund. Sie. fragte ich die Kollegin K.. habe also von dem Polizeieinsatzgew ußl ? Ihn womöglich sogar veranlaßt? Das habe alles seine Ordnung und Richtigkeit. Man habe sie schließlich vom Revier aus angerufen, um ihr zu versichern, ein Einsatzwagen stehe auf Abruf bereit. «>«» Wann! Wann habe man sie vom Revi« m angerufen. Gegen haJb sieben. Natürlich, vor der \«-r.»n staltung. Aber es war ja abzusehen gewesen, wi* da kommen würde. Aber was denn. Was sei denn gekommen, fragten der Junge, das Mädchen und ich Da stand, wie aus dem Boden gew.u I ben der von Kopf bis Füll klirrenden und bebenden Kollegin K. ein Mann, kaum größer nl aber offensichtlich um ein. zwei Gehaltsstufen kompetenter: der Leiter des Cltibh.iiises ihr Chef. Der sich nun doch gezwungen sah. sein Inkognito zu lüften. Einfach, um den iiingrn Leuten hier mal. Also im Klartext: Was gekommen sei? Nun. Er habe mal. vor Jahren angefangen, Jura zu studieren. Aber auch ohne das: Ein jeder gesund empfindende Mensch nenne «... dann gekommen sei. Hausfriedensbruch, lud gegen Derartiges unterhallen wir allerdings, auch wenn das manchen Leuten nicht glücklicherweiseeine schlagkräftige IU/n Ines bloß mal zur Klarstellung. Im uhngen habe m die Polizei überhaupt nicht durchgriffen, es ihr gutes Hecht gewesen wäre Mir, sagte das junge Mädchen, hat einer ihnen gesagt, uns hätten sie in Nullkommanichts .mldrei, vier I .ast wagen geladen und abtransportiert, dann wäre die Luft sauber. fies.int' s.int,. ,|rr Clubhausleiter überlegen. Aber was haben die Polizisten getan! Sie haben die Leute, die unten im Hausflur standen, rausgedrängelt und geschubst. Na also, da sagen Sie es selbst. I )ie Polizei hat auf unblutige Weise das I lausrecht wiederhergestellt. Ob denn die Kollegin Schriftstellerin überhaupt wisse, daß ihre Fans sich gewaltsam Zugang ins 1 laus verschafft hätten. Gewaltsam! sagte der junge Mann. Draußen wars langweilig, wir vertrieben uns die Zeit mit allerhand Blödsinn. Von der Tür rief einer, einen Dietrich müßte man haben!, da hat einer einen nach vorne durchgegeben, damit machten sie die Tür auf. ging ganz leicht, und ein paar sind rein-begangen. Das war alles. Vollkommen friedlich wars. sogar lustig, so was wie ein 1 Iappening. Glauben Sie bloß nicht, irgendeiner wollte Ihre \ eranstaltung stören. Was ich glaubte, war unerheblich. Ich sah, die Kollegin K. hatte zwar von dem Polizeieinsatz, nicht aber von dem Hausfriedensbruch gewußt und war nun sehr erleichtert. Ich fragte mich ioo lOl auch, was eigentlich die beiden jungen Maiimi gemacht hatten, die vorne an der Tür standen, als der Dietrich durchgereicht wurde. War er vielleicht auch in ihre Hände gekommen? An dkffl Geschichte war etwas von Grund auf Unstimmiges, was mir sehrzudenken gab. Dieser Anrul um halbsieben, als kein Mensch an einen Dietrich dachte... Oder doch? Ich hatte mich zu früh gefreut. Jürgen M. oderwerauch immer kriegte seinen Bericht, wahrscheinlich sogar drei, vier saftige Berichte, die ihn befriedigen und meine AU bereichern würden. Und wäre es nicht denkbar, daß mein alter Freund Jürgen M.. der seine jungen Männer so lange ergebnislos vor unserer I ür herumstehen ließ, sich eine solche Bereicherung meiner Akte etwas kosten ließe. Denkbar schon, sagbar nicht. Unsagbar. Unaussprechlich. Also gehen wir. Einen Moment noch. Der Clubhausleiter wollte nun doch noch Gelegenheit nehmen, zusammenfassend festzustellen, daß erden Abend im großen und ganzen für durchaus gelungen halte und daß die unliebsamen Zwischenfalle am Bande die Kollegin Schriftstellerin ja gar nn ht betroffen hätten. Am besten, sie vergäße sie überhaupt möglichst schnell. Dies fand die Kollegin ioj K. auch, klirrenden Schildes und bebenden Kinns. Die Augen fest auf ihren Chef geheftet, formulierte sie den Satz vor, den sie in ihren Bericht hineinschreiben würde: I )ie I .esung verlief normal, in einer aufgeschlossenen Atmosphäre und zur Zufriedenheit des Publikums. So ist es, sagte ihr C ^lief. Ich ging, flankiert von den jungen Leuten. Je-iii.nn! lii.H hte mir die Blumen nach, die ich liegengelassen hatte. Die beiden begleiteten mich bis zum Auto; ist schon besser, sagte der Junge. \iel redeten wir nicht. Die I )raulieiistelienden seien wirklich friedlich gewesen, friedlich und improvokativ. Man habe miteinander geredet. Sie beide zum Beispiel - sie hätten sich dabei überhaupt erst kennengelernt. Schön, sagte ich. Ich sei jetzt wohl müde. Ja. ()b es eine gute I hskussion gewesen sei. O doch. Es ging um Zukunft, wissen Sie. Was bleibt. Was bleibt. Ich mußte lachen. Ich wußte, es war gefährlich, wenn ich jetzt anfing zu lachen. Ich schaffte es, aufzuhören. Die jungen Leute stellten fest, daß 103 0 sie beide den gleichen Heimweg hallen. Auf ein andermal, sagte ich, stieg ins Auto und fuhr lo». Ich dachte nichts weiter, als daß ich müde u u Und wenn sie nun wirklich welche von den Jungen auf ihre Lastwagen geladen und mitgenommen hätten. Und wenn sie nun... Jetzt waren wir soweit. Ich konnte nichts mehr tun Kaltgestellt nennt man das. Mit dem Rücken an der Wand. Um diese Zeit gibt es keinen Verkehr mehr in der Oranienburger, erst recht nicht in der In cholskystraße. Ich fuhr mechanisch und parkte in der ersten Reihe auf dem großen Parkplatz, unseren Fenstern direkt gegenüber, unmittelbar neben dem Auto, in dem zwei junge I lerren saßen und rauchten. Dieses Auto mochte bei Tageslicht blau sein. Dunkidblau. Soll es. Solln Bei Tageslicht und auch nachts, sommers und winters. Es war dreiundzwanzig l 'hr fünf Die Wohnung war dunkel und >tdl l< Ii ging durch alle Zimmer, barfuß, und knipste alle Lampen an. In der Küche stellte ich die GenSera ins Wasser. Ich starrte in die Bildröhre auf den Ansager, der mir (Jute \a< hl «uns- lite und entschwand. Ich musterte die Schallplalten durch 104 m Exsultate Jubilate. Was soll das mir. Was mir das schmerzlich geliebte »Fremd bin ich eingezogen«. Fremd zieh ich wieder aus. Nichts trifft. \n den Bücherregalen entlangstreichen, sogar die Trittleiter nehmen, die oberen Reihen durchforschen, hier einen Buchrücken antippen, da einen Titel ausprobieren. Nichts geht mehr. Alle guten Geister, sogar meine 1 ledigen, hatten mich verlassen. Einzelne Zeilen mochte es noch geben. Mit meinem Mörder Zeit... Das ging. Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein. Ins Bad gehen, in den Spiegel starren, den ich nicht zerschlagen konnte, weil sie ihn vor mir zerschlagen hatten. Die Weichen waren gestellt. Der Gang betoniert, durch den sie uns treiben würden. Ins Zimmer zurückgehen, das Radio anstellen. Den Konfektkarton auswickeln, den der weißhaarige Mann mir geschenkt hatte. Die Karte lesen, die dabeilag. Der Mann war also ein Pfarrer und wünschte mir Gottes Segen. Bei lauter Radiomusik. Schlager, saß ich und aß ein Stück Konfekt nach dem anderen, bis der halbe Karton leer war. Was jetzt. Das Telefon klingelte. Es war Mitternacht. 105 Meine älteste Tochter hatte von einem I r- . erfahren, was losgewesen war. Einer von «U,-:. die draußen gestanden hatten. Sie hätten nicht provoziert, sollte sie mir sagen. Wirklich nicht Sie seien ganz gut gelaunt und heiter gew.s.: Sie hätten mir keine Schwierigkeiten m.i< I •: wollen. - Weiß ich doch. - Aber wie klingt denn deine Stimme. - Normal, nehme ich .111 -Manchmal, sagte meine kluge älteste Tochter, müsse man sich einfach am eigenen Si hopl ptk-ken und sich ein paar Jahre voraus versetz« 1 Ach. Das sei also ihr Rezept. Warum sie im Iii in Bett liege, sondern zu nachtschlafender Zeit in der Weltgeschichte herumlelefomere. - Darauf wolle ich doch wohl keine Antwort haben. Oho dem Vater besser gehe.-Ja.-Also' MlesUm man eben nicht haben. Stünden sie wieder vorm Haus? - Sie stünden. - Störe es mi< h noch -Nein. Es störe mich nicht mehr. Aber dal) auch meine eigenen Töchter mir nachspionierten, da» störe mich. - Na dann tsi lins, sagte meine Torh-ter. Was ich noch sagen wollte: sie haben ja recht, dir zu mißtrauen. - Das fange ich grrade zu begreifen an. s.iiite n Ii. Als ich den I lörer aufgelegt hatte, schliß da» Telefon sofort wieder an. Ein Mann, den ich nur 106 flüchtig kannte, wollte mir sagen, er habe am \bend vor dem Kulturhaus zwischen den jungen Leuten gestanden. Die hätten wirklich nicht provoziert. — Das wisse ich, sagte ich. — Wie es mir gehe. - Gut. sagte ich. - Wirklich? - Ich sagte: Besser. - Ich gebe Ihnen mal meine Telefonnummer, sagte der Mann, an den ich mich auf einmal erinnerte. Sie können mich immer anrufen, auch nachts. - Ich sagte: Meine Güte. Telefonseelsorge. - Machen Sie sich nur lustig, sagte der Mann. Ist mir sogar lieber als was anderes. Ich schrieb mir die Nummer auf. Ich ging durch alle Zimmer und drehte alle Lichtschalter ans. bis nur noch die Sehreibtischlampe brannte. Diesmal hätten sie mich aber beinahe gehabt. Diesmal haben sie. ob sie es nun darauf angelegt hatten oder nicht, den Punkt getroffen. Den ich eines Tages, in meiner neuen Sprache, benennen würde. Eines Tages, dachte ich. werde ich sprechen können, ganz leicht und frei. Es ist noch zu früh, aber ist es nicht immer zu früh. Sollte ich mich nicht einfach hinsetzen an diesen Tisch, unter diese Lampe, das Papier zurechtrücken, den Stift nehmen und anfangen. Was bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und 107 woran sie zugrunde geht. Daß es kein I n»l. ■ gibt außer dem, nicht zu leben. Und am Kndr keine Verzweiflung außer der. nicht pfebl zu haben. Juni-Juli 1979/November 1989 Christa Wolf im Luchterhand Literaturverlag ( hruu Ui>» im l uchlcrhand l iteraturvcrlag Angepaßt oder mündig? Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989 Herausgegeben von Petra Gruner Sammlung Luchterhand 926 Ansprachen 96 Seiten. Gebunden Die Dimension des Autors Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985 960 Seiten. Leinen Auch in der Sammlung Luchterhand 891 und 892 Gesammelte Erzählungen 228 Seiten. Gebunden Auch in der Sammlung Luchterhand 361 Im Dialog Aktuelle Texte. Sammlung Luchterhand 923 Kassandra Erzählung. Sammlung Luchterhand 455 Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra Frankfurter Poetik-Vorlesungen Sammlung Luchterhand 456. Originalausgabe Kassandra. Erzählung und Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra Bibliophile Ausgabe in der Luchterhand Bibliothek 420 Seiten. Leinen Kein Ort. Nirgends. Sammlung Luchterhand 325 kindhciiimuttcr Roman Sammlung Luchterhand 277 Bibliophile Aufgabe in der Luchterhand Bibliothek S52 Seilen, leinen Nji hdenken über < htiM.t T. Mit einem Nachwort von Hans Mayer 248 Seiten. Leinen Auch in der Sammlung luchterhand 31 Sommerstuck Erzählung 224 Seiten. Leinen ■ Dieses Biuh iNt. w.is es nicht gibt: eine idyllische Elegie. Ks ist die vielleicht ergreifendste Prosa der Christa Wolf - ganz leise, traurig, ohne Pathos, sattgesogen von Abschied, doch gar nicht iranendick: Altern ist Ruckzug. Was vorliegt, ist ein kleines grc»lse\ Meisterstück.« Fritz J. Raddatz, Die Zeit Störfail Nachrichten eines Tages Sammlung Luchterhand 777. Originalausgabe l nicr den Linden Erzählung. Sammlung Luchterhand 249 ( hnsia Wolf/Gerhard Wolf T ill Fulempiegcl Sammlung Luchterhand 430 ( hmta Wolf. Ein Arbeitsbuch Studien, Dokumente, Bibliographie Herausgegeben von Angela Drescher <60 Seiten. Broschur Inhaltsübersicht MZK-NK Brno •2b1d004972» OS. ISBN 5-446- ■ ys<<4 f (Leinen) ISBN j-446-i»56j-7(Brojchur) Alle Reihte an dieser Gesamtausgabe vorbehalten O Carl Hanser Verlag München Wien 1998 Ausstattung: Bernd Pfarr Gestaltung und Herstellung: Hanne koblischka und Mcike Harms Texterfassung: Randall L.Jones, Brigham Young Univcrsity, Provo/Utah Satz: Filmsat/ Schröter GmbH, München Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Pnnted in Germany 7 Fabian 200 Fabian und die Sittenrichter 202 Fabian und die Kunstrichtcr 205 Der Herr ohne Blinddarm 211 Die Doppelgänger 227 Der Zauberlehrling 325 Briefe an mich selber 333 Kurze Geschichten und Kurzgeschichten 369 Anhang 371 Nachwort 385 Kommentar 443 Inhaltsverzeichnis 261D004872 FABIAN Die Geschichte eines Moralisten Erstes Kapitel Ein Kellner als Orakel Der andere geht trotzdem hm Ein Institut für geistige Annäherung Fabian saß in einem Cafe namens Spaltehol/ und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Bcauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndircktor Neumann, Llcfantcn auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an und rief den Kellner. •Womit kann ich dienen?- fragte der. -Antworten Sie mir auf eine Frage.« •Bitteschön.« »Soll ich hingehen oder nicht ?« •Wohin meinen der Herr?« ■Sie sollen nicht fragen. Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder nicht?« Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: »Das beste wird sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr.« Fabian nickte. »Gut. Ich werde hingehen. Zahlen.« erste» kapitel 9 »Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!« »Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen.« »Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?« »Dann auch. Bitte zahlen!« »Das versteh ich nicht«, erklärte der Kellner ärgerlich. ••Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?« »Wenn ich das wüßte«, antwortete Fabian. »Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig, neunzig Pfennig«, deklamierte der andere. Fabian legte eine Mark auf den Tisch und ging. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am Wittenbergplatz auf den Autobus i klettert, an der Potsdamer Brücke in eine Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man ist. Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet, über l lolzbohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stundenhotels entlang, zum Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, die ihm Bcrtuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau Sommer. Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimstaler Straße fragte ihn ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er beschied das Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam. Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein Flugzeug knatterte über die Dä-dHB Plötzlich regnete es Aluminiumtalcr. Die Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an icncs Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hochhebt, um das Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt. Dann holte er von der steifen Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. »Besucht die Exotikbar, Nollendorfplatz 3, Schöne Frauen, Nacktplastiken, Pension Condor im gleichen Hause-, stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung, er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hin- 10 fabian unter, auf den jungen Mann in der Joachimstaler Straße, im Gewimmel der Menge, im Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig entzündeten Nacht. Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge war es, mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte. • Passcnsc auf!« schrie der Polizist. Fabian zog den Hut und sagte: »Werde mir Mühe geben.« In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner, erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Mantel und verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame, bestimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte: »Darf ich Sie in mein Büro bitten?« Fabian folgte. »Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bcrtuch empfohlen.« Sic blätterte in einem Heft und nickte. »Bcrtuch, Friedrich Georg, Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraßc 9, musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünfundzwanzig Jahre alt.« »Das ist er!« »Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in dieser Zeit fünfmal anwesend.« •Das spricht für das Institut.« »Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn Mark extra.« •Hier sind dreißig Mark.« Fabian legte das Geld auf den Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine Schublade, nahm einen Federhalter und sagte: »Die Personalien?« »Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schapcrstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?« ihstes kapitel 11 • Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?. »Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig Lassen Sie die Rubrik frei.« Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst: «Ich darf Sie, bevor wir hin eingehen, mit den wichtigsten Statuten bekanntmachen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen I Krrschaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichten des Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräumc hat keins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden, I Ii11 Fabian?« »Vollkommen.« »Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.« Dreißig bis vierzig Personen mochten anwesend sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an, •-«etc. daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksoda und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgc-scllschaft? •Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind«, bemerkte cm kleines schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu rauchen an. »Sie wirken sympathisch«, sagte sie. »Sie sind im Dezember geboren.« »Im Februar.« »Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte Natur. Sic kommen nur aus Neugierde?« • Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Sub-stanzpartikcl bestünden aus umeinander kreisenden elektrischen Energiemengen. Halten Sic diese Ansicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung, die dem wahren Sachverhalt entspricht?« •Empfindlich sind Sie auch noch?« rief die Person. »Aber es macht nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?« Er hob die Schultern. »Ist das ein förmlicher Antrag?« »Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als Ehemann vor.« • In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen.« Sic lachte, als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf sein Knie. »Richtig gehofft! Man behauptet, ich litte an stel-lungssuchcnder Phantasie. Sollten Sic im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen, meine Wohnung und ich sind klein, aber stabil.« Er entfernte die fremde und unruhige Hand von seinem Knie und meinte: »Möglich ist alles. Und jetzt will ich mir das Lokal ansehen.« Et kam nicht dazu. Wie er sich erhob und umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm und sagte: »Man wird gleich tanzen.« Sie war größer als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige Schwadro-neuse befolgte die Statuten und verschwand. Der Kellner setzte das Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewegung. Man tanzte. Fabian betrachtete die Blondine sorgfältig. Sic hatte ein blasses infantiles Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener Grad von Schweigsamkeit erreicht wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines belanglosen dazu, unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander i 2 fabian erstes kapitel «3 neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufgerissen hatten. Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nicht auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie breche auf. Er ging mit. Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen. »Aber ich habe nur noch zwei Mark«, erklärte er. »Das macht fast gar nichts«, gab sie zur Antwort, und dem Chauffeur rief sie zu: »Licht aus!« Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn in die Unterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Verdeckscharnicr, hielt sich den Kopf und sagte: -Aua! Das fängt gut an.« »Sei nicht so empfindlich«, befahl sie und überschüttete ihn mit Aufmerksamkeiten. Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm weh. Fabian war nicht bei der Sache. »Ich wollte eigentlich, bevor Sic mich erwürgen, noch einen Brief schreiben«, röchelte er. Sic boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen, die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte weiter. Seine Bemühung, sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung führte zu neuen Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang. Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Gesicht, bezahlte die Fahrt und äußerte, vor der Haustür: »Erstens ist dein Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee.« Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte: -Ihr Antrag ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein.« •Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen wird dich wecken.« »Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen. Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Tele- fabian gramm. Das bringt die Wirtin ins Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache.« »Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten wirst?« • Ich weiß sogar, was drinsteht.« •Nämlich?« • Es wird heißen: -Scher dich aus dem Bett. Dein treuer freund Fabian.< Fabian, das bin ich.« Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute sich über den gelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still. Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser entlangspaziercn könnte! »Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?« »Nein, aber das ist der pure Zufall«, sagte er. »Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konsequenzen nichts liegt?« fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf. »Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig.« • Also hopp!« sagte sie. »Der Neugier sind keine Schranken gesetzt.« Die Tür schloß sich hinter ihnen. fcrstes kapitel 15 Zweites Kapitel Es gibt sehr aufdringliche Damm Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen Betteln verdirbt den Chartktir Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschentuch und rieb die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Krawatte saß schief. Die Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. »Wissen Sic, was eine Megäre ist?« fragte er. Sie legte den Arm um ihn. »Ich weiß es, aber ich bin hübscher.« Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete. »Bringen Sie uns Tee.« »Der Tee steht in Ihrem Zimmer.« »Gut. Gehen Sie schlafen!» Das Mädchen verschwand im Korridor. Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ms Schlafzimmer, schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaretten zurecht und sagte mit einer umfassenden Geste: »Bediene dich!« »Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!« »Wo?« fragte sie. Er überhörte das. »Sie heißen Moll?« -Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasialbildung etwas zu lachen haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder.« Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß. »Na, es wird ja langsam«, meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee und ein Glas Kognak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit. Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert war es nicht. Was hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu reizen. Er trank den dritten Kognak und neb s,ch die Hände. Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, mußte sie ■ 6 FABIAN haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt. »So, nun wird der kleine Junge geschlachtet«, sagte die Blondine. Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen Schritt zurück. Sie aber rief »Hurra!« und sprang ihm derart an den Hals, daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dame auf den Fußboden zu sitzen kam. r»Ist sie nicht schrecklich?« fragte da eine fremde Stimme. Fabian blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein dürrer, großnasiger Mensch und gähnte. »Was wollen Sic denn hier?« fragte Fabian. »Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß Sic mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen.« »Mit Ihrer Frau?« Der hindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vorwurfsvoll: »Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du schon wünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du sie mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das wird dem Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als du mich wecktest ... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsanwalt und außerdem«, er gähnte herzzerreißend, »und außerdem der Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht^« \ Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und ordnete seinen Scheitel. »Hält sich Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein Name ist Fabian.« Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Es freut mich, einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich. Das ist Ansichtssache. Aber falls Sic der Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz.« Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne, streichelte ihn und sagte zu ihrem Mann: »Wenn er dir nicht gefällt, brech ich den Kontrakt.« »Aber er gefällt mir ja«, antwortete der Rechtsanwalt. zteites kapitel »Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen oder ein Rodelschlitten«, meinte Fabian. »Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!« rief die Frau und preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust. »Himmeldonnerwetter!« schrie er. »Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!« »Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene«, erklärte Moll. »Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und ihm dort alles Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die Situation als merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir dann wieder herüber. Gute Nacht.« Der Rechtsanwalt gab seiner Frau die Hand. Sic stieg in ihr niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwischen den Kissen und sagte: »Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch.« »Ja, ja«, antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort. Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zündete sich eine Zigarre an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke über die Knie und blätterte in einem Aktenbündel. »Mich geht zwar die Sache nichts an«, begann Fabian, »aber was Sie sich von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?« »Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: >Die Vertragspartnerin verpflichtet sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht, zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen, unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten. Jedes Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der finanziellen Monatszuwendung geahndet.< Der Kontrakt ist sehr interessant. Soll ich ihn in extenso vorlesen?« Moll holte den Schreibtischschlüssel aus der Tasche. • Bemühen Sic sich nicht!« Fabian wehrte ab. »Wissen möchte ich nur, wieso Sic auf den Gedanken verfielen, einen solchen Kontrakt überhaupt aufzusetzen.« »Meine Frau träumte so schlecht.« »Wie?« »Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. F.s war offensichtlich, daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehe-daucr zunahmen und Wunschträume erzeugten, von deren Inhalt Sie, mein Herr, sich glücklicherweise noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück, und sie bevölkerte ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlossen einen Vertrag.« »Meinen Sic nicht, daß eine andere Behandlung erfolgreicher und geschmackvoller gewesen wäre?« fragte Fabian ungeduldig. »Zum Beispiel, mein Herr?» Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht. »Zum Beispiel: pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?« »Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh.« »Das kann ich gut verstehen.« »Nein!« rief der Rechtsanwalt, »das können Sic nicht verstehen! Irene ist sehr kräftig, mein Herr.« Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der Schreibtischvasc, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich, lief im Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermutlich hatte es dem alten langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht, von seiner Frau übers Knie gelegt zu werden. »Ich will gehen«, sagte er. »Geben Sic mir den Hausschlüssel!« »Ist das Ihr Ernst?« fragte Moll ängstlich. »Aber Irene erwartet Sie doch. Bleiben Sic, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten, wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sic weggeschickt. Bleiben Sie, bitte! Sic hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie ihr doch das kleine Vergnügen!« Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. »Bleiben Sic doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie 18 fabian zteites kapitel '9 werden wiederkommen. Sie werden unser Freund bleiben. L'nd ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie's mirzuGe fallen.« »Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Moni:, einkommen garantieren?« »Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvrr mögend.« »Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich' IrJ eigne mich nicht für den Posten.« Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gib Fabian einen Schlüsselbund und sagte: »Jammerschade,Sie wirrr. mir von Anfang an sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar Tage. Vielleicht überlegen Sie sich's. Ich würde mich ic denfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen.« Fabian knurrte: »Gute Nacht«, ging leise durch die Diele, nahm Hut und Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hinter sich zu und galoppierte die Treppe hinunter. Auf der Sintic holte er tief Atem und schüttelte den Kopf. Da spazierten die Menschen hier unten vorüber und hatten keine Ahnung, W verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafteGibe. durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, wir eine Kleinigkeit gegen die Leistung, das, was man dann sähe, zu er tragen. »Ich bin sehr neugierig«, hatte er der blonden Person erzählt, und nun lief er auf und davon, statt seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern. Dreißig Mark war er losgcw: den. Zwei Mark hatte er noch in der Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und quer durch düstere unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor den Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er in die Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der Spichcrnstraße aus der Unterwelt wieder hinauf unter den freien Himmel. Er ging in sein Stammcafe. Nein, Doktor Labude sei mehr da. Er habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, be-stellte Kaffee und rauchte. Der Win, ein gewisser Herr Kowalski, erkundigte sich nach dem werten Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr Komisches passiert. Kowalski lachte, daß die falschen Zähne blitzten. Der Kellner Nietenführ habe es zuerst beobachtet. • Dort drüben am runden Tisch saß ein junges Paar. Die beiden unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Zigarette an und war von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist.« »Das ist doch nicht komisch.« »Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die Frau - hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte gleichzeitig mit einem Herrn vom Nebentisch! Und das in einer Weise! Nictenführ holte mich unauffällig heran. Der Anblick war toll. Der Kerl steckte ihr schließlich einen Zettel zu. Sic las, nickte, schrieb ihrerseits einen Wisch und warf ihn auf den Nebentisch. Währenddem sprach sie aber auch auf ihren Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute -ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Simultanspielern übertraf alle.« »Warum ließ er sich denn das gefallen?« »Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt sofort! Also, wir wunderten uns natürlich auch, warum er sich das bieten ließ. Er saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig, legte den Arm um ihre Schulter, und währenddem nickte sie dem Mann vom Nebentisch zu. Der nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging dann hinüber, weil sie zahlen wollten.« Herr Kowalski streckte den massigen Kopf hoch und lachte himmelwärts. »Nun, woran lag's?« »Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!« Der Wirt machte eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fabian blickte erstaunt hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar. An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfs-kcllncr waren damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen. »Scheren Sic sich auf der Stelle fort. Den ganzen Tag diese Bettelei, das ist ekelhaft«, sagte Nietenführ zi- zweites kapitel 21 sehend. Und der Hilfskellner zerrte den Menschen, der bW war und kein Wort sprach, hin und her. Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: »Lassen Sie sofort den Herrn los!« Die zwei gehorchten widerstrebend. »Da sind Sie ja«, meinte Fabian und gab dem Bettler du 1 [and. »Es tut mir außerordentlich leid, daß man Sic gekrankt hat. Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch.- hr führte den Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, in seine Ecke, hieß ihn Platz nehmen und fragte: »Was möchten Sie es sen? Wollen Sie ein Glas Bier trinken?« »Sic sind sehr freundlich«, sagte der Bettler. »Aber ich »er de Ihnen Ungelegenheiten machen.« »Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas jus- »Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und hinausschmeißen.« »Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen' Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der \Wr knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu sitzen? Sie sind ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends durch die Tür laßt.- »Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber«, sagte der Mann. »Ich schlafe am Engelufer in der Her berge. Zehn Mark zahlt mir die Fürsorge. Mein Maja ■ krank vom vielen Kaviar.« »Was sind Sic von Beruf?« »Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war ich auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Di» einzige, was ich noch nicht erlebt habe, ist der Selbstmord Aber das laßt sich nachholen.« Der Mann saß auf der Stuhlkante und hielt die Hände zitternd vor den Westenausschnitt. um das dreckige Hemd zu verbergen. Fabian wußte nicht, was er sagen sollte. Er probierte. ■ Kopf, viele Sätze. Keiner war am Platz. Er stand auf und sai te: »Einen Augenblick, der Kellner wünscht, von einer Abordnung geholt zu werden.« Er lief nach dem Büfett, stellte der. Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schlepp" 'hn durchs Lokal. Der Bettler war fort. »Ich zahle morgen!« rief Fabian, stürzte aus dem Cafe und sah sich um. Der Mann war verschwunden. »Wen suchen Sie denn?« fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer. Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: »So ein Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt gewonnen. Schmalnauer hat wie ein Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk will morgen früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es schlief.« »Sie sind doch politischer Redakteur«, entgegnete Fabian. «Dachstuhlbrändc gibt's auf jedem Gebiet«, sagte Münzer. ■Gerade nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sic was, kommen Sic mit! Sehen Sic sich mal unsern Zirkus an.« Münzer stieg in einen kleinen Privatwagen. Fabian setzte sich neben den Redakteur. »Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?« fragte er. »Ich hab es unserm Handcisredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding zu teuer«, erklärte Münzer. »Er ärgert sich immer so schön, wenn er mich in sein ehemaliges Prachtstück klettern sieht. Das ist der Spaß schon wert. Wissen Sic, daß Sie auf eigenes Risiko mitfahren? Sollten Sic sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung.« Dann fuhren sie los. 22 m»i»> ztteites kapitel 1} Drittes Kapitel Vierzehn Tote in Kalkmu Es ist richtig, das falsche im tun Die Schnecken kriechen im Km Der Korridor war leer. In der Handeisredaktion brannit Licht, es saß niemand im Zimmer, die Tür stand offen. »Schiele, daß Malmy schon im Haus ist«, sagte Münzer verstimmt »Nun hat er sein Auto wieder nicht gesehen. Moment. Mi: horchen, was sich in der Weltgeschichte tut.« Er riß ein« Tin auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an einer Zimmer wand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Fem. die Stimmen der Stenotypistinnen. »Was Wichtiges?« schrie Münzer in den Lärm hinein. «Di« Rede des Reichskanzlers«, antwortete eine Frau. »Richtip-. sagte der Redakteur. »Der Kerl schmeißt mir mit seiner Qim selei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text > ständig vor?« »Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!« »Sofort in die Maschine damit, dann zu mir!- komnunü r te Münzer, schlug die Tür zu und führte Fabian in die Rau™ der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte er utf den Schreibtisch. »Schauen Sie sich die Bescherung an! En#* ben aus Papier!« Er wühlte in dem Haufen neu cingeganecr." Meldungen, schnitt mit einer Schere, wie ein Zuschneider, ei niges ab und legte es beiseite. Den Rest warf er in den Pirr korb. »Marsch, ins Körbchen«, sagte er dabei. Dann klince er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel *■" zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mn einem aufgeregten jungen Mann zusammen, der hereinwolhc »Der Chef hat eben angerufen«, erzählte der junge Mi-" atemlos. »Ich mußte im Leitartikel fünf Zeilen streiche«-* wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme ger** aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen U» sen.« »Sie sind ein Tausendsassa,« erklärte Münzer. »Ich m*™ bekamt! Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich, Irrgang ist der Künstlername. Herr Fabian.« Die beiden gaben einander die Hand. -Aber«, sagte Herr Irrgang betreten, »nun sind doch in der Spalte fünf Zeilen frei.« »Was tut man in einem so außergewöhnlichen Fall?« fragte Munzer. »Man füllt die Spalte«, erklärte der Volontär. Münzer nickte. »Steht nichts im Satz?« Er wühlte in den Bürstenabzügen. »Ausverkauft«, erklärte er. »Saure Gurkenzeit.« Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und schüttelte den Kopf. »Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein«, schlug der junge Mann vor. »Sie hätten Säulenhciliger werden sollen«, sagte Münzer. •Oder Untersuchungsgefangener oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sic mal auf!« Er setzte sich hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab das Blatt dem jungen Mann. »So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wcnn's nicht reicht, ein Viertel Durchschuß.« Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz leise: »Allmächtiger Vater« und setzte sich, als sei ihm plötzlich schlecht geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen knisternden Berg ausländischer Zeitungen. Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs Hand zitterte, und las: »In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen Mohammedanern und Ff indus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wiederhergestellt.« Ein alter Mann schlurfte in Pantoffeln ins Zimmer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer hin. »Kanzlerrede, Fortsetzung«, murmelte er. »Den Schluß geben sie in zehn Minuten durch.« Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein mittelalterliches *4 drittes kapitel 25 Spruchband aussahen, dann begann er zu redigieren. *Mtri hurtig, Jenny«, sagte er mit einem Seitenblick auf Irrginp »Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen tu;:, tunden«, entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann »enkte <• den Kopf und meinte fassungslos: »Vierzehn Tote.« »Die Unruhen haben nicht stattgefunden?« fragte Mun/r entrüstet. »Wollen Sic mir das erst mal beweisen? In Kakau linden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht miiicilcr. -Stillen üzean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merkr Sic sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht mir erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr l nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie matern uiv! der Stadtausgabe beilegen.« Der junge Mann ging. \ »Und so was will Journalist werden«, stöhnte Münzer uit: strich aufseufzend und mit einem Bleistift in der Reiir Jo Reichskanzlers herum. »Privatgelchrter für Tagesncuifkc:;-das wäre was für den Jüngling. Gibt's aber leider nicht.« »Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und i-ti-undzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkül ta?« fragte Fabian. Münzer bearbeitete den Reichskanzler. »Was soll man m chen?« sagte er. »Im übrigen, wozu das Mitleid mit den letal) Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind ka-t*" sund. Glauben Sic mir, mein Lieber, was wir hinzudichten. ' nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.« Und id* strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlcrre* heraus. »Man beeinflußt die öffentliche Meinung mii MeUur gen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamste««•* durch, daß man weder das eine noch das andere bnngt. Diebf quemstc öffentliche Meinung ist noch immer die öHeffl*' Meinungslosigkeit.« »Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blatte* c8' meinte Fabian. »Und wovon sollen wir leben?« fragte Münzer. •Aufc-** was sollten wir statt dessen tun?« Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wem urt» -Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. »tte ne** toten Inder sollen leben!« rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. »Einen Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!« erklärte er. »Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda kriegte er dafür die Drei.« Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: »Und wie überschreibt man den Scherzartikel?« »Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben«, sagte ; .Im.ui ärgerlich. Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte hinter und antwortete: »Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rük-ken zu fallen. Wenn wir dagegen schreiben, schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Fabian. »Schreiben Sie dafür!« »ü nein«, rief Münzer. »Wir sind anständige Leute. Tag Malmy.« Im Türrahmen stand cm schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer. »Sie dürfen ihm nichts übelnehmen«, sagte der Handelsrc-daktcur zu Fabian. »Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt. Uber seinem Gewissen liegen zehn »eiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten.« Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschincnblättcr. Münzer griff nach dem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter. ■Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?« fragte Fabian Herrn Malmy. »Was tun Sic außerdem?« Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. •Ich lüge auch«, erwiderte er. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. I)enn im Rahmen des falschen Svstems, dem ich mein beschei- 26 drittes kapitel dencs Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen MiSiur men naturgemäß richtig und die richtigen sind begrcitk: weise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequcr. und ich bin außerdem ...« »Ein Zyniker«, warf Münzer ein, ohne aufzublicken Malmy hob die Schultern. »Ich wollte sagen, ein FeipLr. Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Venu-vi in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ick tue nichts mehr dagegen.« Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach -Münzer an Hand der Postauflage, welche Meldungen sie 1-1 dem Blatt werfen und welche sie statt dessen in dieSuduui gäbe übernehmen wollten. Es waren in der Tat zwei M stuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebt lose Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen fr ten. Den ostclbischen Großgrundbesitzern waren vom Lart wirtschaftsminister Zollerhöhungen in Aussicht gestellt»« den. Die Untersuchung gegen die Direktoren des S: Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende Wendungen»-ren. »Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzler* fragte Münzer. »Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für etr gute Schlagzeile. Die Sache muß in Satz. Wenn die Matern 1 spät kommen, kriegen wir wieder Krach mit dem Maschiner meister.« Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine fe schwitzte. »Der Kanzler fordert Vertrauen«, schlug er vor »Mäßig«, urteilte Münzer. »Nehmen Sie sich ein VI assrrc • und trinken Sie erst einen Schluck Wein!« Der junge Mannt folgte den Rat, als sei er ein Befehl. »Deutschland oder Die Trägheit des Herzens«, sagte Um »Reden Sic keinen Unsinn!« rief der politische Redakir-Dann schrieb er eine Zeile groß mit dem Blaustift über das M nuskript und erklärte: »Der Groschen gehört mir.« »Was haben Sie denn geschrieben?« fragte Fabian. Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte tisch: »Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!« Der Er- holte die Papiere. Der Handclsrcdakteur griff in die Tasche und legte wortlos ein Zehnpfennigstück auf den Schreibtisch. Sein Kollege blickte verwundert hoch. »Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig wird«, behauptete Malmy. »Um welche Aktion handelt es sich?« »Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten-, sagte Malmy; und Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Grenzen. Dann stürzte er ans Telefon. Es hatte geläutet. »Ein Abonnent möchte etwas wissen«, bekundete er nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. »Sie sitzen am Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe heißt.« Münzer nahm ihm den Hörer weg. »Einen Augenblick«, sagte er. »Wir sagen Ihnen sofort Bescheid, mein Herr.« Dann winkte er Irrgang und flüsterte: »Feuilleton.« Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln. »Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte schön. Guten Abend.« Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüttelte den Kopf und steckte Malmys Groschen ein. Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der Nähe des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich von einem Setzer, der nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile auf der ersten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der Theaterkritiker, an den Tisch gekommen. Nun tranken sie fleißig. Irrgang, der junge Mann, war schon fast hinüber. Strom, der Kritiker, verglich einige namhafte Regisseure mit Schaufensterdekorateuren, das Theater der Gegenwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramatiker, behauptete Strom, es gebe welche. »Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr«, bemerkte Münzer schwerzüngig, und Strom lachte ohne Anlaß. duttes kapitel Fabian ließ sieh inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Ma.-über kurzfristige Anleihen aufklären. »Erstens werden Ra-Und Wirtschaft in wachsendem Maße überfremdet-, kr. tete der Redakteur. »Zweitens genügt ein Riß, und die Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in großen Posten abgenAr wird, sacken wir alle ab, die Banken, die Städte, die Kon/r--das Reich.« »Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon-, sagte \npn »Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, ra. gantische Formen annimmt, kann imponieren, auch die ik— heit.« Malmy musterte den jungen Mann. »Gehen Sienulraki hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter im Anzug.' Irre;-; legte den Kopf auf den Tisch. »Werden Sie Sponrcdaktf.'-riet Malmy. »Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt m,"> große Anforderungen.« Der Volontär stand auf, sch»r<-; durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand. Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. »Lhbrr-Schwein«, murmelte er. • Eine ausgesprochen russische Atmosphäre«, stellte *: '■ fest. »Alkohol, Sclbstquälcrei, Tränen bei erwachsenen Mir/-. Er war ergriffen und streichelte dem Politiker die Glatze »Ich bin ein Schwein«, murmelte der andere. Erblick»»»« Malmy lächelte Fabian zu. »Der Staat unterstutzt er rentablen Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerts.', stric. Sic liefert ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Au* «x aber sie verkauft sie innerhalb unserer Grenzen über Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu K*7 der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt i" Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern, die erdenk zenden nicht aufzubürden wagt; das Kapital flicht ohne-*' milliardenweise über die Grenzen. Ist das etwa nicht 1■* quem? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da h»" ■* jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusamt" »Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer und fing T;: geschobener Unterlippe die Tränen auf. »Sie überschätzen sich, Verehrter«, sagte der Handf':r'* 30 *** icur. Münzer zog, während er weiter weinte, ein gekränktes (iesicht. Er war entschieden beleidigt, daß man ihn daran hindern wollte, das zu sein, wofür er sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt. Malmv fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären. ■Die Technik multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbcitshecr. Die Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika verbrennt man Getreide und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In Frankreich lammern die Weinbauern, daß die E.rntc zu gut gerät. Stellen Sic sich das vor! Die Menschen sind verzweifelt, weil der Boden zu viel trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu Ircssen! Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen Wittcrungsvcrhältnisse begraben lassen.« Malmy stand auf, wankte ein wenig und schlug ans Glas. Die Umsitzcndcn sahen ihn an. •Meine Herrschaften-, rief er, »ich will eine Rede halten. Wer dagegen ist, stehe auf.« Münzer erhob sich mühsam. •Der stehe auf«, rief Malmy, »und verlasse das Lokal.« Münzer setzte sich nieder, Strom lachte. Nun begann Malmy seine Rede: »Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses (tetränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist.« • Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!« rief Strom. »Ich bin nicht fest auf dem Magen.« • Lassen wir die medizinischen Vergleiche«, sagte Malmy. •Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch drittes kapitel 3 I sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daßo sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. U /, sind die andern da?- denkt jeder und wiegt sich im Schaukci stuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld itt, dahin Geld, wo wenig ist Die Schieberei und das Zinszahltn nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang- »Ich bin ein Schwein«, murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb ersitzen. »Der Blutkreislauf ist vergiftet«, rief Malmy. »Und wir begnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf det sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann min eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, kaputt!« Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Redner bittend an. »Lassen Sie die medizinischen Vergleiche«, sagte Main" »Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!« »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, behaupte« Münzcr und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut »ut Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Matal Und Malmy mußtc,um den Kollegen zu übertönen, noch lau-tcr sprechen. »Sie werden einwenden, es gebe ja zwei pofc Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts cd« links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Aller dings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weil im-ben.« Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgulugge nug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzu»er den, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er in verkehrte: Richtung: »Mediziner hätten Sic werden sollen.« Dann plumpste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er brüllte: »Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!« Münzcr nickte und flüsterte: »Montccuccoli war auch ein Schwein.- Dann weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. »Einfach lächerlich«, knurrte er. »Geistige Erneuerung, Trägheit des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja gelacht wäre das ja!« Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: »Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Arthur?« »Hab ich dich gefragt?« schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am Rockschoß fest und sagte: »Noch ein Sülzkotclctt, und Essig und Öl.« Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: »Habe ich recht? Wegen solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke nicht daran. Es wird wcitergelogcn. Es ist richtig, das Falsche zu tun.« Münzer hatte sich's bequem gemacht, lag auf dem Sofa und schnarchte schon, obwohl er noch gar nicht schlief. »Und Ihr Auto habe ich doch«, grunzte er und drehte die Pupillen zu Malmy hinüber. Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sic kamen Arm in Arm daher und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht. »Ich vertrage keinen Alkohol«, erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz. »Ein Kriegsprodukt«, sagte Strom. »Eine bedauernswerte Generation.« Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten Dinge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie unglaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in seinem Pathos von der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier, Fabian hätte plötzlich an der Richtigkeit der Rechnung gezweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und betrachtete Malmy. Der saß steif auf dem Stuhl und war mit dem Blick fAll»» drittes kapitel 33 sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen Ruck, sah Fabian an und sagte: »Man sollte sich mehr zuvun-mennehmen. Schnaps zerfrißt den Maulkorb.« Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Fabian erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt der. Handelsredakteur. »Aber vielleicht haben Sie recht«, meinte Malmy und lache! te traurig. »Ich bin nicht mehr ganz nüchtern«, sagte Fabian, alservorde Tür stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium Ja Trunkenheit, das einen glauben machen will, man spüre die Umdrehungen der Erde. Die Bäume und Häuser stehen nec ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als Zwillinge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es einmal! Doch heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seiner. Schwips her und tat, als kennten sie einander nicht, was wir das für eine komische Kugel, ob sie sich nun drehte oder nie": Er mußte an eine Zeichnung von Daumier denken, die «Der Fortschritt« hieß. Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo« menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreis! Und das war das Schlimmste. Viertes Kapitel Eine Zigarette, groß wie der Kätner Dom Frau Hohlfeld ist neugierig Ein möblierter Herr liest Descartes Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem hatte er einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit damit, daß er zunächst frühstückte. »Wo nehmen Sie bloß den permanenten Hunger her?« fragte Fabian. »Sie verdienen weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein Sparkonto. Und dabei essen Sie derartig viel, daß ich davon mit satt werde.« Fischer kaute hinter. »Das liegt bei uns in der Familie«, erklärte er. »Wir Fischers sind dafür berühmt.« »Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen,« sagte Fabian ergriffen. Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. »Bevor ich's vergesse, Kunze hat eine Inseratenserie gezeichnet, zu der wir gereimte Zweizeiler liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher.« •Ihr Zutrauen ehrt mich«, sagte Fabian, »aber ich habe noch mit den Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun. Dichten Sie inzwischen ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen und Ihrer werten Familie das Frühstücken, wenn sich's nicht reimt?« Er sah durchs Fenster, zur Zigarettenfabrik hinüber und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt auf den Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften Unwillens zum besten und fing Reimwörter. Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken an der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und starrte das Plakat an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller daneben errichteten, dem Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette bedeckt war. Er notierte: »Nichts geht über ... So groß ist ... Turmhoch über allen ... Völlig unerreichbar ...» Er tat seine Pflicht, obwohl er nicht einsah, wozu. Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Un- 34 viektes kapitel 35 terhaltung an. »Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor.« •Schon möglich«, sagte Fabian. »Was langen Sic an«, fragte der andere, »wenn man Sie hur vor die Tür setzt?« »Denken Sic, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen ? Wenn ich hier fliege, such ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an.« »Erzählen Sie mal was von sich«, bat Fischer. »Während der Inflation hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte jeden Tag zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute wußten, wie groß ihr Kapital war.« »Und dann?« »Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft.« »Warum gerade einen Grünwarenladen?« »Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Doktor Fabians Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, zogen wir mit einem wackligen Handwagen in die Markthalle.« Fischer stand auf. »Wie? Doktor sind Sie auch?« »Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt als Adressenschreiber angestellt war.« »Wie hieß denn Ihre Dissertation?« »Sie hieß »Hat Heinrich von Kleist gestottert?«. Erst wollte ich an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans Sachs Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange. Genug. Dichten Sie lieber!« Er schwieg und ging vor dem Plakat auf und ab. Fischer schielte neugierig zu ihm hin. Doch er wagte nicht, das Gespräch zu erneuern. Seufzend drehte er sich im Stuhl herum und musterte seine Reimnotizen. Er beschloß. Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration vertrauend, die Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: »W* hier. Einen Augenblick, Doktor Eabian kommt sofort.« Und zu Fabian meinte er: »Ihr Freund I.abude.« Fabian nahm den Hörer. »Tag, Labude, was gibt's?« »Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?« fragte der Freund. »Ich habe aus der Schule geplaudert.« •Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?« • Ich komme.« »In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen.« • Auf Wiedersehen, Labude.« Er hängte ab. Fischer hielt ihn am Ärmel fest. •Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen Sic ihn eigentlich nicht beim Vornamen?« »Er hat keinen«, meinte Fabian. »Die Eltern haben seinerzeit vergessen, ihm einen zu geben.« • Er hat überhaupt keinen Vornamen?« »Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich einen beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht.« »Sie veralbern mich ja«, rief Fischer gekränkt. Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: •Sie merken alles.« Dann widmete er sich von neuem dem Kölner Dom, schrieb ein paar Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf. •Sic können sich mal ein kleines hübsches Preisausschreiben ausdenken«, meinte der Direktor. -Ihr Prospekt für Detailhändler hat uns ganz gut gefallen.« Fabian verbeugte sich leicht. •Wir brauchen etwas Neues«, fuhr der Direktor fort. »Ein Preisausschreiben oder was Ähnliches. Es darf aber nichts kosten, verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich geäußert, er müsse den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte reduzieren. Was das für Sie bedeuten würde, können Sie sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie möglich, 'n Morgen.« Fabian ging. Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaf- }6 f ABl AS viertes kapitel 5" fee inbegriffen, Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er einen Brief von seiner Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er nicht. Das warme Wasser war kalt. Er wusch sich nur, wechselte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den Briet seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten Etage übte jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat seine Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: •Mein lieber, guter Junge! Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt, es ist nichts Schlimmes. Es ist wohl was mit den Drüsen. Und kommt bei älteren Leuten öfter vor. Mach Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war erst sehr nervös. Aber nun wird es schon wieder werden mit dem alten Lehmann. Gestern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne haben Junge. Im Parkcafe verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee, so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase sagte im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich. Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den Karton zur Post. Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie hat eben ein Stück Gurgel gefressen und nun stößt sie mich mit dem Kopf und will mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie vergangene Woche, Geld in den Brief steckst, reiß ich Dir die Ohren ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn wirklich Spaß, für Zi garetten Reklame zu machen? Die Drucksachen, die Du schicktest, haben mir gut gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht seine Schuld Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein fällt. Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur ein Übergang. Der Vater hat halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er geht ganz krumm. Tante Martha brachte gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten. Die Hühner legen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur nicht so viel Arger mit dem Mann hätte. Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach Hause kommen könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins. Die paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am liebsten setzte ich mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher war das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich mir die Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt du noch, wenn wir den Rucksack nahmen und loszogen? Einmal kamen wir mit einem ganzen Pfennig zurück. Da muß ich gleich lachen, während ich dran denke. Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten wird es ja wohl nicht werden. Gehst Du immer noch so spät schlafen? Grüß Labude. Und er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater läßt Dich grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter.« Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hinunter. Warum saß er hier in dem fremden gottverlassenen Zimmer, bei der Witwe Hohlfeld, die das Vermieten früher nicht nötig gehabt hatte? Warum saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis, anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten, ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema. Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zusehen und ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse! fa»ias viektes kapitel »9 Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte -Pardon, ich dachte, Sie wären noch nicht da.« Sie kam näher. -1 Iahen Sie gestern nacht den Krach gehört, den Herr Tröger \ c i .msultct hat ? Kr hatte wieder Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im andern Zimmer wohnt?« »Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen.« »Aber I lerr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!« »Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen.« Die Wirtin wurde ungeduldig. »Aber er hatte mindestens zwei Frauenzimmer bei sich!« »Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird sein, Sic teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn er sich nicht danach richtet, lassen wir ihn von der Sittenpolizei kastrieren.« »Man geht mit der Zeit«, erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und rückte noch näher. »Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an. Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt.« Siestand knapp hinter ihm. Ersah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen Füßen, vor dem Zimmer des Stadtrc.senden Tröger und nahm, durchs Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und «Rte: »Schade, daß Sie keine Kinder haben.« »Ich gehe schon.« Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer. Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand, hing eine Stickerei mit der Inschrift: »Nur ein Viertelstündchen.« Er hatte, als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht. Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet hatte es fast nie. Er griff zu. Es war Descartes. »Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie-, so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre waren es her, seit er sich damit betaßt hatte. Driesch hatte in der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild gehangen: -Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen.- War das alles, was er von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er, mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann durchgefallen und nach Amerika gegangen. Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm mitzuteilen? »Schon Vorjahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen.« Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen nach, die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kaiserallee entlangfuhren, und schloß vorübergehend die Augen. Dann blätterte er und überflog die Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war Descartes alt gewesen, als er seine Revolution ankündigte. Am 40 faha" viertes kapitel 41 Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl, mit immensem Schädel. »Von allen Sorgen frei.-Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog den Mantel an. Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem Reisenden mit dem starken Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte. Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten davon. Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die noble Verwandtschaft, die Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach. »Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?« fragte Fabian. »Davon später.« »Und wie befindet sich das Fräulein Braut?« »Danke gut«, sagte Labude und trank den Kognak, der vor ihm stand. »Ich war in Hamburg. Lcda läßt grüßen.« •Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?« »Nein. Er hat keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen, Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart.« Labude schenkte sich ein und trank. »Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du aus Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf dargestellt und noch nie verstanden haben.« »Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen zwei Zeitaltem schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufs-■^tigcn Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe ich diesen Kerl seziert, auseinanderge- nommen und zusammengesetzt! Auch eine Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!« Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude blickte vor sich hin. »Heute morgen war ich dabei, wie sie in der Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Einen Sinologen. Er hat seit einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek gestohlen und verkauft. Er wurde blaß wie eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich erst mal auf die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er abtransportiert.« »Der Mann hat den Beruf verfehlt«, sagte Fabian. »Wozu lernt er erst Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt? Es steht schlimm. Jetzt räubern schon die Philologen.« »Trink aus und komm!« rief Labude. Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle. •Wir fahren zu Haupt«, sagte Labude. FAS:*" viertes kapitel 43 Fünftes Kapitel Ein ernstes Gespräch am Tanzparkelt Fräulein Paula ist insgeheim rtutn Frau Moll wirft mit Gläsern In I laupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punki zehn Uhr stiegen im Gänsemarsch zwei Dutzend Straßenmädchen von der Kmpore herunter. Sie trugen bunte Badem kots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht des darniederliegenden Gewerbes nicht zu ver-M Inen. Die Mädchen tanzten anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten. Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an der Barriere drängenden Kommis, Buchhalu' und Einzelhändler. Der Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah. Die dicksten und frechsten Frauenzimmer wurden beverzugt. Die Weinnischen waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lippenstift. Die Orgie konnte beginnen. I.abude und Fabian saßen an der Rampe. Sie liebten diese* Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild iliics Tischtclefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat surrte. Man wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel und legte ihn unter den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik, das Gelächterund der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten ihnen nichts anhaben. Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von der verfressenen Familie Fischer und vom Kölner Dom. Labude blickte den Freund an und sagte: «Du mußtest endlich vorwärtskommen.« •Ich kann doch nichts.« »Du kannst vieles.« •Das ist dasselbe«, meinte Fabian. »Ich kann vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn.« »Doch, man verdient beispielsweise Geld.« • Ich bin kein Kapitalist!« »Eben deshalb.« Labude lachte ein bißchen. •Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen? Rotkohl cn gros oder cn detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, ich will keinen Mehrwert.« Labude schüttelte den Kopf. »Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen.« »Was fang ich mit der Macht an?« fragte Fabian. »Ich weiß, du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt.« ■ Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden.« •Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an, jener für seine Familie, der eine für seine Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der fünfte für solche, die über zwei Meter groß sind, der sechste, um eine mathematische Formel ander Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld und Macht!« Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber die war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm. •Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein Lebensziel einpflanzen!« Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand auf den Arm des Freundes. »Ich sehe zu. Ist das nichts?« »Wem ist damit geholfen?« 44 fünftes kapitel 4< .Wem ist zu helfen?« fragte Fabian. »Du willst Macht laben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln«! führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ick sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresst vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommtr. wird ... Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.« Labude hob sein Glas und rief: »Viel Vergnügen!« Ertrank, setzte ab und sagte: »Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.« Fabian trank und schwieg. Labude fuhr erregt fort: »Das siehst du ein, nicht wakr-Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst liebervoneinem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme »Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen-\r bcitsloscn begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!« Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag ;r Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, 0» idihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. »Schenktuns'1* Zigarette«, sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin. Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach e:"' Pause mit verrosteter Stimme: »Na ja, so ist das.« -Wer spendiert 'nen Schnaps?« fragte die Dicke. Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und ge*^: Weintrauben, alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Stedten sich in eine Ecke. Die Wand war mit der Pf alz bei Caub malt. Fabian dachte an Blücher, Labude bestellte trauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten»'* zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und kicherte blöde. »Oben sind Nischen«, sagte sie, strich die blauen Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. •Woher haben Sie so rauhe Hände?« fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. »Nicht, was du denkst«, rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei. • Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet«, sagte die Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wurden. »Gehen wir dann ins Hotel?« fragte sie. • Ich bin überall rasiert«, erläuterte die Magere und war nicht abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam vor dem Äußersten zurück. • Man schläft nachher besser«, sagte die Blondine zu Fabian und reckte die festen Beine. Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten. •Oben sind Nischen«, sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf. Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten darauflos. Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiert. Die Frauen drehten sich mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und die Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt. »Der erste Preis ist eine große Bonbonniere«, erklärte die kauende Paula, »und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim Geschäftsführer wieder abliefern.« »ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick«, sagte die Blondine. »Dabei sind dicke Beine das beste, 4« fünftes kapitel 47 was es gibt. Ich war einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt Ansichtskarten.« »Quatsch!« knurrte Paula. »Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias Freund hat einen Buckel, und sie sagt, das braucht sie zum Leben. Da mach was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram.« »Gelernt ist gelernt«, behauptete die Dicke und angelte das letzte Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte der Siegerin eine große Bonbonniere. Sic dankte ihm beglückt, verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück »Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?« fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll. Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und erzählte: »Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab.« »Das ist ja Erpressung.'« rief Labude. »Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in den Mund.« •Es ist furchtbar-, sagte Labude zu Fabian, »es ist schrecklich, wie viele Direktoren das Angcstclltcnverhältnis mißbrauchen.- Die Dicke rief: -Ach, Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre, und ein Fabrikdircktordazu. ich hatte dauernd Angcstclltcnvcrhaltnissc.« Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff seine Hand und legte sie platt aut ihren satten Magen. Labude und Paula tanzten miteinander. Sic hatte tatsächlich krumme Beine. In der Nachbarnischc sang eine Frau laut und mit betrunkener Stimme: •Die Liebe ist ein Zeitvertreib. Man nimmt dazu den Unterleib.« Die Dicke sagte: »Die nebenan ist 'nc Marke. Sie gehört gar nicht hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter tragt sie was ganz Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar verheiratet. Sic holt sich junge Kerle in he N'is, he, bezahlt tur sie und gibt an, daß die Wände rot werden.« Fabian erhob sich und blickte über die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan. Dort saß in einem grünscidenen Badeanzug eine große gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen Rcichswehrsoldatcn, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. »Kerl!« rief sie, »mach nicht einen so schlappen f.indruck! Los! Zeig den Ausweis!« Aber der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein Sektglas und taumelte zur Brüstung. Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische hinauf. Frau Moll streckte die Hand aus und rief: »Männer nennt «eh das! Wenn man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich schlage vor, die Bande einzu-sperren. Meine sehr verehrten Damen, wir brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!« Sie schlug sich 4« »GH-TtSKAPITEL 49 emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Ii Saal wurde gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu weinen. Das Schwarz der getuschter. Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen liniierten ihr Gesicht. »Laßt uns singen!« schrie sie schluchzend und schluckend. »Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!« Sie breitete beide Arme aus und brüllte: »Auch der Mensch ist nur ein Tier, Immer, und erst recht zu zweit. Komm und spiel auf mir Klavier! Komm und spieleee-auf mir die Schule der Geläufigkeit. Dazu bin ich ja ...« Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden Fabian, riß sich los und schrie: «Dich kenn ich doch!« und wollte zu ihm. Aber der Reichswehrsoldat,der sich inzwischen erholt hatte, und der Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fon. In der Garderobe fragte er: »Sie kennt dich wirklich?« »Ja«, sagte Fabian, »sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe ich noch in der Tasche. Hier sind sie.« Labude nahm die Schlüssel weg, rief: »Ich komme gleich wieder!« und lief in Hut und Mantel zurück. Sechstes Kapitel Der Zweikampf am Märkischen Museum Wann findet der nächste Krieg slatti Ein Arzt versteht sich auf Diagnose Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: »Hast du mit dieser Verrückten etwas gehabt?« »Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich.« »Warum nahmst du die Schlüssel mit?« »Weil die Haustür verschlossen war.« »Ein schauderhaftes Weib«, sagte Labude. »Sie hing besoffen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche.« ■Sie hat dir nicht gefallen?« fragte Fabian. »Sie ist doch sehr eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend.« •Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim Portier abgegeben.« Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer Efeueckc, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt brannte der Himmel. »Lieber Stephan«, sagte Fabian leise, »es ist rührend, wie du dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen Direktorenposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen.« Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck, h1ti» kapitel 5' trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des Freundes. »Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir es taten oder unterließen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie u nter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich.' Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahlzeit.« Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian ging erregt hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. »Erinnerst du dich?« fragte er. »Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft hatte den Entschluß gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen? Geld verdienen? Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fährt der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr und was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!« •Zum Donnerwetter!« rief Labude, »wenn alle so denken wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißver- gnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln.« »Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen«, sagte Fabian, »und die Gerechten noch weniger.« •So?« Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen am Mantelkragen. »Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?« In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. I.abudc rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. »Viel Spaß!« sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen. Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: »Warte nur, du Schwein!« Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fabian fragte: »Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?« »Weil mich's am Bein erwischt hat«, knurrte der Mann. Es war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. »So ein Mistvieh!« brüllte er. »Aber ich weiß, wie du heißt.« Und er drohte der Dunkelheit. •Quer durch die Wade«, stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband. •Drüben in der Kneipe ging's los«, lamentierte der Verwundete. »Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er schon.« »Sind Sie nun wenigstens überzeugt?« fragte Fabian und blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der Schußwunde hantierte. »Die Kugel ist nicht mehr darin«, bemerkte Labude. »Kommt denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf.« U C HSTFS KAP1TU 53 »Nicht einmal ein Schutzmann ist da«, stellte Fabian I» dauernd fest. »Der hätte mir gerade noch gefehlt!« Der Verletzte w suchte aufzustehen. »Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so unverschämt war, sich von einem Na^i i chen kaputtschießen zu lassen.« Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlicher, Uferweg entlang. In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug*« verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Manner mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte Jachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Du Auto hielt davor. Erschloß die Augen und entsann sich schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lasen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber e« war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Straußchcn im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein? Plötzlich rief jemand «Hallo«! Fabian öffnete die Augen und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und preßte seine Hand aufs Gesäß. • Was ist denn mit Ihnen los?« »Ich bin der andere«, sagte der Mann. »Mich hat's auch erwischt.« Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit. »Entschuldigen Sie«, rief Fabian, »meine I leiterkeit ist nicht gerade höflich.« Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: »Wie's beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht.« •Warum stehst du denn da herum?« schrie Labude und kam ärgerlich über die Straße. »Ach Stephan«, sagte Fabian, »hier sitzt die andere Hälfte des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten.« Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Das Auto fuhr los. »Tut's sehr weh?« fragte Labude. »Es geht«, antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und musterten sich finster. »Volksverräter!« sagte der Nationalsozialist. Er war größer als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe aus. »Arbeiterverräter!« sagte der Kommunist. •Du Untermensch!« rief der eine. S4 sechstes kapitel 55 »Du Affe.'« rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche. Labude faßte sein Handgelenk. »Geben Sie den Revolver her!« befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die »ii-fe heraus und steckte sie ein. »Meine Herren«, sagte er. »Daß es mit Deutschland so «du weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihr: Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichen-schauhaus führen, statt ihn die Klinik, wäre auch nichts Besonderes erreicht. Ihre Partei«, er meinte den Faschisten, »weii nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau Und Ihre Partei«, er wandte sich an den Arbeiter, »Ihre ?u-tei ...« »Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats«, erklärte dieser, »und Sie sind ein Bourgeois.« »Freilich«, antwortete Fabian, »ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort.« Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf der heilen Sitzhälfte und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen. »Das Proletariat ist ein Interessenverband«, sagte Fabian. »Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im Verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist.« »Unsere Führer .... begann der Mann. •Davon wollen wir lieber nicht reden«, unterbrach ihn Li-bude»_l Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der Porticr öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die I land. »Sic bringen mir zwei Politiker?« fragte er lächelnd. »Heute nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tänzboden-schlägercicn zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebcns. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbcitsloscnziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe.« •Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist«, meinte Fabian. •Ja, natürlich.« Der Arzt nickte. -Der Kontinent hat den Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben Sic wohl!« Das Portal schloß sich. labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: »Ich kann jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ins Kabarett der Anonymen.« •Was ist das?« »Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halb-verrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber.« Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. »Wir leben in einer großen Zeit«, sagte er, »und sie wird jeden Tag größer.« f4 I«!!«» SECHSTES KAPITEL J7 Siebentes Kapitel Verrückte auf dem Podium Die Tudesfahrt von Paul Mulla Ein Fabrikant in Badewannen Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der Tür des Lokals und rief: »Immer herein in die Gummizelle!« Labude und Fabian traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz. Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein giftgrünes selbstgeschneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft. Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie. Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein, unterhielt sich laut und lachte. »Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!« schrie ein glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Unruhe bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch nicht aus. »Mutter, dein Kind ruft!« kreischte eine Dame, die ein Monokel trug. ■Ihr Kind auch«, bemerkte jemand von einem entfernten Tisch. Die Dame drehte sich um. »Ich habe keine Kinder.« »Da können die aber lachen!« rief man aus dem Hintergrund. »Ruhe!» brüllte jemand anders. Der Wortwechsel horte auf. Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine weh tun mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. »Gut, sehr gut! Sic können morgen zum Tcp-pichklopfen kommen!« Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und wieder. Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe. »Bravo, Caligula!« rief eine Dame aus der ersten Tischreihe. Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den Herrn, der neben der Ruferin saß. »Ist das Ihre Frau?« fragte er. Der Herr nickte. •Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!« sagte Caligula. Man applaudierte. Der Mann in der ersten Tischreihe wurde rot. Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. ■Ruhe, ihr Armleuchter!« rief Galigula und hob die Hände. Es wurde ruhig. »War die Tanzdarbietung nicht geradezu ein Erlebnis?« •Jawohl«, brüllten alle. •Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine Ballade vortragen. Machen Sic sich auf das Äußerste gefaßt. Paul Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind.« »Das geht entschieden zu weit!« rief ein Besucher, dessen Gesicht mit Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört das Jackett straff. •Hinsetzen!« sagte Galigula und verzog den Mund. »Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!« Der Akademiker rang nach Luft. »Im übrigen«, fuhr der Kabarettinhaber fort, »im übrigen SIEIINTEI KAPITEL 59 meine ich Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum.« Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt. Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und rief: »Paul Müller, erscheine!« Dann verschwand er. Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser Mensch in abgerissener Kleidung. •Tag, Müller!« brüllte man. »Er ist zu schnell gewachsen«, meinte jemand. Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht, fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie weit von sich, spreiztedie F;ingcr, riß die Augen auf und sagte: »Die Todesfahrt von Paul Müller.« Dann trat er noch einen Schritt vor. »Fall nicht runter!« rief die Dame, der von Caligula eigentlich befohlen war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz-noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und begann wieder: »Die Todesfahrt von Paul Müller.« »Das war der Graf von Hohenstein. Der sperrte seine Tochter ein. Sic liebte einen Offizier. Der Vater sprach: >Du bleibst bei mirClub Europa« gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das göttlichste System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was meinte Lcda dazu?« •Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei.« ■Warum denn nicht?« •Sic wußte nicht, daß ich in Hamburg war.« Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin. Labudc breitete die Arme aus und hielt sich an den F.ckcn der Schreibtischplatte fest. »Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der Panner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir vor Monaten einmal Andeutungen, daß Lcda sich verändert habe. Sie fing an, sich zu verstellen. Sic markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof, die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch Theater.« Labudc hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. ■Natürlich entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht, daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos. Und dann reist man hin, gibt sich FABIAN ACHTES KAPITEL 69 einen Kuß, geht ins Theater, fragt nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder. Vier Wochen spater vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe, anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an der Geographie.« Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz so behutsam an, als fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. »Ich habe in den letzten Monaten vor jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log. Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied, mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute. Ich wartete.« Labudcs Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne, klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. »Die Straße ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die Außenalstcr. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich mich, rauchte /ahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog cm Taxi in die Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang c.nc Frau aus dem Wagen, eilte zur Tür, schloß auf, trat ms Haus, hielt die Tür, bis der Mann gefolgt war, und schloß von innen weder zu. Das Auto fuhr in die Stadt zurück.« Labudc war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch, ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke, dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es mit dem Finger nach. »F.s war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah, wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Flaus und unten auf meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat ein, ohne Hut und Mantel. »Tag, Stephan!« sagte er, kam näher und gab seinem Sohn die Hand. »Lange nicht gesehen, was? War paar Tage unterwegs. Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht.« »Fritz, nun komm aber endlich!« rief im Treppenhaus eine Frauenstimme. Der Justizrat zuckte die Achseln. »Da habt ihr's. Kleine Sängerin, großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig. Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiederschen. Amüsiert euch lieber, statt die Menschheit zu erlosen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften gern bereit. Nicht so ernst, mein Junge.« Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fon: »Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben verließ der Mensch ACHTES KAPITEL 7' das I Luis. Kr pfiff, als er aus der Tür trat, und blickte nach iihon. I cd.i stand in ihrem japanischen Schlafrock Uli dem Btl kon und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein Kußhandchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße hinunter. Ich senkte den Kopt. Oben wurde die Balkontür geschlossen.« Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb sitzen. Plötzlich hob l.abude den Arm und schlug mit der Faust .ml den Schreibtisch. »Diese Kanaille!« schrie er. Fabian sprang vom Sofa auf, aber der andere winkte ab und sagte ganz ruhig: »Schon gut. Flore weiter. Mittags telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei. Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf kommen wolle. Die wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früherauf. Ich lief durchs Hafenviertel, bis es so weit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine Tasse Tee und sprach über gleichgültige Di nge. Dann begann sie, sich automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch. Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sic fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir heirateten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam erscheinen. Sic räkelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten, und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung scheine, wie die unzweideutige Situa MM eindeutig beweise, eher an mir als an ihr zu liegen. Sie gab zu. daß es schwer sei, die Strecke zwischen Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und auch in sexueller Beziehung gebe es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erle-d.gt werden, ob man Hunger hat oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, wiirde das anders. Ich solle übrigens nicht bosc sein. Sic habe vor mehreren Wochen einen ärztli- 71 chen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sicsci aber wieder auf dem Posten, und ich solle mich nun endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht. >Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?> fragte ich. Sie setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht. >Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief?« fragte ich weiter. •Du siehst Gespenster«, sagte sie. >Du bist eifersüchtig, es ist geradezu albern.« Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her, die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt im wehenden Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich rannte davon und fuhr zur Bahn.« Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des Freundes. »Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?« »Na, ich komme schon darüber weg«, sagte Labude. »Mich so zu belügen.« »Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?« »Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer krank gewesen.« »Du bist noch krank«, meinte Fabian. »Du hast sie noch lieb.« »Das ist wahr«, sagte Labude. »Aber ich bin schon mit ganz anderen Kerlen fertig geworden als mit mir.« ■Wenn sie dir nun schreibt?« »Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich dir noch nicht gesagt. Sic liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!« Labude schob den Freund zur Tür. »Jetzt gehen wir. ACHTES KAPITEL 73 Ruth Reiter hat uns eingeladen. Komm, ich habe Verschiedenes nachzuholen.« »Wer ist Ruth Reiter?« »Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bild-hauert, wenn man ihr glauben darf.« »Modellstehen wollte ich schon immer mal«, sagte Fabian und zog den Mantel an. Neuntes Kapitel Sonderbare junge Mädchen Ein Todeskandidat utrdlebendig Das Lokal heißt -Cousine" •Endlich ein paar Männer!« rief die Reiter. »Macht's euch bequem. Die Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sic hat zwei Tage keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall. Sic ist Modezcichnerin, und der Kerl hatte ihr, ohne die kleine Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis war's, sagte sie.« •Das sind die Schlimmsten«, meinte Labudc. »Sic probieren ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Schaden inzwischen behoben hat.« Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß. Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte ihm. Labude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte sich auf einen Schemel, nahm den Skizzcnblock und zeichnete. »Abendakt-, erläuterte sie, ohne sich umzusehen. »Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz! Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken verschränken. Halt!« Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin. »Baron, was zu trinken, mich friert«, sagte sie plötzlich. •Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut«, pflichtete Fabian bei. Er war näher getreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor einer weiblichen Bronze. •Berühren verboten!« Die Stimme der Bildhaucrin klang äußerst unfreundlich. Fräulein Kulp, die sich in Labudcs Armen wie in warmem Badewasser dehnte, rief Fabian zu: »Hand von der Butter. Der FAHA!* »lUMTES KAUTEL 75 Baron ist eifersüchtig. Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis.« »Halt den Rand!« knurrte die Reiter. »I.abude, wenn Sic mit der Kulp etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt.« Labude äußerte, er habe moralische Bedenken. »Was es so alles gibt«, meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. »Falls Sie sich an der Kulp beteiligen wollen, halten Sic sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflccht an. Und wer oben liegt, hat den Vortritt. »Welche tiefe Wahrheit!« rief die Kulp. »Aber einen Groschen? Du verdirbst mir die Preise!« Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Was zu trinken!« »Battenberg, neben deinem Lchnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber.« »Gern«, sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein gefülltes Glas. Fabian war überrascht. »Wie viele weibliche Wesen sind eigentlich hier?« fragte er. •Ich bin das einzige«, erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sic spazierte wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den Lchnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atclierfenster auf die Bogen und Veduten der Jugendstilgicbcl. Man hörte den Baron kommandieren. -Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts. Knie einkmeken, Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!« Und aus der vorderen Hälfte des Ateliers klangen kleine, zu- gespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt vorübergehend an Atemnot. -Wie kommen Sic eigentlich in diesen Saustall?« fragte Fabian. ■Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt.« »Das freut mich«, sagte er. »Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrcr, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.« Sie sah ihn ernst an. »Ich bin kein Langel, mein Herr. Unsere Zeil ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. >Da bin ich<, sagen wir freundlich lächelnd. Ja«, sagt er, >da bist du«, und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun hab ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?« »Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab.« Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein faiian »EUNTES KAPITEL Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sieden Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lchnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an. »Schon wieder ein verhinderter Engel«, meinte er. »Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte«,sagte sie leise, »ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder.« Sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Flrlcbnis noch immer nicht. »Ich wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre. Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: >Du bist eine Dirnc!<, und als ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: >Das war etwas ganz anderes!« Freilich, das war etwas ganz anderes.« •Warum sind Sic nach Berlin gekommen?« -Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware, weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann.« »Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als Lebensrente zu zahlen.« »Genau so ist es«, sagte sie. »Genau so denken die Männer. Aber warum nennen Sic dann dieses Atelier einen Saustall5 Hier sind doch die Frauen so ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Uder etwa nicht? Ich weiß, was euch zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht euer Paradies aus. Doch das gehl zu weit. Oh, das geht zu weit!« Fräulein Battenberg putzte sich die Nase. Dann fuhr sie fort: »Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen.« Sic schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht. »Sic sind deswegen nach Berlin gekommen?« fragte Fabian. Sie weinte geräuschlos. Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. »Sie verstehen auch nichts von Geschäften«, sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt. Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an einem Stock. »Ist die Kulp da?« fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhaucrin und "gte: »Ihr andern solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch dalassen.« Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. »Nein, nein, Baron, es war nur Spaß.« Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und gab dem Mann die Hand. »Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?« FABIAN "'UmtS KAPITEL 79 Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. »Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende als ich.« Er gab auch ihr ein paar Geldscheine. »Selow!« rief er, »sauf den Gin nicht aus! Und zieh dich schneller an.« »Geht in die »Cousine«. Ich komme nach«, sagte die Kulp. Dann rüttelte sie Labude munter. »Mein Lieber, du wirst raus-geschmissen. Hier ist einer, dem die Arzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß ein Vicrtclstündchen warten. Später treff ich euch wieder.« Labude stand auf. Die Reiter holte ihren Mantel, Fabian kam mit Fräulein Battenberg hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sic gingen. Der Todeskandidat und die Kulp blieben zurück. »Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie am letzten Mal«, sagte die Bildhaucrin auf der Treppe. »Es bringt ihn auf, daß andere länger leben dürfen als er.« »Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile«, meinte die Selow. »Und außerdem, von ihrer Zeichncrei kann sie nicht leben und nicht sterben.« »Feine Berufe haben wir!« Die Reiter lachte wütend. Die »Cousine« war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten. Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sic tranken Schnaps, und manche trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch, begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und so« wie ein Budiker. Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem Freund den Rücken. Ruth Reiter war c.fcrsüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame, die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte, daß man dachte: Gleich legt sie ein Et. •Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen«, sagte Fabian zu Fräulein Battenberg. »Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sic kriegte ein Kind und verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug, und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine tindet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte. Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt.« •Wollen Sic mich nach I lause bringen?« fragte Fräulein Battenberg. »Es gefällt Ihnen hier nicht?« Sie schüttelte den Kopf. Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich neugierig um die Ohnmachtige. Die Cousine brachte Whisky. »Der Wilhelmy hat sie wieder geschlagen«, sagte die Reiter. ■Ein Hoch auf die Männer!« schrie ein Mädchen und lachte hysterisch. ■Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!« rief die Cousine. Man rannte durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war, intonierte den Trauermarsch von Chopin. •Das soll der Doktor sein?« fragte Fräulein Battenberg. le FA.IA* «UHTES KAFITEL 81 Durch die Scitentür trat eine große, magere Dame im Abendkleid, das Gesicht glich einem weißgepuderten Totenkopf. -Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann«, sagte Fabian, "l'.r war sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Fraucnklcidung zu tragen. Er lebt davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn erwischen, dann vergiftet er sich.« Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die Bild-hauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los, überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß das Instrument jammerte, und brüllte: »Nein!« Es wurde totenstill. Die Bildhaucrin stand allein auf der Tanzfläche und hatte die Hände ineinandergekrampft. »Nein!« brüllte die Selow noch einmal. »Ich habe genug davon! Bis dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch den Buckel runter, du geile Ziegel-Sie zerrte I.abude von seinem Hocker, gab ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann, kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. »Es lebe der kleine Unterschied!« schrie sie. Dann waren die beiden verschwunden. »Es ist wirklich besser, wenn wir gehen.« Fabian erhob sich, legte Geld auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern. 82 fahas Zehntes Kapitel Topographie der Unmoral Die Liehe höret nimmer auf! Ei lebe der kleine Unterschied! ■Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?« fragte sie auf der Straße. •Sic kennen ihn doch gar nicht!« Er ärgerte sich über ihre frage und ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweifend nebeneinander. Nach einer Weile sagte er: »Labudc hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus, es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst auf horizontale Art.« Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Insel. •Können Sic mir sagen, wie spät es ist?« fragte jemand neben ihnen. Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters. »Zehn nach Zwölf«, sagte Fabian. •Danke schön. Da muß ich mich beeilen.« Der junge Mann, der sie angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd: »Haben Sic zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?« »Zufällig, ja«, antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück. •Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich nicht bei der Heilsarmee zu übernachten.« Der Fremde zuckte entschuldigend die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon. ■Eingebildeter Mensch«, meinte Fräulein Battenberg. •Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte.« ZEHNTES KAPITEL Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen wohnte. Fr ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als sie. »Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das«, sagte er, »Labude hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sic hatte ihn nicht betrogen, weil er zu selten bei ihr war. Sic betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten lall. Man kann jemanden mögen, weil erden richtigen Typus verkörpert, aber man kann seine Individualität nicht leiden.« »Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das nicht vor?« »Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen«, erwiderte Fabian. »Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und Gomorrha?« »Ich bin Referendar«, erklärte sie. »Meine Dissertation betraf eine Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen. Hundertfünfzig Mark im Monat.« »Werden Sie doch Filmschauspielerin!« »Wenn es sein muß, auch das«, sagte sie entschlossen. Und beide lachten. Sic gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer Haustür streichelte sich ein Liebes paar. •Sogar der Mond scheint in dieser Stadt«, bemerkte die Kennerin des internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. »Ist es nicht fast wie zu Hause?« fragte er. »Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Cafe, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homosc-xue lc Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Englandern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider seine Tochter, und das hatte er nicht erwartet ... Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.« ■Und was kommt nach dem Untergang?« Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab zur Antwort: »Ich fürchte, die Dummheit.« •In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen«, sagte das Mädchen. »Aber was soll man tun?« ■Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder sielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die «eh bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen.« ■Und wie lautet Ihre Hypothese?« •Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und der Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich be- «4 FABIAN »HKTES KAPITEL 85 wiesen ist, für verrückt. Richten Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann.« »Soll ich bei Ihnen damit beginnen?« fragte sie. »Ich bitte darum«, meinte er. Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die Schapcrstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargenden 1 limmel. »Ich bin angelangt«, sagte sie und machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen dürfe. »Wollen Sie es wirklich?« • Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen.« Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf anseilte Schulter. »Ich will es auch.« Er drückte ihre Hand. »Diese Stadt ist so groß«, flüsterte sie und schwieg unschlüssig. »Werden Sic mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch M fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des Nachts schwarze Bäume.« Fabian sagte lauter, als er wollte: »Ich komme gern mit. Schließen Sic nur auf.« Sic steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Doch che sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu ihm. »Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen.« Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür sei-M Wirtin, vor der Tur der Witwe Hohlfeld, stehen und öff- Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhoschen spielten mit einem grünen Luttballon Füßball. Sic erschraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Tröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama. •Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß«, brummte Fabian. Herr Tröger grinste, trieb die Mädchen in seinen Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer. »Um Gottes willen«, flüsterte Fräulein Battenberg. »Da wohnt jemand anderes.« »Pardon«, sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den Schrank. »Eine fürchterliche Bude«, sagte sie lächelnd. »Und achtzig Mark im Monat.« •Ich zahle genausoviel«, tröstete er. Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten unwillig. »Die Nachbarschaft habe ich gratis«, meinte sie. •Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt.« »Ach, ich bin froh«, sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin. »Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschaun?« Sie traten ans Fenster. »Heute sind sogar die Bäume freundlicher«, stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: »Das macht, weil ich sonst allein bin.« Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. »Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb bat, mitzukommen.« »Freilich denke ich das«, gab er zur Antwort. »Aber du wußtest es selber noch nicht.« Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. •Wie heißt du eigentlich?« fragte er. »Cornelia.« Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich beküm-■ati während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spü- FABIAN 21hmtes KAPITEL l7 ren: »Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?« Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief Atem und antwortete: »An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe.« Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. »Vorhin, als wir uns umarmten, habe ich geweint«, flüsterte sie. Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe glücklich. »Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Dusollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das versprech ich dir.« Sie drängte sich an ihn und preiste ihren Körper an den seinen, daß beiden der Atem verging. •So«, rief sie, -und jetzt hab ich l lunger!« Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte. Sie erklärte ihm die Sache. »Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat, aber du verstehst mich schon, ja?, dann hab ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser luuhtcrlich.cn Stadt so bald solchen Hunger bekäme.« Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engels-köpfc aus Stuck inbegriffen. Fabian stand auf und meinte: »Da müssen wir eben einbrechen.« Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sic sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür. ■Das ist ja entsetzlich«, jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er druckte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sic klapperte klaglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: -Herr Dok- tor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen.« Dann warf er sich auf sein Bett und hiß vor Vergnügen ins Kopfkissen. •Nein!« sagte sie hinter ihm, »das ist nicht möglich.« Aber dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen. Er stand aut und sah ihr zu. »Du darfst dir nicht so laut Inn tendrauf klatschen«, erklärte er würdevoll. »Das ist beim Schuhplattler nicht anders«, meinte sie und tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: »Bitte, die Speisekarte.« Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: »Bringen Sie mich unverzüglich in mein Appartement zurück.« Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistift -kreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfcld nach Möglichkeit nichts merken zu lassen. Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und sagte: »Komm!« Er streichelte ihren Körper. Sic nahm seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: »Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Unterschied!« FABIAN ZEHNTES KAPITEL 89 Elftes Kapitel Die Überraschung in der Fabrik Der Kreuzberg und ein Sonderling Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit Am andern Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete. Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und Zigaretten sechs verschiedener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten. Die Käulerschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen wollte, notgedrungen je eine der sechs Spe-zialpackungcn kaufen, die seit langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt siebenhunderttausend Schachteln umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen. Da erschien Fischer, rief: »Nanu?« und blickte dem Kollegen neugierig über die Schulter. •Der Entwurf fürs Preisausschreiben«, sagte Fabian. Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: •Darf ich Ih nen nachher mal meine Zweizeiler zeigen?« •Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik.« Da klopfte es. Der Hausbote Schncidcreit, ein ältliches, wackliges Faktotum, auch »der Erfinder des Plattfußes« geheißen, schob sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem ln- Ut: •Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien Stucken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen auch an dieser Steile gern bekunden, daß Sic für die propagandistische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste.« Unterschrift. Aus. Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: »Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich's gut gehen.« ■Wo wollen Sic denn hin?« ■Man hat mir eben gekündigt.« Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. »Was Sic nicht sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!« •Ihr Gehalt ist kleiner«, meinte Fabian. »Sic dürfen bleiben.« Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. »Na, zum Glück hßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau auf dem Hals.« Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als " sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen Guten Morgen. •Guten Morgen, Herr Direktor«, grüßte Fischer und ver-°«igte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, »andte sich dem Kollegen zu und sagte: »Auf dem Schreiben liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermach es Ih-•»»•• Damit verließ Fabian seine Wirkungsstätte und holte «h an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos rat- ,L»TES »APITIL 9« terten vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende Gebäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckligen Bewurf. Eine Reihe bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstralie. Der Depeschcnbote kam zurück, stieg hastig aufsein Rad und fuhr weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch darin sei, und dachte: >Was wird mit mir?< Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren. Kr lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in Bewegung, obwohl ersieh liebertraurig in den tiefen Wald verkrochen hätte. Aber wo war hierein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den Kummer an den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte. Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian ging die Treppen hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier wohne. Aber es war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Dk alte Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des regelmäßigen dummen Greisinnengesichts. Im Inflationswintcr hatte er kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen Bekanntenkreis aufgeklärt worden. Vorher damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen das Knammsitzcn oder das Nägelkauen. Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: \ .clleich, sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Mad,. w„ hhrgei, so rasch Fruchte trug; vielleicht K*l man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackli- gen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der weibliche Referendar, hatte daneben gelegen und ihm noch im Schlaf die Hand gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und energisch erklärt: »Ich werde die Annoncen leuchten lassen!« Dann sei er wieder zurückgesunken. Erstieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild stand: »Bürger, schont eure Anlagen!« Der Magistrat hatte den außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes. Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: »Soll man sich das gefallen lassen?« Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit. »Gegen die Bande kannst du gar nichts machen«, meinte er schließlich. Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören. Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Kncbclbart und mit einem schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche, verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut, der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinenträger steuerte auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrüßungsformel murmelnd, neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen Mittelpunkt mit dem Zentrum eines anderen Kreises durch eine Gerade in Verbindung, komplizierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr, schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: »Verstehen Sie was von Maschinen?« 9* U»«.» KAPITEL 9J »Bcdaure«, sagte Fabian. »Wer mich sein Grammophon aufziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktioniert. Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befasse, brennen nicht. Bis zum heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betriebene Metallgehäuse zu sperren und auf der Rückseite Corned beef herauszudestillieren, werde ich niemals begreifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit grünen Mützen nach der Marlin Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte, wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die Empore kam.« Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte Er sah den blassen, dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der Fland an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses hinaufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme seiner Mutter hinter der Tür: -Wer ist denn draußen?« Und er hörte sich, außer Atem, rufen: »Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß nachsehen, ob's dir heute besser geht.« Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten & h.rmcs so lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. »Vielleicht verstehen Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen«, sagte er. »Ich bin ein sogenannter Er-l.nder, Ehrenmitglied von fünf wissenschaftlichen Akademien. D,c Technik verdankt mir erhebliche Fonschritte. Ich habe der Icxt.hndustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel luch herzustellen wie früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich.« Der alte Herr hustete und rupfte sich nervös am Spitzbart. »Ich erfand friedliche Maschinen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt. Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. F.in kleines Mädchen wurde von einem Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld.« Der alte Herr schob den steifen Flut aus der Stirn und hustete. »Als ich zurückkam, stellte mich meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben, sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr verschollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie ein Strolch durch Berlin.« ■Alter schützt vor Klugheit nicht«, sagte Fabian. »Leider sind nicht alle Erfinder so sentimental.« ■Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwertc stecken in meiner geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern.« Der alte Herr schlug sich stolz an die Brust und hustete wieder. »Heute abend übernachte ich Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Porticr 'ragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpost-»chaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Fannie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort set-» ich mich auf die Treppe. Vielleicht ist die Bodentür offen. 94 FABIAN '"m KAPITEL 9i Manchmal liegt gar eine alte Matratze in irgendeiner Ecke Morgen früh verschwinde ich dann wieder.« »Woher kennen Sie Grünbergs?« »Aus dem Adreßbuch«, antwortete der Erfinder. »Ich muß doch einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen Absichten erkundigt. Am nächsten Morgen kommt der Schwindel häufig raus. Aber die jahrtausendalte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab. Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leiderem Aufklärungskursus gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen. Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu. die fortreisen, ankommen und zurückbleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da und bin froh, daß ich lebe.« Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. »Heben Sic sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Porticr vorzeitig von der Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen.« Der alte Herr las den Zettel und fragte: »Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?« Fabian zuckte die Achseln. -Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängstigen«, meinte der Alte. »Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es spielt keine Rolle. Wies kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir so egal wie der Sonne.« Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter. •Was sind Sic eigentlich von Beruf?« fragte der Erfinder. »Arbeitslos«, erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen Berlins zurückführte. Alseram Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheurberichten. Schon die bloße Vorstellung von der kommenden Szene rührte ihn tief. Vielleicht hatte er auch nur Hunger. Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sic stand im Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der Sclow dachte. Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins Reine zu schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung hatte sein privates Ordnungssystem und in der Folge seine Moral lädiert. Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer. Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit. Erhoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und trotzdem ruhig bleiben kann. •Du siehst schlecht aus«, sagte Fabian. •Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht-, gestand der Freund. »Diese Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei onpfmdet sie bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für les-kuch halte ich sie aber auch nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell.- FAB1 AN '»Tri K A P IT t L 97 Fabian ließ den Freund reden. Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. »Morgen fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt«, erzählte Labudc noch, bevor er sich verabschiedete. »Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe einrichten. Inzwischen mag das Mädchen inder Wohnung Nummer Zwei bleiben. Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob.« Dann ging er. Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen? Aber Ruth Reiter, die Bildhaucrin, saß da, sah elend aus, war gar nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg ausführlich schon berichtet hatte: Die kleine Kulp war in die Charite gebracht worden. Sic hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhclmy, der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier, kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit Sterben. Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war. Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Gruncwaldvilla keine Auskunft hatte geben können. »Ich weiß, wo er wohnt«, meinte Fabian. »Außerdem hat er bis vor wenigen Minuten nebenan in meinem Zimmer gesessen Die Adresse darf ich nicht sagen.« »Er war hier?« rief die Bildhauerin. »Auf Wiedersehen!« Sie rannte davon. -Ihr fehlt die Sclow«, sagte Cornelia. »Ihr fehlt die schlechte Behandlung«, sagte Fabian. »M.r nicht.« S,e küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er ihre Wbcmtungcn zum Abendessen bewundere. »Gefällt dir das?« Iragte sie. »Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer, wenn es etwas zum Bewundern gibt. I last du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich diese Ohrringe schon? Trugst du iuch gestern den Scheitel in der Mitte? Was mir getällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf stoßen.« •Du hast nichts als Fehler«, rief sie. »Jeden einzelnen deiner Fehler könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb.« Wahrend des Essens erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und Direktoren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und sagte lächelnd: »Die eiserne Ration.« •Du bist rot geworden«, rief er. Sie nickte. »Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern gibt.« Fr schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sic zog sich an. Er uberlegte inzwischen, wie er ihr die Kündigung beibringen sollte. Aber der Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte Guten Abend. F.s war der Erfinder mit der Pelerine. »Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden verdorben«, erzählte er. »Ich habe um die Yorck-«raße einen Bogen gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe, daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber arbeitslos.« •Arbeitslos bist du?« fragte Cornelia. »Ist das wahr?« Der alte Herr entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse Bescheid. •Heute morgen hat man mir gekündigt.« Fabian ließ Cornelias Arm los. »Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt. Wenn ich meine Miete vorausbe- 9« FAHAS lL»TEiKapitel 99 zahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht.« Als sie den alten Herrn aufs Sofa gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an seiner geheimen Maschine hcrumrechnen, wünschten sie ihm Gute Nacht und gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem Gast ein paar belegte Brote. »Ich verspreche, nicht zu husten«, flüsterte der Alte. »Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld, die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie wir's morgen trüh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen.« »Gute Nacht, junger Freund«, bemerkte der Alte und holte seine kostbaren Papiere aus der Tasche. »Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut.« Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. »Ach. ist das Leben schön!« sagte sie. »Wie denkst du über die Freue?« »Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!« Er saß neben ihr, hielt sein Knie umschlungen und blickte auf das ausgestreckte Mädchen nieder. »Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben.« •Das ist ja eine Liebeserklärung«, sagte sie leise. •Wenn du jetzt heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!« sagte er. Sic kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Sshlupfcr an und stellte sich vor Fabian hin. Sic lächelte unter Tranen. -Ich heule«, murmelte sie. »Nun halte auch du dein Versprechen.» Dann bückte sie sich. Er zog sie aufs Bett. Sie sagte: .Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen.« Zwölftes Kapitel Der Erfinder im Schrank Nicht arbeiten ist eine Schande Die Mutter gibt ein Gastspiel Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Fisch und rechnete. »Haben Sie gut geschlafen?« Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. »Das geborene Schlafsofa«, sagte er und streichelte diebraune Sofalehnc, als handle sich's um einen Pfcrdcrückcn. •Muß ich jetzt verschwinden?« •Ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, meinte Fabian. ■Während ich bade, bringt die Wirtin das Frühstück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen nicht begegnen, sonst gibt's Krach, wenn sie wieder draußen ist, sind Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit kümmern muß.« •Das macht nichts«, erklärte der Alte. »Ich werde in den Buchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, wahrend Sic baden?« •Ich dachte, in den Schrank«, sagte Fabian. »Der Schrank als Vohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehcbruchslust-spiclc. Brechen wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag angenehm?« Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hinein und fragte: -Pflegen Sie sehr lange zu baden?« Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. -Und *n>n sie mich hier findet?« ■Dann ziehe ich am Ersten aus.« Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: ■Nun scheren Sie sich in die Wanne!« FABIAN «»ÖLITEJ KAPITEL 101 Fabian schloß den Schrank zu, nahm vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: »Frau Hohlfeld, das Frühstück!« Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über und über eingeseift, in der Wanne und lachte. »Du mußt mir den Rücken abreiben«, flüsterte sie. »Ich habe so entsetzlich kurze Armchen.« »Die Reinlichkeit wird zum Vergnügen«, bemerkte Fabian und seifte ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum Schluß saßen sie beide im Wasser gegenüber und spicken hohen Seegang. »Schrecklich«, sagte er, »in meinem Schrank steht inzwischen der König der Erfinder und wartet auf seine Befreiung. Ich muß mich beeilen.« Sie kletterten aus der Wanne und frottierten einander, bis die Haut brannte. Dann trennten sie sich. »Auf Wiedersehen am Abend«, flüsterte sie. Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem Mund und Hals, von jedem Körperteil einzeln. Dann lief er in sein Zimmer. Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte I lerr stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte nachzuholen. »Nun der zweite Teil der Komödie«, sagte Fabian, ging in den Korridor, öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und riet: »Großartig, Onkel, daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!« Er komplimentierte die imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfinder zu. »So, nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite Tasse.» -Und Ihr Onkel bin ich außerdem.« »Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer schmerzstillend«, erläuterte Fabian. »Aber de Kaffee ist gut. Darf ich mir ein Brötchen nehmen?- Der alte Herr begann den Schrank zu vergessen. »Wenn ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben, geehrter Herr Neffe«, sagte er und aß mit großer Andacht. -Ihr h>po,het,scher Antrag ehrt mich«, entgegnete Fabian. s,c M,d>c„ .uJ Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetas-sen an und riefen: »Prost!« »Ich liebe das Leben«, gestand der Alte und wurde fast verlegen. -Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen wie von einem Eisenbahnzusammenstoß oder einer anderen unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachverständig.« »Und die Menschen?« •Der Globus hat die Krätze«, knurrte der Alte. »Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten gut aus«, sagte Fabian und stand auf. Er verließ den Gast, der noch immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfcld.dcn Onkel nicht zu stören, und ging zum Arbeitsamt seines Bezirks. Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine westliche Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war. Er fuhr mit dem Autobus zum Wittcn-bergplatz und ging in das angegebene Lokal. Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen und Stenotypistinnen und "regte, als einziger männlicher Besucher, die größte Aufmerksamkeit. Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines Konsumvereins aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamts darstellte, in der er sich melden sollte. Hinter dem ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter, davor standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach dem andern», die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen Kontrollvermcrk. Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen geneidet waren, manche konnten geradezu elegant genannt wer- 102 FABIAS 0\ '»Olms KAPITEL 103 den, und wer ihnen auf dem Kurfürstendamm begegnet wäre, hätte sie fraglos für freiwillige Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen Gang zur Stempelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen Geschäftsstraßen. Vor den Schaufenstern stehenzubleiben, kostete noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten, oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Fci-ertagsanzüge, und sie taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie? Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und Glied und warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder cinstck-ken durften. Dann gingen sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik. Manchmal schimpfte der Beamte und legte eine Karte beiseite. Ein Gehilfe trug sie in den Nebenraum. Dort thronte ein Inspektor und zog unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit zu Zeit trat eine Art Porticr aus der Tür und rief einen Namen. Fabian las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden zu tragen. Es war verboten, Um-steigcbillctts der Straßenbahn von den Erstinhabern zu übernehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten, politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es wurde mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes Mittagessen erhalten könne. Es wurde mitgeteilt, für welche Anfangsbuchstaben sich die Kontrolltage verschoben hatten. Es wurde mitgeteilt, für welche Berufszweige die Nachwcisadrcsscn und die Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten. Es war verboten. Es wurde mitgeteilt. Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beamten seine Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht ubheh. und er empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wenden, die für freie Berufe. Wissenschaftler und Künstler zustän-dig sei. F.r nannte die Adresse. Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast M.ttag. Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr gemischte Gesellschaft. Den Anschlägen entnahm er, daß es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen, Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. »Ich bin jetzt bei der Krisen-lursorge«, sagte ein kleiner Herr. »Ich kriege 24,50 Mark. Auf ieden Kopf meiner Familie kommen in der Woche 2,72 Mark, und auf einen Tag für einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau ausgerechnet. Wenn das soweitergeht, fange ich nächstens an einzubrechen.« •Wenn das so leicht wäre«, seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger Jüngling. »Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus.» »Es ist mir egal, wenigstens vorher«, erklärte der kleine Herr erregt. »Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit in.« •Als ob Stehlen Sinn hätte«, sagte ein großer, breiter Mensch, der am Fenster lehnte. »Wenn der Kleinbürger nichts zu fressenhat, will er gleich zum Lumpenproletariat übergehen. Warum denken Sie nicht klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur? Merken Sie noch immer nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten.« •Bis dahin sind meine Kinder verhungert.« •Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten Herren Kinder noch rascher«, sagte der Mann am Fenster. Der kurzsichtige Jüngling lachte und schaukelte entschuldigend mit der Schulter. »Meine Sohlen sind völlig zerrissen«, sagte der kleine Herr. •Venn ich jedesmal hicrhcrlaufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich kein Geld.« »Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?« fragte der Kurzsichtige. »Ich habe so empfindliche Füße«, erklärte der kleine Herr. •Hängen Sie sich auf!« meinte der Mann am Fenster. •Er hat einen so empfindlichen Hals«, sagte Fabian. Dct Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt ■od zählte sein Vermögen. »Die Hälfte des Geldes geht regel-"«% für Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man. 104 '•ÖLETES KAPITEL I05 Rückporto braucht man. Die Zeugnisse muß ich mir jede Woche zwanzigmal abschreiben und beglaubigen lassen. Kein Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal Antwort erhält man. Die Bürofritzen legen sich vermutlich mit meinem Rückporto Briefmarkensammlungen an.« »Aber die Behörden tun, was sie tun können«, sagte der Mann am Fenster. »Unter anderem haben sie Gratiszeichen-kursc für Arbeitslose eingerichtet. Das ist eine wahre Wohltat, meine Herren. Erstens lernt man Äpfel und Beefsteaks malen, und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als Nahrungsmittel.« Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu sein schien, sagte bedrückt: »Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner.« Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian erkundigte sich, vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier abgefertigt zu werden. Der Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts. »Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen.« »Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die Tournee begonnen habe«, sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da. »Die Bedienung ist zwar höflich«, meinte der Jüngling, -aber daß die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten.- Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Fr hatte bereits eine Mark Fahrgeld verbraucht und blickte vor Wut nicht aus dem Fenster. Als er ankam, war das Amt geschlossen. »Zeigen Sie mal Ihre Papiere her-, sagte der Porticr. »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.« Fabian gab dem Biedermann das Zettelpakct. • Aha-, erklärte der Türstchcr nach eingehender Lektüre. »Sic sind ja gar nicht arbeitslos.« Fabian setzte sich auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die F'infahrt zierten. »Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das Geld haben Sic doch von Ihrer Firma erhalten?« ,,cvo, »Bis dahin können Sie es ,a mit Bewerbung« :,pa,eren. Lesen Sied, Stellenangebote in denZ,- VelSinn hat es nicht, aber man soll's mcht beschre.en.« Alichc Reise«, sprach Fabian, nahm die Papiere in rmpfang und begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar , ,hcn verzehren wollte. Zu guter Letzt verfütterte er stc aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im Neuen See spa-nerenfuhren. Ali er gegen Abend das Zimmer bettat, fand er seine Mut-Sk saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte: •Di staunst du, mein Junge.« Man umarmte sich. Sie fuhr fort: »Ich mußte nachsehen, was du machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Ge-Khaft kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest mein« Briefe nicht mehr. Zehn Tage hast du nicht geschrieben. h lieft mir keine Ruhe, Jakob.« Et setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und trklane, es gehe ihm gut. Sie betrachtete ihn prüfend. »Komme ich dir ungelegen?« Er ' Jttclte den Kopf. Sie stand auf. »Die Wäsche habe ich dir 'ti in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal rei-ichen. Ist sie noch immer zu fein dazu? Was denkst du, *u ich mitgebracht habe?« Sie öffnete den Spankorb und legte Pakete auf den Tisch. »Blutwurst«, sagte sie, »ein Pfund, aus et Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel. Leider ■ man hier nicht in die Küche, sonst würde ich's aufbraten. - «nspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grü-'di wir gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus ■ Laden. Wenn das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge. übe, die Leute waschen sich nicht mehr. Und hier eine "«Mte, gefällt sie dir?« •ö« bist so gut«, sagte Fabian. »Aber du sollst nicht so viel ^rur mich ausgeben.« 'nnenMer- *S* ein bißchenTee kochen, dei- FABIAN 107 ne Gnädige. Ich hab's ihr schon erzählt. Morgen abend fahre ich zurück. Ich bin mit dem Personenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel! Überall stehen leere Zigarettenschachteln herum.« Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung wie ein Gendarm. »Ich mußte gestern daran denken«, sagte er, »wie das damals war, als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich rannte abends davon, über den Exerzierplatz, nur um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal, das weiß ich noch, schobst du einen Stuhl vor dir her und stütztest dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können.« »Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter«, sagte sie »Man müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?« »Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran können sie eine Viertelmillion verdienen.« »Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande.« Die Mutter war empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee, stellte das Tablett auf den Tisch und sagte: »IhrOn-kel ist schon wieder da.« »Dein Onkel?« fragte die Mutter erstaunt. »Ich habe mich auch schon gewundert«, erklärte die Wirtin. »Hoffentlich haben Sic sich dabei keinen Schaden getan, gnädige Frau«, erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte sich gekränkt. Fabian holte den Erfinder ins Zimmer und sagte: »Mama, das ist ein alter Freund von mir. Er hat gestern auf dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel ernannt, um das Verfahren abzukürzen.« Er wandte sich an den Erfinder. »Das ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhundens. Nehmen Sie Platz. Aus dem Sofa wird heute freilich nichts. Aber ich möchte Sie für morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist.« Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Sch.rmknauf und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand. -Stecken Sie das rasch ein«, bat er. »Es ist meine Maschine Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die Notizen abzujagen und zu Geld zu machen.« Fabian steckte den Briefumschlag ein. »Man will Sic ins Irrenhaus sperren?« •Ich habe nichts dagegen«, bemerkte der Alte. »Man hat seine Ruhe dort. Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber ein bißchen verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war schon zweimal dort. Wenn mir's zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen Sie, meine Dame«, sagte er zu der Mutter. »Ich mache Ihnen Ungelegen-heiten. Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird gleich klingeln. Ich bin soweit. Die Papiere sind gut aufgehoben. Verrückt bin ich übrigens nicht, ich bin meinen werten Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund, schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt.« Ks klingelte. ■Da sind sie schon«, rief der Alte. Frau Hohlfeld ließ zwei Herren eintreten. •Ich bitte, die Störung zu entschuldigen«, sagte der eine und verbeugte sich. »Vollmachten, die Sic gern einschen können, veranlassen mich, Herrn Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise 'u entfernen. Unten wartet mein Auto.« ■Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner ge-»orden. Ich merkte es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur »an. Tag, Winkler. Da wollen wir mal in Ihren Wagen klettern, geht's meiner lieben Familie?« Der Arzt hob die Schultern. Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein "nd schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm *-*«n Hand. »Ich danke Ihnen sehr.« Er schritt zur Tür. »Sie ■"ben einen guten Sohn«, sagte er zu der alten Frau. »Das kann "»vht jeder von sich behaupten.« Dann verließ er das Zimmer, kr Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und seine Mut-Xr blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die *«• Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten Winder in einen Staubmantel. Die Pelerine wurde verstaut. 108 EAIIA* W4»'TtS KAPITEL 109 »Ein komischer Mann«, sagte die Mutter, »aber verrückt ist er nicht.« Das Auto fuhr davon. »Warum sah er eigentlich in den Schrank?« »Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die Wirtin nichts merkte«, sagte der Sohn. Die Mutter goß Tee ein. »Aber leichtsinnig ist es trotzdem von dir, wildfremde Leute hier schlafen zu lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im Schrank nicht schmutzig gemacht.« Fabian schrieb die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert und schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte er: »Komm, mach dich fertig. Wir gehen ins Kino.« Während sich die Mutter anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei. Die Freundin war müde und lag schon im Bett. »Ich schlafe, bis du aus dem Kino zurück bist«, meinte sie. »Siehst du dann noch einmal zu mir herein?« Er versprach es. Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein albernes Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Abgesehen davon war nicht gespart worden, der vorgeführte Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte, obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Eindruck, unter den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das freute Fabian so sehr, daß er mitlachte. Nach Haus gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt. -Wenn ich früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein Junge, dann hättest du es besser gehabt«, meinte sie nach einiger Zeit. »Es war auch so nicht übel«, sagte er. »Und außerdem ist es vorbei.« Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer auf dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter bereitete das Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan, sagte er dann. »Don wohnt eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet.« Er verabschiedete sich für alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür Eine Minute später kam er wieder. »Sie schläft schon«, flüsterte er und bestieg sein Sofa. •Früher wäre das nicht möglich gewesen«, bemerkte Frau Fabian. •Das hat ihre Mutter auch gesagt«, meinte der Sohn und drehte sich nach der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschlafen, stand er noch einmal auf, tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich über das Bett und sagte wie einst: »Schlaf gut, München.« •Du auch«, murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte du nicht sehen. Er tastete sich im Finstcrn zum Sofa zurück. 110 FAHA» l»*l.ms KAPITEL HI positiven Vorschläge, ob sie nun von Philosophen des zehnten oder von Nationalökonomen des zwanzigsten Jahi-hunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich. Fabian fand eine tvpologische Erörterung und las: »Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke EVKoXog und óuoxoAog bezeichnete. Derselbe lallt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehl schiedene Empfänglichkeit für angenehme und unangenehme Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, M den anderen fast zur Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwache: zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und umgekehrt Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglücklichen Ausgangs einer Angelegenheit wird der ôuaxoXoc bei dem unglücklichen sich ärgern oder grämen, bei dein glücklichen sich aber nicht freuen; der eüxoXoc; hingegen wird über den unglücklichen sich nicht ärgern noch grämen, aber über den glücklichen sich freuen. Wenn dem ôuaxoX.05 von zehn Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das eine mißlungene: der EÜX0/.0; weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und aufzuheitern. Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensationen ist, so ergibt sich auch hier, daß die oi'Oxoaol, also die finsteren und ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und sorglosen; denn wer alle» schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht.« •Was darf ich Ihnen verkaufen?« fragte ein altliches Fräulein. »Haben Sic baumwollene Socken?« fragte Fabian. Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: »Im Erdgeschoß.« Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Trepp« abwärts. Hatte Schopenhauer damit rocht. "a ■a-Ie, gerade er, jene zwei menschlichen Gattungen als einan- ■ ■ ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz die Anschauung der ÖuoxoXoi wider besseres Wissen ■ erabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und kerami- . Kunstgewerbe wir ein Aullauf. Fabian trat hinzu. Kau-•er, Verkäuferinnen und Bummler umstanden ein kleines verlies Mädchen, das zehn Jahre sein mochte, einen Schulrantrug und ärmlich angezogen war. Das Kind zitterte am ynzen Körper und blickte entsetzt in die bösen, aufgeregten : der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. »Was ist los ?« •Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschenbecher stahl«, erklärte eine alte Jungfer. »Hier!« Sie hob eine kleine bunte Schale hoch und zeigte sie dem Vorgesetzten. ■Marsch zum Direktor!« kommandiene der Cutaway. ■Jugend von heute«, sagte eine aufgetakelte Gans. ■Marsch zum Direktor!« rief eine der Verkäuferinnen und ickte die Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr. Fabian schob sich durch die Versammlung. »Lassen Sie auf derStelle das Kind los!« ■Erlauben Sie mal«, meinte der Abteilungsleiter, •»«fallt Ihnen ein, sich einzumischen?« fragte jemand, ihian gab der Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß Kmd losließ> dann zog er das kleine Mädchen an seine ■ -warum hast du denn ausgerechnet einen Aschenbecher ».men>. fragte er. »Rauchst du schon Zigarren?« ■ hatte kein Geld«, sagte das Mädchen. Dann hob es sich J* ™P»ea. »Mein Papa hat heute Geburtstag.« w-kV l ' We" man kein Geld h«. Es wird immer cT''^^^ aufgetakelte Gans. ■ben S.e uns einen Kassenzettel aus«, sagte Fabian zu D« K T ? bchaken d™ Aschenbecher.« -ndeiter Strafe«> beh^ptete der Abtei- 1 m "* luf den Mä™ a. »Wenn Sie sich meinem Vor- '«"«nrnauw.! 115 Dreizehntes Kapitel Das Kaufhaus und Arthur Scbopenhur Das reziproke Bordell Die zwei Zwanzigmarkscheine Am andern Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. -Au! stehen, Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!« Er machte uet rasch fertig, trank den Kaffee im Stehen und verabschiede« sich. »Ich werde inzwischen Ordnung schaffen«, sagte sie. »Sowas von Staub überall. Und an deinem Mantel ist der Henkr. abgerissen. Geh ohne Mantel, Es ist ja warm draußen.« Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die Mutter ha« tierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Flei wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinnerte plötzlich an zu Hause. »Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in den Schoß legst«, warnte er. »Wart es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in dm Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hin. und du würdest mir wieder einmal davon erzählen, wie komisch ich als Kind war. Als ich die Bettstelle mit der Stcckru del völlig zerkratzte und dich dann bei der I fand nahm, um di» das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Geburtstag weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfc schenkte.« »Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Ks ist mir noch wie heute«, sagte die Mutter und strich sein Jackett glatt. »Der Anzug müßte gebügelt werden.« »Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige Kinder«, ergänzte er in weiser Voraussicht. •Scher dich an die Arbeit!« Die Mutter stemmte die Arme in die Hüften. »Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole dich am Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tur. Dann bringst du mich zum Bahnhof. »Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst.« Er kam noch einmal zurück. na Dk Mutier sah ihn nicht an. Sic machte sich am Sofa zu - -Ich hielt es drüben nicht mehr aus«, murmelte sie. • Uer nun geht's schon wieder, du mußt nur länger schlafen, .: in darfst das Leben nicht so schwer nehmen, mein J unge. Li nid dadurch nicht leichter.« •S-r ;ehc ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu •««.iieteeT. W blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. F.r winkte mi kitte und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen ■« Dann verlangsamte er den Schritt und blieb schließlich - hn hübsches Versteckspiel trieb er da mit der alten hmi Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu tun hatte. ■ «.He da oben allein in dem fremden, häßlichen Zimmer, ob-> • rt wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm zusam-•nKra durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens •«■Muhen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro ab-'• h mußte ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht . daß er entlassen war. Der Anzug, den er trug, war der . den er sich in zweiunddreißig Jahren selber gekauft Ihr Leben lang hatte sie seinetwegen geschuftet und ge-"Wi. Sollte dai denn nie ein Ende nehmen? *e»ei zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens u«en. Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Ab-^Wjt, außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und l**w^*"" haben, Unterhaltung zu bieten. Er hörte einer "••■»enn zu, die sehr gewandt Klavier spielte. Aus der Le-^■■•»»»wung vertrieb ihn der Fischgeruch, den er seit ° """"«i'U vielleicht auf Grund einer embryonalen Erin-T^*^«**»tehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank ver-1 D** Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwieder-Ja. Ftbun entzog sich der unerhörten Zumutung und "*■* * die Buchabteilung. Er geriet an einem der An-•■■«*•»• über einen Auswahlband von Schopenhauer, r^L. | ****-cn fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten i 1. !T^'tlt' ^uroPa m'1 Hilfe einer indischen Heil-l*w'deiB,war freilich eine Kateridee, wie bisher alle «»»II» »AtlTIL "3 schlag widersetzen sollten, schmeiße ich Ihnen den gute Porzellanladen kaputt.« Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäufern schrieb einen Zettel aus und brachte den Aschenbecher» Auslieferung. Fabian ging zur Kasse, zahlte und nahm du Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind bis zum Ausgang. »Hier hast du deinen Aschenbecher«, sagteer. »Aber paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner Junge, der kaufte einen großen Kochtopf, um ihn seine; Mutter am Heiligen Abend zu schenken. Als es soweit wu, nahm er den Topf in die Hand und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schimmerte großartig. >Da, Mutter.da hast du ...<, sagte er und wollte sagen: >Da hast du denTopt. Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür. .Di, Mutter, da hast du den Henkels sagte der Junge nun, denn er hatte nur noch den Henkel in der Hand.« Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit bei den Händen fest und meinte: »Mein Aschenbecher hat ja g" keinen Henkel.« Sie knickste und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: »Danke schön!« und verschwand. Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte Dame, mit Paketen behängen, schob sich schwer fällig vom Sitz und wollte aussteigen. Fabian öffnete den Wi-genschlag, half der Dame vom Trittbrett, zog höflich den Hut und trat zur Seite. »Da!« sagte jemand neben ihm. Es war die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus? Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und öffnete einen zweiten Wagen. »Da!« sagte jemand und gab ihm wieder einen Groschen. >Das wächst sich zu einem Beruf aus-, dachte Fabian und hatte eine Viertelstunde spater lunt undsechzig Pfennig verdient. »Wenn jetzt Labude votbeikimc und den literarhistorisch vorgebildeten Autooffner sähe, überlegte er. Aber der Gedanke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter weht hatte er nicht begegnen mögen, und auch Cornelia •Eine milde Gabe gefällig?« fragte eine Frau und gab ihm ■i größeres Geldstück. Es war Frau Irene Moll. »Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge«, sagte sie und lächelte -jadenfroh. »Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's : - so dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und auch die Schlüssel hättest du behalten ■. '.: cn. Ich wanete darauf, dich in meinem Bett wiederzuse-3a Deine Zurückhaltung macht sinnlich. Hier, hilf mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon.« Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam. ■Vis kann ich für dich tun?« fragte sie nachdenklich. »Stel-Jn? eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist 'tider nicht mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt wohnt die Kriminalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen Gelder unterschlagen. Seitjahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut. Wir haben ihn unterschätzt.« ■Wovon leben Sie denn nun?« fragte Fabian. -Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind inrt billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter geschenkt, du heißt, die Bekanntschaft ist jung, der Bekannte ist alt. Ihm Muren nur ein paar Gucklöcher in den Türen.« ■Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?« •Junge Männer, mein Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie dreißig Prozent der Einnahmen.« •Welcher Einnahmen?« •Mein Verein unchristlicher junger Männer wird von Damen der besten Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft worden. Sic 116 D.tlZEHNTLS Until 117 haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der ein:, r Ungar, wurde von der Frau eines Industriellen erworben. E lebt wie ein Prinz. Wenn er klug ist, hat er in einer Vermögen. Dann kann er die alte Schießbudenfigur abschaffen.. »Also ein Männerbordell«, sagte Fabian. »So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechuju* als ein Frauenhaus«, erklärte Irene Moll. »Außerdem träum:! ich schon als junges Mädchen davon, Besitzerin eines solche Etablissements zu werden. Ich bin sehr zufrieden. Ich habt Geld, ich engagiere fast täglich neue Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle bewirbt, mun bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme an jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt I schon eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen.' Sie blieb stehen. »Ich bin angelangt.« Die Pension lag in einem großen eleganten Mietshaus. »Ich möchte dir einen \or schlag machen. Als Pensionär kommst du nicht in Frage, meit Lieber. Du bist zu wählerisch, du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung notwendig. Du könntest in meinen Privaträumcn arbeiten, wohnen könntest du auch dort. Wie denkst du darüber-»Hier sind die Pakete«, sagte Fabian. »Ich möchte meinem Brechreiz nicht zuviel zumuten.« In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die Hüte ab. »Gaston, hast du heute Ausgang?« fragte sie. »Mackic meinte, ich soll mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig Minuten hin ich wieder da.« »Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine Wirtschaft? Mackic geht allein. Marsch! Für drei Uhi hat sich Nummer Zwölf angemeldet. Bis dahin schläfst du. los!« Der junge Mann ging ins 1 laus zurück, der andere setzte, nochmals grüßend, seinen Weg fort. Frau Moll wandte sich Fabian zu. »Du willst wieder nicht?« Sie nahm ihm die Pakete ab. »Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache Außerdem tätest du mir einen personlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib habe ich mittlerweile genug.« Sie ging ins Haus. »Das grenzt an Zwangsläufigkeit«, murmelte Fabian und kehrte um. Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote. Dann kaufte er in einem muffigen Papierla-den Schreibmaterial und verfaßte vier Bewerbungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt hatte, fand er, es sei Zeit. Und pilgerte, recht müde, zu der Zigarettenfabrik. »Sieht man Sie auch mal wieder?« fragte der Portier. •Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen«, antwortete Fabian. Der Portier kniff ein Auge zu. »Verlassen Sie sich ganz auf mich.« Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen schien. Er ging rasch ins Verwaltungsgebäude, setzte sich in eine Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. So oft er Schritte hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerkten ihn nicht. Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und Stimmen vernahm, die sich näherten. •Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben berichten, das Sic da vorbereitet haben, lieber Fischer«, sagte die eine Stimme. »Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen.« »Herr Direktor sind sehr gütig«, erwiderte die andere Stimme. »Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Doktor Fabian geerbt.« »Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!« 118 DREIZEHNTES KAPITEL 119 Der Ton des Direktors war unfreundlich. »Ist Ihnen raein Verschlag unangenehm? Wäre Ihnen eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt einiger Verböserungen. Ich werde gleich, unter Zugrundelegung Ihres Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen. Sic haben es gut.« »Meister muß sich immer plagen. Von Schiller«, bemerkte Fischer. Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang erschrok-ken einen Schritt zurück. Direktor Breitkopf fingerte im Kragen. »Ich bin weniger überrascht als Sie«, sagte Fabian und ging zur Treppe. »Da kommt er ja schon«, meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. »Hübsch fleißig gewesen?' fragte sie. Der Porticr lächelte gutmütig und spazierte in seinen Verschlag. Fabian gab der Mutter die Hand. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit«, sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupcc auf und ab. »Nicht so weit weg.« Sie hielt den Sohn am Ärmel. »Wie leicht wird ein Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er.« Schließlich wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs Fenster zum Gepäcknetz. • Nun kann's wieder abgehen«, sagte sie. »Der Henkel vom Mantel ist angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld tat beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen.« Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine Schinkensemniel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen •Junge, bist du leichtsinnig«, sagte sie. Er lachte, kletterte ini Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und kletterte wieder auf den Bahnsteig. •Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?« fragte sie. »Ich koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los.« •Ich komme, sobald ich kann«, versicherte er. Als sie aus dem Kupccfenster blickte, meinte sie: »Bleib recht gesund, Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärtsgehen will, pack dein Bündel und komm heim.« Er nickte. Sic sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen zu lächeln pflegt, ähnlich wie beim Fotografen, nur daß weit und breit kein Fotograf zu sehen ist. »Laß dir's gut gehen«, flüsterte er. »Es war schön, daß du da warst.« Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. •Wenig mit Liebe, Deine Mutter«, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. »Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.« Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen, war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische. Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins Gebäude der Konkurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich. Sie solle ihn morgen nachmittag im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der Regisseur wären auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr. •Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast kein Geld mehr. »»e1zehntes kapitel 121 Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denkt dir, wenn ich jetzt Filmschauspielerin würde! Kannst du dir das vorstellen?« »Doch«, sagte er und gab ihr seinen letzten Hundertmarkschein. »Hoffentlich bringt dir das Glück.« »Mir?« fragte sie. »Uns«, korrigierte er ihr zu Gefallen. Iii Vierzehntes Kapitel Der Weg ohne Tür Fräulein Selows Zunge Die Treppe mit den Taschendieben In dieser Nacht träumte Fabian. Wahrscheinlich träumte er häufiger, als er glaubte. Aber in dieser Nacht weckte ihn Cornelia, und so entsann er sich des Traumes. Wer hätte ihn, vor Tagen noch, aus seinen Träumen wecken sollen? Wer hätte ihn mitten in der Nacht ängstlich rütteln sollen, bevor er neben Cornelia schlief? Er hatte mit vielen Frauen und Mädchen geschlafen, das war richtig, aber neben ihnen? Er lief im Traum durch eine endlose Straße. Die Fläuscr waren unabsehbar hoch. Die Straße war ganz leer, und die Häuser hatten weder Fenster noch Türen. Und der Himmel war weit entfernt und fremdartig wie über einem tiefen Brunnen. Fabian hatte Hunger und Durst und war todmüde. F> sah, die Straße horte nicht auf, aber er ging und wollte sie zu Ende gehen. »Es hat keinen Zweck«, sagte da eine Stimme. Er blickte sich um. Der alte Erfinder stand hinter ihm, in der verschossenen Pelerine, mit dem schlechtgcrolltcn Schirm und dem ergrauten steifen Hut. »Guten Tag, lieber Professor«, rief Fabian. »Ich dichte, Sie wären im Irrenhaus.« »Hier ist es ja«, sagte der Alte und schlug mit der Schirmkrücke gegen eines der Gebäude. Es hallte blechern, dann ging ein Tor auf, wo keines war. ■Meine neueste Erfindung«, sagte der Alte. »Gestatten Sie, lieber Neffe, daß ich vorausgehe, ich bin hier zu Hause.« Fabian folgte. In der Portierloge hockte Direktor Breitkopf, hielt sich den Bauch und stöhnte: »Ich kriege ein Kind. Die Sekretärin hat sich wieder mal nicht vorgesehen.« Dann schlug er sieh dreimal auf die Glatze, und das klang laut wie ein Gong. Der Professor steckte dem Direktor den schlechtgerollten Schirm tief in den Schlund und spannte den Schirm auf. Breitkopfs Gesicht zerplatzte wie ein Ballon. »'««ZEHNTES KAPITEL '*3 »Verbindlichen Dank«, sagte Fabian. »Nicht der Rede wert«, erwiderte der Erfinder. »HabenSie meine Maschine schon gesehen?« Er nahm Fabian an der Hand und führte ihn durch einen Gang, in dem bläuliches Neonlicht brannte, ins Freie. Eine Maschine, groß wie der Kölner Dom, türmte sich vor ihnen auf. Halbnackte Arbeiter standen davor, mit Schaufeln bewaffnet, und schippten Hunderttausende von kleinen Kindern in einen riesigen Kessel, in dem ein rotes Feuer brannte »Kommen Sie an das andere Ende«, sagte der Erfinder. Sit fuh ren auf laufenden Bändern durch den grauen Hof. »Hier«, sagte der alte Mann und zeigte in die Luft. Fabian blickte empor. Gewaltige, glühende Bessemerbirnen senkten sich nieder, kippten automatisch um und schütteten ihren Inhalt auf einen horizontalen Spiegel. Der Inhalt war lebendig. Männer und Frauen fielen auf das glitzernde Glas, stellten sich gerade und starrten wie gebannt auf ihr lumi: liches und doch unerreichbares Abbild. Manche winkten in die Tiefe hinunter, als kennten sie sich. Einer zog eine Pistole aus der Tasche und schoß. Er traf, obwohl er, gestrichen Korn, seinem Bild ins Herz gezielt hatte, seine wirkliche große Zehe und verzog das Gesicht. Ein anderer drehte sich im Kreise Ol fensichtlich wollte er seinem Abbild die Kehrseite zuwenden, der Versuch mißlang. -I lunderttausend am Tage«, erläuterte der Erfinder. -Dabei habe ich die Arbeitszeit verkürzt und die Fünftagewoche eingeführt.« -Lauter Verrückte?« fragte Fabian. •Das ist eine Frage der Terminologie«, antwortete der Professor. -Einen Moment, die Kuppelung versagt.« Er trat an die Maschine heran und stocherte mit seinem Schirm in einer Öffnung. Plötzlich verschwand der Schirm, dann verschwand die Pelerine, sie zog den alten Mann hinter sich her. Er war fort. Seine Maschine hatte ihn verschluckt. Fabian fuhr auf dem laufenden Band zurück, quer durch den grauen Hof. »Es ist ein Unglück passiert!- sehne er einem der halbnackten Arbeiter zu. Da purzelte ein Kind aus dem Kes sei. Es trug eine Hornbrille und hielt einen schlcchtgerollten Schirm im Händchen. Der Arbeiter nahm den Säugling auf die Schaufel und schleuderte ihn in den glühenden Kessel zurück. Fabian fuhr von neuem den Hof entlang und wartete unter den schwankenden Bessemerbirnen, daß sein alter Freund, erneut verwandelt, wiederkäme. Er wartete vergebens. Statt dessen fiel er selber, ein zweiter Fabian, aber mit Pelerine, Schirm und Hut, aus einem der gewaltigen Kippkästen, stellte sich zu den anderen Figuren und starne, gleich ihnen, auf die Spiegelbilder. An seinen Sohlen, mitdem Kopf nach unten, hing sein Abbild, ein dritter Fabian, im Spiegel und starrte aufwärts, dem zweiten Fabian ins Gesicht. Dieser zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Maschine und sagte: »Mechanische Seelenwanderung, Patent Koll-repp.« Dann schritt er auf den wirklichen Fabian zu, der im Hofe stand, ging mitten in ihn hinein und war nicht mehr da. »Wie angegossen«, gestand Fabian, nahm dem Maschinenmenschen, der ihn unsichtbar ausfüllte, den Schirm ab, zog die Pelerine zurecht und war wieder das einzige Exemplar seiner selbst. Fr blickte zu dem glänzenden Spiegel hinüber. Die Menschen versanken plötzlich darin wie in einem durchsichtigen Sumpf. Sie rissen die Münder auf, als ob sie vor Schreck schrien, aber es war nichts zu hören. Sie sanken völlig unter die Spiegelfläche. Ihre Abbilder flohen.wie Fische, mit dem Kopf voran, wurden immer kleiner und verschwanden ganz. Nun standen die wirklichen Menschen unten, und es war, als seien sie in Bernstein gefangen. Fabian trat ganz nahe. Das war kein Spiegelbild mehr, was er sah. Über den untergegangenen Wesen lag eine bloße Glasplatte, und die Leute lebten weiter. Fabian kniete nieder und blickte hinab. Fette, nackte Frauen, mit Sorgcnfalten quer überm Leib, wßen an Tischen und tranken Tee. Sie trugen durchbrochene Strümpfe und im Genick geflochtene Hütchen. Armbänder und Ohrgehänge blitzten. Eines der alten Weiber hatte sich einen goldenen Ring durch die Nase gezogen. An anderen Tischen saßen dicke Männer, halbnackt, behaart wie Gorillas, mit '-4 VIERZEHNTES KAPITEL ■■■5 Zylindern, manche in lila Unterhosen, alle mit grata ren zwischen den dicken Lippen. Die Männer und Fraur. schauten gierig auf einen Vorhang. Er wurde zur Seite gezogen, und junge geschminkte Burschen in enganliegenden Trikots stolzierten wie gezierte Mannequins über einen erhöhten Laut steg. Den Jünglingen folgten, auch in Trikots, junge Mädchen, sie lächelten affektiert und brachten alles, was an ihnen rund war, angestrengt zur Geltung. Fabian erkannte einige, die huir. die Bildhauerin, die Selow, auch Paula aus Haupts Festsälen war dabei. Die alten Frauen und Männer preßten die Operngläser an die Augen, sprangen auf, stolperten über Stühle und Tische, drängten dem Laufsteg zu, schlugen einander, um vorwärts zu kommen, und wieherten wie geile Pferde. Die dicken mit Schmuck beladenen Weiber rissen junge Burschen vom Steg, warfen sie heulend auf die Erde, knieten flehend nieder, spreizten die fetten Beine, zerrten sich Brillanten von den Armen und Fingern und aus den Ohrlappcn und hielten sie bettelnd den verhurt lächelnden Gestalten entgegen. Die alten Männer griffen mit ihren Affenarmen nach den Mädchen, auch nach Jünglingen, und umarmten, blaurot vor Aufregung, wen «t faßten. Unterhosen, Krampfadern, Sockenhalter, zerrissene farbige Trikots, fette und faltige Gliedmaßen, verzerrte Visigen, grinsende Pomademünder, braune schlanke Arme, im Krampf zuckende Füße füllten den Boden aus. Es war, als läge ein lebendiger Perserteppich auf der Erde. »Deine Cornelia ist auch dabei», sagte Frau Irene Moll. Sie saß neben ihm, und sie naschte aus einer großen Bonbontute kleine junge Männer. Sie riß ihnen zuerst die Kleider ab. Das sah aus, als ob sie in Papier gewickelte Napolitains schälte. Fabian suchte Cornelia. Sic stand, während sich alle anderen wild vcrknäuclt am Boden wälzten, allein auf dem Laufsteg und wehrte sich gegen einen dicken brutalen Mann, der ihr mit der einen Hand den Mund aufsperrte und mit der anderen seine brennende Zigarre, mit der Glut voran, in den Mund stolien wollte. •Sträuben nützt bei dem nichts-, meinte die Moll und kram- U in ihrer Tüte. »Das ist Makart, ein Filmfabrikant, Geld wie Heu. Seine Frau hat sich vergiftet.« Cornelia wankte und stürzte neben Makart in den Tumult. •Spring ihr doch nach«, sagte die Moll. »Aber du hast Angst, das Glas zwischen dir und den anderen könnte zerbrechen. Du haltst die Welt für eine Schaufensterauslage.« Cornelia war nicht mehr zu entdecken. Aber jetzt sah Fabian den Todeskandidaten Wilhelmy. Der war nackt, das linke Bein war eine Prothese. Er stand auf einem Himmelbett und luhr wie ein Wellenreiter über das Gezappel der Menschen. Er schwang seinen Krückstock und schlug die Kulp, die sich an dem Bett festklammerte, auf den Kopf und auf die Hände, bis das Mädchen blutüberströmt losließ und in die Tiefe sank. Wilhelmy befestigte eine Schnur am Stock, band einen Geldschein ans Ende der Schnur und warf diese Angel aus. Die Menschen unter ihm sprangen wie Fische in die Luft, schnappten nach der Banknote, fielen ermattet zurück und schnellten wieder hoch. Da! Eine Frau hielt den Schein im Mund. Es war die Selow. Sie schrie gellend. Ein Angelhaken hatte ihre Zunge durchbohrt. Wilhelmy zog die Schnur ein, die Selow näherte sich, verzerrten Gesichts, dem Bett. Aber hinter ihr tauchte die Bildhauerin auf, umschlang die Freundin mit beiden Armen und riß sie rückwärts. Die Zunge glitt weit aus dem Mund. Wilhelmy und die Bildhauerin suchten das Mädchen an sich zu ziehen, jeder auf seine Seite. Die Zunge wurde immer länger, lang wie ein rotes Gummiband, und sie war zum Reißen gespannt. Wilhelmy rang nach Luft und lachte. •Wunderbar!« rief Irene Moll. »Das grenzt an Tauziehen. Wir leben im Zeitalter des Sports.« Sie zerknüllte die leere Tüte und sagte: »Jetzt freß ich dich.« Sie riß ihm die Pelerine herunter. Ihre Finger griffen wie Scheren ineinander und zerschnitten Fabians Anzug. Er schlug ihr mit der Schirmkrücke auf den Kopf. Sie taumelte und ließ ihn los. »Ich liebe dich doch«, flüsterte sie und weinte. Ihre Tränen drangen wie kleine Seifenblasen aus ihren Augenwinkeln, wurden immer größer und Hiegen schillernd in die Luft. Fabian erhob sich und ging weiter. 126 VlttZlHHTES KAPITEL 127 Er geriet in einen Saal, der keine Wände hatte. Unzihli: Treppenstufen führten von dem einen Ende des Saalesbiaarf zum anderen Ende. Auf jeder Stufe standen Leute. Sie blickte: interessiert nach oben und griffen einander in die Taschen Je der bestahl jeden. Jeder wühlte heimlich in den Taschendes Vordermannes, und während er das tat, wurde er vom Hinter-mann beraubt. Es war ganz ruhig im Saal. Trotzdem war alles in Bewegung. Man stahl emsig, und man ließ sich bestehlen. Auf der untersten Stufe stand ein kleines zehnjähriges MaJ chen und zog dem Vordermann einen bunten Aschenbecher aus dem Mantel. Plötzlich war Labude auf der obersten Stufe Er hob die Hände, blickte die Treppe hinunter und net: »Freunde! Mitbürger! Die Anständigkeit muß siegen!- »Aber natürlich!« brüllten die anderen im Chor und kram ten einander in den Taschen. »Wer für mich ist, hebe die Hand!« schrie Labude. Die anderen hoben die Hand. Jeder hob eine Hand, mit der anderer stahl er weiter. Nur das kleine Mädchen auf der untersten Stufe hob beide Hände. • Ich danke euch«, sagte Labude, und seine Stimme kling gerührt. -Das Zeitalter der Menschenwürde bricht an. Vergebt diese Stunde nicht!« -Du bist ein Narr!« rief Lcda, stand neben Labude und zog einen großen hübschen Mann hinter sich her. »Meine besten Freunde sind meine größten Feinde«, sagt« Labude traurig. »Mir ist es gleich. Die Vernunft wird siegen, auch wenn ich untergehe« Da fielen Schüsse. Fabian sah hoch. Überall waren Fenster und Dächer. Und überall standen finstere Gestalten mit Revolvern und Maschinengewehren. Die Menschen auf der Treppe warfen sich lang hin, abers»« stahlen weiter. Die Schüsse knatterten. Die Menschen starben, die Hände in fremden Taschen. Die Treppe lag voller Leichen. »Um die ist es nicht schade«, sagte Fabian zu dem Freund •Nun komm!« Aber Labude blieb in dem Kugelregen stehen. •Um mich auch nicht mehr«, flüsterte er, drehte sich nach den Fenstern und Dächern um und drohte ihnen. Aus den Dachluken und aus den Giebeln fielen Schüsse in die Tiefe. Aus den Fenstern hingen Verwundete. Auf einer Giebelkante rangen zwei athletische Männer. Sic würgten und bissen einander, bis der eine taumelte und beide abstürzten. Man hörte den Aufschlag der hohlen Schädel. Flugzeuge schwirrten unter der Saaldecke und warfen Brandfackeln auf die Häuser. Die Dächer begannen zu brennen. Grüner Qualm quoll aus den Fenstern. •Warum machen das die Leute?« Das kleine Mädchen aus dem Kaufhaus faßte Fabians Hand. •Sic wollen neue Häuser bauen«, erwiderte er. Dann nahm er das Kind auf den Arm und stieg, über die Toten kletternd, die Stufen hinunter. Auf halbem Weg begegnete er einem kleinen Mann. Der stand da, schrieb Zahlen auf einen Block und rechnete mit den Lippen. »Was machen Sic da« fragte Fabian. »Ich verkaufe die Restbestände«, war die Antwort. »Pro Leiche dreißig Pfennige, für wenig getragene Charaktere fünf Pfennig extra. Sind Sie vcrhandlungsbcrechtigt?« •Gehen Sie zum Teufel«, schrie Fabian. •Später«, sagte der kleine Mann und rechnete weiter. Am Fuß der Treppe setzte Fabian das kleine Mädchen hin. »Nun geh nach Hause«, meinte er. Das Kind lief davon. Es hüpfte auf einem Bein und sang. Erstieg wieder die Stufen empor. »Ich verdiene keinen Pfennig«, murmelte der kleine Mann, an dem er wieder vorbeikam. Fabian beeilte sich. Oben brachen die Häuser zusammen. Stichflammen stiegen aus den Steinhaufen. Glühende Balken neigten sich und sanken um, als tauchten sie in Watte. Noch immer ertönten vereinzelte Schüsse. Menschen mit Gasmasken krochen durch die Trümmer. So oft sich zwei begegneten, hoben sie Gewehre, zielten und schössen. Fabian sah sich um. Wo war Labude? »Labude!« schrie er. »Labude!« »Fabian«, rief eine Stimme. »Fabian!« •Fabian!« rief Cornelia und rüttelte ihn. Er erwachte. »Warum rufst du Labude?« Sie strich ihm über die Stirn. •Ich habe geträumt«, sagte er. -Labude ist in Frankfurt.« •Soll ich Licht machen?« fragte sie. 128 • l/IIIMH KAPITEL I29 »Nein, schlaf rasch wieder ein, Cornelia, du mußtmorj« nubsch aussehen. Gute Nacht.« »Gute Nacht«, sagte sie. Und dann lagen beide noch lange wach. Jeder wußte es m andern, aber sie schwiegen. Fünfzehntes Kapitel Ein junger Mann, wie er sein soll Vom Sinn der Bahnhöfe Cornelia schreibt einen Brief Am nächsten Morgen saß er, als Cornelia ins Büro ging, am offenen Fenster. Sie hatte eine Mappe unterm Arm und schritt eifrig aus. Sie hatte Arbeit. Sie verdiente Geld. Er saß am Fenster und ließ sich von der Sonne kitzeln. Sie schien warm, als sei die Welt in bester Ordnung, nichts brachte sie aus der Fassung. Cornelia war schon weit. Er durfte sie nicht zurückrufen. Wenn er es getan und wenn er, aus dem Fenster gebeugt, gesagt hätte: »Komm wieder herauf, ich will nicht, daß du arbeitest, ich will nicht, daß du zu Makart gehst!«, hätte sie geantwortet: Was fällt dir ein? Gib mir Geld oder halte mich nicht auf.« Er konnte sich nicht anders helfen, er streckte der Sonne die Zunge heraus. •Was machen Sie denn da?« fragte Frau Hohlfeld. Sie war unbemerkt eingetreten. Fabian sagte abweisend: »Ich fange Fliegen. Sic sind heuer groß und knusprig.« •Gehen Sie nicht ins Geschäft?« •Ich bin in den Ruhestand getreten. Vom nächsten Ersten an erscheine ich im Defizit des Finanzministeriums, als unvorhergesehene Mehrausgabe.« Er schloß das Fenster und setzte sich aufs Sofa. •Stellungslos?« fragte sie. Er nickte und holte Geld aus der Tasche. »Hier sind die achtzig Mark für den nächsten Monat.« Sie nahm rasch das Geld und meinte: »Das war nicht so eilig, Herr Fabian.« »Doch.« Er legte die letzten Scheine und Münzen übersichtlich auf den Tisch und zählte, was ihm blieb. »Wenn ich mein Kapital auf die Bank bringe, krieg ich drei Mark Zinsen im Jahr«, sagte er. »Das lohnt sich kaum.« t'XfZtHNTES kapitf.i •3" Die Wirtin wurde gesprächig. »In der Zeitung schlug gestern ein Ingenieur vor, man solle den Spiegel des Mittelm«-res um zweihundert Meter senken, dann kämen große Lindereien ans Licht, wie vorder Eiszeit, und man könne sie besie dein und Millionen von Menschen darauf ernähren. Außerdem sei, mit Hilfe kurzer Dämme, eine durchgehende Eisenbahnverbindung von Berlin bis Kapstadt möglich!« Frau Hohlfeld war noch jetzt von dem Vorschlag des Ingenieurs eingenommen und sprach voller Feuer. Fabian pochte auf die Armlehne des Sofas, daß der Suub tanzte. »Na also!« rief er. »Auf ans Mittelmeer! Laßt uns seinen Spiegel senken! Kommen Sie mit, Frau Hohlfeld?« »Gern. Ich war seit meiner Flochzeitsreise nicht mehr dort. Eine herrliche Gegend. Genua, Nizza, Marseille, Paris. Pins liegt übrigens nicht am Mittelmeer.« Sie gab dem Gesprich eine Wendung: »Da war das Fräulein Doktor wohl sehr traurig?« »Schade, daß sie schon fort ist, sonst hätten wir sie fragen können.« »Ein bezauberndes Mädchen, und so vornehm, ich finde, sie ähnelt der Königin von Rumänien, als sie noch jung war.« »Erraten.« Fabian erhob sich und brachte die Wirtin zur Tür. »Es soll eine Tochter der Königin sein. Aber bitte, nicht weitersagen.« Nachmittags saß er in einem großen Zeitungsverlag und wartete, daß Herr Zacharias Zeit fände. Herr Zacharias war ein Bekannter, der, nach einer Debatte über den Sinn der Reklame, zu ihm gesagt hatte: »Wenn Sic mich mal brauchen, melden Sic sich.« Fabian blätterte gedankenlos in einer der Zeitschriften, die den Tisch des Wartcraums zierten, und entsann sich des Gesprächs. Zacharias hatte damals der Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei, begeistert zugestimmt; er hatte auch Wells' Forderung verfochten, daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen. Fabian hatte geäußert, die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These; die E.ignung des Propagandisten zum Volkserzieher und das Talent des Erziehers 7um Propagandisten stünden außerdem in Frage; Vernunft könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon vernünftig. Zacharias und er hatten sich förmlich gestritten, bis sie fanden, der Meinungsstreit trage allzu akademischen Charakter, denn beide möglichen Resultate - der Sieg oder die Niederlage jener idealistischen Aufklarung - setzten sehr viel Geld voraus, und für Ideale gebe keiner Geld. Boten liefen geschäftig durch das Labyrinth der Gänge. Papphülsen fielen klappernd aus Metallröhrcn. Das Telefon des Aufsichtsbeamten klingelte fortwährend. Besucher kamen und gingen. Angestellte rannten aus einem Zimmer ins andere. Ein Direktor des Betriebes eilte, mit einem Stab untertäniger Mitarbeiter, die Treppe hinunter. »Herr Zacharias läßt bitten.« Ein Bote brachte ihn bis zur Tür. Zacharias gab Fabian temperamentvoll die Hand. Es war die hervorstechendste Eigenschaft dieses jungen Mannes, alles, was er tat, außerordentlich lebhaft zu besorgen. Er kam aus der Begeisterung nicht heraus. Ob er sich nun die Zähne putzte oder ob er debattierte, ob er Geld ausgab oder ob er seinen Vorgesetzten Vorschläge machte, stets riß er sich ein Bein aus. Wer in seine Nähe kam, wurde von dieser Humorlosigkcit infiziert. Plötzlich wurde ein Gespräch über das Binden von Krawatten zum aufregendsten Thema der Gegenwart. Und die Vorgesetzten merkten, wenn sie mit Zacharias Geschäftliches erörterten, wie ungeheuer wichtig ihr Beruf, ihr Verlag und ihr Posten eigentlich waren. Die Karriere des Mannes war nicht aufzuhalten. Daß er selbst Wesentliches leistete, war unwahrscheinlich. Er diente dem Betrieb als Katalysator, den Menschen seiner Umgebung als Stimulanz. Er wurde unentbehrlich und hatte jetzt schon, mit «einundzwanzig Jahren, ein Monatsgehalt von zweitausend-funfhundert Mark. Fabian erzählte, was es zu erzählen gab. "3* 'UKFZEHNTES KAPITEL 1)3 »Frei ist nichts«, sagte Zacharias, »und ich wäre Ihnen so gern gefällig. Außerdem bin ich überzeugt, daß wir beide glänzend miteinander auskämen. Was machen wir bloß?« Erpreßte die Hände an die Schläfen wie ein Wahrsager dicht vor der Erleuchtung. »Was halten Sie von Folgendem: wenn ich Sie bei mir anstelle, als privaten Mitarbeiter, den ich aus eigener Tasche bezahle? Ich könnte eine Kraft wie Sie gut gebrauchen Man erwartet hier im Hause pro Tag ein Dutzend Anregungen von mir. Bin ich ein Automat? Was kann ich dafür, daß der anderen noch weniger einfällt? Wenn das so weitergeht, läuft sich mein Gehirn einen Wolf. Ich habe seit kurzem ein kleines nettes Auto, Steyr, Sechszylinder, Spezialkarosserie. Wir könnten jeden Tag ein paar Stunden ins Grüne fahren und Eier legen. Ich chaufficre gern, es beruhigt die Nerven. Dreihundert Mark würde ich für Sic locker machen. Und sobald hier ein Posten frei wird, hätten Sie ihn. Na?« Ehe Fabian antworten konnte, fuhr der andere fort: »Nein, es geht nicht. Man würde sagen, Zacharias hält sich einen weißen Neger. Ich bin vor keinem dieser Kerle sicher. Sie stehen alle mit der Axt hinter der Tür, um mir eins über den Kürbis zu hauen. Was machen wir bloß? Fällt Ihnen nichts ein?-Fabian sagte: »Ich könnte mich auf den Potsdamer Platz stellen, mit einem großen Schild vorm Bauch, auf dem etwa stünde: -Dieser junge Mann macht augenblicklich nichts, aber probieren Sics, und Sie werden sehen, er macht alles.« Idl könnte den Text auch auf einen großen Luftballon malen.« »Wenn Sic den Vorschlag ernst meinten, wäre er gut!« nel Zacharias. »Aber er ist nichts wert, weil Sie nicht daran glauben. Sie nehmen nur die wirklich ernsten Dinge ernst, und vielleicht nicht einmal die. Es ist ein Jammer. Mit ihrer Begabung wäre ich heute leitender Direktor.« Zacharias wandte bei Leuten, die ihm überlegen waren, einen höchst raffinierten Tnck an: er gab diese Überlegenheit zu, er bestand geradezu auf ihr. »Was nützt es mir, daß ich begabt bin?« fragte Fabian betrübt. Diese rhetorische Anfrage hatte Zacharias nicht erwartet. Wenn er selber offen war, genügte das. Statt dessen kam einer des Weges, bat um Rat und wurde obendrein vorlaut. »Es ist schade, daß Sic mir die Bemerkung übelnehmen«, sagte Fabian. »Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin auf meine Talente nicht eingebildet, sie reichen glatt zum Verhungern. Und so schlecht, daß ich auf sie stolz sein müßte, geht es mir erst in vierzehn Tagen.« Zacharias stand auf und begleitete den Besucher betont bis zur Treppe. »Rufen Sie mich morgen mal an, gegen zwölf Uhr, nein, da habe ich eine Konferenz, sagen wir nach Zwei. Vielleicht fällt mir inzwischen was ein. Scrvus.« Fabian hätte gern Labude angerufen, doch der war in Frankfurt. Er hätte ihm beileibe nichts von seinen Sorgen erzählt. Sorgen hatte Labude selber. Die bekannte Stimme wollte er hören, weiter nichts. Zwischen Freunden konnten Gespräche übers Wetter Wunder wirken. Die Mutter war wieder fort. Der ulkige alte Erfinder war, samt Pelerine, auf dem Weg ins Irrenhaus. Cornelia kaufte sich einen neuen Hut, um ein paar Film-leuten zu gefallen. Fabian war allein. Warum konnte man nicht, bis auf Widerruf, vor sich selber davonlaufen? Obwohl er ziellos durch die City wanderte, stand er wenig später vor dem Haus, in dem Cornelia angestellt war. Er setzte, ärgerlich über sich, den Weg fort und ertappte sich dabei, daß er in jedes 1 lut-geschäft schielte. Saß sie jetzt noch im Büro? Probierte sie bereits Hüte und Jumper? Am Anhalter Bahnhof kaufte er eine Zeitung. Der Mann, der im Kiosk saß, sah gemütlich aus. »Könnten Sie jemanden brauchen, der Ihnen hilft?« fragte Fabian. »Nächstens lerne ich Strümpfe stricken«, sagte der Mann, •vor einem Jahr hatte ich den doppelten Umsatz, und auch der war nicht üppig. Die Leute lesen die Zeitungen neuerdings nur noch beim Friseur und im Cafe. Bäcker hätte man werden sollen. Das Brot kriegen die Leute beim Friseur noch nicht umsonst.« ■Neulich hat jemand vorgeschlagen, das Brot von Staats wegen ins Haus zu liefern, genau wie das Leitungswasser«, erzählte Fabian. »Passen Sie auf, eines Tages schützt nicht mal das Brotbacken vorm Verhungern.« ■Wollen Sie eine Stulle haben?« fragte der Mann im Kiosk. '34 'UKFZEHNTES kapitel »35 »Eine Woche reicht's schon noch«, sagte Fabian, bedankte sich und ging zum Bahnhof hinüber. Er studierte den Fr-plan. Sollte er, vom letzten Geld, ein Billett kaufen und ivi Mutter kutschieren? Aber vielleicht wußte Zacharias morgen einen Ausweg? Als er aus dem Bahnhof trat und wieder diese Straßenfluchten und Häuserblöcke vor sich sah, dieses hoff nungslose, unbarmherzige Labyrinth, wurde ihm schwindlig. Er lehnte sich neben ein paar Gepäckträgern an die Wand und schloß die Augen. Doch nun quälte ihn der Lärm. Ihmwar.als führen die Straßenbahnen und Autobusse mitten durch seinen Magen. Er kehrte wieder um, stieg die Treppe zum Wartesaal hinauf und legte dort den Kopf auf eine harte Bank. Eine halbe Stunde später war ihm wohler. Er ging zur Straßcnbahnhal testclle, fuhr nach Hause, warf sich aufs Sofa und schlief sofort ein. Abends erwachte er. Die Vorsaaltür schlug laut zu. Kam Cornelia? Nein, jemand lief rasch die Treppe hinunter. Erging ins andere Zimmer hinüber und erschrak. Der Schrank stand offen. Er war leer. Die Koffer fehlten. Fabian machte Licht, obwohl es erst dämmerte. Auf dem Tisch, von der Vase beschwert, in der Blumen aufs Wegwerfen warteten, lag ein Brief. Er nickte, nahm den Brief und ging in sein Zimmer zurück. \» Lieber Fabian«, schrieb Cornelia, -ist « nicht besser, ich gehe zu früh als zu spät? Eben stand ich neben dir am Sofa. Du schliefst, und Du schläfst auch jetzt, während ich Dir schreibe. Ich bliebe gern, aber stell Dir vor, ich bliebe! Ein paar Wochen noch, und Du wärst recht unglücklich. Dich bedrückt nicht das Gewicht der Not, sondern der Gedanke, daß Not so wichtig werden kann. Solangc Du allein warst, konnte Dir nichts geschehen, was auch geschah. Es wird wieder werden, wie es war. Bist Du sehr traurig? Sic wollen mich im nächsten Film herausstellen. Morgen unterschreibe ich den Kontrakt. Makart hat mir zwei Zimmer gemietet. Es ist nicht zu umgehen. Er sprach darüber, als handle es sich um einen Zentner Briketts. Fünfzig Jahre ist er alt, und er sieht aus wie ein zu gut angezogener Ringkämpfer im Ruhestand. Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie verkauft. Wenn ich noch ein- mal in Dein Zimmer käme und Dich weckte? Ich lasse Dich schlafen. Ich werde nicht zugrunde gehen. Ich werde mir einbilden, der Arzt untersucht mich. Er mag sich mit mir beschäftigen, es muß sein. Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht. Und wir wollen doch heraus! Ich schreibe: Wir. Verstehst Du mich? Ich gehe jetzt von Dir fort, um mit Dir zusammenzubleiben. Wirst Du mich liebbehalten? Wirst Du mich noch anschauen wollen und umarmen können trotz dem anderen? Morgen nachmittag werde ich, von vier Uhr ab, im Cafe Schottenhaml auf Dich warten. Was soll aus mir werden, wenn Du nicht kommst? Cornelia.« Fabian saß ganz still. Es wurde immer finsterer. Das 1 lerz tat weh. Er hielt die Knäufe des Sessels umklammert, als wehre er sich gegen Gestalten, die ihn fortziehen wollten. Er nahm sich zusammen. Der Brief lag unten auf dem Teppich und glänzte im Dunkel. »Ich wollte mich doch ändern, Cornelia!« sagte Fabian. 'ÜN'ZtHNTES KAPITEL •37 Sechzehntes Kapitel Fabian fährt auf Abentnr Schüsse am Wedding Onkel Pelles Nordpurk Am selben Abend fuhr er mit der Untergrundbahn in den Norden hinauf. Er stand am Fenster des Wagens und blickte unverwandt in den schwarzen Schacht, in dem manchmal kleine Lampen vorbeizogen. Er starrte auf die belebten Bahnsteige der unterirdischen Bahnhöfe. Er starrte, wenn sich der Zug aus dem Schacht emporhob, auf die grauen Häuserzeilen, in düstere Querstraßen und in erleuchtete Zimmer hinein, wo fremde Menschen rund um den Tisch saßen und auf ihr Schicksal warteten. Er starrte auf das glitzernde Gewirr der Eisenbahngleise hinunter, über denen er dahinfuhr; auf die Fem-Bahnhöfe, in denen die roten Schlafwagenzüge ächzend an die weite Reise dachten; auf die stumme Spree, auf die von grellen Leuchtschriften belebten Theatergiebel und auf den sternlosen violetten Himmel über der Stadt. Fabian sah das alles, als führen nur seine Augen und Ohren durch Berlin, und er selber sei weit, weit weg. Sein Blick war gespannt, aber das Herz war besinnungslos. Er hatte langein seinem möblierten Zimmer gesessen. Irgendwo in dieser unabsehbaren Stadt lag jetzt Cornelia mit einem fünfzigjähngen Mann im Bett und schloß ergeben die Augen. Wo war sie? Er hätte die Wände von allen Häusern reißen mögen, bis er die zwei fand. Wo war Cornelia? Warum verdammte sie ihn zur Untätigkeit? Warum tat sie das in einem der wenigen Augenblicke, wo es ihn zu handeln trieb? Sie kannte ihn nicht. Sie hatte lieber falsch gehandelt, als ihm zu sagen: -Handledu richtig!. Sic glaubte, er könne eher tausend Schläge erdulden, ah selber einmal den Arm erheben. Sic wußte nicht, daß er sichda-nach sehnte, Dienst zu tun und Verantwortung zu tragen. Wo aber waren die Menschen, denen er gern gedient hätte? Wo wir Cornelia? Unter einem dicken alten Mann lag sie und ließ **n zur Hure machen, damit der liebe Fabian Lust und Zeit zum Nichtstun hatte. Sie schenkte ihm großmütig jene Freiheit wieder, von der sie ihn befreit hatte. Der Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia. Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Fland gehalten und es nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch hoffte, war das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß gefüllt. Er hatte sich darüber geneigt und endlich trinken wollen. »Nein-, hatte da das Schicksal gesagt, -nein, du hieltest ja den Becher nicht gern<, und das Gefäß war ihm aus den Händen geschlagen worden, und das Wasser war über seine Hände zur Erde geflossen. Hurra! Nun war er frei. Er lachte so laut und böse, daß die anderen Fahrgäste, leicht verstimmt, von ihm abrückten. Er stieg aus. Es war ja gleichgültig, wo er ausstieg, er war frei, Cornelia erschlief sich, weiß der Teufel wo, eine Karriere oder eine Verzweiflung oder beides. Auf der Chaussccstraßc, am Trakt der Polizeikasernen, sah er in den geöffneten Toren grüne Autos, Scheinwerfer blitzten. Polizisten kletterten auf die Wagen und standen, entschlossen, in stummer Kolonne. Einige Autos ratterten in nördlicher Richtung davon. Fabian folgte ihnen. Die Straße war voller Menschen. Zurufe flogen den Wagen nach. Zurufe, als wären es schon Steine. Die Mannschaften blickten geradeaus. Am Weddingplatz riegelten sie die Reinickendorfer Straße ab, auf der Arbeitermassen näherzogen. Berittene Polizei wartete hinter der Sperrkette darauf, zur Attacke befohlen zu werden. Uniformierte Proletarier warteten, den Sturmriemen unterm Kinn, auf proletarische Zivilisten. Wer trieb sie gegeneinander? Die Arbeiter waren nahe, ihre Lieder wurden immer lauter, da ging die Polizei schrittweise vor, ein Meter Abstand von Mann zu Mann. Der Gesang wurde von wütendem Gebrüll abgelöst. Man spürte, ohne die Vorgänge sehen zu kön- 138 »CHZEHNTES KAPITEL '39 nen, am Lärm, und wie er wuchs, daß die Arbeiter und dit Polizei dort vorn gleich aufeinanderstoßen würden. EineMinuii später bestätigten Aufschreie die Vermutung. Man warzusam mengetroffen, die Polizei schlug zu. Jetzt setzten sichdicPferde schaukelnd in Bewegung und trabten in das Vakuum hinein, die Hufe klapperten übers Pflaster. Von vorn ertönte ein Schuß. Scheiben zersprangen. Die Pferde galoppierten. Die Menschen auf dem Weddingplatz wollten nachdrängen. Eine zweite Postenkette sperrte den Zugang zur RcinickcnderV Straße, rückte langsam vor und säuberte den Platz. Steine tV gen. Ein Wachtmeister erhielt einen Messerstich. Die Polizei hob die Gummiknüppel und ging zum Laufschritt über. Am drei Lastautos kam Verstärkung, die Mannschaften sprangen von den langsam fahrenden Wagen herunter. Die Arbeiter ergriffen die Flucht, an den äußersten Rändern des Platzes und in den Zugangsstraßen machten sie wiederhalt. Fabian drang tc sich durch die lebendige Mauer und ging seiner Wege. Der Lärm entfernte sich. Drei Straßen weiter schien es schon, als herrsche überall Ruhe und Ordnung. Ein paar Frauen standen in einem Haustor. »He,Sie!« sagte die eine, »stimmt das, am Wedding gibt's Keile?» »Sie nehmen einander Maß«, antwortete er und ging vorbei »Ich laß mich fressen, Franz ist wieder mitten drin«, nef die Frau. »Na, komm du nur nach Hause!« Mitten in der Straßenfront, unvermutet zwischen alten. «• liden Mietskasernen, lag ein Rummelplatz, der Onkel Pell« Nordpark hieß. Leierkastenmusik überspülte die Gesprach* der Mädchen, die Arm in Arm, in langer Kette vordem Em gang bummelten. Verwegen tuende Burschen mit schiefg«» genen Mützen strichen entlang und riefen Frechheiten. Dk Mädchen kicherten geschmeichelt und gaben unmißversund-lich Antwort. Fabian trat durch das Tor. Das Gelände glich einem Trok-kenplatz. Azctylenflammen zuckten und ließen die Wege und Buden halbfinster. Der Boden war klebrig und von Grasstop-peln bewachsen. Das Karussell war, wegen mangelnder Nachfrage, mit Zeltbahnen verhangen. Männer in derben Joppen. alte Frauen mit Kopftüchern, Kinder, die längst hätten im Bett liegen müssen, trotteten den Budcnwcg entlang. Ein Glücksrad rasselte. Die Menschen standen dicht zusammengedrängt, die Augen hingen an der rotierenden Scheibe. Sie lief langsamer, überwand noch ein paar Nummern, hielt still. »25!« schrie der Ausrufer. »Hier, hier!« Eine alte Frau, mit der Brille auf der Nase, hob ihr Los. Man reichte ihr den Gewinn. Was hatte sie gewonnen? Ein Pfund Würfelzucker. Wieder schnurrte das Rad. »17!« »Hallo, das bin ich!« Ein junger Mann schwenkte sein Los. Er bekam ein Viertelpfund Bohnenkaffee. »Was für Muttern«, sagte er zufrieden und zog ab. »Und jetzt folgt die große Prämie! Der Gewinner darf sich aussuchen!« Das Rad schwankte, tickte, stand still, nein, es nickte noch eine Nummer weiter. .9!« »Mensch, hier!« Ein Fabrikmädchen klatschte in die Hände. Sie las die Lottcriebestimmungcn. »Der Hauptgewinn besteht aus fünf Pfund prima Weizenmehl oder einem Pfund Butter oder dreiviertel Pfund Bohnenkaffee oder eindrciviertcl Pfund magcrem Speck.« Sie verlangte ein Pfund Butter. »Allerhand für einen Groschen«, rief sie. »Das kann man mitnehmen.« •Es folgt die nächste Ziehung!« brüllte der Ausrufer. »Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Sic da, Großmutter! Hier ist das Monte Carlo der armen Luder! Keine Mark, keine halbe Mark, sondern einen Groschen!« Gegenüber war ein ähnliches Unternehmen. Aber die Tombola bestand aus Fleisch und Wurst, und das Los kostete doppelt soviel. ■Der Hauptgewinn, meine Herrschaften, der Hauptgewinn besteht diesmal aus einer halben Hamburger Gans!« kreischte eine Schlächtersgattin. »Zwanzig Pfennige, nur Mut, mein Volk!« Ihr Gehilfe schnitt mit einem Ricscnmesser dünne Scheiben von einer Schlackwurst und verteilte an die Loskäufer Kostproben. Den anderen lief das Wasser im Munde zu- 140 SECHZEHNTES KAPITEL 141 sammcn. Sie gruben zwei Groschen aus dem Portemonnaieund griffen zu. »Wie denkst du über Gänsebraten?« fragte einer ohne Schlips und Kragen eine Frau. »Schade ums Geld«, sagte sie. »Wir haben kein Glück, 1» lern.« »Laß man«, meinte er, »es ist manchmal komisch.« Ernihm ein Los, steckte der Frau die Scheibe Wurst, die erzugeknegt hatte, in den Mund, und blickte erwartungsvoll auf das Rad. »Die Ziehung nimmt hiermit ihren Anfang«, kreischic du Schlächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging weiter. »Hippodrom und Tanz« stand über einem großen Zelt. 2: Pfennig Entree. Er ging hinein. Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war überhöht, wie ein Pfahlbau stand er im Zelt, dort oben wurde getanzt. In der Mitte saß eine Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit gehabt. Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen Männer griffen zu. Man machte keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen der Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten. Sie wurden von einem zy-lindergeschmückten Stallmeister, der die Peitsche schwang und wiederholt »Terrab!« schrie, vom Einschlafen abgehalten. Auf einem kleinen einäugigen Schimmel saß eine Frau im Herrensitz. Der Rock war hoch über die Knie gerutscht. Sic trabte deutsch und lachte, so oft sie auf den Sattel fiel. Fabian setzte sich neben die Manege und trank ein Bier. Die Reiterin zog jedesmal, wenn sie an ihm vorbeikam, den Rock herunter. Die Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder hoch. Als sie zum vierten Male Fabians Tisch passierte, lächelte sie ein bißchen und ließ den Rock oben. In der fünften Runde blieb der Schimmel vor dem Tisch stehen und glotzte mit dem blinden Auge ins Bierglas. »Da gibi's keinen Zucker«, sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmeister knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die Frau vom Pferd gestiegen, setzte sie sich betont unabsichtlich an den Nebentisch, schräg vor Fabian, so daß er ihre körperlichen Vorzüge nicht übersehen konnte. Sein Blick blieb auf der Figur haften, und da erwachte sein Schmerz aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die Umarmung, in der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier saß, in einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die Zungenspitze fuhr feucht an der Überlippe entlang. •Kommen Sie mit?« fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne viel zu reden, ins »Theater«. Das war eine elende Bretterbaracke. »Auftreten der renommierten Rhcingoldsän-ger. Rauchen erlaubt. Zu den Abendvorstellungen haben Kinder keinen Anspruch auf Sitzplätze.« Die Bude war halbvoll. Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und verlogenen Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorgesetzt wurde, bis zu Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem verkitschten Kulissenzauber dort oben als mit ihrer eigenen Not. Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sic schmiegte sich an ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war tieftraurig. Ein flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt, spielte die Rolle persönlich -kam jeden Morgen betrunken nach Haus. Das lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studentenlieder, bestellte einen sauren Hering, wurde von der Porticrfrau abgekanzelt und schenkte einer alten gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse, seinen letzten Taler. Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin war, wer hätte sie sonst sein sollen?, niemand anders als die Mutter des fünfzigjährigen Studenten! Zwölf Jahre lang hatte er sie nicht gesehen, erhielt allmonatlich Geld von ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst, Hofopernsängerin. Natürlich erkannte er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspitzung des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach her- 142 SECHZEHNTES KAPITEL 143 ein. Der Student liebte und wurde geliebt, letzteres geschah durch Fräulein Martin, jene bildhübsche Näherin, die gegenüber wohnte, die Nähmaschine trat und wie eine Lerchesing Ellen Martin, die singende Lerche, wog gut zwei Zentner Sic hüpfte, daß sich die Bühne bog, aus der Kulisse und sing mit Direktor Blasemann, dem Studenten, Couplets. Der Anfing des erfolgreichsten Duetts lautete: »Schatzi du, ach Schatzi mein, sollst mein ein und alles sein!« Das junge Paar, das zusammen an die hundert Lenze zahlen mochte, schob sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann versprach er ihr die Ehe, sie aber wurde traurig, weil er alte Sängerinnen vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet. Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen hatte, machte eine leichte Drehung, sie gab ihm die Brust. »Ach, ist das schön«, sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück. Im Zuschauerraum herrschte wieder feierliche Stille. Die alte, gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn Medizin studieren und einem feudalen Korps angehören lieh, wackelte aus der Kulisse, erreichte den Hof mit Müh und Not, hob den Zeigefinger, der Pianist gehorchte, und ein rührseliges Muttcrlied war im Entstehen begriffen. »Gehen wir«, sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der fremden Frau los. »Schon«, fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm. »Hier wohne ich«, erklärte sie vor einem großen Haus in der Müllerstraßc. Sie schloß auf. Er saetc: »Ich komme mit hm-auf.« Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er druckn M in den Hausflur. »Was werden bloß meine Wirtsleute sagen? Nein, sind Sie stürmisch. Aber recht leise, ja?« An der Tur stand: Hetzer. »Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?« fragte er. »P* man kann uns hören«, flüsterte sie. »Die Wirtsleute haben keinen Platz zum Abstellen.« Er zog sich aus. »Mach nicht so viel Umstände«, sagte er. Sie schien Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte sich wie eine späte Jungfrau. Schließlich lagen sie nebeneinander. Sie löschte das Licht, und erst jetzt entkleidete sie sich völlig. »Einen Moment«, flüsterte sie, »nicht böse sein.« Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über sein Gesicht und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter Kassenarzt. »Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein«, erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege. •Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft«, berichtete sie etwas später. »Willst du bis morgen früh bleiben?« fragte sie nach einer weiteren halben Stunde. Er nickte Sie verschwand in der Küche, er hörte, wie sie spülte. Sie brachte warmes Seifenwasser, wusch ihn sorgfältig, mit hausfraulichem Eifer, und stieg wieder ins Bett. »Stört es deine Wirtsleute nicht, wenn du in der Küche Wasser wärmst?« fragte er. »Laß das Licht brennen!« Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und ninntc ihn »Schatz«. Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch ein leidenschaftlich geschwungenes Plüschsofa anwesend, ferner ein Waschtisch mit Marmorplat-tc, ein scheußlicher Farbendruck, woselbst eine junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfcll hockend, mit einem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspic-gel, der schlecht funktionierte. -Wo ist Cornelia?« dachte er und fiel wieder über die nackte, erschrockene Verkäuferin her. •Man sollte Angst vor dir haben«, flüsterte sie danach. ■Willst du mich umbringen? Aber es ist wunderbar.« Sie kniete sich neben ihn, betrachtete aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn. Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach, allein in einem fremden Zimmer, blickte angespannt ins Dunkel und dachte: -Cornelia, was haben wir getan?« '44 SECHZEHNTES KAPITEL '45 Siebzehntes Kapitel Kalbsleber, aber ohne fledisn Er sagt ihr die Meinmf Ein Reisender verlier! die Geduld »Ich habe gelogen«, sagte die Frau am andern Morgen. «Ich gehe gar nicht ins Geschäft. Und die Wohnung gehört mir. Und wir sind ganz allein. Komm in die Küche.« Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die Wange, band die Schürze ab und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. »Schmeckt's« fragte sie munter, obwohl er nicht aß. »Blaß siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder Greif tüchtig zu, damit du wieder groß und stark wirst.« Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen. »Du hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den Bauch aufschlitzen?« fragte Fabian. »Und wie kommen die zwei Betten in dein Schlafzimmer?« »Ich bin verheiratet«, sagte sie. »Mein Mann reist für eine Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er im Rheinland. Dann fährt er nach Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du so lange bleiben?« Er trank Kaffee und gab keine Antwort. »Ich brauche wen«, erklärte sie heftig, als hätte ihr jemand widersprochen. »Nie ist er da, und wenn er da ist, lohnt sich's auch nicht. Bleib die zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was willst du heute mittag essen?« Sie begann zu wirtschaften und blickte ängstlich zu ihm hin. »Ißt du gern Kalbsleber mit Bratkartoffeln? Warum antwortest du denn gar nicht?« »Habt ihr Telefon?« fragte er. »Nein«, sagte sie. »Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war so schön wie noch nie.« Sie trocknete sich die Hände und fuhr streichelnd über sein Haar. »Ich bleibe ja«, meinte er. «Aber ich muß telefonieren.« Sic sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob crcin halbes Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie ihm Geld, öffnete vorsichtig die Vor-saaltür, und weil die Treppe leer war, durfte er aus der Wohnung. •Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flechsen«, ngtt er im Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn bediente, Zacharias an. Das Telefon war fettig. »Nein«, erklärte Zacharias, »mir ist nichts eingefallen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein Lieber. Wissen Sie was, kommen Sie morgen wieder mal vorbei. Es geht manchmal schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir cm bißchen. Ist es Ihnen recht? Wiederschen.« Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blutete. Er zahlte und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus. Weil die Nachbarin die Türklinke putzte, stieg er bis zur vierten Etage hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder herunter. Die Frau, mit der er die Nacht zusammengewesen war, öffnete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und zog ihn in die Wohnung. »Gott sei Dank«, flüsterte sie. »Ich dachte schon, die Klatschtante würde uns erwischen. Setz dich ins Wohnzimmer, Schatz. Willst du Zeitung lesen? Ich räume inzwischen auf.« Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den lisch, setzte sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Erhörte die Frau singen. Nach einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über die Schulter. »Um eins wird gegessen«, sagte sie. »Hoffentlich fühlst du dich recht behaglich.« Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er las den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte, war im Krankenhaus gestorben.Von den Demonstranten waren drei schwer verletzt worden. Einige andere hatte man verhaftet. Die Redaktion schrieb von unverantwortlichen Elementen, welche die Arbeitslosen immer wieder aufzuwiegeln versuchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei 146 EABM» SIEBZEHNTES KAPITEL «47 zufalle. Es gehe nicht an, obwohl es von gewissen Kreisen ununterbrochen versucht werde, den Etat für die Schutzpoli/c; zu senken. Vorkommnisse wie das gestrige führten, hieß es, so recht vor Augen, wie notwendig es sei, prophylaktisch zudenken und zu handeln. Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu Gelegenheit bot, verschnörkelt. Auf dem Vertiko standen drei Leitzordner. Auf dem Tisch prangte an bunter Glasteller, der schlug Wellen und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm die oberste Karte. Sie zeigte den Kölner Dom, und er dachte an das Zigarettenplakat. »Liebe Mucki«, laset, »geht's dir gut, und reicht das Geld? Ich habe ganz hübsche Auftrage gemacht, morgen geht's nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt.« Er legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser. Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie war froh darüber, als habe ein Hund den Napf sauber-gefressen. Hinterher gab es Kaffee. »Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?- fragte sie. »Nein«, sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sic lief hinter ihm her. Er stand am Fenster. »Komm aufs Sofa«, bat sie. »Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse.« Er setzte sich aufs Sofa. Sie brachte den Kaffee herein, nahm neben Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf. »Jetzt kommt der Nachtisch«, sagte sie. »Aber nicht wieder beißen.« Gegen drei Uhr ging er. »Wirst du auch bestimmt wiederkommen?« Sie stand vor ihm, brachte ihren Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. »Schwöre, daß du wiederkommst.« »Wahrscheinlich komme ich«, sagte er. »Versprechen kann ich es nicht.« »Ich warte mit dem Abendbrot«, erklärte sie, dann öffnete sie die Tür. »Rasch!« flüsterte sie. »Die Luft ist rein.« Er sprang die Treppe hinunter. >Die Luft ist rcins dachteer und empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor, verlor sich wieder in den Anlagen, die Rhododendren blühten. Er geriet in die Siegesallee. Die Dynastie der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen unverwüstlich. Vor dem Cafe Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier noch besprechen? Es war zu spät zum Reden. F.r ging weiter, kam auf die Potsdamer Straße, stand unentschlossen auf dem Potsdamer Platz, lief die Bellevuestraße hinauf und befand sich wieder vor dem Cafe. Und jetzt trat er ein. Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig. Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. »Ich glaubte nicht, daß du kämst«, sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vorbei. »Es war nicht recht von mir, nicht wahr?« flüsterte sie und senkte den Kopf. Tränen fielen in ihren Kaffee. Sic schob die Tasse beiseite und trocknete sich die Augen. Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei Treppen, die, barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten, waren mit vielen bunten Papageien und Kolibris bevölkert. Die Vögel waren aus Glas. Sie hockten auf gläsernen Lianen und Zweigen und warteten auf den Abend und seine Lampen, damit der zerbrechliche Urwald zu leuchten beginne. Cornelia flüsterte: »Warum siehst du mich nicht an?« Dann preßte sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen klang, als wimmere weit entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal war leer. Die Gäste saßen draußen vor dem Haus, unter großen roten Schirmen. Nur ein Kellner stand in der Nähe. Fabian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen zitterten vor Aufregung. »Sprich endlich ein Wort«, sagte sie mit rauher Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er schluckte mühsam. »Sprich ein Wort«, wiederholte sie ganz leise und faltete auf dem Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände. Er saß und schwieg. »Was soll bloß aus mir werden?« flüsterte sie, als spreche sie zu sich selber und er sei gar nicht mehr da. »Was soll bloß aus mir werden?« 148 SIEBZEHNTES KAPITEL •49 »Eine unglückliche Frau, der es gut geht«, sagte er viel m laut. »Überrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nacr. Berlin? Hier wird getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat.« Erwartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Et hatte sich wieder in der Gewalt. Sein leicht ermüdbares Gefühl gab Ruhe und wich dem Drang, Ordnung zu schaffen. Erblickte auf das, was geschehen war, wie auf ein verwüstetes Zimmer, und begann, kalt und kleinlich, aufzuräumen. »Du kamst mit Absichten hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand. Du hast einen einflußreichen Menschen gefunden, der dich finanziert. Er finanziert dich nicht nur, er gibt dir eine berufliche Chance. Ich bezweifle nicht, daß du Erfolg haben wirst. Dadurch verdient er das Geld zurück, das er gewissermaßen in dich hineingesteckt hat; dadurch wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr, wir sind quitt.« Fabian wunderte sich. Er erschrak vor sich selber und dachte: Es fehlt nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal Dann klappte sie die Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr mit der weißen stäubenden Quaste über ihr verweintes, kindlich erstauntes Gesicht. Sie nickte, er möge fortfahren. »Was dann werden wird«, sagte er, »was dann werden wird, wenn du Makart nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorhersagen, es steht auch nicht zur Debatte. Du wirst arbeiten, und dann bleibt von einer Frau nicht viel übrig. Der Erfolg wird sich steigern, der Ehrgeiz wird wachsen, die Absturzgefahr nimmt zu, je höher man steigt. Wahrscheinlich wird es nicht der einzige bleiben, dem du dich ausliefern wirst. Es findet sich immer wieder ein Mann, der einer Frau den Weg versperrt und mit dem sie sich langlegen muß, wenn sie über ihn hinweg will. Du wirst dich daran gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir.« •Ich weine schon, und er schlägt mich noch-, dachte sie verwundert. 150 »Aber die Zukunft ist nicht mein Thema«, sagte er und machte eine abschließende Handbewegung, als erdroßle er den Gedanken. »Zu besprechen bleibt die Vergangenheit. Du fragtest gestern nicht, als du gingst. Warum interessiert dich nun meine Antwort? Du wußtest, daß du mir lästig warst. Du wußtest, daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das Geld verdient, das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch.« »Es war alles falsch«, sagte sie und stand auf. »Leb wohl, Fabian.« Erfolgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränkte sie, weil crcin Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstraße holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er dachte noch: >Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zurückkommen, was werde ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche.« »Es war so schrecklich gestern«, sagte sie plötzlich. »Er war so widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun brauchten wir keine Sorgen zu haben, und sie sind größer als zuvor. Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?« Erfaßte ihren Arm. »Vor allem, nimm dich zusammen. Das Rezept ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß es wenigstens nicht umsonst war. Und entschuldige, daß ich dich vorhin so gekränkt habe.« •Ja, ja.« Sic war noch traurig und schon wieder froh. »Und darf ich morgen nachmittag zu dir kommen?« ■Es ist gut«, sagte er. Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn, flüsterte: »Ich danke dir«, und rannte aufschluchzend davon. Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: »Sie können lachen!« Fabian wischte mit der Hand über den Mund und ekelte sich. Was hatten Cornelias Lippen inzwischen berührt? Half es ihm, daß sie sich die Zähne geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizukommen? SIEBZEHNTES KAPITEL 15- Ľr überschritt die Straße und trat in den Park. Moral ward beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln u nügte nicht. Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergangenen Nacht gewesen war. Er wollte nicht in die Müllerstraßc zurück. Aber der bloße Ge-danke an sein eigenes Zimmer, an die Neugier der Witwe Hohlfeld, an Cornelias leere Stube, an die ganze einsame Nacht,die ihn erwartete, während ihn Cornelia zum zweitenmal betrog, trieb ihn durch die Straßen, dem Norden zu, in die Mullerstraße hinein, in jenes Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wiederhatte. »So ist's recht«, sagte sie zur Begrüßung. »Komm, du wirst Hunger haben.« Sie hatte im Wohnzimmer gedeckt. »Wir essen sonst in der Küche«, sagte sie. »Aber wozu hat man seine Dreizimmerwohnung?« Es gab Wurst und Schinken und Camembert. Plötzlich legte sie Messer und Gabel beiseite, murmelte »Hokuspokus!« und brachte eine Flasche Mosel zum Vorschein. Sie schenkte ein und stier) mit ihm an. »Auf unser Kind!« rief sie. »Wie du soll es sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!« Sie trank das Glas leer, goß wieder ein und hatte glänzende Augen. »So ein Glück, daß ich dich traf«, sagte sie und trank weiter. »Vi'tm regt mich schrecklich auf.« Sie fiel ihm um den Hals. Da klapperten draußen Schlüssel. Schritte kamen den Korridor entlang. Die Tür ging auf. Ein mittelgroßer, untersetzter Mann trat ins Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde düster. »Wünsche guten Appetit allerseits«, sagte er und näherte sich der Frau. Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie erreicht hatte. rit> sie die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tur zu und riegelte ab. Der Mann rief: »Du kriegst schon noch den Hintern voll!» Er drehte sich zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte, und sagte: »Behalten Sie bitte Platz. Ich bin der Gatte.« Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne zu sprechen. Dann nahm der Mann die Moselflasche in die Hand, betrachtete um- ständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte hinterher: »Die Züge sind um diese Zeit schrecklich überfüllt.« Fabian nickte zustimmend. »Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?« fragte der Mann. »Ich mache mir nicht viel aus Weißwein«, erklärte Fabian und stand auf. Der andere folgte ihm. »Sie wollen schon gehen?« fragte er. ■Ich möchte nicht länger stören«, erwiderte Fabian. Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte ihn. Fabian gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich und hielt die Backe. »Entschuldigen Sic vielmals«, sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab, spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt. Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen? Er fuhr nach Hause. ■5* ■Au»' SIISZtHNTES KAPITEL •53 Achtzehntes Kapitel Er geht aus Verzweiflung nach Hütt Was mag die Polizei wollen1. Ein trauriger Anblick Obwohl Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im Korridor. Sic trug, weil es Abend war, einen Morgenrock und war außerordentlich aufgeregt. »Ich habe meine Tür offengelassen, um Sie zu hören«, sagte sie. »Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sic holen.« »Die Kriminalpolizei?« fragte er überrascht. »Wann war sie da?« »Vor drei Stunden, und vor einer Stunde wieder. Sie sollen sich unverzüglich melden. Ich habe natürlich erzählt, daß Sie in der vorigen Nacht nicht zu Hause waren und daß Fräulein Battenberg gestern, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer geräumt hat und verschwunden ist.« Die Witwe wollte einen Schritt näher kommen, statt dessen trat sie einen Schritt zurück. »Es ist furchtbar«, flüsterte sie ergriffen, »was haben Sie da angestellt?« »Liebe Frau Hohlfeld«, antwortete er. »Ihre Phantasie hat die Motten. Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebesdrama mit letalem Ausgang, wie? Frau Hohlfeld als Zeugin in Traucrkleidung, ihre beiden Untermieter in allen Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich keine Schwachheiten ein!« »Nun«, sagte sie, »mich geht es ja nichts an.« Seine Verstocktheit kränkte sie tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei ihr, hatte sie ihn nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt' Und jetzt hielt er es nicht einmal für nötig, sein Herz auszuschütten. »Wo soll ich mich melden?« fragte er. Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse. »Da haben wir's«, sagte sie triumphierend. »Warum sind Sie denn so blaß geworden?« Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürnberger Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sagte: »Fahren Sie, so schnell Sic können!« Der Wagen war alt und gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt. Fabian zerrte das Schiebefenster auf: -Fahren Sic doch schneller!« rief er. Dann versuchte er zu rauchen, aber seine Hand zitterte, und der Wind blies ihm die brennenden Streichhölzer aus. F.r lehnte sich zurück und schloß die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnete er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten, Tiergarten, Tiergarten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder Straßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte, kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als führen sie durch zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser. Universität, Staatsoper, Dom und Schloß lagen endlich im Rücken. Das Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus. Ein fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen. •Endlich«, sagte der fremde Mann. »Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht weiter.« Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist stand dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhaucrin. •Endlich«, sagte die Selow. Das Zimmer war demoliert, Gläser und Flaschen lagen am Boden. Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreibtisch auf. »Mein Assistent«, erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf dem Sofa lag Labudc, kalkweiß, mit geschlossenen Augen. Labude hatte ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare. •Stephan«, sagte Fabian leise und setzte sich neben die Leiche. Er legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf. »Aber Stephan«, sagte er, »das macht man doch nicht.« Die zwei Beamten traten ans Fenster. •Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen«, berichtete der Kommissar. -Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über den Inhalt, soweit er uns interessiert, zu unterrichten. Wir teilen Ihre Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord '54 I »LHTZEHNTES KAPITEL '55 handelt, und die fünf jungen Damen, die wir vorläufig in der Wohnung zurückbehalten haben, behaupten, im Nebenzim-mer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber ganz aufgekian scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit für eine Bewandtnis?« Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. ■Wollen Sie so freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen behaupten, das Zimmer sei im Laufe einer privaten Meinung* Verschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor Labude habe damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen, sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann sei er in das Zimmer hier gegangen.« »Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen ließ, in einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinander. Ich vermute, es gab eine Art von Eifersuchtsszene zwischen ihnen«, erläuterte der Kommissar. »Sic haben, und auch das spricht gegen ihre konkrete Mittäterschaft, sofort die Polizei verständigt und uns hier erwartet, anstatt davonzulaufen Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?« Fabian öffnete das Kuvert und nahm den gefalteten Bnef-bogen heraus. Dabei fiel ein Banknotcnbündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa. »Wir warten nebenan«, sagte der Kommissar rücksichtsvoll, und sie ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das Licht an. Dann setzte er sich wieder und sah auf den toten Freund, dessen gelbes, in Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau unter der Lampe lag. Der Mund war ein wenig geöffnet, der Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen auseinander und las: »Lieber Jakob! Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da Aber Wcckhcrlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden. Der Geheimrat habe sie als völlig ungenügend charakterisiert und erklärt, sie der Fakultät weiterzugeben, halte er für Belästigung. Außer- dem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die fünfjährige Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit im engsten Kreise begraben will. Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich. Ich habe kein Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über Leda, das wir vor Tagen miteinander hatten, überzeugte mich davon. Du hättest mich über die mikroskopische Bedeutung meines wissenschaftlichen Unfalls aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten einander belogen. Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psychologisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten erhalte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine historische Statistik, wieviele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche Liebhaber waren. Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Bespeien. Am Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit der Bildhauerin in meinem Bett, ein paar andere Frauenzimmer gaben Hilfsstcllung. Und jetzt, während ich schreibe, schmeißen sie im Nebenzimmer mit Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort, wo man mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich haue ab. Europa wird auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat mich nicht notig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuhhandel nichts ändert, er wird den Zusammenbruch nur beschleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos. Ich habe nicht mehr den Mut, mich von den politischen Fachleuten auslachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen Kontinent zu 156 ACHTZEHNTES KAPITEL '57 Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht habe, doch heute genügt mir das nicht mehr. Ich bin eine lächerliche Figur geworden, ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Mensch-heitskandidat. Laß mich den Kerl umbringen. Der I den ich neulich am Märkischen Museum dem Kommunisten abnahm, kommt zu neuen Ehren. Ich nahm ihn an mich, kein Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif. Also, Jakob, leb wohl. Fast hätte ich ganz ernsthaft hinge schrieben: ich werde oft an dich denken. Aber damit ist es ja nun aus. Trag es mir nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den ich liebhatte, obwohl ich ihn kannte. Grüße meine Eltern, und vor allem Deine Mutter. Wenn Du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr nicht, wie schwer mich ihr Betrug traf. Sic mag glauben, ich wäre nur gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen. Ich würde Dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln, aber es gibt nichts, was der Regelung bedürfte. Die Wohnung Nummer Zwei sollen meine Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Büchergchören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreibtisch zweitausend Mark, nimm das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen. Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut. Dein Stephan.« Fabian strich dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer war noch tiefer herabgesunken. Der Mund klaffte auf. -Daß man lebt, ist Zufall; daß man stirbt, ist gewiß«, flüsterte Fabian und lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten. Der Kommissar öffnete leise die Tür. »Entschuldigen Sie, daß ich schon wieder störe.« Fabian reichte ihm den Bncf Der Beamte las und sagte: »Da kann ich ja die Mädchen nach Hause schicken.« Er gab den Brief zurück und ging ins Nebenzimmer. »Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger aufhalten«, rief er. »Nur noch einen Augenblick«, sagte eine weibliche Stimme. •Ich habe ein Faible für Tote.« Die fünf Frauen drängten sich durch die Tür und standen schweigend vor dem Sofa. •Man müßte ihm die Kinnlade hochbinden«, sagte schließlich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte. Die Bildhauerin lief ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette wieder. Sie band I.abude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopfhaar zu einem Knoten. »Ein Toter mit Zahnschmerzen«, bemerkte die Sclow und lachte bösartig. Ruth Reiter sagte: »Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier sitzt Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein, obwohl die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben haben. Und dieser kräftige junge Kerl hier bringt sich um die Ecke.« Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der Kommissar setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen Polizeibericht. Der Assistent kam zurück. »Ist es nicht das Beste, wenn wir einen Wagen bestellen und den Toten in die Villa der Eltern bringen lassen?« fragte er. Dann bückte er sich. Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche. »Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?« fragte Fabian. »Sie sind leider nicht erreichbar«, erwiderte der Assistent. •Justizrat Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das Hauspersonal weiß nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert.« •Also gut«, sagte Fabian. »Bringen wir ihn nach Hause!« Der Assistent telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis der Wagen kam. Sanitäter packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbarschaft. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben, Fabian setzte sich neben den ausgestreckten Freund. Die Beamten verabschiedeten sich. Er gab ihnen die Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian und Labude fuhren zum letzten Mal gemeinsam durch Berlin. 158 MI'"* ACHTZEHNTES KAPITEL •59 Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen ic; te sich der Dom. Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität, die Staatsbibliothek- wle lange war das her, daß sie hier miteinander im Autobus getan ren waren? Am selben Abend hatten sie, draußen am Märkischen V. seum, zwei Raufbolden die Revolver abgenommen. Nun lag Labude auf der Bahre, fuhr durchs Brandenburger Tor und wußte nichts mehr davon. Zwei straffe Gurte hielten ihn lest Der Kopf rutschte langsam schräg. »Denkst du nach?« fragte Fabian leise, schob Labudes Kopt auf dem Kissen wieder zurecht und ließ die Hand dort. 'Ein Toter mit Zahnschmerzen«, hatte die Selow gesagt. Als das Krankenauto vor der Grunewaldvilla hielt, stand das Dienstpersonal an der Tür. Die Haushälterin schluchzte, der Diener ging würdevoll vor den Sanitätern her, die Mädchen folgten, ihre Füße hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht und auf das Sofa gelegt Der Diener öffnete die Fenster weit. »Die Leichenfrau kommt morgen früh«, sagte die Haushälterin, und nun schluchzten auch die Mädchen. Fabian gab den Sanitätern Geld. Sie grüßten militärisch und gingen. »Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da«, bemerkte der Diener. »Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Aber er wird es ja in der Zeitung lesen.« »Es steht schon in der Zeitung?« fragte Fabian. »Jawohl«, entgegnete der Diener. »Die gnädige Frau ist benachrichtigt. Sie dürfte morgen mittag in Berlin eintreffen, wenn ihr Zustand die Reise gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona.« »Gehen Sie schlafen«, sagte Fabian. »Ich bleibe die Nacht über hier.« Er zog einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war allein. In Bellinzona war Labudes Mutter jetzt? Fabian setzte sich neben den Freund und dachte: »Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!« 160 »»•■»' Neunzehntes Kapitel Fabian verteidigt den Freund Ein Lessingporträt geht entzwei Einsamkeit in Halensee Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zusammengehalten, es veränderte sich. Als werde das Fleisch dickflüssig und als sickere es allmählich ins Körperinnere, so traten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief in die schwärzlichen Höhlen gesunken. Die Nasenflügel fielen ein und wirkten verkniffen. Fabian beugte sich vor und dachte: >Warum verwandelst du dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünschte, du könntest reden, denn ich hätte viel zu fragen, mein Lieber. Ist dir jetzt wohl? Bist du auch jetzt noch, nachdem du starbst, damit zufrieden, daß du tot bist? Oder bereust du, was du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was für ewig geschah? Früher habe ich mir eingebildet, ich könne an der Leiche eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot ist. Wie soll man verstehen, daß jemand nicht mehr da ist, obwohl er sichtbar vor einem liegt, mit Schlips und Kragen, im selben Anzug wie kurz vorher? dachte ich. Wie soll man glauben, daß einer, nur weil er zu atmen vergaß, eine Portion Heisch geworden ist, die man drei Tage später achtlos verscharrt? dachte ich. Wird man, wenn das geschieht, nicht aufschreien: Hilfe, er erstickt! Ich muß dir sagen, Stephan: ich verstehe meine Angst nicht mehr, man könne am Tod und seiner Tragweite zweifeln. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da wie eine schlecht fixierte Fotografie von dir, die zusehends vergilbt. Man wird deine Fotografie in einen Ofen werfen, den man Krematorium nennt. Du wirst verbrennen, und niemand wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein.« Fabian trat zum Schreibtisch und nahm aus dem gelben Holzkästchen, das seit Jahren dort stand, eine Zigarette. Ein Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing. •Sic sind schuld daran«, sagte Fabian zu dem Mann mit dem NEUNZEHNTES KAPITEL l6l Zopf und zeigte auf Labude. Aber Gotthold Ephraim Lessins übersah und überhörte den Vorwurf, der ihm, hundenfünfzif Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte ernst unc höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerische! (>. sieht verzog keine Miene. »Schon gut«, sagte Fabian, drehte dem Bild den Rücken und setzte sich wieder neben Jer Freund. »Siehst du«, sprach er zu Labude, »das war ein Kcrl-.undrr wies mit dem Daumen hinter sich. »Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem Federhalter um sich, als sei der Ganses, ein Schlcppsäbcl. Der war zum Kämpfen da, du nicht. Oerie: te gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht privat, der wollte gar nichts für sich. Und als er sich doch auf sich besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über ihm zusammen und begrub ihn. Und das war in Ordnung *cr für die anderen da sein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?« Fabian strich dem Freund übers Knie und schüttelte den Kopf. »Ich wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warstein guter Mensch, du warst ein anständiger Kerl, du warst mein Freund, aber das, was du vor allem sein wolltest, das warst du nicht. Dein Charakter existierte in deiner Vorstellung, und als die zerstört wurde, blieb nichts mehr übrig als ein Schießeisen und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens wird ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot und später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die andern wollen es erobern, und sie werden sich wie die Titanen ohrfeigen, und sie werden schließlich das Sofa zerhacken, damit es keiner kriegt. Unter den Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zweimal hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhangen. Sollten sie zweimal hintereinander lügen, wird man «* aufhängen. Dich hätte man nicht einmal gehängt, dich hätte man totgelacht. Du warst kein Reformator und du warst kein Revolutionär. Mach dir nichts draus.« Labude lag, als höre er zu. Aber er tat nur so. Die Ansprache verhallte, Fabian wurde müde. > Warum genügte es dir nicht, schön zu finden, was schön ist?« dachte er. >Dann hätte dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann saßest du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest du die Augen offen und blicktest glücklich von Sacre Coeur hinunter auf die schimmernden Boulevards, über denen die Luft kocht. Oder wir beide spazierten durch Berlin. Die Bäume sind ganz frisch gestrichen, der blaue Himmel ist mit Gold ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und wenn die eine bei einem Filmdircktor übernachtet, sucht man sich eine bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe dir noch gar nicht erzählt, wie er bei mir im Schranke stand. Er hatte den Hut auf und hielt den Schirm in der Hand, als habe er Angst, es könne im Schrank regnen.« Fabian konnte nicht lange geschlafen haben, als er aufschreckte. Er hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein Auto hielt vor der Tür, der Diener kam aus dem Haus und öffnete den Schlag. Der Justizrat stieg aus und hielt dem Diener eine Zeitung entgegen. Der Diener nickte und zeigte zu dem Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus dem Wagen, der Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Frau preßte, während das Auto sie wegführte, das Gesicht an die Scheibe. Der Justizrat ging ins Haus. Der Diener folgte und hielt die Arme besorgt angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat zu stützen. Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht zugegen sein, wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justizrat kam die Treppe herauf, er klammerte sich am Geländer fest, und der alte Diener hinter ihm hielt die Hände schützend vorgestreckt, aber Labudes Vater sank nicht um. Er ging, ohne Fabian anzusehen, in das erleuchtete Zimmer. Der Diener schloß die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei. 162 NEUNZEHNTES KAPITEL 163 Doch es blieb still in dem Zimmer. Fabian und der Diener standen davor, jeder auf seinem Fleck, sie sahen einander nicht an und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft zum Mitleid wartete auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten. Es klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und kam wieder auf den Korridor. »Der Herr Justizrat möchte Sie sprechen.« Fabian trat ein. Der alte Labude saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Nach einer Weile richtete er sich hoch, stand auf, um den Freund seines Sohnes zu begrüßen, und lächelte künstlich. »Ich habe keine Beziehung zu tragischen Erlebnissen«, sagte er gepreßt. »Das bißchen Mitgefühl, das mein Egoismus zuläßt, hat durch dk l len Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routine überhaupt einen unechten Glanz angenommen, in dem sich alles andere eher spiegelt als wahre Teilnahme.« Er drehte sich um, betrachtete seinen Sohn, und es sah aus, als ob ersieh bei dem Toten entschuldigen wolle. »Es hat keinen Zweck, sich Vorwürfe zu machen«, fuhr er fort. »Ich war kein Vater, der für den Sohn lebt. Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer Herr, der in das Leben verliebt ist. Und dieses Leben verliert seinen Sinn keineswegs durch diese Tatsache.« Erzeigte mit dem vorgestreckten Arm auf die Leiche. »Er hat gewußt, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die anderen nicht zu weinen.« »Man könnte, gerade weil Sic so nüchtern darüber sprechen, vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen«, sagte Fabian. »Das wäre unangebracht. Der sichtbare Anlaß für Stephans Selbstmord liegt außerhalb unserer Sphäre.« »Was wissen Sie darüber? Hat er Briefe hinterlassen?« fragte der Justizrat. Fabian verschwieg den Brief. »Eine kurze Notiz gab Auskunft. Der Geheimrat hat Stephans Habilitationsschrift als ungenügend abgelehnt.« »Ich habe sie nicht gelesen. Man hat nie Zeit. War sie *o schlecht?« fragte der andere. »Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten, die ich kenne«, erwiderte Fabian. »Hier ist sie.« Er nahm eine Kopie des Manuskripts vom Bücherbord und legte sie auf den Schreibtisch. Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das Telefonbuch bringen und suchte eine Nummer. »Es ist zwar sehr spät«, sagte er und ging ans Telefon, »aber das kann nichts helfen.« Er bekam Anschluß. »Kann ich den Geheimrat sprechen?« fragte er. »Dann holen Sie die gnädige Frau an den Apparat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier spricht Justizrat Labude.« Er wartete. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. »Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zurück? Ich werde mir erlauben, ihn morgen im Institut aufzusuchen. Sie wissen nicht, ob er die Habilitationsschrift meines Sohnes schon gelesen hat?« Er hörte lange Zeit zu, dann verabschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich zu Fabian herum und fragte: »Verstehen Sic das? Der Geheimrat hat neulich während des Essens gesagt, die Arbeit über Lcs-sing sei außerordentlich interessant, und er sei auf die Schlußfolgerung, also auf das Ende der Arbeit, sehr gespannt. Von Stephans Tod scheint man noch nichts zu wissen.« Fabian sprang erregt auf. »E.r hat die Arbeit gelobt? Lehnt man Arbeiten ab, die man gelobt hat?« »Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist jedenfalls häufiger«, antwortete der Justizrat. »Wollen Sic mich jetzt allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde sein Manuskript lesen. Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?« Fabian nickte und gab ihm die Hand. »Da hängt ja die Todesursache«, sagte der alte Labude und zeigte auf das Lessingporträt. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte er. Der Diener erschien. »Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster«, befahl der Justizrat. Er blutete an der rechten Hand. Fabian blickte noch einmal auf den toten Freund. Dann ging er hinaus und ließ die beiden allein. t64 SIUNZEHNTES KAPITEL |65 Er war zu müde zum Schlafen, und er war zu müde, die Traut aufzubringen, die dieser Tag von ihm forderte. Der Trikotagen-reisende aus der Müllerstraße hielt sich die Backe, hieß er nicht Hetzer? Seine Frau lag unbefriedigt im Bett, Cornelia war zurr zweitenmal bei Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende Bilder, ohne dritte Dimension, weit weg am Horizont seines Gedächtnisses. Und auch, daß Labudc in irgendeiner Villa draußen tot auf dem Sofa lag, beschäftigte ihn im Augenblick nur als Gedanke. Der Schmerz war wie ein Zündholz heruntergebrannt und erloschen. Er entsann sich aus seiner Kindheit eines ähnlichen Zustandes: wenn er damals eines Kummers wegen, der ihm riesenhaft und unheilbar erschien, lange Zeit geweint hatte, war das Reservoir, aus dem der Schmerz floß, leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach jedem seiner Herzkrämpfe, das Leben in den Fingern erstarb. Die Trauer, die ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war kalt. Fabian ging die Königsalice entlang. Er kam an der Rathe-nau-Eichc vorbei. Zwei Kränze hingen an dem Baum. An dieser Straßenbiegung war ein kluger Mann ermordet worden »Rathenau mußte sterben«, hatte ein nationalsozialistischer Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. »Er mußte sterben, seine Hybris trug die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher Außenminister werden. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kandidierte ein Kolonialneger für den Quai d'Orsay, das ginge genau so wenig.« Politik und Liebe, Ehrgeiz und Freundschaft, Leben und Tod, nichts berührte ihn. Er schritt, ganz allein mit sich selber, die nächtliche Allee hinunter. Über dem Lunapark stieg Feuerwerk in den Himmel und sank in bunten feurigen Garben zur Erde. Aber auf halbem Wege lösten sich die Garben auf, sk verschwanden spurlos, und neue Raketen drängten krachend in die Luft. Am Eingang zum Park hing ein Schild: .Fernando, der Weltmeister im Dauertanzen, überbietet seinen eigenen Rekord. Er will 200 Stunden tanzen. Kein Weinzwang.' Fabian setzte sich in ein Bierlokal, dicht vor der Eisenbahn Unterführung von Halensce. Die Gespräche der Umsitzenden erschienen ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter Zeppelin, auf dem in großer Leuchtschrift »Trumpfschokolade- stand, flog über den Köpfen der Stadt zu. Ein Zug mit hellen Fenstern fuhr unter der Brücke hin. Autobusse und Straßenhahnen passierten in langer Kette die Straße. Am Nebentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den Kragen gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen, kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock. ■Was soll das alles?, dachte er, zahlte rasch und ging nach Hause. Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungsschreiben waren zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei, man bedauerte hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später ertappte er sich dabei, daß er regungslos, mit dem Handtuch vor dem nassen Gesicht, auf dem Sofa saß und, an der unteren Kante des Tuches vorbei, auf den Tcppich stierte. Er trocknete sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und schlief ein. Das Licht brannte die ganze Nacht. 166 NEUNZEHNTES KAPITEL 167 Zwanzigstes Kapitel Cornelia im Privatauto Der Geheimrai weiß von mcki Frau Lahude wird ohnmächtig Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen sah, waren ihm die Ereignisse des Vortages nicht gegenwärtig. Er fühlte sich bedrückt und elend, doch er wußte noch nicht, warum. Er schloß die Augen, und erst jetzt, und nur ganz allmählich, vergegenständlichte sich sein Kummer. Das. was J* schehen war, fiel ihm ein, als werfe es jemand von draußen her durch eine Scheibe. Er wußte wieder, was er vor Müdigkeit vergessen hatte, und vom Bewußtsein aus sanken die Erinnerungen tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es war, als erhöhe sich ihr spezifisches Gewicht, und dann rollten sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er drehte sich zur Wand und hielt sich die Ohren zu. Frau Hohlfeld machte, als sie das Frühstück hereintrug, trotz des brennenden Lichts, und obwohl er statt im Bett auf dem Sofa lag, keinen Skandal. Sie setzte das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog sämtliche Handlungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern üblich ist. »Ich versichere Sie meines tiefsten Beileids«, sagte sie, »ich las es vorhin in der Zeitung. Ein harter Schlag für Sie. Und die armen Eltern.« Der Ton und die Stimmlage waren gut gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum Aushalten. Er überwand sich und murmelte: »Danke.« Bis sie das Zimmer verlassen hatte, blieb er liegen, dann stand er auf und fuhr in die Kleider. Er mußte den Geheimrat sprechen. Seit gestern abend marterte ihn ein Verdacht, der, ohne jedes Zutun, immer quälender wurde. Er mußte in die Universität. Als er aus dem Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen vor und hielt. »Fabian!« rief jemand. Es war Cornelia. Sic saß im Vagen und winkte. Während er näher trat, stieg sie aus. -Mein armer Fabian«, sagte sie und streichelte seine Hand. »Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und er lieh mir den 168 Wagen. Stör ich dich?« Dann senkte sie die Stimme. »Der Schofför paßt auf.« Lauter fragte sie: »Wo willst du hin?« •Zur Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit abgelehnt worden ist. Ich muß den Geheimrat sprechen.« »Ich bringe dich hin. Darf ich?« fragte sie. »Fahren Sie uns bitte zur Universität«, sagte sie zu dem Schofför, sie stiegen in den Wagen und fuhren stadtwärts. »Und wie war es gestern abend bei dir?« fragte Fabian. •Sprich nicht davon«, bat sie. »Ich hatte immer das Gefühl, dir drohe ein Unheil. Makart erzählte mir von der Rolle, die ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so bedrängte mich meine Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter.« •Was für eine Rolle?« Auf Cornelias Vorahnungen ging er nicht ein. Er haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine Bettdecke zu lüpfen, und noch mehr haßte er den nachträglichen Stolz, schon vorher recht gehabt zu haben. Wie plump-vertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal! Seine Abneigung hatte damit, ob Vorahnungen möglich seien oder nicht, nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit dem, was noch verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch zu sein pflegte: mit einer Fügung in Unvermeidliches hatte das nichts zu schaffen. »Eine sehr merkwürdige Rolle«, sagte sie. »Stell dir vor, daß ich in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um seiner verschrobenen Phantasie Genüge zu tun, von mir verlangt, daß ich mich unablässig verwandle. Er ist ein pathologischer Mensch und nötigt mich, bald ein unerfahrenes Mädchen und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein ordinäres Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf. Dabei stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer, heraus, daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glaube. Beide, er und ich, werden überrascht sein, denn ich werde mich unaufhaltsam, schließlich gegen seinen Willen, verändern und erst dadurch das geworden sein, was ich schon immer war. Gemein und herrschsüchtig, stellt sich heraus, bin ich im Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine Befehle beschwor, wird er tragisch unterliegen.« ZWANZIGSTES KAPITEL 169 »Ist der Einfall von Makart? Sieh dich vor, Cornelia, der Mann ist gefährlich. Er wird dich diese Verwandlung zwar nur spielen lassen, aber insgeheim wird er mit sich selber weiter., ob du in Wirklichkeit so wirst.« »Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen überfahren werden. Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze Leben.« Er kramte in den Taschen, fand das Geldbündel, zählte tausend Mark ab und gab sie Cornelia. »Da, Labude hinterließ mir Geld, nimm die Hälfte. Es beruhigt mich.« »Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hatten«, sagte sie. Fabian beobachtete den Schofför, der fortwährend in den kleinen konkaven Sucherspiegel blickte und sie dann überwachte. »Deine Gouvernante wird uns noch an einen Baum fahren. Vorn ist die Musik!« schrie er, und der Schofför ließ sie vorübergehend mit dem Blick los. »Heute nachmittag komme ich ohne ihn«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich zu Hause bin«, erwiderte er. Sie lehnte sich flüchtig und schüchtern an ihn. »Ich komme auf alle Fälle, vielleicht kannst du mich brauchen.« Vor der Universität stieg er aus. Sie fuhr mit ihrem Gefängnisinspektor weiter. Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht da, werde aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwartet. Ob der Assistent da sei? Jawohl. Im Vorzimmer saßen Justizrat Labude und seine Frau. Sie sah sehr alt aus, weinte, als Fabian sie begrüßte, und sagte: »Wir haben uns nicht um ihn gekümmert.« »Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen«, entgegnete Fabian •War er nicht alt genug?« fragte der Justizrat. Seine Frau schluchzte laut auf, und er verzog die Stirn. »Ich habe heute nacht Stephans Arbeit gelesen«, erzählte er. »Ich verstehe zwar nichts von eurem Fach, und ich weiß nicht, ob die Grundlagen der Untersuchung stimmen. Aber daß die Folgerungen klug und scharfsinnig sind, steht außer allem Zweifel.« »Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ordnung«, meinte Fabian. »Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur der Geheimrat käme!« Frau Labude weinte vor sich hin. »Warum wollt ihr ihm, nun er tot ist, die Ursache rauben, deretwegen er starb?« fragte sie. »Kommt, wir wollen von hier fortgehen!« Sie stand auf und packte die zwei Männer. »Laßt ihn in Frieden!« Aber der Justizrat sagte: »Setz dich hin, Luise.« Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altväterlicher Eleganz, außerdem standen ihm die Augen etwas zu weit aus dem Kopf. Der Institutsdiener kletterte hinter ihm die Treppe hoch und trug einen Handkoffer. »Das ist ja fürchterlich«, erklärte der Geheimrat und ging, mit seitlich geneigtem Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates weinte lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war ergriffen. »Wir kennen uns«, sagte der alte Literaturhistoriker zu Fabian. »Sie waren sein Freund.« Er schloß die Tür zu seinem Zimmer auf, bat näher zu treten, entschuldigte sich für einen Augenblick und wusch sich, während die andern stumm um den Tisch saßen, die Flände, wie vor einer ärztlichen Ordination. Der Diener hielt das Handtuch bereit. Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: »Ich bin für keinen Menschen zu sprechen.« Der Diener entfernte sich, der Geheimrat nahm Platz. »Ich kaufte mir heute morgen in Naumburg eine Zeitung«, berichtete er, »und das erste, was ich las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres Sohnes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an Sie stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu diesem äußersten Schritt bewogen?« Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur Faust. »Können Sie sich das nicht denken?« Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft. Ihr Blick bat die Männer, innezuhalten. Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. »Mein Sohn hat sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben.« 170 ZWANZIGSTES KAPITEL «7- Der Geheimrat zog das seidene Tuch aus der Tasche und fuhr sich damit über die Stirn. »Was?« fragte er tonlos. Er stand auf und starrte aus seinen vorgewölbten Augen die Umsitzenden an, als befürchte er, sie seien wahnsinnig. »Aber das ist |a gar nicht möglich«, flüsterte er. »Doch, es ist möglich!« rief der Justizrat. »Nehmen Sit rhren Mantel, kommen Sie mit, sehen Sie sich unsern Jungen an! Auf dem Sofa liegt er und ist so tot, wie man nur sein kann.« Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen Augen und sagte: »Sie töten ihn zum zweiten Male.« »Das ist ja grauenhaft«, murmelte der Geheimrat. Er packte den Arm des Justizrates. »Ich hätte die Arbeit abgelehnt: Wer hat das behauptet? Wer hat das behauptet?« rief er. »Ich habe die Arbeit mit dem Bemerken bei der Fakultät in Umlauf gesetzt, daß sie die reifste literarhistorische Leistung der letzten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum geschrieben, Doktor Stephan Labude könne, infolge dieser Arbeit, auf das lebhafteste Interesse der Fachkreise Anspruch erheben. Ich habe geschrieben, Doktor Labude leiste mit diesem Beitrag zur Aufklärung der modernen Forschung unschätzbare Dienste. Ich habe geschrieben, noch nie sei mir aus Schülerkreisen eine Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden, und ich ließe sie in der Schriftenreihe des Instituts als Sonderdruck erscheinen. Wer hat behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt worden?« Labudcs Eltern saßen regungslos. Fabian erhob sich. Er zitterte am ganzen Körper. »Einen Augenblick«, sagte er heiser, »ich hole ihn.« Dann rannte er hinaus, die Treppe hinunter, ins Katalogzimmer. Doktor Wcckherlin, der wissenschaftliche Gehilfe des Instituts, saß über eine Kartothek gebückt und ordnete Kärtchen ein. auf denen die Neuanschaffungen der Bibliothek verzeichnet waren. Er blickte ungehalten hoch und kniff die kurzsichtigen Augen zusammen. »Was wollen Sic?« fragteer. »Sie stillen sofort zum Geheimrat kommen«, sagte Fabian, und als der andere keine Anstalten traf, sondern bloß nickte und in der Kartothek zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kragen, zerrte ihn vom Stuhl und stieß ihn zur Tür hinaus. »Was erlauben Sie sich eigentlich?« fragte er. Aber Fabian schlug ihm, statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht. Wcckherlin hob den Arm, um sich zu schützen, und stolperte, ohne länger zu widersprechen, die Treppe hinauf. Vor dem /.immer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian riß die Tür auf. Der Geheimrai und Labudes Filtern fuhren zusammen. Der Assistent blutete aus der Nase. e:h muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn cn«, sagte Fabian. »Doktor Wcckherlin, haben Sic gestern mittag meinem Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abgelehnt worden? Haben Sic erzählt, der Geheimrat habe geäußert, die Arbeit der Fakultät weitergeben, heiße die Professoren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat wolle ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche Blamage ersparen?« Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Keiner der Männer kümmerte sich um sie. Wcckherlin war bis zur Tür zurückgewichen. Die drei anderen Männer standen vorgeneigt und warteten auf Antwort. »Weckherlin«, flüsterte der Geheimrat und stützte sich schwer auf eine Stuhllehne. Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er lächeln, er öffnete wiederholt den Mund. •Wird's bald?« fragte der Justizrat drohend. Wcckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: »Es war nur ein Scherz!« Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang wie der Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er vor und schlug auf den Assistenten ein, mit beiden Fäusten, unablässig, ohne zu überlegen, wohin er traf. Besinnungslos, "ie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer wieder. •Du Schuft!« brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste mitten ins Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle er sich entschuldieenlEr hatte vergessen, daß er die Hand auf der Klinke hielt und aus dem Zimmer fliehen wollte. Er sank «7« ZWANZIGSTES KAPITEL '73 unter den Schlägen vorübergehend in die Knie. Er zog sich an der Klinke wieder hoch, die Tür schnappte auf. Jetzt erst besann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch die Tür auf den Korridor, Fabian folgte ihm, sie näherten sich, Schritt für Schritt, der Treppe, die ins Untergeschoß führte, dereine schlug, der andere blutete. Unten am Fuß der Treppe sammelten sich Studenten, die der Lärm aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie standen stumm und abwartend, als spürten sie, was dort oben geschah, sei gerecht. »Du Hund!« sagte Fabian und traf den Assistenten unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlugdumpf mit dem Kopf auf eine Stufe und rollte klappernd die Holztreppe hinunter. Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn stürzen. Da sprangen ein paar Studenten vor und hielten ihn fest. »Laßt mich los!« schrieerund riß wie ein Tobsüchtiger an den Armen, die ihn umklammerten. »Laßt mich los, ich schlag ihn tot!« Jemand hielt ihm den Mund zu. Der Institutsdiener kniete neben dem Assistenten. Der versuchte sich aufzurichten, sank aber stöhnend zurück. Man schleppte ihn ins Katalogzimmer. Im Übergeschoß, dicht an der Treppe, standen der Geheimrat und Labudcs Vater. Durch die geöffnete Tur vernahm man langgezogene Klagclautc, Stephans Mutter war aus der Ohnmacht erwacht. »Ach so, es war nur ein Scherz!« rief der Justizrat und lachte verzweifelt. Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Ausweg gefunden: -Doktor Weckherlin ist entlassen.« Die Studenten gaben Fabian frei, er senkte den Kopf, vielleicht bedeutete es einen Abschiedsgruß, und verließ das Institut. Einundzwanzigstes Kapitel Juristin wird Filmstar Eine alte Bekannte Die Mutter verkauft Schmierseife war nur ein Scherz gewesen! Herr Weckherlin hatte einen dummen Witz, gemacht, und l.abude war daran gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbstmord gewesen. Ein Subaltcrnbcamter des Mittelhochdeutschen hatte den Freund umgebracht. Er hatte ihm vergiftete Worte ins Ohr geträufelt, wie Arsenik ins Trinkglas. Er hatte, zum Spaß, auf Labude gezielt und abgedrückt. Und aus der ungeladenen Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen. Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, immer noch Wcckhcrlins feig lächelndes Gesicht vor Augen, und erfragte sich nachträglich überrascht: -Warum habe ich auf den Kerl eingeschlagen, als müsse alles vernichtet werden? Warum war meine Wut auf ihn größer als die Trauer über Labudcs unsinniges Ende? Verdient ein Mensch, der, wie jener, unabsichtlich solches Unheil anstiftet, nicht eher Mitleid als Haß? Wird er icmals wieder ruhig schlafen können?' Fabian verstand allmählich seinen Instinkt. Weckherlin hatte es nicht unabsichtlich getan. Er hatte Labude treffen wollen, nicht töten, aber verwunden. Der talentlose Konkurrent hatte sich am Begabten gerächt. Seine Lüge war eine Sprengkapsel gewesen. Er hatte sie in Labude hineingeworfen und war davongelaufen, um, aus der Entfernung, schadenfroh die Explosion zu beobachten. Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war er auch. Aber wäre es nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht verloren und die Schläge nicht erhalten? Wäre es nicht besser gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn Labude schon einmal tot war, weitergelebt? Gestern hatte ihn der Tod des Freundes mit Traurigkeit beseelt, heute erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die Wahrheit war an den Tag gekommen, wem war damit gedient? Labudcs Eltern etwa, die nun endlich wußten, daß ihr Sohn das '74 EINUNDZTANZIGSTES KAPITEL '75 Opfer einer Infamie geworden war? Bevor sie erfuhren, in die Wahrheit war, hatte es keine Lüge gegeben. Nun hatte dw-Gerechtigkeit gesiegt, und aus dem Selbstmord wurde nich traglich ein tragischer Witz. Fabian dachte an Labudes Begräbnis, und ihn schauderte: Ersah sich schon imTrauergefolgcini Sarg erkannte er Labudes Eltern, auch der Gchcimr.it wir ir. der Nähe, und Labudes Mutter schrie laut auf. Sie riß sich der. schwarzen Kreppschicicr vom schwarzen Hut und sink jinv mernd vornüber. »Obacht!« sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestober und stand still. Hätte er die Sache mit Wcckhcrlin vertuschen sollen, statt sie aufzuklären ? Hätte er die Kenntnis des wihren Sachverhalts in sich einschließen sollen, um die Eltern divoriu bewahren? Warum war Labudc bis in seine letzten Bnefeso gründlich, warum war er so ordnungsliebend gewesen? Warum hatte er sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter Er bog in die Leipziger Straße ein. Es war Mittag. Die Angestellten der Büros und die Verkäuferinnen umdrängten die Haltestellen und stürmten die Autobusse, die Eßpause wir kurz. Wenn dieser Wcckhcrlin nicht dazwischengekommen wäre, wenn Labudc erfahren hätte, wie seine Arbeit wirklich eingeschätzt wurde, wäre er jetzt nicht gestorben, mehr noch, der Erfolg hätte ihn befeuert, hätte ihm die Enttäuschung mit Leda erleichtert und seinem politischen Ehrgeiz Luft gemacht, ^ar um hatte er denn an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selb« hatte er beweisen wollen, daß er leistungsfähig war. Er hatte mit diesem Erfolg gerechnet, er hatte ihn psychologisch abwi gend in seine Entwicklung einkalkuliert, und die Kalkulation war richtig gewesen. Und doch hatte er Wcckherlins Luge eher geglaubt als seiner eigenen Überzeugung. Nein. Fabian wokw nicht dabeisein, wenn man den Freund ins Diesseits beförderte. Er mußte fort aus dieser Stade Er starrte auf eines der »or-uberfahrenden Autos. War es nicht Cornelia? Don neben dem dicken Mann ? Sein Herz setzte aus. Sic war es nicht. Er mußte fort, keine zehn Pferde hielten ihn länger. Er ging zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Wir** Hohlfcld, er ließ in deren Zimmer alles, wie es stand und lag. stehen und liegen. Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen eitlen, verlogenen Menschen. Er ging zum Bahnhof. Der D-Zug fuhr in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine lahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setzte sich in den Wartesaal und durchflog die Blätter. Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkommen großen Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schönrederei? Oder begriff man allmählich, was alle wußten? Erkannte man, daß die Vernunft das Vernünftigste war? Vielleicht hatte Labudc recht gehabt? Vielleicht war es wirklich nicht nötig, auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu warten? Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war, tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War die moralische Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie sinnlos war? War die Frage der Weltordnung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung? Iibude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In seine Pläne hätte es sich eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des Freundes Gedanken und blieb apathisch.Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte ledern Menschen pro Tag zehn Hühner in den Topf, er wünschte jedem ein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eins. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut, wenn es ihm gut ginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein! Hatte er nicht zu Labudc gesagt: >Noch in dem Paradies, das du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen?« War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durchschnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß? Während er, sitzenderweisc, seine moralische Haltung gegen die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühl- 176 HNUH.DZWANZIGSTES KAPITEL 177 ten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde diel« Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhallen? War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vicllcuh: jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regulative Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit,ganzwie zu einer Geliebten: >Ich möchte dir die Sterne vom Himmr! holen!« Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahrmachtc. Was finge die bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt brachte! Labudc hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? Viarum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte' Es starben und es lebten die Verkehrten. Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder. »Juristin wird Filmstar-, stand pcJ unter dem Foto. »Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg», »•» weiterhin zu lesen, »wurde von Edwin Makart, dem bekannten Filmindustricllcn, entdeckt und beginnt schon in den nächsten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film: -Die Masken der Frau Z.<« »Alles Gute-, flüsterte Fabian und nickte dem Bild zu. Inder anderen Zeitung sah er sie noch einmal. Sie trug einen imposanten Sommerpclz und saß in dem Auto, das er schon kannte, am Steuer. Neben ihr hockte ein dicker, großer Mensch, anscheinend der Entdecker persönlich. Die Unterschrift bestätigte die Vermutung. Der Mann wirkte brutal und venchligen. wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung. Edwin Makart, der Mann mit der Wünschelrute, wurde vom Redakteur behaupte, seine neueste Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie repräsentiere als ehemaliger Referendar einen neuen Modetyp, die intelligente deutsche Frau. »Alles Gute«, wiederholte Fabian und starrte auf das Foto. Wie lange war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachtete er ein Grab. Eine unsichtbare gespenstische Schere hatte sämtliche Bande, die ihn an diese Stadt fesselten, zerschnitten. Der Beruf war verloren, der Freund war tot, Cornelia war in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen? Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, verwahrte die Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen fort. Nichts hielt ihn zurück, er verlangte dorthin, woher er gekommen war: nach Hause, in seine Vaterstadt, zu seiner Mutter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin, obwohl er noch immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er auf, durchschritt die Sperre und setzte sich in den Zug, der auf das Signal zur Abfahrt wartete. Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur fort! Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und Wiesen schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Tclegrafen-stangen machten Kniebeugen. Manchmal standen kleine barfüßige Bauernkinder mitten in der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein Pferd. Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf. Dann fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stämme waren von grauen Flechten bewachsen. Die Bäume standen da, als seien sie aussätzig und als habe man ihnen verboten, den Wald zu verlassen. Ihm war, als suche jemand seine Augen. Er wandte sich um und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden, gleichgültige, gleichgültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäftigt. Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte sie. Er trat hinaus. »Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen«, sagte sie. »Wo fährst du hin?« M:/1 SN/H. SI I s KAPITEL '79 »Nach Hause.« »Sei höflich«, meinte sie. »Frage mich gefälligst, wo ich will.« »Wo wollen Sie hin?« Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: »Ich türme. Einer der Schlafburschen hat mein Etablissement verpfiffen. Ich erfuhr es heute morgen von einem Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt ich verdoppelt habe. Kommst du mit nach Budapest?« »Nein«, sagte er. »Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest zu fahren. Wollen wir über Prag nach Pans; Wir werden im Claridge wohnen. Oder wir gehen nach Fon-tainebleau und mieten eine kleine Villa.« »Nein«, sagte er. »Ich fahre nach Hause.« »Komm mit«, bat sie. »Ich habe Schmuck bei mir. Wenn wir blank sind, erpressen wir die alten Schachteln, die sich bei mir beschlummcrn ließen. Ich kenne interessante Einzelheiten. Gucklöcher haben ihr Gutes. Oder willst du lieber nach Iti-lien? Was hältst du von Bellagio?« »Nein«, sagte er, »ich fahre zu meiner Mutter.« »Du verdammter Esel«, flüsterte sie ärgerlich. »Soll ich vor dir niederknien und dir eine Liebeserklärung machen* »** hast du gegen mich? Bin ich dir zu aufgeklärt? Ist dir eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich satt, nach der ersten boten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir begegnen einander immer wieder. Das kann kein Zufall sein.« Sie faßte seine Hand und streichelte seine Finger. »Ich bitte dich, komm mit.« »Nein«, sagte er. »Ich komme nicht mit. Reisen Sic gut.« Er wollte wieder ins Abteil. Sic hielt ihn zurück. »Schade, jammerschade Vielleicht ein andres Mal.« Sie öffnete ihre Handtasche. »Brauchst du Geld.« Sic wollte ihm ein paar Banknoten in die Hand stecken. Er schloß die Hand zur Faust, schüttelte den Kopf und ging in» Kupee. Sie blieb noch eine Weile vor der Tür des Abteils und sah ihn an. Er blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf- h hin Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem Bahnhof und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie musterte ihn von oben herunter: Warum holt dich heute niemand ab, und warum kommst du ohne Koffer? Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endloser Güterzug ratterte drüber hin, die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in dem früher der Lehrer Schanze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die anderen Häuser standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit der Kindheit bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder gehörte, war ein neues Geschäft eröffnet worden, ein Fleischerladen, noch standen die Blumenstöcke im Schaufenster. Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war. Wie vertraut ihm die Straße war. Er kannte die Fassaden, er kannte die Höfe, Keller und Böden, überall war er hier beheimatet. Aber die Menschen, die aus den Häusern und in die Häuser traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. »Seifengeschäft« stand über einem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster. Er las: »Nun auch Feinseifen herabgesetzt. Hausmarke Lavendel zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige. Torpedoseife fünfundzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige.« Er ging bis zur Tür. Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen davor. Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket Waschpulver auf den Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kernseife mittendurch. Dann nahm sie einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem Faß, wog sie ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis auf die Straße. Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die alte Frau sah auf und ließ erschrocken die Hände sinken. Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: »Mutter, Labude hat sich erschossen.« Und plötzlich liefen ihm die Tränen aus den Augen. Er öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer führte, schloß sie wieder, setzte sich in den Lchnstuhl vorm Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte. 180 HNUNDZWANZIGSTES KAPITEL iSi Zweiundzwanzigstes Kapitel Besuch in der Kinderkaumt Kegelschieben im Purk Die Vergangenheit biegt um die Eckt »Was hat er denn ?« fragte der Vater am nächsten Morgen. »Seine Stellung hat er verloren«, sagte die Mutter. »Und sein Freund hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg kennenlernte.« »Ich wußte gar nicht, daß er einen Freund hatte«, meinteder Vater. »Man erfährt ja nichts.« »Du hörst nur nicht zu«, sagte die Mutter. Da läutetedie La-denglocke. Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung. »Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt«, fuhr sie fort. »Aber darüber spricht er sich nicht näher aus. Sie hat Rechtsanwalt studiert und geht zum Film.« »Schade um das Geld fürs Studium«, erklärte der Mann. »Ein hübsches Mädchen«, sagte Fabians Mutter. »Aber sie lebt mit einem dicken Kerl zusammen, einem Filmdirektor,das reinste Brechmittel.« »Wird er lange hierbleiben?« fragte der Vater. Die Mutter zuckte die Achseln und goß sich Kaffee ein. »Tausend Mark hat er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es aufheben. Der Junge hat einen Knicks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen. Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin. Er glaubt nicht an Gott, es muß damit zusammenhängen. Ihm fehlt der ruhende Punkt.« »Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet«, sagte der Vater. Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Gamisonkirche und den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreuten Platz vorder Knche war leer. Wann war das denn gewesen, daß er hier gestanden hatte, ein Soldat unter Tausenden, die Hosen lang, den 182 Helm auf dem Kopf, gerüstet zur feldgrauen Predigt, siebzehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott seinen Armeen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen Fußar-tilleriekasernc stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe. Antreten zum Dienstverlesen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst, Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf diesem öden Hof geschehen. Hatte er hier nicht gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie zum dritten und vierten Male feldmarschmäßig abgeführt wurden, miteinander um ein Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück sein werde? Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian ließ das Gitter los und ging weiter an den alten protzigen Grenadier- und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park und die Schule, in der er jahrelang gesessen und gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr und Lafettenschwanz bekannt gemacht wurde. Die Straße, die sich zu der Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlang-gcrannt, nach Hause, zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder Kirche, an der Peripherie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne gewesen. Noch immer lag das große graue Gebäude mit den schiefergedeckten spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt. Die Fenster der Dircktionswohnung waren noch immer mit weißen Gardinen geziert, im Gegensatz zu den vielen schwarzen schmucklosen Fenstern, hinter denen die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer geglaubt, das riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß hier Gardinen an den Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stimmen. Der leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und Klavierspicl. Fabian verschmähte die breite Freitreppe, er kletterte im Seitenflügel die schmalen Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm entgegen. ZVEIUNDZVANZIGSTES KAPITEL l83 »Heinrich«, rief der eine, »du sollst sofort zum Storch kom men und die Hefte holen.« »Der wird's wohl erwarten können«, sagte Heinrich und ging krampfhaft langsam durch die schwankende Glastür. >Der Storchs dachte Fabian, >es hat sich nichts geändea-Dieselben Lehrer waren noch da, die Spitznamen waren geblieben. Nur die Schüler wechselten. Ein Jahrgang nachdem andern wurde erzogen und gebildet, brüh läutete der Hausmeister. Die Jagd begann: Schlafsaal, Waschsaal, Schrankzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch, holten die Butterdosen aus dem Eisschrank und die emaillierten Kai feekannen aus dem Aufzug. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Staubwischen, Klassenzimmer, Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die Jagd ging weiter: Freizeit, Gartendienst, Fußballspiel, Wohnzimmer, Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Abendbrot. Die Jagd ging weiter Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal, Schlafsaal. Die Pn maner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten im Park Zigaretten. Es hatte sich nichts geändert, nur die Jahrgänge wechselten. Fabian stand in der dritten Etage und öffnete die Tur zur Aula. Morgenandacht, Abendandacht, Orgclspiel, Kaisers Geburtstag, Scdanfcicr, Schlacht bei Tannenberg, Fahnen im Turm, Osterzcnsuren, Entlassung der Einberufenen, Eröffnung der Kricgstcilnchmerkurse, immer wieder Orgelspiel und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit hatte sich in der Atmosphäre dieses Raumes festgebissen. Ob es noch so wie früher war, daß man. kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte? Mittwochs gab es zwei und sonnabends drei Stunden Ausgang. Ob man immer noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom Inspektor angehalten wurde, Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpi-picr zu verwandeln? War es denn nicht auch manchmal schon gewesen? Hatte er immer nur die Lüge gespurt, die hier umging, und die bös« heimliche Gewalt, die aus ganzen Kindenzenerationen ge- horsame Staatsbeamte und bornierte Bürger machte? Es war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und Schlafsälen hinauf. In langer Front standen die eisernen Bettstellen. An den Wänden hingen die Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren die Primaner aus dem Park heraufgekommen und hatten sich zu erschrok-kenen Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Kleinen hatten geschwiegen. Ordnung mußte sein. Er trat ans Fenster. Unten im Flußtal schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen. Wie oft war er, wenn die anderen schliefen, hierher geschlichen, hatte hinabgeblickt und das Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag.Wie oft hatte er den Kopf an die Scheiben gepreßt und das Weinen unterdrückt. Es hatte ihm nicht geschadet, das Gefängnis nicht und das unterdrückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn nicht klein gekriegt. Ein paar hatten sich erschossen. Es waren nicht viele gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen hinunter, verließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen und Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Handwagen hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und Papier, das hcrumlag, aufgespießt. Der Park war groß, er senkte sich zu einem kleinen Bach hinab. Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf eine Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und wehrte sich vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zu-rückverwandelte. Die Säle und Zimmer und Bäume und Beete, die ihn umgaben, waren keine Wirklichkeit, sondern Erinnerungen. Hier hatte er seine Kindheit zurückgelassen, und nun fand er sie wieder. Sic sank von den Zweigen und Wänden und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er schritt immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die Kegel standen schußfertig. Fabian sah sich um, er war allein, da nahm er eine Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ die Kugel über die Bahn rollen. Sic 184 ZVEIUNDZVANZIGSTES KAPITEL I85 machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um. »Was soll denn das?« fragte jemand ärgerlich. »Fremde haben hier nichts zu suchen!« Es war der Direktor. Er hatte sich kaum verändert. Sein assyrischer Bart war nur noch grauer geworden. »Entschuldigen Sie«, sagte Fabian, zog den Hut und wollte sich entfernen. »Einen Augenblick«, rief der Direktor. Fabian drehte sich um. »Sind Sie nicht ein ehemaliger Schüler von uns?« fragte der Mann. Dann streckte er die Hand aus. »Natürlich, Jakob Fabian! Herzlich willkommen! Das ist nett. Haben Sie Sehnsucht nach Ihrer alten Schule gehabt?« Sie begrüßten sich. »Eine böse Zeit«, sagte der Direktor. »Eine gottlose Zeit. Die Gerechten müssen viel leiden.« »Wer sind die Gerechten?« fragte Fabian. »Geben Sie mir ihre Adresse.« »Sie sind immer noch der Alte«, meinte der Direktor. »Sie waren immer einer der besten Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es damit gebracht?« »Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewilligen«, sagte Fabian. »Arbeitslos?« fragte der Direktor streng. »Ich hatte mehr von Ihnen erwartet.« Fabian lachte. »Die Gerechten müssen viel leiden«, erklärte er. »Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht«, sagte der Direktor. »Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da.« »Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da«, entgegnete Fabian erregt. »Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann Ihnen verraten, daß die Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier, in diesem Haus, merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?« Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Geh- rocks und sagte: »Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie? Gehen Sie hin und bilden Sic Ihren Charakter, junger Mensch! Wozu haben wir Geschichte getrieben? Wozu haben wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre Persönlichkeit ab!« Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn und lächelte. Dann sagte er: »Sie mit Ihrer abgerundeten Persönlichkeit!« und ging. Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sic kam mit zwei Kindern daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß er sie überhaupt erkannte. »Jakob!« rief sie und wurde rot. »Du hast dich gar nicht verändert. Sagt dem Onkel Guten Tag!« Die Kinder gaben ihm die Hand und machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sic sahen ihrer Mutter ähnlicher als sie sich selber. »Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet«, sagte er. »Wie geht's dir? Wann hast du geheiratet?« »Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus«, erzählte sie. »Da kann man keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht. Vielleicht geht er mit Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt, fahre ich mit den Kindern nach.« Er nickte und betrachtete die beiden kleinen Mädchen. »Damals war es schöner«, sagte sie leise. »Weißt du noch, wie meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt. wie die Zeit vergeht.« Sie seufzte und strich den kleinen Mädchen die Matrosenkragen glatt. »Ehe man recht dazu kommt, sein eigenes Leben zu haben, trägt man schon wieder Verantwortung für seine Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht einmal an die See.« »Das ist natürlich schrecklich«, meinte er. »Ja«, sagte sie, »da wollen wir mal gehen. Auf Wiedersehen, Jakob.« »Auf Wiedersehen.« »Gebt dem Onkel die Hand!« Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die Mutter und zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Weile stehen. Die Vergangenheit bog um die Ecke, mit zwei Kin- ■ 86 fr ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL .87 dem an der Hand, fremd geworden, kaum wiederzuerkennen >Du hast dich gar nicht verändert«, hatte die Vergangenheit zu ihm gesagt. »Wie war's?« fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittagessen, im Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus. »Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch. Und dann habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt.« Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt hatte. »Die Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch damals zwei Tage nicht nach Hause.« »Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtägigen Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich löste meine Aufgabe sehr gewissenhaft und mit wahrhaft sittlichem Ernst.« »Ich war damals in Sorge«, sagte die Mutter. »Aber ich schickte dir doch eine Depesche!« »Depeschen sind etwas Unheimliches«, erklärte sie. »Uber eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu öffnen.« Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. »Wäre es nicht besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?« fragte sie. »Gefällt es dir gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier sind auch die Mädchen netter und nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine Frau.« »Ich weiß noch nicht, was ich mache«, sagte er. »Es kann sein, daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betätigen. Ich will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich keines finde, erfinde ich eines. So geht es nicht weiter.« »Zu meiner Zeit gab es das nicht«, behauptete sie. »Da war Gcldvcrdicncn ein Ziel, und Heiraten und Kinderkriegen.« »Vielleicht gewöhne ich mich daran«, meinte er. »Wie sapt du immer?« Sic hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.« Dreiundzwanzigstes Kapitel Pilsner Hier und Patriotismus Türkisches Biedermeier Fabian wird gratis behandelt Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken konnte, kannte: das ehemalige Schloß, die ehemalige Königliche Oper, die ehemalige Hofkirchc, alles war hier wunderbar und ehemalig. Der Mond rollte ganz langsam von der Spitze des Schloßturms, als gleite er auf einem Draht. Die Terrasse, die sich am Flußufer erstreckte, war mit alten Bäumen und ehrwürdigen Museen bewachsen. Diese Stadt, ihr Leben und ihre Kultur befanden sich im Ruhestand. Das Panorama glich einem teuren Begräbnis. Auf dem Altmarkt traf er Wenzkat. »Nächsten Freitag ist Klassenzusammenkunft im Ratskeller«, erzählte Wenzkat. »Bist du dann noch hier?« »Ich hoffe«, sagte Fabian. »Wenn es irgend geht, erscheine ich.« Er wollte rasch weiter, aber der andere lud ihn ein. Seine Frau sei seit vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen zu Gaßmeicr und tranken Pilsner. Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. »So geht das nicht weiter«, schimpfte er. »Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf.« »Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt«, sagte Fabian. »Es kommt gleich zur Verzweiflung.« »Vielleicht hast du recht«, rief Wenzkat und schlug auf die Tischplatte. »Dann gehen wir eben unter, krcuznochmal!« »Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist«, wandte Fabian ein. »Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?« DB.EIUNDZWANZIGSTES KAPITEL I 89 »So war es immer in der Weltgeschichte«, sagte Wenzkat entschieden und trank sein Glas leer. »Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltgeschichte!« rief Fabian. »Man schämt sich, dergleichen zu lesen, und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern.Warum muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen.« »Du bist kein Patriot«, behauptete Wenzkat. »Und du bist ein Hornochse«, rief Fabian. »Das ist noch viel bedauerlicher.« Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichtshalber das Thema. »Ich habe einen glänzenden Einfall«, meinte Wenzkat. «Wir gehen ein bißchen ins Bordell.« »Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetzlich verboten.« »Freilich«, sagte Wenzkat. »Verboten sind sie, aber es gibt noch welche. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Du wirst dich amüsieren.« »Ich denke gar nicht daran«, erklärte Fabian. »Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das übrige ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau keinen Kummer mache.« Das Haus lag in einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich, als sie davorstanden, daß hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien gefeiert hatten. Das war zwanzig Jahre her. Das Haus sah unverändert aus. Wenn alles gut ging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenzkat läutete. Im Haus näherten sich Schritte. Ein Auge blickte starr durchs Guckloch. Die Tür ging auf. Wenzkat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer. Sic traten ein. Sic gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß murmelte, und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die Haushälterin erschien und sagte: »Guten Tag. Gustav, laßt du dich auch wieder mal bei uns blicken?« »Flasche Sekt!« rief Wenzkat. »Ist die Lilly noch bei euch?« »Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich. Nehmt Platz!« Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes Licht. Die Wände waren getäfelt und mit ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich. »Anscheinend schlechter Geschäftsgang«, sagte Fabian. »Kein Mensch hat Geld«, erkärte Wenzkat. »Außerdem hat sich die Branche überlebt.« Dann traten zwei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten den Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die Szene. Die Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief »Prost!«, und man trank. »Lotte«, sagte Wenzkat, »zieht euch aus!« Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. »Gut«, erklärte sie und ging mit den anderen aus dem Zimmer. F.inc Minute später kamen sie nackt zurück und setzten sich zwischen die Gäste. Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf Lottes Hinterteil. Sic kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Beschwörungen murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden. Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten Frauen am Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. »Ist hier immer so wenig los?« fragte er. »Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht«, sagte die Blondine und spielte nachdenklich mit ihren Brustwarzen. •Da hatte ich an einem Tag achtzehn Männer. Aber sonst ist es zum Sterben langweilig.« »Wie im Kloster«, meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher. »Noch eine Flasche?« fragte die Haushälterin. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt.« »Ach Quatsch!« rief die Blondine. »Gustav hat Geld genug. 190 DREIUNDZVANZIGSTES KAPITEL 191 Außerdem hat er hier Kredit.« Die Haushälterin entfernte sich, um die zweite Flasche zu holen. »Kommst du zu mir rauf?« fragte die Blondine. -Ich bemerkte schon ganz richtig, daß ich kein Geld habt-, sagte er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte. »Es ist zum Verzweifeln«, rief die Blondine. »Bin ich da/u in den Puff gegangen, daß ich wieder zuwachse? Komm, und bring das Geld in den nächsten Tagen vorbei!« Fabian lehnte ab. Wenig später kam Wcnzkat wieder ins Zimmer und placierte sich neben die Blondine. »Jetzt brauchst du dich auch nicht zu mir zu setzen«, sagte sie beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sic hielt mit beiden Händen ihre Sitzfläche. »So ein Schwein!-jammerte sie. »Immer diese Prügelei! Jetzt kann ich wieder drei Tage nicht sitzen.« »Da hast du noch zehn Mark«, sagte Wcnzkat. Sie steckte das Geld in den Halbschuh, und er schlug ihr, während sie sich bückte, wieder hintendrauf. Sic machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen. »Setz dich hin!« befahl er. Dann legte er den Arm um die I lüfte der Blondine und fragte: »Na, wollen wir?« Sie betrachtete ihn prüfend und sagte: »Aber geprügelt wird bei mir nicht. Ich bin für die richtige Machart.« Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran. »Ich sollte auf dich Obacht geben«, meinte Fabian. •Ach, Mensch«, sagte der andere, »wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Dann folgte er der Frau. Die Haushälterin brachte die zweite Flasche und schenkte ein. Lotte schimpfte auf Wcnzkat und zeigte die Striemen. Die kleine Dunkelhaarige zupfte Fabian an der Jacke und flüsterte: »Komm mal mit in mein Zimmer.« Er sah sie an. ihre Augen waren groß und ernst auf ihn gerichtet. »Ich will dir was logen«, erklärte sie ruhig, und dann gingen sie zusammen hinaus-Das Zimmer der kleinen nackten Person war genau so türkisc* und geschmacklos eingerichtet wie der Salon, aus dem sie kirnen. Das Bett war über und über geblümt und mir SpitK" be- sät. Die Bilder an der Wand waren sehr lächerlich. Ein elektrischer Ofen erwärmte die Luft. Das Fenster war offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor. Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn und streichelte sein Gesicht. »Was wolltest du mir denn zeigen?« fragte er. Sie zeigte nichts. Sie sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich den Rücken. »Ich habe doch aber kein Geld«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich zu rühren. Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu ihr. Sie umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin, und ihre Augen hingen ernst an seinem Gesicht. Er wurde verlegen, als habe er eine Jungfer zur Leichtfertigkeit überredet. Sic blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung. Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen Chemikalien in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit. Wcnzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und war müde. Sie tranken die Flasche leer und verabschiedeten sich. Fabian drückte der kleinen Dunkelhaarigen zwei Zweimarkstücke in die Hand. »Ich habe nicht mehr bei mir«, sagte er leise. Sic sah ihn ernst an. Dann gingen alle miteinander zur Treppe. Wcnzkat wurde wieder laut, er war beschwipst. Plötzlich spürte Fabian eine Hand in seiner Tasche und fand seine zwei Zweimarkstücke wieder. »Hältst du das für möglich?« fragte er den anderen. »Ich habe der Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir das Geld wieder zugesteckt.« Wenzkat gähnte laut und sagte: »Wo die Liebe hinfällt. Sie hat es wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du zur Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts erzählst! Und vergiß nicht, Freitagabend im Ratskeller.« Dann ging er. DIEIUNDZVANZir.STKS KAPITEL 192 '93 Fabian machte noch einen Spaziergang. Die Straßen waren kaum besucht. Die Straßenbahnen fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke blieb er stehen und sah auf den Fluß hinunter. Die Bogenlampen spiegelten sich zitternd und waren wie eine Serie kleiner ins Wasser gefallener Monde. Der Fluß war breit. Es mußte im Gebirge geregnet haben. Auf den Hügeln, welche die Stadt umgaben, brannten viele zwinkernde Lichter. Während er hier stand, lag Labude aufgebahrt in einer Grunewaldvilla, und Cornelia lag bei Herrn Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie beide. Fabian stand unter einem anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein Fieber. Hier hatte es Untertemperatur. Vierundzwanzigstes Kapitel Herr Knorr hat Hühneraugen Die Tagespost braucht tüchtige Leute Lernt schwimmen! Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro von Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht. Fabian fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten zu vergeben hätte. »Geh doch mal zu Holzapfel«, meinte Wenzkat. »Der ist in der 'Tagespost«.« »Was treibt er denn dort?« »Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Musikkritiken. Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag abend. Auf Wiedersehen.« Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die Altstadt zu Holzapfel, der sei bei der »Tagespost« Redakteur. Vielleicht könne ihm der behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. »Das wäre sehr schön, mein Junge«, sagte sie. »Geh mit Gott!« Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve, mit einem baumlangen Herrn. Sie sahen einander mißgelaunt an. »Wir kennen uns doch«, meinte der Herr und streckte die Hand hin. Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und Teufel Tantieme. »Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg«, sagte Fabian, »oder ich spuck Ihnen drauf.« Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstgemeinten Rat und lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. »Was hab ich Ihnen denn getan?« fragte er, obwohl er das wußte. »Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine '94 VIEKUNDZVANZIGSTES KAPITEL '95 herunterhauen«, sagte Fabian. »Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behel-fen.« Und damit trat er I lerrn Knurr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen zusammenpreßte und ganz blaß wurde. Die Umstehenden lachten, Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs. I lolzaptel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außerordentlich erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar Bürstenabzüge mit Hieroglyphen. »Setz dich, Jakob«, sagte er. • Ich muß die Vorschau fürs Rennen korrigieren, und einen Sammelbcricht über Klavierkonzerte. Lange nicht gesehen. Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dauernd Bier. Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kinder werden immer älter, die Freundinnen werden immer jünger, wenn das mal keine Lungenentzündung gibt.« Währender so vor sich hinfaselte, korrigierte und trank er ruhig weiter. • Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter, daß ihn seine Frau mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein guter Mechaniker. Brctschneider hat die Apotheke verkauft und sich eine Klitsche angeschafft. Er züchtet rote Grütze und Salzkartoffeln. Jedem für sein Geld, was ihm schmeckt. So,die Klavierkonzerte können warten.« Er klingelte nachdem Boten und schickte die Fahne mit der Rennvorschau in die Setzerei. Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt habe er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er finde hier in der Stadt ein Unterkommen. •Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen auch nicht-, stellte Holzapfel fest. •Vielleicht kann man dich im Feuilleton brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliche».« Er hängte sich ans Telefon und sprach mit dem Direktor. »Geh mal hin zu dem Kerl«, schlug er vor. »Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig.« Fabian bedankte sich, erinnerte den andern an die Klassen-zusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. -Doktor Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?« frag- te der Direktor. »Sic haben Literaturgeschichte studiert? Augenblicklich ist keine Stellung frei. Doch das besagt nichts. Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer brauchen. Arbeiten Sic vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache Sie mit dem Feuilletonchef bekannt. Wenn der Ihre Beiträge ablehnt, haben Sie Pech gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter willkommen.« Er wollte auf die Klingel drücken. »Einen Moment, Herr Direktor«, sagte Fabian. »Ich danke Ihnen für die Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist arbeiten. Man könnte beispielsweise eine Beratungsstelle für Inserenten einrichten, der Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen und eventuell ganze Wcrbcfcldzügc organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und systematische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompagnie mit Großinscrentcn, lohnende Preisausschreiben durchführen. Man könnte für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten.« Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Unsere Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden.« »Aber die Herren sind dafür, daß die Auflagcziffcr wächst!« »Nicht mit Hilfe von Fisimatenten«, erklärte der Direktor. -Immerhin, ich werde mit unserem Inscrtionschcf sprechen. In bescheidener Dosierung sollte man vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die Dauer nicht völlig werden entziehen können. Kommen Sie morgen um elf wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sic ein paar Arbeiten mit. Und Zeugnisse, falls Sic solches Gemüse auf Lager haben.« Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse. »Wenn wir Sic engagieren«, sagte der Direktor, »erwarten Sic keine phantastischen Summen. Zweihunden Mark sind heute sehr viel Geld.« »Für die Angestellten?« fragte Fabian neugierig. »Nein«, sagte der Direktor, -für die Aktionäre.« VIF.RUNDZVANZIGSTES KAPITEL «97 Fabian saß im Cafe Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat, Tag für Tag chloroformieren ? Gehörte er zu Münzer und Konsorten? Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft würde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache. Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der -Tagespost« unterkriechen konnte. Er wollte nicht unterkriechen. Zum Donnerwetter. Er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labudc nehmen, ins Erzgebirge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gcbirgskamm, die Gipfel und die Spiclzcugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwicsen, die Seen und die armen geduckten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsec, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen. Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wiederkehrte, war die Welt einen Schritt vorangekommen, oder zwei Schritte zurück. Wohin sie sich auch dreht«, jede andere Lage war richtiger als die gegenwärtige. Jede andere Situation war für ihn aussichtsreicher, ob es Kampf galt oder Arbeit. Er konnte nicht mehr danebenstehen wie das Kind beim Dreck. Er konnte noch nicht helfen und zupacken, denn wo sollte er zupacken, und mit wem sollte er sich verbünden? Er wollte in die Stille zu Besuch und der Zeit vom Gebirge her zuhören, bis er den Startschuß vernahm, der ihm galt und denen, die ihm glichen. Er trat aus dem Cafe. Aber war das nicht Flucht, was er vorhatte? Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall ein Tatort? Worauf wartete er seit Jahren? Vielleicht auf die Erkenntnis, daß er zum Zuschauer bestimmt und geboren war, nicht, wie er heute noch glaubte, zum Akteur im Welttheater? Er blieb an Geschäften stehen, er sah Kleider, Hüte und Ringe, und er sah doch nichts. An einem Korsettgeschäft kam er wieder zu sich. Das Leben war eine der interessantesten Beschäftigungen, trotz alledem. Die Barockgebäude der Schloßstraße standen noch immer. Die Erbauer und die ersten Mieter waren lange tot. Ein Glück, daß es nicht umgekehrt war. X~Fabian ging über die Brücke. Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hinunter in den Fluß. Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um. Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die Fahrgäste kletterten aus den Wagen und beobachteten, was geschah. Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wieder. Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen. \ 198 VIIRUNOZTANZICSTES KAPITEL «99