WeltifcrFrau STAUNEN UND GENIESSEN Die Erziehungswissen-schafterin Marianne Gronemeyer plädiert dafür, das Vertrauen in das Leben wiederzugewinnen. Das gelingt, so meint sie, wenn wir wieder selbst in die Hand nehmen, was uns angeht: das Essen, Trinken, Gebären, Sterben und Schöpferischsein. >> und gleichzeitig eine Kampfansage an den Tod. „Mir geht es nicht um eine Verliebtheit ins Leiden, auch nicht um ein Zähnezusammenbeißen. Aber wir sind so unbeholfen darin, Schmerz zu ertragen, etwas aushalten zu können, dass wir uns in eine Situation begeben haben, die uns abhängig macht von der Leidvermeidung. Das Leidenkönnen hingegen ist ein Schlüssel zur Freiheit." Auch die Kunst des Unterlassens ist ein solcher Schlüssel. Dieser Kunst wird in unserem von Überbeschäftigt-heit geprägten Alltag bestenfalls Skepsis, wenn nicht sogar Missachtung oder Abwehr entgegengebracht. „Wir trauen dem Unterlassen als gestaltende, als weltprägende Kraft nichts mehr zu, erleben es als Apathie und Trägheit. Wir erleben Askese als Verzicht, dabei ist sie eine Freiheitserfahrung. Wir lösen uns dadurch von der Vorstellung, Dinge oder Ereignisse zu brauchen, kultivieren das ,Danke, nein'." VERTRAUEN WIEDERGEWINNEN Wer schon einmal gefastet hat, kennt ihn, den köstlichen Geschmack der Freiheit, etwas nicht zu brauchen. Und hier schließt sich der Kreis. Vieles von dem, was die moderne Welt an Technik, an Verwaltung und Struktur hervorgebracht hat, um uns unabhängiger zu machen, hat uns abhängig gemacht. Vieles, wodurch wir uns in der Illusion der Sicherheit wiegen, vom Navigationssystem im Auto bis zur Lebensversicherung, verstärkt unsere Unfreiheit und vor allem: Es schwächt unser Vertrauen. Unser Vertrauen auf den Zufall, darauf, dass für uns gesorgt ist, darauf, dass „das Leben so eingerichtet ist, dass es normalerweise irgendwie weitergeht", wie Marianne Gronemeyer es ausdrückt. Im Versuch, alles zu perfektionieren und uns immer unabhängiger von unserer eigenen Kraft und der Unterstützung anderer zu machen, haben wir uns unserer Souveränität beraubt. „Die Fähigkeit, unser Leben selbst zu meistern, für die notwendigsten Dinge selbst Sorge tragen zu können, ist uns in den letzten 30, 40 Jahren in einem erschreckenden Ausmaß abhandengekommen", stellt Gronemeyer fest. „Für unser Essen und Trinken zu sorgen, für Geburt und Sterben, Kultur selbst,machen' zu können, etwas Schöpferisches in die Welt zu bringen: Alles wird uns von Expertinnen, Institutionen und Maschinerien aus der Hand genommen." KEIN EINFACHER WEG „Wo bleibt das Positive?", wird Marianne Gronemeyer bei ihren Vorträgen und Vorlesungen oft gefragt. „Die Menschen suchen nach einem ,easy way out'. Aber den gibt es nicht", ist sie überzeugt. Sie ist leise, die innere Stimme, die uns zur Umkehr ruft. Und selbst wenn wir bereit sind, das Alltagsrauschen für einen Moment zu unterdrücken und die Selbstbeschwichtigungsversuche beiseitezulassen, ist es vom Zuhören zum Aufhören noch ein großer, ein schwieriger Schritt. Wir leben nicht im luftleeren Raum, und auch beim besten Willen ist es nicht einfach, sich vom Strudel der kollektiven Raserei und Zeitersparnisgier nicht mitrei- 62 0412013