Gottfried Spies Warum die Menschen sprechen lernten Interessantes aus Geschichte und Gegenwart der Sprache Der Kinderbuchverlag Berlin zen Welt gibt es Millionen von Dolmetschern und Übersetzern. Muß das so bleiben? Kann der Mensch, der beinahe für jede Tätigkeit Maschinen erfindet, nicht auch Übersetzungsmaschinen bauen, um ihnen diese Arbeit zu übertragen? Von diesen und anderen Fragen des Umgangs mit der Sprache soll unser Buch handeln. Sprache der Vorfahren Beginnen wir mit einer Frage, die nur scheinbar nicht zur Sache gehört. Was sind die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren? Es fällt uns sicher nicht leicht, alle wesentlichen Unterschiede ohne gründliches Nachdenken aufzuzählen. Dennoch können wir mühelos entscheiden, ob ein Lebewesen, das wir vor uns sehen, Pflanze oder Tier ist. Wir erkennen viele Pflanzen an der grünen Farbe. Trotzdem halten wir keine Heuschrecke für eine Pflanze, nur weil sie grün aussieht. Und Pilze zählen wir zu den Pflanzen, obwohl sie meist nicht grün sind. Ja sogar bei Fossilien, den Überresten von Lebewesen aus früheren Zeiten, die wir im Naturkundemuseum betrachten können, fällt uns die Entscheidung Pflanze oder Tier leicht. Schwieriger ist die Frage bei den Mikroorganismen zu beantworten, den Bakterien, Viren und anderen winzigen Lebewesen, die nur unter dem Mikroskop sichtbar sind. Denn hier gibt es Übergangsformen. Und wie ist es mit der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch? Obwohl beide - vor allem die Säugetiere und der Mensch - vieles miteinander gemeinsam haben, kennen wir wichtige Unterschiede. Nur der Mensch geht auf zwei Beinen, arbeitet, kann denken und sprechen. Diese Einheit von Merkmalen allein genügt, um Mensch und Menschenaffen auseinanderzuhalten. Die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen ihnen ist eben nur eine äußerliche. Aber auch die Unterscheidung von Mensch und Menschenaffen wird schwierig, wenn wir sie für eine Zeit beantworten wollen, die beispielsweise eine Million Jahre zurückliegt. Auf allen Kontinenten unserer Erde wurden seit dem vorigen Jahrhundert Knochenreste von menschenähnlichen Lebewesen gefunden, deren Alter zum Teil auf mehrere hunderttausend Jahre geschätzt wird. Ob es die Überreste von Menschenaffen, Affenmenschen oder Menschen waren, die man da entdeckt hatte, das wagten in vielen Fällen zunächst nicht einmal die Fachleute zu entscheiden. Langwierige wissenschaftliche Untersuchungen und Vergleiche waren nötig. Schädelknochen und Beckenknochen fanden dabei das größte Interesse der Forscher. Warum? Viele dieser Schädelknochen ließen deutlich auf ein größeres Hirnvolumen schließen, als es die heutigen Menschenaffen besitzen. Auch wenn die Schädel mit der niedrigen, fliehenden Stirn, den ausgeprägten Augenwülsten und dem vorspringenden Gebiß eher an Affenschädel erinnerten, wurde schließlich klar, daß es sich um Reste menschlicher Wesen handelte. Vor allem aber die Beckenknochen sahen ganz anders aus als bei Affen und verrieten, daß 10 11 diese Urmenschen aufrecht gegangen waren. Ihre Hände dienten also nicht mehr der Fortbewegung wie bei den Affen, sondern konnten zur Arbeit benutzt werden. Und tatsächlich fand man in der Nähe von Skelettresten der frühesten „Vorfahren" des Menschen auch Spuren der Arbeit: Meißel, Dolche, Keulen sowie andere Geräte, die aus Tierknochen gefertigt worden waren, dazu Faustkeile, Hämmer und ähnliches mehr aus Stein. Je geringer das Alter dieser Knochenfunde, um so ähnlicher waren die Schädel dem des heutigen Menschen und um so vielseitiger die Werkzeuge in der Umgebung der Fundstellen. Zwei Wesenszüge des Menschen - aufrechter Gang und Arbeit - konnten von den Wissenschaftlern nachgewiesen werden. Bedeuten sie aber auch, daß die Urmenschen und ihre Nachkommen denken und sprechen konnten? Die Werkzeuge des Menschen sagen viel über seine geistigen Fähigkeiten aus. Es gibt zwar auch einige Tierarten, die Hilfsmittel benutzen, um sich Nahrung zu beschaffen. Affen schlagen manchmal mit Stöcken die Früchte vom Baum; Seeotter brechen oftmals mit Steinen Muscheln auf. Aber: diese Tiere nehmen als Werkzeug, was sie gerade finden, und werfen es nach Gebrauch weg. Beim nächsten Mal suchen sie sich ein neues. Ganz anders der Mensch. Er bearbeitet seine Werkzeuge so lange, bis sie für die vorgesehenen Zwecke am geeignetsten sind. Ein Werkzeuge des Menschen - Zeugnisse planvoller gemeinsamer Arbeit und zugleich Beweise für die Entwicklung von Sprache und Denken. Das Tier verwendet bestenfalls naturgegebene Gegenstände als Hilfsmittel 12 Teil seiner Werkzeuge besteht aus verschiedenen Materialien. Ein Stein und ein Stock, zusammengebunden mit einer Tiersehne, werden zu einem Steinhammer. Aus einer hölzernen Stange und einem zugespitzten Stein fertigt sich der Mensch einen Speer. Und er wirft seine Werkzeuge nach Gebrauch nicht weg. Das alles bedeutet mehr, als es auf den ersten Blick scheint. 1. Die Bearbeitung eines Steines zu einem Faustkeil mag vor mehreren hunderttausend Jahren Wochen oder gar Monate gedauert haben. Eine so mühselige Arbeit verrichtet der Mensch nur dann, wenn er sich daran erinnert, wie oft er ein solches Gerät in der Vergangenheit benötigt hat, und wenn er weiß, daß er es auch in Zukunft häufig gebrauchen wird. Das heißt, er lebt nicht nur in der Gegenwart, wie die Tiere, sondern erinnert sich an die Vergangenheit und denkt zugleich an die Zukunft. 2. Von dem, was der Mensch damals in der Natur fand, ließ sich Stein wohl am schwersten bearbeiten. Dafür hält das Werkzeug aus Stein besonders lange und ist wegen seiner Härte für viele Arbeiten geeignet. Bevor der Mensch sich die Mühe machte, Steinwerkzeuge anzufertigen, mußte er verschiedene Ma- « terialien ausprobiert haben. Auch sind spezielle Methoden nötig, um beispielsweise ein Loch in einen Stein zu bohren oder ihn so zu bearbeiten, daß er eine Art Klinge oder Spitze bekommt. Viel Erfahrung mußte der Mensch also gesammelt haben, ehe dieser Fortschritt erreicht war. Mit der Herstellung und dem Gebrauch der Werkzeuge lernte er die Eigenschaften der Dinge ständig besser kennen. So wurde sein Wissen größer und seine Hand immer geschickter. 3. Die Leistungen der Menschen der Steinzeit können nicht das Werk eines einzelnen gewesen sein. Während einer beispielsweise ein Steinbeil oder einen Faustkeil anfertigte, versorgten ihn die anderen Mitglieder der Horde mit Nahrung. Über solche Arbeitsteilung muß man sich verständigen. Auch die Jagd auf den großen Höhlenbären oder das Mammut erforderte die gut geplante und organisierte Zusammenarbeit. Je gründlicher wir über die Lebensweise der Steinzeitmenschen nachdenken, um so klarer wird uns, daß Arbeit ohne Denken und Sprache schon in diesem frühen Entwicklungsstadium der Menschheit nicht möglich war. Friedrich Engels schreibt darüber in seinem berühmten Buch „Dialektik der Natur": „Die mit der Ausbildung der Hand, mit der Arbeit, beginnende Herrschaft über die Natur erweiterte bei jedem neuen Fortschritt den Gesichtskreis des Menschen. An den Naturgegenständen entdeckte er fortwährend neue, bisher unbekannte Eigenschaften. Andererseits trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam aber sicher um, durch Modulation für stets gesteigerte Modulation, und die Or- 14 15 gane des Mundes lernten allmählich einen artikulierten Buchstaben nach dem andern aussprechen." So stehen alle Merkmale, die das Wesen des Menschen ausmachen, miteinander in engem Zusammenhang. Aus der einfachen Lautsprache der Menschen, die vor 600000 Jahren in Horden lebten, muß sich nach unseren heutigen Erkenntnissen im Verlaufe von weiteren 500000 Jahren ganz allmählich eine Sprache mit richtigen Wörtern, die aus mehreren Lauten gebildet wurden, und einfachsten Sätzen entwickelt haben. Von diesen Wörtern kennen wir kein einziges, denn die Menschen der Steinzeit konnten nicht schreiben. Bis zur Erfindung der Schrift brauchte die Menschheit von da an noch einen langen Zeitraum. Die frühesten uns überlieferten Schriftzeugnisse reichen nur bis ins 3. Jahrtausend v.u.Z. zurück. Wir können aber mit Sicherheit sagen, daß im Wortschatz unserer frühen Vorfahren nur das zu finden war, was in ihrem Denken und Handeln wichtig war. Dazu gehörten die Tiere, die sie jagten, die Früchte, die sie sammelten, das Feuer, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände. Sicher hatten sie auch Wörter für Erde und Wasser, Tag und Nacht, Sonne und Mond, Blitz und Donner, Götter und Geister und vieles andere mehr. Um ihr Zusammenleben organisieren zu können, mußten sie mit ihrer Sprache auch so etwas wie eine Aufforderung, einen Befehl ausdrücken können, Frühe Schriftzeugnisse der Menschheit; oben: chinesisches Waschgefäß aus Bronze, etwa 700 v.u.Z., mit Inschrift (links); unten: ägyptischer Jenseitsführer (Ausschnitt), etwa 1200 v.u.Z. 16 eine Warnung vor Gefahr. Und es muß Wörter gegeben haben für die wichtigsten Tätigkeiten in ihrem Leben. Das bedeutet aber nicht etwa, sie hätten in ihrer Sprache schon zwischen Substantiven, Verben und anderen „Wortarten" unterschieden. Wie wir später sehen werden, haben die einzelnen Sprachen sehr verschiedene Mittel entwickelt, gleiche Gedanken auszudrücken, gleiche Dinge zu beschreiben. Wir dürfen daher bei solchen Überlegungen nicht zu sehr von unserer eigenen, heutigen Sprache ausgehen. Das gilt auch für die Bedeutung der Wörter. Fleisch beispielsweise ist von jeher für die Menschen ein unentbehrliches Nahrungsmittel. Dennoch können wir daraus nicht schließen, sie hätten in ihrer Wortsprache das Wort Fleisch gekannt. Sie jagten und aßen Bär, Antilope, Mammut und viele andere Tiere. Dafür hatten sie sicherlich Wörter. Das Wort Fleisch dagegen ist eine Verallgemeinerung, eine Abstraktion. Bevor ein Wort mit einer solchen allgemeinen Bedeutung in der Sprache vorkommen kann, muß dem Menschen bewußt geworden sein, daß das Fleisch von Bär, Antilope und Mammut etwas, seinem Wesen nach, Gemeinsames hat. Ähnlich ist es mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Eiweiß und der Unterscheidung zwischen tierischem und pflanzlichem Eiweiß. Erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts, als Ergebnis wissenschaftlicher Eine große und schon vor rund zweieinhalbtausend Jahren weit verbreitete „Familie": die indoeuropäischen Sprachen 18 Forschungen, gebrauchen wir das Wort in dieser allgemeinen Bedeutung, obwohl sich die Menschheit seit ihrem Ursprung von tierischem und pflanzlichem Eiweiß ernährt. Vor ungefähr 20000 Jahren, in der Jungsteinzeit, lebten auf allen Kontinenten unserer Erde schon Menschen. Reste dieser sogenannten Jetztzeitmenschen wurden in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, China und in anderen Ländern gefunden. Sprach der Pekingmensch schon chinesisch, der Neandertaler deutsch, der Cro-Magnon-Mensch französisch? (Die Bezeichnungen gehen auf die Orte der Knochenfunde zurück.) Oder hatten unsere Vorfahren auf den verschiedenen Kontinenten am Anfang eine gemeinsame Sprache, eine Ursprache der Menschheit, aus der sich alle späteren Sprachen irgendwann und irgendwie entwickelt haben? Die erste Frage können wir mit Nein beantworten, denn die meisten heutigen europäischen Sprachen sind erst im Verlaufe der letzten Jahrtausende entstanden. Überall wo sich die in Europa lebenden slawischen, germanischen und anderen Stämme zusammenschlossen, wo sich Staaten und Nationen bildeten, entwickelten sich allmählich aus den früheren Stammessprachen die europäischen Nationalsprachen. Die Frage nach einer gemeinsamen Ursprache des Menschengeschlechts muß ebenfalls mit Nein beantwortet werden. Funde sprechen dafür, daß sich die Menschheit in den verschiedenen Gebieten der Erde mehr oder weniger gleichzeitig und unabhängig voneinander entwickelt hat. Und wo Menschen zusammen lebten, bildete sich auch eine Art gemeinsamer Sprache heraus. Doch die Suche nach Nahrung zwang unsere Vorfahren immer wieder, sich zu trennen und in kleinen Gruppen ihren Existenzkampf fortzuführen. Noch bevor ihre Sprache über das Stadium einfacher Laute hinausgekommen war, hatten sie sich schon Tausende Male getrennt. So müssen sich durch diese Trennungen an den verschiedenen Orten der Erde unterschiedliche Dialekte und Sprachen entwickelt haben. Später, als die Menschen seßhaft wurden, größere Gemeinschaften bildeten und große zusammenhängende Landstriche besiedelten, bildeten sich schließlich auch zusammenhängende größere Sprachgebiete. Auf der Karte der wichtigsten Sprachfamilien um 500 v. u. Z. erkennen wir zum Beispiel das Verbreitungsgebiet der indoeuropäischen Sprachen. In diesem ausgedehnten Gebiet lebten viele slawische, germanische, keltische, arische und andere Stämme. Eine indoeuropäische Ursprache, aus der sich die Sprachen dieser unserer Sprachfamilie entwickelt haben, konnte die Wissenschaft bisher nicht nachweisen. Dennoch haben die Flexionsendungen, Pronomen, Numerale und andere Wörter der indoeuropäischen Sprachen eine große Ähnlichkeit, die kein Zufall sein kann. Wir müssen daher annehmen, daß sich durch Stammes- und Völkerwanderungen Sprachen verbreitet haben, die sich schon so weit herausgebildet hatten, daß noch nach Jahrtausenden eigener Entwicklung die Merkmale einer gemeinsamen Vergangenheit erhalten geblieben sind. Ähnliches hat sich in anderen Gebieten zugetra- 20 21 gen. Die Verbreitung von Sprachen auf der Erde hängt ebenso wie ihre weitere Entwicklung von den vielen geschichtlichen Veränderungen ab. Einige Beispiele dafür finden wir im dritten Kapitel dieses Buches. Doch bevor wir uns mit den Unterschieden der Sprachen beschäftigen, wollen wir uns am Beispiel der Verständigung im Tierreich deutlich machen, was Sprache bedeutet und weshalb bei Tieren von Sprache genaugenommen nicht die Rede sein kann, auch wenn wir der Einfachheit wegen oft das Wort „Tiersprache" benutzen. Sprachen der Tiere Auch Tiere verständigen sich untereinander. Wir können uns bei Spaziergängen in der freien Natur davon überzeugen oder bei einem Besuch im Zoo. Ihre Lautsignale sind so deutlich voneinander verschieden, daß wir die Tierarten daran erkennen können und sogar- besondere Bezeichnungen dafür haben: das Blöken der Schafe, das Zirpen der Grillen, das Bellen der Hunde, das Gackern der Hühner und so weiter. Bei den Haustieren, die wir genauer beobachten, fällt uns noch mehr auf. Sie geben ganz bestimmte Laute in ganz bestimmten Situationen von sich. Begrüßt der Hund seinen Herrn, bellt er anders, als wenn ein Fremder das Grundstück betreten will. Kommt ihm ein Fremder zu nahe, knurrt der Hund, er jault, wenn er getreten wird, bei wieder anderen Vorkommnissen winselt er. Unsere Erfahrung im Umgang mit Haustieren zeigt uns, daß die gleichen Laute in gleichen Situationen immer wieder hervorgebracht werden. Tiere verständigen sich mit Lauten, die offensichtlich einen bestimmten Sinn haben. Verfügen sie also über Sprachen wie unsere menschlichen Sprachen? Hier müssen wir wieder sagen, die Ähnlichkeit ist nur eine äußerliche. Ihrem Wesen nach ist das Mittel ihrer Verständigung keine Sprache. Worin liegen die wesentlichen Unterschiede? Im ersten Kapitel haben wir gelesen, daß Sprache, Arbeit und Denken zusammengehören. So eng, daß eins ohne das andere nicht existieren kann. Damit haben wir die Antwort auf unsere Frage. Weil die Tiere nicht arbeiten und nicht denken, besitzen sie auch keine Sprache. Ihr Verhalten ist ihnen zum großen Teil durch Instinkte vorgeschrieben, ein inneres Programm, dem sie folgen. Arbeit leistet nur der Mensch. Er wählt aus verschiedenen Möglichkeiten aus, er plant und durchdenkt vorher, was er tun will. Er kennt das Ziel seiner Tätigkeit und den Plan, wie er es erreicht. So kann er sich Werkzeuge schaffen, die ihm die Arbeit erleichtern. Er verbessert sie ständig, weil er aus seinen Erfahrungen lernt, und er gibt seine Erfahrungen mit dem Mittel der Sprache an seine Nachkommen weiter. Daß es so ist, können wir an uns selbst und anderen Menschen überall im täglichen Leben beobachten. 22 23 Biene und Baumeister Wie die Biene die Waben baut, verschiedene Vogelarten ihre Nester, die Spinne ihr Netz, der Maulwurf seine unterirdischen Gänge, das und andere Tätigkeiten, die ein Tier zur Erhaltung der eigenen Existenz und der Art verrichtet, braucht es nicht vorher von anderen Tieren zu lernen. Diese Fähigkeiten sind durch Vererbung als Instinkt in ihm gespeichert. Auch das, was die verschiedenen Tierarten im Laufe ihrer Entwicklung durch Anpassung an neue Umweltbedingungen dazuleraen, wird für ihre Nachkommen Teil des automatischen inneren Programms. Während der Mensch plant, konstruiert, mit anderen Menschen darüber diskutiert, den Plan vielleicht ändert, Absprachen über die Arbeitsteilung trifft und schließlich den Plan, der in seinem Kopf entstanden ist, in die Wirklichkeit umsetzt, folgt das Tier dem inneren Zwang der Natur. Karl Marx, der vor mehr als einhundert Jahren auch über diese Fragen nachgedacht hat, drückte den Unterschied so aus: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut." Der Mensch als Baumeister: vielfältige schöpferische Gestaltung seiner Umwelt. Die Biene folgt dem Zwang der Natur 14. Jahrhundert 18. Jahrhundert 20. Jahrhundert 24 1 Das Herz auf der Zunge? Über die Verständigung der Tiere muß noch viel geforscht werden; bis jetzt ist bei den meisten Tierarten nur ein Anfang gemacht. Warum ist das so schwierig, obwohl wir mit manchen Tieren so eng zusammen leben? Wir haben die Schrift, mit ihr schreiben wir nicht nur unsere Mitteilungen, sondern auch Wörterbücher und Grammatiken. Das heißt, mit unserer Sprache beschreiben wir zugleich .die Sprache, aus welchen Wörtern sich eine Mitteilung zusammensetzt, was die Wörter und grammatischen Formen bedeuten, wie sich aus der Bedeutung von Wörtern die Bedeutung von Sätzen ergibt. Hätten die Tiere eine Sprache wie wir, die sie bewußt verwenden, dann hätten sie auch die Möglichkeit, ihre Sprache zu beschreiben, und es wäre für uns ein leichtes, diese kennenzulernen. Warum ist es nicht wenigstens möglich, daß uns ein Tier, sagen wir ein Vogel, der Reihe nach alle „Wörter" oder „Sätze" seiner „Sprache" vorsingt, damit wir sie aufzeichnen können? Einfach deshalb, weil bei den Tieren im Gegensatz zum Menschen kein selbständiges Signalsystem vorhanden ist. Bei ihnen ist jeder Laut an eine bestimmte Situation gebunden. Der Vogel ruft nicht „Gefahr! Bringt euch in Sicherheit!", wenn nicht tatsächlich Gefahr besteht. Ein Kohlmeisenmännchen könnte uns nicht mitteilen: „Wenn ich um ein Weibchen werbe, dann mache ich immer ,Dididäh - dididäh'"; es äußert diese Laute nur, wenn der entsprechende Zustand durch innere biologische Notwendigkeit wirklich er- reicht ist, nicht früher und nicht später. Zwar vermag der Papagei Wörter unserer Sprache zu lernen (es gibt übrigens mehr Vögel, die artfremde Laute nachahmen können) und sie zu jeder beliebigen Zeit von sich zu geben, aber das sind keine Wörter seiner eigenen Sprache und werden es niemals sein, sooft er sie auch wiederholt. Subjekt - Prädikat - Objekt? Hat die „Tiersprache" eine Grammatik? Man könnte sagen ja, doch das wäre unzulässig vereinfacht. Ein Vogel kann die verschiedenen Laute, die er hervorbringt, in verschiedener Reihenfolge kombinieren. Was dabei herauskommt, nennen die Vogelkundler eine Strophe. Der sowjetische Forscher Panow berichtet von einer Expedition nach Afrika, bei der der „Gesang" der Nachtigallen erforscht wurde. Das Ergebnis der Tonbandaufzeichnungen überraschte sogar die Fachleute. Eine Nachtigall hatte in 40 Minuten 240 verschiedene Strophen gezwitschert, die aus insgesamt 256 verschiedenen Lauten zusammengesetzt waren. Trennung über viele Generationen scheint auch bei Tieren der gleichen Art zu gewissen Veränderungen des Signalsystems zu führen, zur Herausbildung von „Dialekten". So etwas wurde bei Vögeln beobachtet. Also nicht alles angeboren? Die Signalsysteme in der Tierwelt sind jedenfalls viel komplizierter und reichhaltiger, als der Mensch zunächst annahm. Und auch im Tierreich gilt: Gemeinsame Aufgaben und ihre Bewältigung durch Arbeitstei- 26 27 hing - wie beispielsweise bei Ameisen oder Bienen - führen zur Entwicklung solcher Signalsysteme. Auch Tieren ist nicht alles angeboren. Tiere lernen erstaunlich viel. Sie lernen manches durch eigene Erfahrung, anderes dadurch, daß ihre Eltern es ihnen vormachen und sie es nachahmen. Was Tiereltern ihren Kindern an Erfahrungen weitergeben, vermitteln sie ihnen jedenfalls nicht durch Erzählungen, Berichte, mündliche Erklärungen. Das Signalsystem der Tiere kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Lautäußerungen sind nur auf die Gegenwart bezogen. Keine Tiermutter wird zu ihrem Kind sagen: „Mein Vater hat mich immer ermahnt, diese Pflanzen zu meiden" oder „Dein Großvater ist einem Vogelfänger auf den Leim gegangen." Ein Kuckuck, im fremden Nest geschlüpft und aufgewachsen, würde die „Sprache" seiner „Zieheltern" lernen und nie „Kuckuck" rufen, wenn die „Sprache" den Tieren nicht angeboren wäre. Babylon der Tiere? Wenn jede Tierart ihr eigenes Signalsystem hat, dann sind das etwa eine Million verschiedene „Sprachen", rund 250mal so viele Signalsysteme, wie die Menschheit Sprachen spricht. Dieses „Sprachgewirr" ist für die Tiere aber kein Problem, weil zwischen den Arten, Familien, Ordnungen und so weiter keine gemeinsamen Ziele und Aufgaben bestehen, für die eine Verständigung nötig wäre. Über den Kampf gegen gemeinsame Feinde, die Nahrungssuche, die Fortpflanzung, die Brutpflege und über andere Aufgaben verständigen sich nur Tiere derselben Art. Wenn auch die Antilope den Löwen an seiner Stimme erkennt, für sie ist diese nur ein Signal, daß ihr Todfeind in der Nähe ist. Jede wirkliche Verständigung zwischen ihr und dem Löwen ist nicht nur unmöglich, sie wäre auch zwecklos. Der Mensch verdankt seine Leistungen vor allem der Zusammenarbeit. Überall da, wo er, durch gemeinsame Ziele verbunden, zusammen lebt und arbeitet, entwickelt er eine gemeinsame Sprache, findet er Möglichkeiten der Verständigung. Wenn Menschen dagegen längere Zeit getrennt sind, bilden sich Unterschiede heraus. So sehr hängt die gemeinsame Sprache vom gemeinsamen gesellschaftlichen Leben ab. Während jede Tierart eigentlich nur eine „Sprache" hat, sprechen die Menschen, die doch - zoologisch betrachtet - auch nur zu einer Art gehören, annähernd 4000 verschiedene Sprachen, obwohl gerade für sie eine gemeinsame Sprache wichtig wäre. Warum studiert der Mensch die Signalsysteme der Tiere? Natürlich ist es interessant und wichtig, zu erfahren, wie und worüber sich Tiere verständigen. Der Beweis, daß diese Signalsysteme etwas ganz anderes sind als die Sprachen der Menschen, ist längst erbracht. Der Mensch sucht Antworten auf eine Reihe von Fragen, die mit der Bedeutung der einzelnen Tierarten für unser Leben zusammenhängen. Zum Beispiel werden die Fische der Weltmeere immer wichtiger für unsere Ernährung. Kann man 28 29 sie vielleicht mit Schallwellen bestimmter Frequenzen anlocken und so die Fangerträge erhöhen? Oder: Seit Jahrzehnten forscht man nach wirkungsvollen Methoden, die riesigen Heuschreckenschwärme zu bekämpfen, die auf dem afrikanischen Kontinent in jedem Jahr unvorstellbaren Schaden in landwirtschaftlichen Kulturen anrichten. Wäre es nicht möglich, solche Schwärme durch bestimmte Töne, die in der Heuschrecken„sprache" soviel bedeuten wie „höchste Gefahr", einfach zu verjagen, indem man sich transportabler Lautsprecheranlagen bedient? Ist die Stimme des Menschen in der Lage, Tierlaute so nachzuahmen, daß ein Tier sie für echt hält und davon getäuscht wird? Es gibt Laute, die der Mensch täuschend echt nachahmen kann, wenn er die Tiere sorgfältig beobachtet und lange genug übt; viele Tiere verständigen sich nämlich mit Schallfrequenzen, die zum Umfang der menschlichen Stimme gehören. Häufiger werden aber in modernen Versuchen Tonbandaufnahmen von Tierlauten mit dem Lautsprecher wiedergegeben und die Reaktionen der Tiere darauf beobachtet. Der Jäger benutzt verschiedene kleine Pfeifen, die so konstruiert sind, daß er mit ihnen beispielsweise den Klagelaut eines kranken Hasen nachahmen kann. Die „Hasenklage" lockt den Fuchs, der eine sichere Beute in der Nähe glaubt, aus dem Bau. Die Erforschung der Tiersprachen dient natürlich nicht nur dem Zweck, Tiere besser fangen oder vernichten zu können. Die Natur ist für den Menschen eine unerschöpfliche Quelle der Anregung. Wissen- schaftler analysieren Baupläne der Natur an Pflanzen und Tieren, um die eigenen Bauwerke zu verbessern. Sie untersuchen die Bienenwabe, den inneren Aufbau eines Grashalms, den stromlinienförmigen Körperbau von Meerestieren. Unter den Signalsystemen der Tierwelt gibt es viele unterschiedliche Prinzipien der Weitergabe und Aufnahme von Informationen: Formen der Körperbewegung wie bei den Bienen, Berührungen wie bei den Ameisen, Farbveränderungen, Geruchssignale, bioelektrische Signale. Für den Menschen können diese Prinzipien oder das Wissen über sie praktische Bedeutung gewinnen - so wie die besonderen Eigenschaften der Halbleiter in unseren Rechenautomaten für die Speicherung und Verarbeitung von Signalen oder die Eigenschaften von Flüssigkristallen für die Zeitangabe in Digitaluhren. Gemeinsames und Verschiedenes Alle Sprachen haben eines gemeinsam: Sie machen das Zusammenleben der Menschen, die Entwicklung des Denkens, die Speicherung und Weitergabe des Wissens erst möglich. In allen Sprachen wird diese Aufgabe im Prinzip mit den gleichen Mitteln gelöst. Aus einer begrenzten Anzahl von Lauten, die allein nichts bedeuten, sozusagen dem Rohmaterial, werden Wörter gebildet, mit denen die Menschen 30 31 Bedeutungen verbinden. Aus Lauten wie U und sch bilden wir das Wort Tisch. Und wenn wir den Laut t durch den Laut / ersetzen, wird daraus Fisch, ein Wort mit völlig anderer Bedeutung. Aus den Wörtern wiederum werden Sätze gebildet. Das geschieht in jeder Sprache nach Regeln, die wir Grammatik nennen. In allen Sprachen gibt es zum Beispiel eine Unterscheidung zwischen Feststellungen, Fragen und Aufforderungen. Weil alle Sprachen im Prinzip die gleichen Aufgaben im Zusammenleben der Menschen haben, deshalb haben sie diese und viele andere Eigenschaften gemeinsam. Und doch ist es erstaunlich, wie groß die Unterschiede zwischen ihnen sind. Die Laute Das beginnt schon mit den Lauten. Die Spreehor-gane sind bei allen Menschen gleich. So ist es auch kein Wunder, daß alle Sprachen ihre Wörter aus einer begrenzten Anzahl von gleichen oder ähnlichen Lauten bilden, Vokalen und Konsonanten. Eine Sprache, die nur aus Vokalen oder nur aus Konsonanten besteht, gibt es nicht. Aber in keiner Sprache finden wir alle diese Laute vor. Das th, das im Englischen zu den häufigsten Konsonanten gehört, gibt es in unserer Sprache nicht. Ähnlich geht es uns mit dem j in Journal, Journalist, jonglieren, Jargon. Wir haben es zwar in unsere Sprache übernommen, aber wir schreiben es mit einem Buchstaben, der in den Wörtern unserer Muttersprache ganz anders gesprochen wird. Es bleibt ein Laut, der nur in Fremdwörtern vorkommt. Das /, für uns unentbehrlich in Tausenden von Wörtern, können Japaner nur mit größter Mühe aussprechen, weil ihre Sprache es nicht enthält. In den Wörtern der chinesischen Sprache dagegen ist das / sehr häufig. Obwohl die chinesische Sprache und Kultur jahrhundertelang eine große Bedeutung für Japan gehabt haben und viele Lehnwörter aus dem Chinesischen ins Japanische übernommen wurden, haben sich die Japaner an das / nicht gewöhnt, sondern meistens ein r daraus gemacht. Aus lai (kommen) machten sie rai, aus lin (Phosphor) rin und so weiter. Noch deutlicher werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen, wenn wir von den einzelnen Lauten zu den Lautkombinationen übergehen. Wir kennen Laute der russischen Sprache, die auszusprechen uns schwerfällt, weil sie im Deutschen nicht vorkommen, wie beispielsweise das bi. Und selbst Laute, die an unsere Sprache erinnern, klingen in der Fremdsprache oft anders. Stellen wir uns vor, wir hören Sätze einer fremden Sprache, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Was tun wir? Wir versuchen zu erraten, welche Sprache das sein könnte. Und häufig gelingt uns das auch. Nachdem wir in der Tschechoslowakei oder in Polen einmal Urlaub gemacht haben, erkennen wir die Sprachen dieser Länder wieder. Ohne daß es uns richtig bewußt geworden ist, haben wir das Klangbild der fremden Sprache erfaßt. Und wenn wir sehr aufmerksam gehört haben, gelingt es uns sogar, zum Scherz Phantasiewörter und -sätze einer solchen Sprache zu bilden, die dieses Klangbild nachahmen. 32 33 Woran liegt das? Am Akzent und an typischen Lauten und Lautkombinationen der jeweiligen Fremdsprache. Da gibt es Sprachen, in deren Wörtern sich Konsonanten und Vokale ganz regelmäßig abwechseln. Im Japanischen ist das bei den meisten Wörtern so. Wir erinnern uns an Namen wie Hiroshima, Nagasaki, Yokohama. Oder es ist uns aufgefallen, daß chinesische Silben besonders häufig auf -ing, -ang, -ung und so weiter enden. Einige slawische Sprachen wiederum zeichnen sich durch Häufungen von Zischlauten aus. Man kann feststellen, welche Lautverbindungen eine bestimmte Sprache aufweist. Lautverbindungen, die in der einen Sprache sehr häufig sind, treten in einer anderen überhaupt nicht auf. Zum Beispiel kommt die Verbindung von t und j zu tj bei uns höchstens umgangssprachlich in dem Wort tja vor. Im Chinesischen ist eine solche Lautverbindung sehr oft anzutreffen. Konsonantenverbindungen wie dsch und tsch, die uns beim Sprechen keine Schwierigkeiten bereiten, erscheinen im Deutschen zwar in zusammengesetzten Wörtern wie Mondschein, Kundschafter und so weiter, aber nie am Wortanfang, nie in einer Silbe. Da treffen wir sie nur in Fremdwörtern oder ausländischen Namen: Dschungel, Dschunke, Tschaikowski, Tschechoslowakei. Dagegen sind diese Lautverbindungen nicht allein Die Bildung der Sprachlaute: ein komplizierter Vorgang, der hier nur angedeutet ist. — 1 Lippen 2 Zähne 3 Zahndamm 4 vorderer harter Gaumen 5 mittlerer Gaumen 6 hinterer weicher Gaumen 7 Zäpfchen 8 Zungenspitze 9 Zungenrücken 10 Stimmlippen im Kehlkopf 34 im Russischen und Tschechischen sehr häufig, sondern auch im Englischen und in anderen Sprachen. • Auch die Art, wie die Wörter betont werden (welche Silbe bei mehrsilbigen Wörtern), beeinflußt das Klangbild, die Melodie einer Sprache und prägt sich uns ein. Manche Sprachen haben hierfür ganz feste Regeln. Im Französischen wird grundsätzlich die letzte Silbe betont, im Polnischen die vorletzte, im Makedonischen die drittletzte Silbe. Und im Japanischen werden fast alle Silben gleichmäßig betont. So haben die einzelnen Sprachen alle ihr eigenes Lautmuster entwickelt. Wer die Sprachen vergleicht, kann feststellen, daß manche von ihnen, die sich in Lauten und Lautkombinationen ähnlich sind, häufig auch andere gemeinsame Merkmale aufweisen, daß sie zu einer gemeinsamen Sprachgruppe oder Sprachfamilie gehören. Um jedoch das behaupten zu können, muß man erst noch eine Reihe anderer Merkmale zusammentragen und vergleichen, vor allem die grammatischen Eigenschaften der Sprachen. Grammatik Deklination und Konjugation sind uns in unserer Sprache selbstverständlich. Im Russischunterricht machen sie uns oftmals Schwierigkeiten, weil sie andere und mehr Formen haben als bei uns. Wer dagegen Englisch lernt, freut sich darüber, daß diese Sprache weniger Wortformen hat als die deutsche. Doch wir halten die Konjugation und die Deklination für zwei Eigenschaften aller Sprachen und können uns gar nicht vorstellen, wie es ohne sie gehen sollte, denn an der Form des Substantivs (oder Artikels) unterscheiden wir ja in der Regel, ob es Subjekt, Objekt oder Attribut ist. Dennoch gibt es Sprachen, die weder eine Deklination noch eine Konjugation kennen. Ein Beispiel dafür ist das Chinesische. Die Funktionen der Wörter im Satz müssen aber ausgedrückt werden, denn auch im Chinesischen gibt es Subjekt, Prädikat und Objekt. Wir können zum Beispiel im Deutschen oder im Russischen den Satz „Der Schüler fragt den Lehrer" auch umdrehen: „Den Lehrer fragt der Schüler." Die grammatischen Formen (der Schüler, den Lehrer) sagen uns, was hier Subjekt und was Objekt ist. WeiJ. im Chinesischen die Beziehungen der Wörter im Satz zueinander durch Wortendungen nicht bezeichnet werden können, gibt es in dieser Sprache eine vorgeschriebene Reihenfolge der Wörter im Satz. Drehen wir „Xuesheng wen xiansheng" (Der Schüler fragt den Lehrer) um - „Xiansheng wen xuesheng" -, dann heißt das „Der Lehrer fragt den Schüler". Mit der Wortstellung wird ausgedrückt, was Subjekt, Objekt und Prädikat ist. Auch für die anderen Satzteile gibt es einen festen Platz. Adjektivische Attribute stehen beispielsweise immer vor dem Substantiv, zu dem sie gehören, selbst bei einem langen Satz. Wenn wir den Satz „Der Reporter fragt den erfolgreichen Sportler, der gestern mit dem Flugzeug aus Shanghai zurückgekehrt ist, wo er vorige Woche an einem Sportfest teilnahm" ms Chinesische übersetzen wollen, dann muß alles, was hier kursiv, das heißt mit schrägstehenden Buchstaben gedruckt ist, als Attribut vor „den Sport- 36 37 ler" gesetzt werden: „(Der) Reporter fragt (den) vorige Woche in Shanghai teilnahm Sportfest gestern sitzen Flugzeug zurückgekehrt erfolgreich Sportler." Wieder anders ist die Wortstellung im Japanischen. Hier sind zwar Subjekt und Objekte (Akkusativ- oder Dativobjektiv) durch besondere Hilfswörter gekennzeichnet, die nach dem Substantiv stehen, aber immer muß zuerst das Subjekt, dann das Objekt und zuletzt das Prädikat stehen. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie verschieden die grammatischen Eigenschaften der Sprachen sind. Je aufmerksamer wir Fremdsprachen lernen, um so mehr werden uns diese Unterschiede bewußt. Und doch kann man in anderen Sprachen alles das ausdrücken, was wir in unserer Sprache sagen können. Wortschatz Beim Vergleich von Sprachen fallen uns nicht nur grammatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. An manchen Sprachen, die grammatisch einander ähnlich sind, entdecken wir auch erstaunliche Ähnlichkeiten im Wortschatz: So heißt zum Beispiel Salz englisch sah, französisch sei, russisch coAb, polnisch sol, portugisisch sal, spanisch sal, lateinisch sah Ist das Zufall? Das wäre schon möglich. Aber Untersuchungen haben gezeigt, daß es in den ge- Das Wort Mutter in einigen indoeuropäischen Sprachen; am Stamm die von der Sprachwissenschaft rekonstruierte Urform. Auch bei heute veränderter Bedeutung, zum Beispiel im Rumäni sehen und Albanischen, ist die gemeinsame Wurzel erkennbar slawische Sprachen westslawische^i^chen J^p. »4 «Sprachen WmMmata südskwische^pr. ;^r# <>%/%^>* s mati 'W&áoelhéml matrice •.. Mi;!terschaf/! « moir mätm 38 nannten Sprachen eine Menge solcher Wörter gibt, welche dieselbe Bedeutung haben und eine gleiche oder ähnliche Lautform. Ganz anders heißt- Salz im Chinesischen: yän, und wiederum völlig verschieden vom Chinesischen heißt es in japanisch shio. Am Beispiel Salz ist folgendes wichtig: Erstens gehört dieses Wort zum Grundwortschatz fast aller Sprachen, ebenso wie die Zahlwörter, die Bezeichnungen für Körperteile, Dinge und Erscheinungen der uns umgebenden Natur, Adjektive wie lang und kurz, Farbbezeichnungen und andere Gruppen von Wörtern. Das heißt, diese Wörter sind meist schon Jahrtausende alt. Wenn also im Grundwortschatz von Sprachen - denn unser Beispiel Salz ist kein Einzelfall - solche Ähnlichkeit besteht, dann muß sie sehr weit in die Geschichte dieser Sprachen zurückreichen. Zweitens ist es außerordentlich selten, daß mehrere Sprachen gänzlich unabhängig voneinander für gleiche Sachen gleichlautende Wörter bildeten. Man darf also in den meisten Fällen annehmen, daß das Wort entweder in einer dieser Sprachen geschaffen und von den anderen übernommen wurde, oder es muß einen gemeinsamen Ursprung, eine gemeinsame Ursprache aller dieser Sprachen gegeben haben, aus der sich diese entwickelt haben. Mutter, Salz oder Meer und andere Wörter gehen auf diese indoeuropäische Ursprache zurück. Ein großer Teil des Wortschatzes, besonders in den westeuropäischen Sprachen, kommt aus dem Lateinischen. Darunter sind Wörter, denen wir ihren fremden Ursprung nicht mehr ansehen, wie Fenster (lateinisch f'cnestra), Ferien (lateinisch feriae, die Feiertage), Fest (lateinisch festum), Kasten, Kiste (lateinisch cista). Und das lateinische Wort cella finden wir in Zelle, Keller, Zellulose und manch anderen Wörtern wieder. Viele Wörter, die in unsere oder andere Sprachen übernommen wurden, haben eine neue Bedeutung erhalten. Zum Beispiel globus, das im Lateinischen ranz allgemein Kugel bedeutet, bezeichnet bei uns speziell die Erdkugel; folium (Blatt) finden wir in unserer Sprache als Folie wieder. Die Zeit, in der die meisten dieser Wörter in unsere Sprache übernommen wurden, liegt weit zurück. Mit der Entwicklung und Ausbreitung des Römischen Reiches vom 1. Jahrhundert v.u.Z. bis zum 3. Jahrhundert u. Z. wurden die meisten europäischen Länder von römischen Heerlagern, Garnisonen und Verwaltungszentren überzogen. Viele neue Dinge -nicht nur aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, auch aus dem tägliches Leben, wie Hausbau, Landwirtschaft und anderes mehr - lernten und übernahmen die Völkerschaften und Stämme der eroberten Länder Europas von den Römern. Und mit dem Neuen übernahmen sie die fremden Bezeichnungen, die sie langsam ihren eigenen Sprechgewohnheiten anpaßten. So sehen wir gerade an diesem Beispiel, wie die Sprachentwicklung von der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt wird. » Die gemeinsame Ursprache unserer europäischen Sprachen ist das Lateinische jedoch nicht. Aber in den Ländern, die die Römer zuerst besetzten und in denen ihre Herrschaft am längsten dauerte, haben 40 41 sich aus dem Lateinischen jener Zeit die sogenannten romanischen Sprachen entwickelt. Zu ihnen gehört das Italienische - in Italien entwickelte sich ja der römische Sklavenhalterstaat, aus dem dann das Römische Reich hervorging. Weiter gehören zu den romanischen Sprachen das Spanische und das Portugiesische - die iberische Halbinsel wurde schon im 3. Jahrhundert v.u.Z. besetzt -, das Französische und das Rumänische. In der Zeit der Ausdehnung des Römischen Reiches gab es in Europa viele verschiedene Stämme außer den keltischen: beispielsweise noch die germanischen und die slawischen Stämme. Teile der von den germanischen Stämmen besiedelten Gebiete - vom Rhein bis zur Elbe - wurden im 1. Jahrhundert v.u.Z. zwar auch von den römischen Legionen besetzt, aber die Römerherrschaft dauerte nicht ewig. Im Jahre 9 u. Z. wurden die Römer von den Cheruskern, einem germanischen Volksstamm, in einer Schlacht im Teutoburger Wald besiegt. Sie mußten sich im Westen bis zum Rhein und im Süden bis zur Donau zurückziehen. Dort finden wir noch heute Reste ihrer Grenzbefestigungen. Diese berühmt gewordene Schlacht beendete zwar die Macht der römischen Heere, nicht aber den Einfluß der römischen Kultur und der lateinischen Sprache auf die Menschen in den von Germanen besiedelten Gebieten. Die Sprachen der germanischen Stämme Die Ausdehnung des Römischen Reiches vom 1. Jahrhundert v. u.Z. bis zum 3. Jahrhundert u.Z. beeinflußte die sprachliche Entwicklung im Mittelmeerraum und in weiten Gebieten Europas. Sprache und Geschichte sind nicht voneinander zu trennen 7> 42 43 V Ausdehnung • ... des Römischen Reiches '(rot) um 3GQ u.Z. hatten jedoch ihre Eigenheiten behalten. Aus ihnen entwickelten sich Sprachen, die wir wegen ihrer Gemeinsamkeiten als germanische Sprachen bezeichnen: Deutsch und Niederländisch, Englisch und Friesisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch und Isländisch. Die stärksten Einflüsse romanischer Sprachen finden wir unter diesen germanischen Sprachen im Englischen. Vieles davon wurde aus dem Französischen übernommen, nachdem England im Jahre 1066 von den französisch sprechenden Normannen erobert worden war. Sehen wir uns das Wort für Farbe in einigen germanischen Sprachen an! Deutsch: Farbe, schwedisch: farg, dänisch: farve, holländisch: kleur, englisch: colour. Jeder erkennt, daß kleur und colour mit dem lateinischen Wort für Farbe - color - zusammenhängen, das wir überall in den romanischen Sprachen antreffen: im Portugiesischen - cor, im Spanischen - color, im Italienischen - colore und im Französischen - couleur. Die slawischen Völkerstämme lebten zu jener Zeit in Gebieten, die vom Römischen Reich nicht besetzt wurden. Ihre Sprachen gehen auf eine gemeinsame Sprache, das Urslawische, zurück und entwickelten sich fast unberührt vom Einfluß des Lateinischen zur Gruppe der slawischen Sprachen. Zu dieser Gruppe gehören Russisch, Bulgarisch, Polnisch, Tschechisch und viele andere Sprachen. Nur dort, wo die Gebiete der slawischen Völkerstämme an das Römische Reich oder an andere Territorien grenzten, drang mit den wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen ihnen und ihren Nachbarn auch ein Teil des Wortschatzes aus den Nachbarsprachen in ihre Sprachen ein. So haben wir im Polnischen für Farbe sowohl das Wort Intrwa, mit germanischem Ursprung, wie auch kolor, das lateinisch ebenfalls color heißt. Aller Anfang ist leicht Wenn wir mit sechs oder sieben Jahren in die Schule kommen und die ersten Buchstaben schreiben und lesen, sind unsere Sprachkenntnisse so weit entwickelt, daß wir uns über alle Dinge des täglichen Lebens unterhalten können. Wir bilden bereits rrammatisch richtige Sätze. Wir beherrschen die Regeln der Wortstellung, deklinieren und konjugieren, und wir verwenden die verschiedenen Wortarten richtig. Kurzum, die Grammatik ist uns schon fast in fleisch und Blut übergegangen, ohne daß wir sie beschreiben könnten. Wir wissen oft nicht einmal, wann und wie wir sie gelernt haben. Ähnlich ist es mit den wichtigsten Formen der Sprachverwendung. Wir können Geschichten erzählen, wissen, wie man um etwas bittet, etwas verspricht, einen Glückwunsch, einen Dank, eine Entschuldigung formuliert. Und nicht nur das: Wir verfügen bereits über viele verschiedene Möglichkeilen, uns auszudrücken. Wir kennen „anständige" und „unanständige" Wörter. Wir wissen, daß man Dialekt sprechen kann oder „hochdeutsch". Mit Er- 44 45 wachsenen reden wir meist anders als mit Gleichaltrigen. Wie umfangreich diese Kenntnisse und Fähigkeiten sind, wird uns erst beim Lernen von Fremdsprachen bewußt. Wie lange dauert es, bis wir so gut Russisch können, wie ein Schulanfänger seine Muttersprache beherrscht! Was eignen wir uns eigentlich in der Schule außer dem Schreiben und Lesen noch an? Warum wird es in der Schule manchmal so schwierig? Warum sind Wörter so leicht zu sprechen und oft so schwer einwandfrei zu schreiben? Warum ist es so einfach, die Grammatik richtig anzuwenden, und so kompliziert, grammatische Regeln zu erklären? Können wir nicht weiter „spielend" unsere Sprache erlernen wie bisher? Natürlich können wir das. Alles hängt davon ab, ob wir in der Schule neue Kenntnisse mit dem gleichen Interesse erwerben wie vor unserer Schulzeit. Sprache, Denken und praktische Tätigkeit sind nicht voneinander zu trennen. Was wir mit Interesse aufnehmen und verwenden, behalten wir, wird kinderleicht. Wir merken das besonders bei unseren Lieblingsbeschäftigungen. Wer zum Beispiel in einer Arbeitsgemeinschaft für Aquaristik mitarbeitet, hat mit den Fachkenntnissen bald einen so großen Fachwortschatz, daß er sich mühelos über dieses Gebiet zu unterhalten vermag. Auch darin zeigt sich: Sprache kann nur in Verbindung mit der praktischen und gedanklichen Tätigkeit existieren und sich entwickeln. Aus einem Schönschreibebuch, erschienen 1780; oben: Anweisung zum Schneiden einer Feder; unten: Grundstriche und Alphabet der Frakturschrift p O.O 0 0.(0. o ^if^Trl emtifrStr jliiHoiwcilr (fWiiSni Julrvnm. jtid< unt \«s *Ss«Vjt Heina Angst«" glaube loh such nicht", De* Anfuhi^a/ legte seine ierbe Rand Teter auf die Schulter. "Deine erste grosse Un-terr.aäiMimg., Peter. Jetzt 4wm» t-urtj zeiga^, aus was für etn^ Katerini au bist. ítoÍHa'fan tor Bö rar ech tj Torpedos Er hatte geh einig Aal tetie Ladung an Bord! ffir Unterseeboote und Artillerie - Munition für die sah*« r«r Kuntenbatterien. Als der Dampfer üerifSaferi -mm Baden ^erlleas, wurde dssT^rteldlgungakoraltee der KTollandt**« rH*> von diesem Transport Informiert. P- vw* bei -*1 «n>«5R! 'iTnlii i n rit'n iiT'fTitl )_i rtrafuiiliu m»)—< < .i 10***»» "loht ohne gogern ■ttatlu'j i'.i e holländischen Patriot«! Fetera Sunnch nachgekommen und hatten ihn m liaron Wirkunge-'amn>t«h BirigezOgen. KLn^ Deutscher in ihren Kampforgan^iaa' floner., flss war bisher ohne Beispiel. Dann Jedoch fanden sie, daaa gerade ein Deutscher ihnen «et auss-erordaätHch sichtige Hilfe orwotneft konnte. am ihr Vertrauen »« i Peters Abfrlehtlgkelt''-®vmi.»ehalt .g wraai.wai% ,(u«uaeR «t*! aohlleeallch• ^ein Anoeb»» a» wnO beschloß««», lfm #» di-iw^-iiHt+'tW'' Als Peter Oha* «fuhr, war er atol» und gluoklish, {Tun wollte er bei eisen, dass iiurtn.Waif B»B»w"**ft-g|i««Mi1 n*» wj»»* wf« er in{$*-»4& Sai..--f _j<*s-.*> *t« 3:"seinen 92 Geschriebenes muß anders sein als Gesprochenes. Manche Wörter, die uns in Gedichten gefallen oder beeindrucken, würden wir in einem Aufsatz komisch finden. Sprache und Inhalt müssen „zusammenpassen". Der Schriftsteller hat in jeder Geschichte, ja in jedem Kapitel und jedem Satz neu zu entscheiden, wie er beginnt, wie er endet. Was soll erzählt und was weggelassen werden? Es gibt zwar Bücher über guten Stil, aber es gibt keine Rezepte für Schriftsteller. Ebensowenig wie für Maler oder Bildhauer. Was der Schriftsteller schreibt und wie er etwas beschreibt - Landschaft, Menschen, Lebensgewohnheiten, Erlebnisse -, alles hängt davon ab, was er uns damit sagen will. Wenn Schriftsteller aus ihrer Arbeit berichten, erfahren wir manchmal etwas von der Kunst, mit der Sprache richtig umzugehen. Wir ahnen, wieviel Arbeit sie sich mit einem Roman machen müssen, damit uns das Buch „fesselt". Anna Seghers hat einmal an einem Beispiel gezeigt, wie verschieden man den gleichen Vorfall, das gleiche Ereignis beschreiben kann. Der Bericht der Autorin L. über eine Maidemonstration in Shanghai, als in China noch kapitalistische Ausbeutung herrschte, fängt so an: „In Jan Shu Pou, dem tiefsten Arbeiterviertel von Shanghai, in einer schmutzigen, engen Gasse, wohnt die Textilarbeiterin Yöji. In ihrem kleinen armseligen Zimmer kommen wir zusammen, um die ersten Vorbereitungen zu besprechen." Das liest sich leicht, ist gut geschrieben. Wir möchten gern weiterlesen, um zu erfahren, was noch geschieht. Und doch ist die Autorin nicht damit zu- 94 frieden. Sie hat das Ereignis selbst erlebt und möchte den Leser in diese Welt der Shanghaier Textilarbeiter versetzen. Was bedeutet denn „tiefstes Arbeiterviertel von Shanghai", wie sieht dort ein „armseliges Zimmer" aus? Die meisten Leser waren nie im damals kapitalistischen Shanghai. Wenn sie wissen, wie ein Mensch unter kapitalistischer Ausbeutung dort lebte, werden sie auch seinen Kampf gegen die Ausbeutung verstehen. So ändert die Autorin den Anfang der Geschichte, beginnt noch einmal von vorn, und nun liest es sich so: „Chinesische und ausländische Textilfabriken bilden den massiven Kern von Jan Shu Pou. Weidenufer. In langen dünnen Straßen aufgereiht die Holzbuden der Textilproleten von Shanghai, Baracken, denen man je eine Glühbirne einmontiert hat. Inwendig: Neben der Tür ein Bett, ein Brett über zwei Bänke. Darauf ein Bettuch aus ausländischem Faden, ein Kissen nach ausländischer Mode, eine dünne Decke. Vor der Wand ein Haufen schmutziger Wäsche. Auf dem Tisch ein paar Eßstäbchen, eine Schale voll gesalzenem Kohl mit Zeitungspapier zugedeckt. Aus dem Spalt steigt der saure Geruch." Jetzt fühlen wir uns fast nach Shanghai versetzt, uns ist, als wären wir selbst dabei. Trotzdem wissen wir wenig von der Arbeit des Schriftstellers. Was wir als ersten Entwurf gelesen haben, war vielleicht schon der fünfte oder sechste. Viele Überlegungen liegen zwischen den verschiedenen Fassungen. Der Schriftsteller ist nur ein Beispiel für Menschen, die anderen mit der Sprache etwas mitteilen, 95 andere überzeugen, für etwas begeistern wollen. Zu ihnen gehören auch Politiker, Wissenschaftler, Lehrer, ja wir alle. Wie wichtig der richtige Umgang mit der Sprache ist, haben die Menschen schon früh erkannt. Vor rund 2 000 Jahren gab es im Römischen Reich Schulen der Redekunst (Rhetorik). Dort wurden vor allem Politiker in der Kunst ausgebildet, auf großen Versammlungen als Volksredner die Menschen zu beeinflussen. Damals gab es noch keine Zeitung, und die meisten Menschen konnten weder lesen noch schreiben. Weil sie ungebildet waren und sich nur schwer ein eigenes Urteil bilden konnten, hatte derjenige Redner die Leute auf seiner Seite, der sie am geschicktesten überreden konnte. Wie vielseitig unser eigener praktischer Gebrauch der Sprache ist, wird uns vielleicht nicht immer bewußt. Wir diskutieren, schreiben Aufsätze, vielleicht auch mal ein Gedicht. Mit geschriebenen und gesprochenen Worten versuchen wir, andere Menschen zu überzeugen. Wir argumentieren und beweisen. Was wir gehört oder gelesen haben, geben wir mit unseren eigenen Worten wieder. Das ist noch längst nicht alles. Wenn wir erwachsen sind, in einem Betrieb arbeiten, werden wir zum Beispiel unsere Kollegen von der Nützlichkeit eines Verbesserungsvorschlages überzeugen. Die Ziele, Inhalte und Formen des Umgangs mit der Sprache sind vielseitig. Genügt es dabei, die grammatischen Regeln und die Bedeutung der Wörter genau zu kennen, sich klar und nicht zu umständlich auszudrücken und für jedes Thema die richtige Sprache zu wäh- len? Das wäre schon sehr viel, aber es reicht nicht. Wie kurz wir uns fassen können, wie ausführlich wir sein müssen, hängt davon ab, wer unser Zuhörer oder Leser ist. Was müssen wir ihm erklären, damit er uns versteht? Wie müssen wir es ihm sagen, damit er von unseren Argumenten überzeugt ist? Eins ist dabei noch wichtig: Nur wenn wir selbst aufmerksam zuhören, werden wir unseren Gesprächspartner kennenlernen und dann für ihn auch die richtigen Worte finden. Erleichterungen für das Schreiben Wir haben gesehen, wie die Menschen versuchen, die sprachliche Verständigung immer mehr zu erleichtern, zu verbessern, zu rationalisieren. Gibt es in unserer Sprache eigentlich noch weitere Möglichkeiten? Wenn wir darüber nachdenken, was uns im Umgang mit unserer Sprache am meisten Schwierigkeiten bereitet, fällt uns zuerst die Rechtschreibung ein. Konjugation und Deklination, starke und schwache Verben, Satzbau und Präpositionen mögen für den Ausländer Probleme sein, wenn er unsere Sprache lernt. Uns ist das alles schon in Fleisch und Blut übergegangen. Was uns noch schwerfällt, lernen wir in der Schule dazu. Anders ist es mit dem Schreiben. Das haben wir nicht so „nebenbei" gelernt wie das Sprechen. Müh- 96 97 sam beginnen wir mit den ersten Buchstaben unseres Alphabets. Am Anfang freuen wir uns, wenn wir die ersten Wörter und Sätze schreiben und lesen können. Aber bald fällt uns auf, daß man noch lange nicht richtig schreiben kann, wenn man alle Buchstaben kennt und weiß, wie sie gesprochen werden. Auch wer die Wörter richtig spricht, schreibt sie manchmal ganz verkehrt. Warum? Was für unser Ohr gleich klingt, gleich gesprochen wird, schreibt man oft ganz verschieden, und was verschieden gesprochen wird, schreibt man oft gleich. Wie schön wäre es, wenn man so schreiben dürfte, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Wer es versucht, macht Rechtschreibfehler und bekommt schlechte Zensuren. Wie man zu schreiben hat, ist in Regeln festgelegt: Wie die Laute zu schreiben, die Buchstaben zu lesen sind, wann man zwei Wörter zusammen, getrennt oder mit Bindestrich schreibt, welche Wörter groß geschrieben werden und welche klein, Regeln für die richtige Verwendung von Satzzeichen, für die Silbentrennung, für die Schreibung von Fremdwörtern und vieles mehr. Das alles ist so kompliziert, daß wir allein von der 5. bis zur 7. Klasse mehr als .100 Stunden lang in Rechtschreibung (Orthographie) unterrichtet werden. Warum ist die Rechtschreibung so wichtig? Wie kommt es, daß man sich wunderbar unterhalten kann, ohne an Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und viele andere Fragen der Orthographie zu denken, aber beinahe jeder Satz, jedes Wort zum Problem wird, wenn man schreibt? 98 Fällt es uns auch schwer, die vielen Regeln im Kopf zu behalten, wir haben ja immer die „Deutsche Rechtschreibung", den „Duden" zur Hand. Dort können wir nachschlagen, wenn wir nicht wissen, wie man ein bestimmtes Wort richtig schreibt. Diese 11ilfe gab es vor mehr als hundert Jahren noch nicht. Kein Lehrer wußte damals, wonach er sich richten sollte. Ein Schüler, der von Berlin nach Leipzig umzog, lernte an der neuen Schule eine andere Recht-sehreibung als vorher in Berlin. Ja, es war noch verrückter. Wer im selben Ort die Schule wechselte, dem konnte das gleiche passieren. Wir können uns heute kaum die Verwirrung vorstellen, die bei Schülern und Lehrern herrschte. Viele Lehrer versuchten auf eigene Faust, die Rechtschreibung zu verbessern, aber dadurch entstand ein nur noch größerer Wirrwarr. Auch ein Buch mit Geschichte Konrad Duden, ein Schuldirektor in Schleiz in Thüringen, wollte wenigstens erreichen, daß in allen Klassen seiner Schule eine einheitliche Rechtschreibung gelehrt wurde. Deshalb hat er Regeln aufgeschrieben und sie im Programm seiner Schule, des Schleizer Gymnasiums, drucken lassen. Dudens Versuch fand so große Zustimmung, auch außerhalb der Schule, daß er 1876 ein Büchlein mit dem Titel „Deutsche Rechtschreibung", den sogenannten Schleizer Duden, drucken ließ. 1880 wurde dann der Duden offiziell zur Grundlage der Rechtschreibung gemacht. Als Lehrer wußte Duden, welche 99 Wörter häufig falsch geschrieben wurden. Er wollte vor allem erreichen, daß die deutsche Rechtschreibung für jeden verständlich ist, und damit es ganz einfach und praktisch war, ergänzte er die Regeln durch ein Wörterverzeichnis. Konrad Dudens Buch hat sich seit rund hundert Jahren bewährt. Es wurde von späteren Generationen erweitert und immer wieder den Entwicklungen der deutschen Rechtschreibung angepaßt. Deshalb sollte man nicht den „Duden" von Ururgroßmutter benutzen, denn damals schrieb man noch Brod statt Brot oder Noth statt Not. Trotz aller Verbesserungen scheinen uns die Schwierigkeiten noch groß genug. Zu viele Laute klingen gleich oder ähnlich, werden aber unterschiedlich geschrieben. Ist das nicht unlogisch? Es ist tatsächlich unlogisch. Die Ursachen dafür liegen in der geschichtlichen Entwicklung von Sprache und Schrift über Jahrhunderte. Natürlich könnte man festlegen, daß für äu in Zukunft eu geschrieben wird, also nicht nur Leute, sondern auch treumen, Streucher, Beume. Aber ist es nicht doch sinnvoll, wenn durch die bisherige Schreibweise die Verwandtschaft der Wörter ausgedrückt wird: Baum -Bäume, Strauch - St rauch er, Traum - träumen, oder laut - läuten, kalt - erkälten. Natürlich könnte man festlegen, daß die Vokale oder Diphthonge in den Wortpaaren Lärche - Lerche, Saite - Seite gleich geschrieben werden. Aber ist es nicht doch praktisch, daß durch die Unterschiede Titelseite des ersten Orthographischen Wörterbuches von Konrad Duden, das 1880 erschien WS «RH 1 Ctt$aora^tf(Se0 SSotterlmtfl beuiftycn g»pracf)e Don Dr. lonrnö Piiöett, SircHor bc« Röntgt, ©ijmuajtutnä ju §er«fclb. 9iad) bell neuen prrufcifdjen unb bmjcrifdjcn regeln. Setlag beä SJiMioflray^ifdjen 3UftituU. 1880 100 in der Schreibung auf Unterschiede in der Bedeutung der Wörter hingewiesen wird? Was auf den ersten Blick unsinnig erscheint - verschiedene Schreibweise trotz gleicher Aussprache hat oft nicht nur historische Gründe, sondern ist auch für uns heute noch sinnvoll. Unüberlegte Vereinheitlichung könnte uns den Umgang mit der geschriebenen Sprache sogar erschweren. Aber wie steht es mit der Groß- und Kleinschreibung? Wir schreiben nicht nur Namen und Wörter am Satzanfang groß, sondern auch alle Substantive. Muß das so sein? In vielen anderen Sprachen werden nur Namen und die Wörter am Satzanfang groß geschrieben. In unserer Sprache war das bis vor rund 400 Jahren auch so. Als Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung dazu beitrug, daß sich eine einheitliche neuhochdeutsche Schriftsprache herausbildete, konnte er noch wählen, welche Substantive er groß schrieb. Wörter am Satzanfang und Bezeichnungen, die mit besonderer Ehrfurcht genannt wurden, wie Gott, Kaiser, Papst, schrieb man damals groß, ebenso Wörter wie Mensch, Welt, Kloster. Aber bei den meisten Substantiven konnte jeder nach Belieben entscheiden, ob er sie groß schrieb oder nicht. Die Großschreibung von Substantiven war eine Sache des persönlichen Geschmacks. Man gewöhnte sich immer mehr daran, bis schließlich im 18. Jahrhundert aus der Gewöhnung eine Pflicht wurde. Als Goethe zur Schule ging, konnte er sich nicht mehr aussuchen, welche Wörter er groß und welche er klein schrieb, und heute gibt es im „Großen Duden" rund 30 Regeln dafür. Die Großschrei- bung der Substantive hat sich in unserer Schrift bis heute behauptet. Aber ist sie wirklich notwendig und sinnvoll? Die Meinungen darüber gehen auseinander, auch Gewohnheit und Tradition spielen dabei eine große Rolle. Jacob Grimm hielt sie schon vor mehr als hundert Jahren für überflüssig, sogar die Großschreibung der Wörter am Satzanfang. Im Vorwort zum ersten Band des „Deutschen Wörterbuchs" schrieb er 1854: „lassen wir doch an den häusern die giebel, die vorsprünge der balken, aus den haaren das puder weg, warum soll in der schrift aller unrat bleiben?" - Ob wir eines Tages auch so schreiben? Die Entscheidung darüber darf jedenfalls nicht nach Gefühl getroffen werden, sondern erst nach sorgfältigen wissenschaftlichen und praktischen Untersuchungen. Nicht nur uns, sondern auch vielen Erwachsenen bereiten gerade die Fremdwörter Schwierigkeiten. Viele von ihnen sind schon der deutschen Schreibung angepaßt. Das ph wurde zu /, zum Beispiel in Foto oder Telefon. Das erleichtert das Schreiben, denn wer denkt schon bei diesen Wörtern daran, daß sie aus dem Griechischen stammen. Aber solche Erleichterungen sind die Ausnahme. Warum schreiben wir nicht Fosfor statt Phosphor, warum nicht Filosofie, Fysik, Katastrofe? Und wie sieht es mit anderen Fremdwörtern aus? Wenn schon das C durch K ersetzt wird in Kognak oder durch Z in Zitrone, warum nicht in allen Fremdwörtern? Und warum passen wir nicht auch die anderen Laute unserer Schreibweise an? Warum nicht Konjak, Tschello, Klaun, Schampanjer?Könnte man es nicht - 102 103 wie bei Friseur/Frisör - jedem selbst überlassen, wie er schreibt? Keine Rechtschreibfehler, weil alles erlaubt ist! Die Folgen einer solchen „Rechtschreibreform" wären katastrophal. Die meisten Wörter hätten bald mehrere Schreibweisen. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Computer. Die Mehrzahl der Menschen würde vielleicht Kompjuter als deutsche Schreibweise wählen, andere wiederum könnten das j für überflüssig halten und einfach Komputer schreiben. Wer sächsisch spricht, fände vielleicht, Gombjuder wäre die aussprachegerechte Schreibweise, andere hielten es womöglich für besser, das j durch i zu ersetzen, und schrieben Gombiuder oder Kompiuter. Und wem schließlich auffiele, daß die erste Silbe wie komm gesprochen und das u in der zweiten Silbe lang gesprochen wird, schriebe dann entweder Kommpjuter oder Gommbjuter oder Kommpiuhter oder Gommbjuhter. Der Berliner, der in der Umgangssprache -er häufig wie a ausspricht, würde vielleicht Kompju(h)ta schreiben. Bald hätten wir acht oder noch mehr Schreibformen für das gleiche Wort. Wer es im Wörterbuch oder Lexikon suchte, müßte an acht verschiedenen Stellen nachschauen und fände Das Stichwort Zylinder im Duden, Ausgabe 1880: hier nur Schreibung, Genus (Artikel) sowie Angaben über Genitiv- und Pluralformen, dazu ein Adjektiv. Darunter das gleiche Stichwort in der neuesten Ausgabe des Duden („Der Große Duden", 18. Neubearbeitung, Leipzig 1985). Hier veränderte Schreibung (Z statt C) mit Angaben über Worttrennung, Betonung, Aussprache, Bedeutung und Herkunft des Wortes. Dazu Hinweise auf Wortbildungsregeln im Anhang, Beispiele für Zusammensetzungen und Angabe von zwei verschiedenen Adjektivbildungen {-ig, -isch) mit unterschiedlichen Bedeutungen. i'Stytinber, ber; -ct)iinbrij"dj Zy|lin|der [tsi.. od tsy..], der, _s, -(Walze; röhrenförmiger Hohlkörper [zur Kolbenführung]; hoher Männerhut) (grch ~> lat). Zus K 365ff: Zylinderwglas usw. • ...zy|lin|drig (mit ... Zylindern versehen, z.B. achtzylindrig [mit Ziffer K284 8zylindrig]) • zy|Hn|drisch (walzenförmig) 104 es dann vielleicht noch nicht, weil es die Verfasser des Wörterbuches in einer neunten Schreibweise an unerwarteter Stelle eingeordnet haben. Vollkommen ratlos aber wäre der Ausländer, der die deutsche Sprache lernen will. Eine Schrift ohne Regeln wäre ein Chaos (Kaos, Kaoss, Kahoss?), Verständigung bald nur noch eine Glückssache. Und noch etwas: Wenn beispielsweise der Berliner für das -er in dem Fremdwort Computer ein a schreibt, dann müßte er ja auch Mutta, Vata, Kinda schreiben ( und de statt die und Fleesch statt Fleisch), damit gleiche Laute durch gleiche Buchstaben wiedergegeben werden. Schriebe man überall so, wie man spricht, dann würde eine Sprache bald in mehrere Sprachen auseinanderfallen, die alle ihre eigenen Rechtschreibregeln hätten. Die Laute so zu schreiben, wie man sie spricht, ist genaugenommen auch deshalb nicht möglich, weil die gleichen Laute ganz unterschiedlich ausgesprochen werden, je nach der Stellung im Wort, am Anfang oder Ende, und je nachdem, welche Laute ihnen voraufgehen oder auf sie folgen. Auch die Betonung hat großen Einfluß auf die Aussprache. In den Fremdsprachen fällt uns das stärker auf als in unserer eigenen Sprache, an die wir uns gewöhnt haben. Ein unbetonter Vokal wird meist anders gesprochen als der gleiche Vokal in einer betonten Silbe. Das erste o in koaxo3 beispielsweise wird wie ein a, das zweite wie ein o ausgesprochen; das o in MocKea spricht man ebenfalls, weil in unbetonter Silbe, wie ein a, aber doch anders als das a am Ende. Reicht das Alphabet aus? Die Anzahl der verschiedenen Laute ist viel größer als die der Buchstaben. Die russische Sprache zum Beispiel hat in ihrem kyrillischen Alphabet 33 Zeichen, aber genaue phonetische Untersuchungen der gesprochenen russischen Sprache haben ergeben, daß in ihr - bei Berücksichtigung feinster Unterschiede - nicht weniger als rund 10000 verschiedene Laute vorkommen. Ähnlich ist auch in anderen Sprachen das Verhältnis zwischen Buchstaben und Lauten, zwischen Schrift und gesprochener Sprache. Sollte man also die Anzahl der Buchstaben vergrößern? Das wäre schon deshalb unsinnig, weil dem Sprecher nicht bewußt ist, wie viele verschiedene Laute er erzeugt. Er könnte die zusätzlichen Zeichen gar nicht verwenden. Das Alphabet ist also ein sehr ökonomisches und praktisches Mittel zur Wiedergabe der Sprachlaute. Es genügt, um die für ein Wort wesentlichen Laute von anderen zu unterscheiden. Die vielen feinen Unterschiede in der Aussprache müssen in der Schrift nicht zum Ausdruck gebracht werden, im Gegenteil! Durch eine festgelegte einheitliche Schreibung werden wir dazu erzogen, auch unsere Aussprache zu verbessern, einheitlich zu sprechen. Durch eine einheitliche Lautschrift wird verhindert, daß die Unterschiede in der Aussprache immer größer werden, die Dialekte einer Sprache sich immer mehr auseinanderentwik-keln. Einheitlichkeit der Schreibung, feste Regeln für die Rechtschreibung sind also auf jeden Fall nötig. 106 107 Es gibt, außer den Gesichtspunkten, mit denen wir uns auf den vorangegangenen Seiten beschäftigt haben, eine Menge praktischer Probleme bei der Einführung einer neuen Rechtschreibung. Nicht nur der „Große Duden" und die Deutsch-Lehrbücher müßten umgeschrieben werden, sondern alle Schulbücher. In Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, in allem Geschriebenen und Gedruckten wäre die bisherige Rechtschreibung durch die neue zu ersetzen. Alle müßten umlernen. Und wenn eine neue Rechtschreibung nicht in allen Staaten eingeführt würde, in denen man deutsch spricht, gäbe es bald mehrere Rechtschreibungen für die deutsche Sprache: in der DDR, in der BRD, in Österreich, der Schweiz und anderen Ländern. Kein Ausländer würde sich dann noch in der deutschen Rechtschreibung zurechtfinden. So könnte, wenn man nicht alle Probleme sorgfältig überdenkt, eine Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung in der Praxis leicht zu Schwierigkeiten führen, größere Probleme mit sich bringen als der gegenwärtige Zustand. Eine Universalsprache für alle Menschen? Die Geschichte vom Turmbau zu Babel war ein Versuch, das Sprachgewirr auf der Erde zu erklären. Das Gegenstück dieser Legende ist der Traum von einer Universalsprache, mit der sich alle Menschen der Erde verständigen können. Warum sollte er nicht eines Tages Wirklichkeit werden? Zwei Varianten wären denkbar: eine Sprache - vielleicht eigens dazu geschaffen -, die alle anderen nationalen Sprachen ersetzt, oder, die zweite Variante, alle Menschen lernen außer ihrer Muttersprache eine bestimmte Fremdsprache, gleichsam als zweite Muttersprache. Die erste Variante hätte - zumindest in den nächsten Generationen der Menschheit - kaum Aussicht auf Erfolg. Jede Nation ist mit Recht stolz auf ihre Sprache, die sie sich im Verlaufe vieler Geschlechter geschaffen hat, die Sprache ihrer Dichter und Denker. Die zweite Variante dagegen ist auf dem Wege, Wirklichkeit zu werden. Müßte man aus allen Sprachen der Erde eine aussuchen, die dazu bestimmt ist, zweite Muttersprache aller Erdenbewohner zu werden, es gäbe vieles zu bedenken. Von den etwa 4000 verschiedenen Sprachen, die heute in der Welt gesprochen werden, kämen erst einmal jene in Betracht, die auch eine Schrift haben. Unter diesen rund 1000 Sprachen sind 13 so verbreitet, daß sie von der Hälfte der 5 Milliarden Erdenbewohner gesprochen werden. Warum nicht eine von ihnen zur Universalsprache machen? Zum Beispiel die chinesische Sprache, mit der sich ohnehin rund 1 Milliarde Menschen verständigen? Aber sie ist für viele besonders schwer zu erlernen. Und die chinesische Schrift, müßte man sie übernehmen? Einen Vorteil jedenfalls hätte das Chinesische, es kennt, wie wir 108 109 L- . 1 Indoeuropäische Spr. I I Afroasiatische Spr. I_I Uralische Spr. Altaische Spr. Paläoasiatische Spr. Japanisch Eli- IVI^U i J Chinesisch-tibetische Sp HH Mon-Khmer-Spr. SPRACHEN DER ERDE Baskisch Hl Bantuspr. und Bantuidenspr. II-ÜÜ Hottentottenspr. \ Spr.des mittl. u. östl. Sudans f I Indianerspr. f^jxi Mandespr. [ I Eskimo-aleutische Spr tül Guineische Sp I Spr. der Ureinwohner Australiens Mundaspr. bereits wissen, keine Deklination und keine Konjugation. Einiges, was uns beim Erlernen mancher Fremdsprachen so viele Schwierigkeiten macht, bliebe uns also erspart. Oder sollte man vielleicht die englische oder die russische Sprache auswählen? Beide werden nicht nur von einigen hundert Millionen Menschen gesprochen, sondern durch die internationale politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Bedeutung der Länder, in denen sie Muttersprache sind, überall auf der Erde ohnehin von Millionen Menschen gelernt. Jedes Jahr erscheinen schon jetzt in Milliarden Exemplaren Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in Russisch und Englisch, zwei Weltsprachen, die in der UNO, der Organisation der Vereinten Nationen, zu den offiziellen Konferenzsprachen gehören. Von diesen beiden Sprachen hätte gegenwärtig das Englische wohl die größten Aussichten: Es ist nicht nur international bedeutend, sondern auch leicht erlernbar. Wie wäre es schließlich mit Spanisch, das im internationalen Verkehr ebenfalls große Bedeutung hat? Oder mit Japanisch, Hindi-Sprachen, die bereits jetzt von jeweils mehr als einhundert Millionen Menschen gesprochen werden? Traum mit Bedingungen Stellen wir die Frage einmal anders: Welche Bedingungen müßten erfüllt sein, damit eine Sprache zur Universalsprache werden kann? 1. Sie müßte von allen Völkern und Nationen ak- zeptiert werden, denn ohne die Unterstützung der Völker und ihrer Regierungen, ohne deren Willen, sie in den Unterricht aufzunehmen, Lehrbücher zu drucken, Lehrer dafür auszubilden, kurz gesagt, ihre Verbreitung in der Schule und im praktischen Leben zu unterstützen, wäre auch die leichteste Sprache nichts wert. In den ehemaligen Kolonien der imperialistischen Mächte wurden fast überall die Sprachen der versklavten Völker unterdrückt und den Menschen fremde Sprachen aufgezwungen: Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch. Diese Länder haben, nachdem sie sich ihre Freiheit erkämpften, zunächst wichtige politische und wirtschaftliche Probleme zu lösen. Endlich können sie aber auch ihre eigene nationale Kultur, Sprache und Literatur entwickeln, sie in den Schulen unterrichten, an Universitäten erforschen. Anfangs sah es so aus, als wäre mit den verhaßten Kolonialherren auch deren Sprache für immer aus den ehemaligen Kolonien verbannt. Heute, Jahre nach der Erringung der Unabhängigkeit, sind diese Sprachen angesichts der Vielfalt von Stammessprachen ein wichtiges Verständigungsmittel im Land selbst und im internationalen Verkehr. Der Fortschritt ist nur begrenzt; es sind immer noch mehrere Sprachen, die so auf der Welt als Zweitsprachen der nationalen und internationalen Verständigung dienen. 2. Eine Universalsprache müßte leicht erlernbar sein. Nicht nur für uns! Eine Sprache, die uns leichtfällt, fällt anderen vielleicht schwer. Und doch 112 113 gibt es beim Erlernen von Fremdsprachen immer bestimmte Erscheinungen, die allgemein Schwierigkeiten bereiten. Konjugation und Deklination gehören dazu, das grammatikalische Geschlecht und vieles mehr. Dazu noch ein ganz allgemeines Problem: Sprachen haben Regeln, für die Aussprache, für die Wortstellung im Satz, für die Wortbildung, für die Rechtschreibung. Aber in den lebenden Sprachen gibt es kaum eine Regel, die nicht irgendwelche Ausnahmen hat. Es ist für jeden, besonders für den, der sie als Fremdsprache lernt, eine Quälerei, sich diese Unzahl von Ausnahmen einzuprägen. Sollte man also doch aus den am meisten verbreiteten Sprachen eine neue „konstruieren", die für alle Menschen leicht zu erlernen ist und so zur internationalen Zweitsprache für alle wird? Eine Sprache nach Maß? Wie hätte also eine Universalsprache auszusehen? Es müßte eine Sprache sein, die sich leicht aussprechen läßt, die man so schreibt, wie man sie spricht, mit Regeln ohne Ausnahmen, einfach in der Grammatik und der Wortbildung, möglichst ohne Flexionen und dazu ihrem Typ nach verwandt mit den am meisten verbreiteten Sprachen. Mit anderen Worten: eine Sprache aus der Retorte und gleichzeitig so natürlich, wie eine Sprache nur sein kann; eine Sprache, deren Wortschatz leicht erweitert, jeder neuen Entwicklung in Gesellschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur angepaßt werden kann. Ist so eine Sprache überhaupt denkbar? Läßt sich diese Idee praktisch verwirklichen? Auf die erste Frage können wir nur mit einem vorsichtigen „Ja" antworten. Bei der zweiten Frage halten sich „ja" und „nein" die Waage. Der Gedanke an eine ideale Weltsprache für alle Völker hat optimistische Menschen immer wieder bewegt oder sogar zu Versuchen angeregt, ein solches Verständigungsmittel zu schaffen. Schon der Philosoph Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646 bis 1716), einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, Gründer unserer Akademie der Wissenschaften, setzte sich für dieses Ziel ein. Leibniz war kein weltfremder Phantast. Er forderte, das Wissen müsse sich im praktischen Leben bewähren, müsse für die Menschen von Nutzen sein. Er hat zwar nicht selbst den Versuch unternommen, eine neue Sprache zu entwerfen, die diesen Zweck erfüllen sollte, er schlug vor, Latein als eine solche Hilfssprache zu verwenden und deshalb das Lateinische zu reformieren. Das entsprach der Entwicklung seiner Zeit, denn damals war Latein nicht nur die internationale Sprache der Kirche, sondern auch das Verständigungsmittel der Gelehrten in ganz Europa und darüber hinaus in vielen anderen Ländern der Erde. Seit dem 17. Jahrhundert wurden mehrere hundert Sprachen verschiedenster Art „konstruiert", denen diese Rolle der Völkerverständigung zugedacht war. Der wachsende internationale Verkehr brachte Kenntnisse über die Vielfalt der Völker und Spra- 114 115 chen und zeigte zugleich die große Bedeutung der internationalen sprachlichen Verständigung. Manche Wissenschaftler gingen sogar so weit, die Ursachen von Kriegen darin zu sehen, daß sich die Völker untereinander sprachlich nicht verständigen können. Wäre es so, dann gäbe es unter Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, keine Kriege. Ein Augenarzt gibt nicht auf Von den vielen künstlichen Sprachen zur internationalen Verständigung hatte eine tatsächlich internationalen Erfolg. Diese Sprache war das Werk des polnischen Augenarztes Dr. Ludwig Zamenhof. Schon seit seiner Schulzeit ließ ihn der Gedanke nicht los, mit einer gemeinsamen Sprache würden sich Menschen und Völker besser verstehen und näherkommen. Um möglichst vielen Menschen das Erlernen dieser Sprache zu erleichtern, nahm er aus germanischen, romanischen und slawischen Sprachen Wörter und Formen in seine Sprache auf und vereinfachte alles, was ihm zu kompliziert schien. So wurde seine Kunstsprache eher eine Mischung aus mehreren natürlichen Sprachen als eine Konstruktion seiner Phantasie. Doch gerade das sollte eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg seiner Sprache werden. Als er seinem Vater das Wörterverzeichnis und die Grammatik der von ihm geschaffenen Sprache zeigte, war der davon gar nicht begeistert. Er verlangte, daß sein Sohn seine Liebhaberei zurückstellte, bis er einen Beruf hätte, mit dem er seinen 116 Lebensunterhalt verdienen könnte. Und um ihn ganz zu „kurieren", verbrannte er eines Tages die Manuskripte seines Sohnes. Aber das bewirkte das Gegenteil, denn Ludwig Zamenhof hatte seine Ideen im Kopf, und von dort waren sie nicht mehr zu vertreiben. Zamenhof wurde zwar Augenarzt, er übte diesen Beruf auch bis zu seinem Tode aus, seine Leidenschaft jedoch galt bis zuletzt seiner „internationalen Sprache". Veröffentlicht wurde sie 1887, nach acht Jahren angestrengter Arbeit, mit einem russischen Außentitel und einem Innentitel in Esperanto: „D-ro Esperanto. Internácia Lingvo", auf deutsch: „Internationale Sprache des Doktor Hoffnungsvoll". Noch heute ist sie als Esperanto in mehr als neunzig Ländern der Erde bekannt. Bewährung mit Fragezeichen Eine Sprache erfinden genügt aber nicht, sie muß verbreitet, gelernt und angewandt werden. Dann erst zeigt sich, ob sie sich bewährt. Hat sich Esperanto tatsächlich bewährt? Ja, als eine Sprache, die man lernen, sprechen und schreiben kann, leichter als andere Fremdsprachen. Bewährt hat es sich als Mittel, die verschiedensten Inhalte des Denkens und Handelns der Menschen zum Ausdruck zu bringen. Eine Vielzahl von Werken berühmter Autoren wurde von Zamenhof und später von anderen in Esperanto übersetzt. Shakespeare, Goethe, Gogol, Scholochow, auch Werke von Marx, Engels und Lenin. Aber: kaum ein bedeutender Politiker, Schriftsteller oder Wissenschaftler schreibt seine Bücher 117 oder Aufsätze in dieser Sprache. Zu den Konferenzsprachen der UNO und ihrer Unterorganisationen gehört Esperanto nicht. In den rund neunzig Jahren seit der „Geburt" des Esperanto wurden Tausende Werke wissenschaftlicher und künstlerischer Literatur in diese Sprache übersetzt. Mehr als 16000 Titel beherbergt das Esperanto-Museum in Wien, die wohl größte Sammlung ihrer Art in der Welt. Auf der Erde erscheinen gegenwärtig regelmäßig etwa 120 Esperanto-Zeitschriften, aber zur gleichen Zeit erscheinen Hunderttausende Zeitschriften und Millionen verschiedener Bücher in Russisch, Englisch, Spanisch, Japanisch, um nur einige der am meisten verbreiteten Sprachen zu nennen. Von 1945 bis 1964 wurden in den sozialistischen Ländern 21 verschiedene Esperanto-Wörterbücher zusammengestellt und veröffentlicht. Doch was ist das schon gegenüber einer Gesamtzahl von 3 300 Wörterbüchern für die anderen Sprachen, die im gleichen Zeitraum in diesen Ländern gedruckt wurden. Ähnlich ist es mit der Anzahl der Esperanto-Sprecher: einige tausend in der DDR, wenig mehr als 3 Millionen in der ganzen Welt, das heißt, von 1300 Menschen auf der Welt spricht einer Esperanto. So bescheiden das klingt, es ist doch schon ein großer internationaler Erfolg. Menschen vieler Länder sind sich durch die Beschäftigung mit Esperanto nähergekommen. Aber Kriege verhindern, aus Feinden Freunde machen, das könnte und kann Esperanto sowenig wie jede andere Sprache. Diese Hoffnung Zamenhofs erfüllte sich nicht. Zamenhofs Nachfolger Esperanto war längst nicht der letzte Versuch dieser Art. Viele „Sprachkonstrukteure" nach Zamenhof glaubten, sie könnten es noch besser machen, würden mehr Erfolg haben als er. Die Mehrzahl dieser Erfinder lehnten ihre Sprachen in Lautbestand, Grammatik und Wortschatz ohne Rücksicht auf die große Verbreitung anderer Weltsprachen nur oder vor allem an romanische Sprachen an, besonders an das Lateinische. Anders ein indischer Sprachwissenschaftler, der mit seiner Universalsprache „Lang Sputnik 1964" sozusagen den Vogel abgeschossen hat. Er vereinigte in seiner Sprachkonstruktion das Sprachgewirr fast aller großen Weltsprachen, denn im Wortschatz seiner Sprache finden sich nicht nur Wörter aus dem Englischen, Russischen, Spanischen, Deutschen, Französischen, sondern auch aus dem Chinesischen, Arabischen, Indonesischen und anderen Sprachen. In absehbarer Zeit besteht kaum die Aussicht, daß eine der natürlichen Sprachen oder eine der künstlich geschaffenen, sogenannten Welthilfssprachen zur Universalsprache der ganzen Menschheit wird. Aber es wächst in allen Ländern die Bereitschaft, über Fragen der internationalen sprachlichen Verständigung und dabei auch über solche Welthilfssprachen ernsthaft nachzudenken. Dazu hat der polnische Augenarzt Dr. Zamenhof einen ganz wichtigen Beitrag geleistet. 119