Adjektive I
In den nächsten drei Stunden werden wir uns den Adjektiven widmen. Die Adjektive sind aus grammatischer Sicht relativ kompliziert, weil sie dekliniert werden müssen, und zwar in Abhängigkeit vom Kontext. Das dabei angewendete Prinzip nennt man "Monoflexion" (z.B. Admoni 1966). Wir müssen uns daher zunächst klar machen, was "Monoflexion" bedeutet. Als Einleitung folgen ein paar Gedanken dazu, welche Funktion in der Sprache Kasus überhaupt hat.
Kasus
Wozu braucht eine Sprache eigentlich Kasus?
Grob gesagt sind Kasus ein Zeichen an den Hörer, welche Rolle eine Person oder eine Sache in der Situation spielt, die der Sprecher durch den Satz ausdrücken will. Zur Illustration leihe ich mir ein ziemlich drastisches Beispiel von Paul Portmann-Tselikas (2003) aus:
(1) Er gibt ihr den Tiger.
(2) Er gibt sie dem Tiger.
Sie sehen, dass die beiden Sätze genau dieselben Wörter in genau derselben Reihenfolge enthalten, nur die Verteilung der Kasus ist anders. Und das ist, wie Paul Portmann-Tselikas sagt, ein Unterschied auf "Leben und Tod". Der Kasus zeigt nämlich im Beispiel an, wer das Geschenk oder das Essen ist (Akkusativ: den Tiger, sie) und wer der Empfänger des Geschenks oder des Essens ist (Dativ: ihr, dem Tiger).
Ihr Hörer braucht also die Information, die der Kasus übermittelt, um Ihren Satz richtig verstehen zu können.
Monoflexion
Kasus kommen in vielen Sprachen vor, z.B. im Lateinischen, Griechischen, Tschechischen oder Türkischen. Das Deutsche hat aber eine Besonderheit, die es vom Tschechischen oder Lateinischen unterscheidet: Es hat "Monoflexion".
Im Tschechischen oder Lateinischen wird dieselbe Kasusinformation an verschiedenen Wörtern, die zusammen eine Wortgruppe bilden, wiederholt:
(3) Máme nového studenta.
Die Information "Akkusativ" erscheint am Adjektiv (-ho) und noch einmal am Substantiv (-a).
Im Deutschen ist es anders. Gewöhnlich wird die Kasusinformation nur einmal in der Wortgruppe gegeben. Erscheint sie an einem Wort der Wortgruppe, wird sie an keinem anderen Wort mehr wiederholt:
(4) Wir helfen dem neuen Schüler.
Die Endung -m zeigt an, dass die Wortgruppe dem neuen Schüler das Merkmal "Dativ maskulin Singular" trägt. Dieses -m erscheint am Artikel. Dadurch ist die Wortgruppe ausreichend gekennzeichnet, Das -m darf an keinem anderen Wort mehr erscheinen, vor allem nicht am Adjektiv. Eine zweite Markierung des Dativs am Adjektiv würde zu einem ungrammatischen Satz führen: *dem neuem Schüler.
Wenn in der Wortgruppe kein Artikel vorhanden ist, der das -m nehmen könnte, muss der Dativ am Adjektiv gekennzeichnet werden:
(5) Er riecht nach billigem Wein.
Dadurch entstehen unterschiedliche Deklinationsmöglichkeiten am Adjektiv:
- Steht vor dem Adjektiv ein Artikel, der den Kasus anzeigt (der ein Kasus-Signal hat), zeigt das Adjektiv keinen Kasus an (hat kein Kasus-Signal).
- Wenn vor dem Adjektiv kein Artikel mit Kasus-Signal steht, muss das Adjektiv das Kasus-Signal bekommen.
Struktur der Nominalgruppe
Eine Nominalgruppe (oder, nach der Terminologie einer anderen Grammatiktheorie, eine "Nominalphrase", kurz NP) ist aus drei Positionen aufgebaut:
Artikelposition | Adjektivposition | Kopfposition (Nomen/Substantiv) |
der | neue | Schüler |
- | billiger | Wein |
Die Kasus-Signale werden nach den Positionen verteilt.
- Zuerst bekommt die Artikelposition das Kasus-Signal.
- Kann die Artikelposition kein Kasus-Signal erhalten, muss die Adjektivposition das Kasus-Signal erhalten.
- Nur in wenigen Ausnahmefällen kann auch das Substantiv ein Kasus-Signal bekommen (v.a. -s für Genitiv Singular Maskulinum/Neutrum).
Dafür, dass die Artikelposition kein Kasus-Signal bekommen kann, kann es im Prinzip nur zwei Gründe geben:
1) In der Nominalgruppe ist kein Artikel vorhanden.
Das ist der einfachste Fall, vgl. Beispiel (5).
2) Die Artikelposition ist durch ein Artikelwort besetzt, das kein Kasus-Signal annimmt.
Dabei handelt es sich um den Nominativ des maskulinen unbestimmten Artikels und um Nominativ und Akkusativ des neutralen unbestimmten Artikels. Beim unbestimmten Artikel ist die Position sozusagen blockiert, unten durch das Symbol "xxx" gekennzeichnet:
ein-xxx, ein-e, ein-xxx
Wie Sie sehen, erhält die feminine Form das übliche Kasus-Signal für Nominativ Singular (-e).
Genauso verhalten sich weitere Artikelwörter, die dieselbe Wurzel wie der unbestimmte Artikel haben bzw. in dieselbe Reihe (Possessivartikel) gehören, z.B.
kein-xxx, kein-e, kein-xxx
mein-xxx, mein-e, mein-xxx
unser-xxx, unser-e, unser-xxx
Bei blockierter Position kann man die Situation wie in Beispiel (6) darstellen. Beispiel (7) zeigt, dass im Akkusativ die Position wieder besetzbar ist: Der unbestimmte Artikel bekommt das Kasus-Signal für Akkusativ maskulin Singular -en:
(6) Hier fehlt ein-xxx roter Ball.
(7) Ich gebe dir einen roten Ball.
Dummy-Endungen
In Beispiel (7) hat der Artikel die Endung -en (Kasus-Signal). Auch das Adjektiv hat die Endung -en. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass das Prinzip der Monoflexion verletzt ist. Scheinbar haben beide Positionen dasselbe Kasus-Signal. Das ist allerdings eine optische Täuschung. Das zweite -en ist kein Kasus-Signal, sondern eine sogenannte "schwache Endung". Schwache Endungen sind Dummys: Sie füllen die Position (das Ende der Adjektivform), ohne eine Kasusinformation zu übermitteln. Das können Sie daran erkennen, dass die schwache -en-Endung in sehr vielen verschiedenen Kasus und in beiden Numeri (Singular und Plural) auftreten kann und daher keinen Informationswert hat, was den Kasus betrifft. -en tritt eigentlich in jedem Kasus auf, mit Ausnahme von:
- Nominativ Singular,
- Akkusativ Singular bei Neutra und Feminina.
In diesen Ausnahme-Kasus steht statt -en die schwache Endung -e. Auch -e ist eine Dummy-Endung, da es keine Information über das Genus liefert. (Allerdings muss man zugeben, dass -e als Zeichen für Nominativ-Singular gewertet werden könnte, da es nur in diesem Kasus auftritt).
Insgesamt ergibt sich bei den Dummy-Endungen folgende Verteilung:
Maskulinum | Neutrum | Femininum | Plural | |
Nominativ | e | e | e | en |
Akkusativ | en | e | e | en |
Dativ | en | en | en | en |
Singular | en | en | en | en |
Sie sehen, dass -en fast überall vorkommt. Die Felder mit -e bilden dagegen eine Figur, die an eine nach links gerichtete Pistole erinnert. Manche Grammatiken sprechen daher von der e-Pistole.
Starke, schwache und gemischte Deklination
Was hat das jetzt alles mit den drei Typen der Adjektivdeklination in der em-Grammatik zu tun?
S. 30: Adjektivdeklination Typ 1 ("schwache Deklination"). Bei diesem Typ steht vor dem Adjektiv ein Artikelwort, das das Kasus-Signal trägt; für das Adjektiv bleibt nur die Dummy-Endung übrig:
der rote Stein
S. 32: Adjektivdeklination Typ 2 ("starke Deklination"). Hier steht vor dem Adjektiv kein Artikelwort; das Kasus-Signal muss ans Adjektiv gestellt werde:
xxx roter Stein
S. 34: Adjektivdeklination Typ 3 ("gemischte Deklination"). Beim "gemischten Typ" steht vor dem Adjektiv ein Artikelwort, das im Nominativ/Singular (bzw. auch im Akkusativ, bei Neutra) kein Signal annimmt; daher muss das Signal ans Adjektiv gestellt werden:
ein-xxx roter Stein
In den anderen Kasus nimmt der Artikel dagegen das Signal an; das Adjektiv bekommt daher nur die Dummy-Endung:
einem roten Stein.
Übungen
Oben habe ich Ihnen eine systematische Erklärung der Situation bei den Adjektiven gegeben, wie sie in der modernen Linguistik üblich ist. Für Sie ist in erster Linie wichtig, die Formen richtig zu bilden. Wenn Ihnen die systematische Erklärung dabei hilft, ist es gut. Wenn Sie lieber die Tabellen auf S. 30-35 der em-Grammatik auswendig lernen möchte, ist das auch in Ordnung. Sie müssen denjenigen Weg gehen, der für Sie persönlich das beste Ergebnis bringt.
Wenn Sie üben möchten, empfehle ich Ihnen besonders:
S. 30 / Übung 1, 2, 3: Hier sehen Sie das oben Gesagte in konkreten Beispielen;
S. 33 / Übung 3: getrennt nach Kasus, um sich an die Kasus-Signale zu gewöhnen;
S. 33 / Übung 3: und jetzt alle Kasus gemischt.
S. 34 / Übung 3: zur Vorbereitung auf komplexere Übungen nur die Nominalgruppe mit unbest. Artikel isoliert;
S. 35 / Übung 4: Nominalgruppen mit unbest. Artikel im Kontext.
Ein Arbeitsblatt zum Abgeben gibt es wieder nächste Woche.
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