Bilinguismus im Bildungssystem
1. Der Mythos vom Semilingualismus ("Doppelte Halbsprachigkeit")
Ausgangspunkt unserer Diskussion zum Bilinguismus im Schulsystem ist die Beobachtung, dass viele Schüler, in deren Familie eine Minderheitensprache gesprochen wird, im Schulsystem der Mehrheitsgesellschaft Schwierigkeiten haben: Häufig werden mangelnde Schulleistungen und sprachliche Defizite beklagt.
Äußerungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wie "Ich bin Bahnhof. Wart dich seit zehn Minuten, valla!" (zitiert in Chilla et a., S. 61) scheinen zu bestätigen, dass hier etwas mit dem Spracherwerb schief gelaufen ist.
In diesem Zusammenhang wird gelegentlich die These vertreten, dass zwei Sprachen für Kinder eine Überforderung darstellen würden. Am Ende würden die Kinder weder die eine, noch die andere Sprache können. Sie seien "semilingual", also "halbsprachig".
Die Schlussfolgerung, die manche Bildungsplaner aus solchen Aussagen ziehen, ist, dass die Erstsprache der Kinder zugunsten der Mehrheitssprache (z.B. Englisch in den USA, Deutsch in Deutschland) zurückgedrängt werden muss. Die Kinder sollten möglichst nur ein der Mehrheitssprache erzogen und ausgebildet werden.
Lesen Sie dazu: Chilla et al., S. 54-55, Infokasten "Semilingualismus":
2. Immersion
Eine völlig andere Beobachtung wurde in den Immersionsprogrammen in Kanada gemacht. In solchen Programmen wurden Schüler aus englischsprachigen Familien einem Schulunterricht auf Französisch ausgesetzt. Je nachdem, wie genau das Bildungsprogram konzipiert war, erhielten sie z.B. ab der der Grundschule ihren Unterricht in Französisch, ohne vorher in Sprachkursen auf das Französische vorbereitet worden zu sein. Die Erfolge dieser Programme waren überwältigend.
Lesen Sie den kurzen Informationstext zur Immersion von Brohy (2005):
3. Interdependenzhypothese
Es stellt sich die Frage, wie sich der Unterschied zwischen dem Lernerfolg von Schülern in Immersionsprogrammen und von Schülern in Regelprogrammen, die in einer anderen Sprache als der L1 der Kinder unterrichtet werden, erklären lässt. Warum schneiden Kinder, die sich in einer Minderheitensituation befinden, schlechter ab als Kinder, die in Immersionsprogramme integriert sind? Befindet sich z.B. ein Kind aus einer türkischen Familie, das in eine deutsche Schule geht, im Prinzip nicht auch in einer Immersionssituation? Wo liegt der Unterschied?
Eine Antwort auf solche Fragen versucht die Interdependenzhypothese von Cummins (1979) zu geben.
Cummins unterscheidet zwischen BICS (Basic interpersonal communicatice scills), der Alltagssprache, die man bei der direkten Kommunikation bei persönlichen Treffen im alltäglichen Leben braucht, und CALP (Cognitive academic language proficiency), d.h. den von der Schriftsprache geprägten, intellektuell anspruchsvollen Sprachfertigkeiten, die im westlichen Schulsystem vermittelt und in höheren Schulstufen vorausgesetzt werde.
Bei bilingualen Kindern vermutet Cummins eine direkte Abhängigkeit der CALP in der L2 von der CALP in der L1 der Schüler: Ist die CALP in der L1 gut entwickelt, lassen sich die entsprechenden Kompetenzen relativ schnell auch auf die L2 übertragen. Fehlt dagegen in der L1 die CALP, muss sie sehr zeitaufwendig und mühevoll in der L2 aufgebaut werden. Da die CALP in der L2 also eine Abhängigkeit von der CALP in der L1 zeigt, spricht man von der "Interdependenzhypothese" (Hypothese von der gegenseitigen Abhängigkeit der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen des Bilingualen).
Den klassischen Artikel von James Cummins finden Sie im englischen Original in den Studienmaterialien (Ordner 6). Eine kurze Zusammenfassung der Hauptgedanken von Cummins (aus dem Artikel von 1979 und den späteren Ergänzungen von Cummins) bietet folgende Internet-Seite:
In der Präsenzstunde können wir die Hypothese von Cummins genauer diskutieren.
Die Sprache von Kindern mit Migrationshintergrund
Sind Kinder mit Migrationshintergrund, die di Regelschulen der Mehrheitsgesellschaft besuchen, also von "doppelter Halbsprachigkeit" bedroht? Stellt die L1 eine Gefahr für die Entwicklung in der L2 (der Mehrheitssprache) dar, wie manchmal behauptet?
Lesen Sie dazu Kapitel 1.6 aus der Broschüre von Chilla et al., S. 34-46.
Widmen Sie v.a. den Aussagen zur Entwicklung der Grammatik genügend Aufmerksamkeit. Wir werden versuchen, die Texte von Kindern mit Migrationshintergrund aufgrund dieser Aussagen zu analysieren um festzustellen, ob die Kindern eine mangelhaft entwickelte Grammatik haben und damit "halsprachig" sind.
Nützlich wäre v.a. Übung 4 auf S. 41.
4. Texte von "halbsprachigen" Kindern
Bitte sehen Sie sich noch vor der Präsenzstunde folgende Texte an, die wir in der Stunde genauer analysieren wollen:
Aufgabe
In dem folgenden Dokument finden Sie die letzte Aufgabe zum Abschluss dieses Kurses:
Bitte geben Sie Ihr Dokument mit Ihren Lösungen hier ab: