Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
Die Verwendung von mehreren Sprachen ist eine Angelegenheit, die nicht nur das Individuum betrifft. Auch im gesellschaftlichen Rahmen kann man betrachten, wie Bilinguismus funktioniert. Hier stellen sich Fragen wie z.B.:
- Welche verschiedenen Sprachen werden in einer Gesellschaft verwendet?
- Ist es Zufall, wer in einer mehrsprachigen Gesellschaft mit wem in welcher Situation welche Sprache wählt?
- Gibt es eine Spezialisierung von bestimmten Sprachen auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche (in der Fachsprache spricht man von "Domänen")?
- Werden alle verfügbaren Sprachen in der Gesellschaft gleich bewertet? Oder haben manche Sprachen ein höheres gesellschaftliches Prestige als andere? Werden manche Sprachen vielleicht sogar stigmatisiert (ihre Verwendung in bestimmten Bereichen mit einem Tabu belegt)?
- Wie wirkt sich das auf das sprachliche Verhalten oder das Selbstbewusstsein der Sprecher aus?
Einen grundlegenden Einführungstext in die Problematik hat der österreichische Soziolinguist und Romanist Georg Kremnitz verfasst. Aus seinem Buch finden Sie unten einen eingescannten Ausschnitt:
Attitüden
Ein wichtiger Begriff in der Soziolinguistik ist der Begriff "Sprachattitüden" (Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachformen). Dabei geht es darum, dass verschiedene Gruppen in der Gesellschaft unterschiedlich bewertet werden. Manche Gruppen haben ein höheres Ansehen, andere ein schlechteres Ansehen.
Die Bewertung der Gruppen wird von den Mitgliedern der Gesellschaft unbewusst auch auf die Sprachform dieser Gruppen übertragen. Gefühlsmäßig haben die Gesellschaftsmitglieder den Eindruck, dass eine bestimmte Sprachform/Sprache "besser", "schöner", "richtiger" ist als eine andere Sprachform/Sprache.
Dass solche Wertungen häufig keine objektive Basis haben, wurde mit Hilfe der "matched guise technique" gezeigt. Mit einem bilingualen Sprecher werden Aufnahmen in beiden Sprachen gemacht. Versuchspersonen beurteilen denselben Sprecher (ohne zu wissen, dass es sich um denselben Sprecher handelt) dann häufig als "intelligenter" oder "sympathischer", je nach dem, welche Sprache sie hören.
Eine ähnliche Beobachtung macht Heike Wiese in ihrem Buch über das "Kiezdeutsch". Das "Kiezdeutsch" ist eine bestimmte Sprachform (Fachwort: "Varietät"), die häufig von Jugendlichen aus gemischtsprachigen Milieus in deutschen Großstädten verwendet wird. Sprecher des Deutschen übertragen häufig ihre Vorurteile gegen Menschen aus solchen gemischtsprachigen Milieus, z.B. Stadtvierteln mit hohem Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund, auf die Sprachform selbst.
Lesen Sie dazu ein paar Ausschnitte aus dem Buch von Heike Wiese: