Ludwig Winder Die Pflicht Rada fuhr nach Hause. Er hatte kein leichtes Herz, aber ihm war seltsam froh zumute. Er wusste, dass sein Leben von morgen an gefährdeter sein werde als das Leben eines Soldaten, der in der vordersten Feuerlinie steht; trotzdem war ihm, als ob er wie durch ein Wunder zu einem neuen, reicheren Leben erweckt worden wäre. Es wurde ihm bewusst, dass er blind und taub gewesen war und endlich nach langer Zeit wieder sah und hörte. Er sah die Menschen an, die er lange Zeit nicht angeblickt hatte. Er sah die Brüder und Schwestern, die seit langer Zeit leiden mussten wie er; er hatte ihre Leiden nicht sehen wollen, weil sein eigenes Leid, sein eigenes Unglück ihn von allen Menschen getrennt hatte. Er fühlte zum ersten Male, dass diese Menschen, die gleich ihm leiden mussten, seine Brüder und Schwestern waren. Er sah neben seinen Brüdern und Schwestern die Feinde. Der Anblick der Brüder und Schwestern gab ihm Kraft. Aber auch der Anblick der Feinde gab ihm Kraft. Hinter dem Nationaltheater stieg er aus. Ein deutscher Offizier und ein SS-Mann gingen vorüber. Sie ginge stolz und selbstbewusst, als ob ihnen die Stadt gehörte. Sie gingen, als ob ihnen die Welt gehört. Sie gingen, als ob ihnen nichts geschehen könnte. Rada, der seit dem 15. März 1939 vor dem Anblick jedes deutschen Offiziers und jedes SS-Mannes zurückgescheut war, blickte die beiden an und fühlte, dass auch ihr Anblick ihm Kraft gab. Von allen Menschen und von allen Häusern strömte ihm Kraft zu. Die Häuser waren totenstill. Die Mörder gingen um, die Häscher und Mörder, die der Mördergeneral Heydrich aussandte. In jedem Hause warteten Menschen auf das Eindringen der Mörder. In jedem Haus fragte ein Mensch das unbekannte Schicksal: Komme ich heute dran? Oder mein Nachbar zur Linken oder mein Nachbar zur Rechten? Wenn in einer Wohnung Mörder erschienen und ihr Opfer packten, bleib er in allen anderen Wohnungen totenstill. Rada ging langsam, er dachte an seine Nachbarn. Er dachte: Die Mörder werden mich holen, und in den Nachbarwohnungen wird es totenstill bleiben. Die Nachbarn werden in den Gucklöchern ihrer Wohnungstüren stehen und sehen, wie die Mörder mich packen und mich über die Treppe schleifen. Er malte sich diese Szene aus, sie erschreckte ihn nicht. Er dachte an die Mörder und an die Nachbarn, nur an Marie wollte er nicht denken. Aber als er vor dem Tor seines Hauses anlangte, dachte er nur noch an Marie. Sie wusste nichts von seinem Entschluss. Er hatte ihr nichts gesagt, weil er wusste, dass er von nun an keiner Herzensregung mehr nachgeben durfte, die seine Kraft lähmte. Vor allen Menschen und von allen Häusern, in denen Menschen litten und das Nahen der Mörder erwarteten, strömte ihm Kraft zu, nur von einem Menschen und von einem Hause nicht. Er wusste nicht, ob Marie seinen Entschluss billigen werde; deshalb strömte ihm von Marie keine Kraft zu, und das Haus, das er betrat, lähmte seinen Schritt. Im Hausflur blieb er stehen. Das Haus war totenstill. Er stand im Dunkeln, an das Haustor gelehnt, und dachte an Marie. Wenn ein Unglück sie ereilte, traf es auch ihn. Ob es ihn oder es sie ereilte, es machte keinen Unterschied. Weder er noch sie hatten es jemals gesagt, aber es war niemals nötig gewesen, es zu sagen. Er und Marie, sie waren eins. Sie waren in den vielen Jahren ihrer Ehe eins geworden. Aber in den letzten Tagen hatte er trotzdem Marie seine Gedanken verheimlicht. In den letzten Tagen hatte er an den Abend gedacht, den er mit Marie einige Monate nach Edmunds Verschwinden in einem Kino verbracht hatte. Marie hatte an diesem Kinoabend einmal laut aufgelacht wie in alten Zeiten. Damlas hatte er gedacht: Vielleicht ist sie stärker als ich. Vielleicht ist sie schwächer als ich. Wir sind nicht eins geworden. Vielleicht können zwei Menschen nicht eins werden. Er dachte: Ich weiß nicht, ob sie meinen Entschluss billigen wird. Was geschieht, wenn sie ihn nicht billigt? Er dachte diese Frage zu Ende. Da er erkannte hatte, dass es nicht darauf ankam, ob Edmund noch lebte, kam es auch nicht darauf an, ob Marie den Entschluss, der vielleicht Todersurteil war, billigte. Rada ging auf seine Wohnungstür zu und öffnete sie. Marie brachte das Essen. Nach dem Essen ging sie in die Küche. Sie säuberte die Küche, dann bügelte sie Radas Hemden. Es kränkte sie, dass seine Hemden rissig wurden. Ein Hemd war eine Kostbarkeit geworden. Es war Mitternacht, als Marie mit ihrer Arbeit fertig war. Als sie das Zimmer betrat, saß Rada bei Tische, als ob er sich seit dem Essen nicht bewegt hätte. „Warum gehst du nicht schlafen?“ fragte Maire. „Es ist Mitternacht.“ „Ich bin schläfrig“, sagte Rada. „Komm, setz dich zu mir.“ „Jetzt? Willst du heute nicht schlafen gehn?“ Sie setzte sich erstaunt an den Tisch und fragte: „Was ist los? Ist etwas vorgefallen?“ Er suchte nach Worten. Er sagte: „Havelka ist verhaftet worden.“ „Mein Gott!“ Marie seufzte. „Warum haben sie ihn verhaftet?“ „Du weißt, dass man die Leute meistens grundlos verhaftet. Aber mit Havelka war es anders. Er ist ein Kämpfer.“ „Was werden sie ihm tun? Er wird hingerichtet werden.“ „Das fürchte ich auch.“ „Was für eine Welt ist das, in der wir leben müssen. Wie die Tiere leben wir, die jeden Augenblick auf den Schlachthof gebracht werden können. Ärger als die Tiere. Die Tiere wissen wenigstens nicht, was ihnen bevorsteht.“ Rada hörte ihr reglos zu und schwieg. „Geh schlafen“, sagte Marie. „Du kannst ihm nicht helfen. Es nützt ihm nichts, dass wir hier sitzen und nicht schlafen.“ Rade legte die rechte Hand auf Maries Rechte, die auf dem Tisch ruhte, und sagte: „Marie, es geht nicht so weiter. Ich kann nicht länger untätig zusehn, wie andre für uns kämpfen und ihr Leben riskieren. Ich muss meine Pflicht erfüllen.“ Maries Gesicht wurde weiß und fahl. „Erschrick nicht“, sagte Rada. „Du musst tapfer sein.“ Maries Hände zitterten. Sie blickte Rada nicht an. Sie blickte auf seine und ihre Hände nieder. Seine Han,d die auf der ihren lag, zitterte nicht. „Hat Havelka einer unterirdischen Organisation angehört?“ fragte Marie. „Darüber darf ich nichts sagen“, antwortete er. „Selbst dir nicht. Ich darf dir auch nicht sagen, ob ich einer Organisation beitreten werde. Das weiß ich übrigens selber noch nicht. Aber ich hab mich entschlossen, an dem Kampf teilzunehmen. Ich will den Kampf unterstützen, soweit es in meinen Kräften steht. Ich muss etwas tun, den Feind bekämpfen. Mehr kann ich dir nicht sagen. Das musste ich dir aber sagen, weil die Gefahr, der ich mich aussetze, dich ebenso wie mich bedroht.“ Marie befreite ihre Hand und legte sie auf die seine. „Ich fürchte mich nicht“, sagte sie. „Marie“, sagte er, „du gibst mir also recht? Du siehst ein, dass es meine Pflicht ist?“ Marie erhob sich und trat vor die Kommode, auf der Edmunds Photographien standen. Sie blickte den vierjährigen Edmund an, der einen Matrosenanzug trug. Sie blickte den Elfjährigen an, der die ernsten, besorgten Augen seines Vaters hatte. Sie blickte den Achtzehnjährigen an. So hatte er ausgesehen, als er verschwunden war. Rada blieb sitzen und betrachtete den schmalen Rücken der Frau. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht verwandelt. In ihren Augen standen Tränen, aber sie lächelte. Sie sagte: „Einmal hab ich mit ihm darüber gesprochen. Jetzt kann ich es dir erzählen. Er hat mich gefragt, ob du einer Kampforganisation angehörst. ,ICh weiß nicht´, hab ich gesagt, ,er hat mir nichts gesagt. Ich glaub, er hätte es mir gesagt. Aber vielleicht darf er es nicht sagen. Es ist möglich´, hab ich gesagt. Darauf hat Edmund gesagt: ´Ich wär froh, wenn er einer der Kämpfer wäre´.“ „Ist das wirklich wahr?“ fragte Rada. Er wusste, dass Marie nicht log. Edmunds Ausspruch beglückte ihn so sehr, dass er nicht wusste, was er redete. „Ja“, sagte Marie, „und ich, ich hab gesagt, dass ich große Angst um dich hätte, wenn du einer der Kämpfer wärst, weil du keine Erfahrung hast. Darauf hat Edmund gesagt: ´Und doch wärst du froh, Mutter. ´“ Rada schwieg. Er saß still und reglos, aber Marie sah, dass er glücklich war. „Wie dich das freut!“ sagte sie. „Seit vielen Jahren hab ich dich nicht so glücklich gesehen.“ „Ich freu mich“, sagte Rada. „Du weißt nicht, was das für mich bedeutet. Ich hab wohl vermutet, dass er es von mir erwartet. Aber jetzt weiß ich es.“ „Du musst schlafen gehen“, sagte Marie. „Es ist spät geworden.“ „Und du“, sagte er, „es ist auch dein Wunsch gewesen?“ „Nein“, sagte sie zögernd, „so eine Heldin bin ich nicht. Ich werde keine ruhige Stunde mehr haben. Aber ich will nicht, dass du mir zuliebe nicht tust, was du für diene Pflicht hältst. Ich werde tapfer sein, das kann ich dir versprechen.“ „Setz dich noch eine Minute zu mir“, bat er. „Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Heydrich mordet nicht nur die Männer, die gegen ihn etwas unternehmen, er mordet auch ihre Frauen, ihre Angehörigen, ihre Familien. Das weißt du ebensogut wie ich. Deshalb schlage ich vor, dass du morgen über die Grenze gehst. In die Slowakei zunächst; das ist nicht allzu schwer. Dort wird dich niemand suchen. Und wenn sie dich dort suchen, kannst du weiterwandern, nach Ungarn. Dort kannst du dich noch leichter verstecken. Das halte ich für vernünftig. Du befreist dich dadurch von meiner großen Sorge. Denn wenn man mich erwischt – gut, dann hat man mich eben erwischt, und ich bezahle mit meinem Leben. Aber ich weiß dann wenigstens, dass du in Sicherheit bist und dass Heydrich dir nichts antun kann.“ Marie hatte ihn stehend angehört. Jetzt setzte sie sich und sagte: „Ist es dein Ernst? Und du glaubst, dass ich ginge und dich hier allein ließe? „Ich will es so haben.“ „Aber du weißt, dass ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen kann. Jetzt bitte ich dich nur um eins: Sprich nicht mehr davon. Wenn man mich hinrichtet, wird man mich auch hinrichten. So soll es sein, ich will es nicht anders haben. Wenn du mir widersprichst, nimmst du mir den Mut. Das kannst du doch nicht wollen.“ Rada sagte nichts mehr. Er stand auf. Auch Marie stand auf. Sie gingen schlafen. Am Morgen griff er nach der Zeitung, ehe er ins Amt ging. Wie die meisten Tschechen las e ran jedem Morgen die Liste der Todesopfer des gestrigen Tags. „Marie“, rief er, die Zeitung zittern in den Händen haltend. Sie kam aus der Küche und warf einen Blick auf die Liste der Hingerichteten. Sie las: „Die folgenden Personen wurden vom Volksgericht zum Tode verurteilt. Die Todesurteile wurden gestern vollstreckt. Jaromír Havelka, geboren in Tábor, wohnhaft in Prag, 51 Jahre alt. Ludmila Havelková, geboren in Chotěboř, wohnhat in Prag, 48 Jahre alt. Václav Havelka, geboren in Prag, wohnhaft in Choceň, 23 Jahre alt. Vladimír Havelka, geboren in Prag, wohnhaft in Přerov, 21 Jahre alt. Rada ließ die Zeitung zu Boden fallen. „Geh in die Slowakei“, sagte er „Ich bitte dich, geh.“ „Nein“, sagte Marie. „Ich bleibe hier.“