Die Wohnung war nicht schlecht, doch das Beste an ihr war der Bäcker. Ich hatte nicht seinetwegen den Umzug gemacht, aber seinetwegen würde ich nie wieder fortziehen. Er backte Brötchen, wie man sie lange schon nicht mehr für möglich hält. Es war, als hätte eine untergegangene Art einen der Ihren zurückgelassen, um der Welt zu zeigen, was ihr verlorenging. Manchmal trifft man noch auf eine Tomate, die wie eine Tomate schmeckt. Manchmal riecht eine Gurke herb und süß, wie die Gurken einstens rochen. Manchmal sehen Erdbeeren nicht nur aus, als wären sie Erdbeeren. Das ist dann Glück. Aber Glück ist ein Wort für die Ausnahmen. Ich klinge ungerecht, wo man weiß, daß ich einen Bäcker gefunden habe, dessen Brötchen unterm Biß noch knirschen. Die einem die Tasche wärmen, wenn man sie nach Hause trägt. Deren Duft uns im kahlen Wintermorgen die Nase hebt. Die nicht mit säuerlicher Luft gefüllt sind oder kaltem Kitt. Die man hört, wenn man das Messer durch sie zieht, um den goldschründigen Doppelbuckel vom porösen halbbraunen Boden zu trennen. Bei solchen Brötchen und bei einem Bäcker, der solche macht, klinge ich ungerecht. Vielleicht bin ich es, viel- 67 leicht habe ich Gründe und bin es dann nicht. Man soll es ruhig prüfen. Natürlich hatte ich den Bäcker nicht für mich allein. Als ich zum ersten Mai die Schlange vor seiner Tür sah, hielt ich es für ausgemacht, daß ich ihr Teil niemals werden würde. So gut kann gar kein Backwerk sein, dachte ich, aber wenn ich in die abgelebten Teigwaren vom Konsum biß, dachte ich es weniger heftig. Und eines Morgens reihte ich mich in die Queue. Der Bäcker öffnete um sieben. Auch eine Nachricht, zu der man beteuern muß, sie stimme. Wirklich, er öffnete um sieben, und eine halbe Stunde vorher stand ich bei ihm an. Die Frau vor mir wußte gleich, wie neu ich in dieser Sache war, und dafür, daß ich ihr auf ihre erstaunlich umfassenden Fragen stückweise meinen Lebenslauf lieferte, unterwies sie mich in den Techniken des Brötchenerwerbs bei Bäcker Schwint. Sie sprach etwas laut, wie es Schwerhörige tun. Sind Sie neu hier? fragte sie, und dann sagte sie: Sie sind neu hier!, und sie sagte: Halb sieben ist gerade richtig. Man steht nicht zu lange, und man kommt nicht zu spät. Sind Sie der neue Mieter bei Schlössers? Sie sehen nicht aus wie ein Junggeselle. Oder sind Sie geschieden? Also geschieden. Wenn Sie um halb sieben kommen, sind Ihnen Schrippen sicher. Wer später aufsteht, muß Knüppel nehmen. Die Knüppel von Schwint sind nicht schlecht, aber Schwint seine Schrippen sind wie beim Kaiser. Hatten Sie, wo Sie herkommen, auch so einen Bäcker? Nein, hatten Sie nicht, dann wären Sie nicht weggezogen. Zeigen Sie Ihr Netz! Ja, das geht, aber kommen Sie bei Frau Schwint nie mit so einem Elastikding, wo sie die Brötchen mit Gewalt hineinstopfen muß, da gibt sie Ihnen bald nur die verhutzelten Stücke. Die steifen Plastenetze mag sie auch nicht, da ekelt sie sich vor. Am besten ist ein Leinenbeutel, so wie Schwint seine Brötchen sind, und ich warne Sie, Schwint hat wegen Totschlag gesessen, er ist eifersüchtig. Das mochte er von mir aus ruhig sein, ich wollte nur an seine Brötchen. Aber ein wenig geschmeichelt fühlte ich mich doch, denn da die Frau mich nicht weiter kannte, hatte sie die Warnung auf den bloßen Augenschein von mir geliefert. Ich habe jedoch bald erfaßt, daß der Bäcker eifersüchtigwar ohne alles Ansehen der Person. Jeder Mann in der Nähe der Bäckersfrau rief seinen Argwohn wach, und er gab sich auch keine Mühe, das zu verdecken. Viel Sinn machte die Sache nicht, denn die Bäckerin war zwar nicht unansehnlich, aber sie war mit ganzer Hingabe einzig beim Brötchenverkauf. Wie ihr Mann als ein Meister seines Handwerks gelten konnte, war sie eine Meisterin des ihren. Sie wußte, wer helle Schrippen nahm und wer lieber scharfgebackene wollte, sie zerschnitt die Brote so, daß die Teile wirklich Hälften waren, sie kannte die meisten Kinder bei Namen, dankte und grüßte und gab Kindern und Alten ein Extrawort, und wer krank gewesen war, durfte rasch sagen, daß es ihm nun viel besser gehe. Wie sehr sie eine Könnerin war, zeigte sich vor allem an ihren Kunden. Die sorgten selber, daß die Reibungsverluste niedrig blieben, indem sie ihre Bewegungen mit 68 69 denen der Verkäuferin synchronisierten. Man hielt passendes Geld parat, Erwachsene halfen Kindern, und junge Frauen achteten, daß stoppelbärtige Opas und taube Großmütter der Bewegung nichts von ihrem Schwünge nahmen. Und die Erfahrenen wiesen den Neuling ein, zum Beispiel Frau Lörke mich: Wenn Sie hier Schrippenkunde sein wollen, müssen Sie auch Kuchenkunde werden. An den Schrippen verdient Schwint nichts, und sein Kuchen ist nicht besonders, aber wenn Sie keinen nehmen, merken Sie das bald. Schwint steckt nicht in seinen Brötchen drin, und das, was nicht so geworden ist, kriegen Sie dann. Oder Sie kommen zu spät und müssen Knüppel nehmen, aber wenn Sie Tortenkunde sind, greift Frau Schwint hinter den Knüppelberg, wo sie die Reserven für Tortenkunden hat. Wie Sie heißen, können Sie einmal sagen, wenn er mit im Laden ist. Am besten, Sie sagen es zu ihm, dann denkt er nicht, Sie wollen was von seiner Frau. Das ist für keinen gut, wenn Schwint das denkt. Wie heißen Sie denn? Ich heiße Farßmann, sagte ich, und ich dachte: Dafür,' daß es am Ende um eine Annehmlichkeit zum Frühstück] geht, ist es recht aufwendig, und manchmal klingt es fall] bedrohlich. Und ich dachte: Das Leben ist ein kompll« ziertes System, und zwar nicht nur im ganzen, sondert auch in allen seinen Teilen. Ich liebe es, mir solche Gedanken zu machen; zul seit ich allein lebe, habe ich zunehmend Freude clnrdl Und meine Neugier auf Menschen ist gewachsen, mich eigentlich wundern sollte, denn kurz nach der Sei dung hatte ich von anderen Leuten nicht das geringste mehr wissen wollen. Aber jetzt sah ich mit Anteilnahme zu, wie sich der Schwintsche Kundenkreis in gleichmäßig zügiger Bewegung an der behenden Bäckersfrau vorbeidrehte, und ich hatte mein Vergnügen an dem flinken Austausch zwischen ihr und der Kundschaft. Es war ein Genuß von ausschließlich technischer Natur, mit dem ich Frau Schwint zusah und auch zuhörte, aber als in einer warmen Wolke von Semmelduft der Meister in den Laden trat, um frisches Backwerk zu bringen, sah ich doch lieber nach dem Prasselkuchen und den Schweineohren. Wozu sonst hatte Frau Lörke mich gewarnt? Der Bäcker grüßte, und die zwölf Kunden im Laden grüßten zurück, und am Ton war zu hören, daß sich ein König seinem Volke zeigte. Der König füllte die Lücken im Weißbrotregal auf; er konnte das, ohne hinzusehen. Fi musterte uns mit einem Interesse, das nicht verwun-ilrni sollte. Schließlich buk er seine raren Köstlichkeiten <(u uns, und da mußte es ihn schon kümmern, ob er es inii Genießern oder Banausen zu tun hatte. Schließlich •Inml er unseretwegen auf in der tiefen Nacht, da durfte ri uns so prüfend betrachten. Schließlich gab er Genuß in »iiimt Leben ein, da war er zu Blicken berechtigt. So weit, so gut, nur verfuhr der Mann beim Blicken •fllmim. Zwar übersah er niemanden, aber von den einen Willen seine Augen rasch wieder fort, und auf den andern »ihren sie lange. Für die acht Frauen im Laden, seine fiHi'iir nicht mitgezählt, brauchte er nicht soviel Zeit wie riiien von uns vier Männern, und von denen wieder Muttii iili den Löwenanteil. 70 7i Diese Auskunft ist nichts zu meinen Gunsten und kommt auch nicht von Eitelkeit. Ich war neu, und es war eine Frage des Alters der anderen Herren. Wer weiß, welche Art Leben sie grau und krumm gepreßt hatte; sie waren aber altersgrau und alterskrumm, und kein Bäcker mit einer jungen Frau mußte sich ihretwegen noch hitzige Gedanken machen. Meinetwegen mußte das auch keiner tun, kein Bäcker noch Fleischer noch Tuchscherer mußte das. Es war un-verheilt, was eine Scheidung mir zerrissen hatte. Ich war auf frische Brötchen aus und nicht auf neue Damen. Was der Bäcker nicht wissen konnte und was ihn auch nichts anging. Ich wollte lediglich Austausch von Geld gegen Ware, und in solchem Verkehr ist Seelisches störend. Wir werden einander, dachte ich und gab ihm seinen Blick zurück, durch nichts als Zahlung verbunden sein, und was das Sinnliche betrifft, so soll es damit beim Biß ins frische Brötchen sein Bewenden haben. Es wird Einbildung gewesen sein, aber mir schien, als beruhigte sich der argwöhnische Handwerker. Er zog zwei Leinenbeutel aus der Kitteltasche, einen weißen und einen karierten, und begann, aus dem doch schon erlesenen Gebäck allererlesenste Stücke auszulesen. In den karierten Beutel kamen acht Schrippen von erstaunlichem Ebenmaß und von erstaunlich gleicher goldbrauner Farbe, und der weiße Beutel wurde mit zehn sehr unterschiedlichen Proben aus dem Sortiment gefüllt, mit hellen und dunklen Brötchen, mit flachen und hohen Knüppeln und mit zwei Hörnchen, eines knusprig und eines milchweißweich. Es war ersichtlich Übung von lange her, die den Meister beim Wählen und Füllen leitete, und der Vorgang schien zu den Morgenbräuchen zu gehören, denn niemand außer mir zeigte sich daran interessiert oder gar verwundert darüber. Ich war verwundert, gebe ich zu; der Bäk-ker hatte meine ganze Aufmerksamkeit, und dadurch merkte ich, daß ich auch seine hatte. Man sieht es dem Rücken eines Mannes an, ob es den Mann kümmert, daß man vorhanden ist. So sah ich, wie ich eben bei der Meisterin an der Reihe war, wie sehr ihr Gatte meinen Worten lauschte. Die hatten eigentlich nur: Zwei Schrippen, bitte! lauten sollen, doch sagte ich statt dessen: Sechs Schrippen, bitte, zwei scharfe, zwei helle und zwei normale, wenn's geht! Wollte man mich nach einer Erklärung fragen: Ich war wohl angeregt von den größeren Posten, die der Meister persönlich betreute. Mir schien es, so denke ich mir, unangemessen, mit einem Groschenbetrag in den Kunden-Ii reis einzutreten, und durch die differenzierte Bestellung wollte ich wahrscheinlich kundtun, daß man in mir getrost einen Kenner vermuten dürfe. Keinesfalls hatte ich im Sinn gehabt, mein Alleinsein zu vertuschen, aber am Rücken des Herrn Schwint las ich ab, wie er meine Bestellung verstand: Mann mit Frau und Kind, und zwar solchen, die ihm etwas bedeuten. I )ie nicht einfach zu nehmen haben, was er bringt, sondern gebracht bekommen, was sie wünschten. Die ihren eigenen Geschmack haben, der berücksichtigt wird. Der neue Mann in der Kundschaft ist ein rücksichtsvoller l.imilienvater. Also Entwarnung, halbwegs jedenfalls. 72 7^ Von mir aus, guter Freund, so dachte ich, als ich des Bäckers Rückenmuskeln von ihrer Spannung verlieren sah, von mir aus könnten Sie aus allem Alarm. Ich bin auf keiner Schürzenjagd. Ich war erst jüngst beim Scheidungsrichter und will ihn nicht mehr sehen. Vor meinen Augen, werter Bäckermeister Schwint, hat sich meine Frau aus einer natürlichen in eine juristische Person verwandelt, das war mir ziemlich scheußlich. So habe ich gedacht, und so hätte ich gesprochen, wäre es schon diesmal zur Zwiesprache zwischen Herrn Schwint und mir gekommen und wären wir dabei allein gewesen. Aber wir waren nicht allein, und ich war noch neu. Da habe ich die Brötchen bezahlt und bin aus dem Laden gegangen, und auf dem Heimweg schalt ich mich, weil ich nun immer das Dreifache des benötigten Gebäcks würde ankaufen müssen, denn: Zwei scharfe, zwei helle und zwei normale! das hatten sich zumindest Frau Schwint, Herr Schwint und die schwerhörige Frau Lörke gemerkt, und künftige Beschränkung auf zwei Schrippen würde ganz gewiß zur Vernehmung durch Frau Lörke führen. Aber Verhör fand auch so am anderen Morgen statt. Die Nachbarin Lörke wollte wissen, ob ich tatsächlich sechs Brötchen zum Frühstück verzehrte und warum dann so verschiedene. Sie traf mich präpariert. Ich hatte ihr zwei Kolleginnen in meinem Betrieb erdacht, und andeutungsweise ließ ich innige Verhältnisse zwischen denen und mir bestehen, so innig, daß ich im Grunde nicht meinetwegen, sondern im Dienste der beiden Damen so früh in der Bäckerschlange stand. Frau Lörke mochte die Geschichte. r Und ich fand allmählich selber Gefallen an den Weibspersonen, die ich ersonnen hatte, um Frau Lörke die Schrippenmenge einleuchtend zu machen. Sie waren von äußerstem Liebreiz, beide. Sie waren in Charakter und Erscheinung unterschiedlicher nicht zu denken und nur in einem gleich: in ihrer innigen Verbindung mit mir. Und, daß ich es nur nicht vergaß, in etwas anderem glichen sie einander: Sie waren, anders würde ich ihre Nähe nicht gesucht haben, sie waren beide unverheiratet. Aber sonst herrschte der krasseste Gegensatz, was schon an den Brötchen zu sehen war: Die eine war nur auf scharfe scharf, und die andere wurde weich durch weiche. Zu diesem Wortspiel kicherte Frau Lörke. Wer weiß, was sie verstanden hatte. Sie hörte wirklich nicht gut. Zum Beispiel war sie der Meinung, ich sei Buchhändler, und gesagt hatte ich auf eine ihrer unzähligen Fragen, daß ich Buchhalter war. Das schien nicht wichtig, aber war es dann doch. Solange Frau Lörke etwas lüstern nach meinen Buchhändlerinnen fragte, war es nicht wichtig, und am ersten Sonnabend kam mir die Verwechslung sogar gelegen, denn ich hatte etwas gedankenlos wieder die drei Brötchenpaare bestellt, und da traf es sich, daß Buchhändler auch sonnabends arbeiten, Buchhalter hingegen kaum. Wenn man aber Buchhalter ist und von einem Buch-lialtcrgehalt lebt, gehen zwei Phantombräute spürbar ins (icld. Schon die überzähligen Schrippen belasteten meinen lítat, aber ich konnte nicht gut Kuchen kaufen, wie Frau I -iJrke mir geraten hatte, ohne meine beiden Gespielinnen mit Liebesknochen und Plundertaschen zu bedenken. 74 7 5 HHsH Das überschüssige Gebäck, welches ich nur erwarb, weil ich von einem Bäckerrücken Argwohn abgelesen hatte, brachte mich nicht nur finanziell aus der Balance: Ich hatte keine Lust, unverzehrte Brötchen zu Semmelmehl zu reiben, zumal ich auch nicht wußte, wohin mit all dem Semmelmehl, und ich hatte Skrupel, übriggebliebenen Kuchen dem Müllschlucker in den Rachen zu werfen. Also nahm ich die fabelhaften Schrippen und das nicht so fabelhafte Gebäck mit in meine Buchhaltung, und schon sah ich mich in weitere Schlingen verstrickt: Nun wollten alle im Büro so wunderbare Brötchen haben, und ich mußte mir mit der Erfindung helfen, bei Meister Schwint werde noch kontingentiert. Aber den Kuchen wollte außer dem freßsüchtigen Fräulein Weigel bald keiner mehr, und prompt kam ich mit Fräulein Weigel ins Gerede. Rein buchhalterisch betrachtet war die Sache unausgewogen : Fünfmal in der Woche eine halbe Stunde früher aufstehen, zwischen zehn und zwölf Mark monatliche Mehrkosten für nicht benötigte Bäcker- und Konditorwaren, das zehrende Interesse Frau Lörkes an meiner Doppelliebe im Büro, die Dankbarkeit Fräulein Weigels und das Gestichel der Kollegen dort und schließlich die immerhin erforderliche Mühe, es im Verkehr mit Frau Schwint beim Wohlgefallen an den knusprigen Brötchen sein Bewenden haben zu lassen und dieses dem gefährlichen Meister durch entsprechendes Betragen auch anzuzeigen - das alles wegen zwei Stückchen Backzeugs war rechnerisch nicht ganz erlaubt. Nur schlug das Rechnerische nicht zu Buche, wenn ich 76 in Schwintens Schrippen biß. Die waren eben so, daß sich alles Abgezähle verbot. Sie waren das Leben. Das klingt übertrieben, aber ich empfand es so. Oder, um genau zu sein: Ich konnte es so empfinden, nachdem ich doch einmal abgezählt und errechnet hatte, daß der Stückpreis der von mir tatsächlich verzehrten Brötchen auf über siebzig Pfennige kam, das Frühaufstehen und die Lasten auf der Seele nicht veranschlagt. Dem Buchhalter in mir mußte das als reiner Aberwitz erscheinen, und so kam ich mir auch an jedem Morgen, an dem ich in mein überzahltes Frühstück biß, äußerst verwegen vor. Diese Verfassung hielt an bis ins Büro, und einmal hieß es im Gerede dort, die Scheidung habe mir merklich gutgetan. Zwar wußte ich es anders, aber ich widersprach doch nicht, und ich wehrte mich auch nicht, als ich spürte, daß mir allmählich die Zunge loser ging und mir die Glieder lockerer in den Gelenken hingen. Gewiß ist es übertrieben gewesen, die Brötchen für das Leben zu nehmen, aber unbestreitbar bin ich dem Leben wieder nähergekommen, als ich an jenem Morgen nach dem Umzug in die Schlange vor Schwintens Laden (rat. Und als ich eines anderen Morgens zum ersten Mal in ein Gespräch mit dem Bäckermeister kam, war ich kaum noch befangen und höchstens ein wenig dankbar. I lud nicht im mindesten überraschte es mich, daß Frau Lörke den Mann mit aller Nachricht über mich versehen hatte. Schließlich hatte sie mich auch über ihn mit allen Nachrichten, einschließlich derer aus dem Strafregister, versehen gehabt. Daß der Bäcker und ich alleine waren, erklärt sich 77 aus einer Grippe, die mich bis in den Vormittag im Bette hielt, bis in eine Stunde, von der die Kundschaft wußte, wie wenig Brötchen und selbst Knüppel da noch zu holen waren; Frau Schwint versah dann die Küche, und die wenigen Gänge in den Laden tat ihr Mann. Der sagte zu mir: Ist wohl heute Ruhetag im Buchhandel? Ich brauchte eine Weile, den Satz zu entschlüsseln, aber als ich erfaßt hatte, welchen Sinn er transportierte, wußte ich, daß FrauLörke alles über mich, einschließlich ihres Hörfehlers, an den Meister geliefert haben mußte. Nur für mich, sagte ich, eine kleine Grippe. Ja, sehen Sie, sagte er, das könnte ich mir gar nicht leisten. Wir behandelten das Problem der schweren Verantwortung, die ein selbständiger Handwerksmeister zu tragen hat, unter verschiedenen Gesichtspunkten, aber es war Herr Schwint, der am Ende einräumte, sein Beruf habe auch freundliche Seiten. Allein wenn er bedenke, sagte er, wie vielen Mitmenschen er den Tagbeginn angenehmer mache, erfülle ihn Zufriedenheit. Ja, antwortete ich, und es fiel mir gar nicht schwer, etwas Neid anklingen zu lassen, wer das von sich wissen kann, ist wohl glücklich dran. Der Meister sah mich prüfend an, schien etwas von mehreren Seiten her zu bedenken, und bei seinen nächsten Worten hatte ich den Eindruck, unser Gespräch verschöbe sich in eine höhere Phasenlage. Denn Herr Schwint äußerte die Ansicht, auch ein Buchhändler habe es wohl in der Hand, anderen Leuten Annehmlichkeiten zu bereiten. Einer solchen Vermutung wollte ich getrost beitreten, doch ehe ich es konnte, hatte Herr Schwint ihr den etwas rätselhaften Satz angefügt: Allerdings denke ich mehr an (Jen Abend als an den Morgen, denn unsereins kommt nur abends dazu, weil morgens die Brötchen dran sind, Sic verstehen! Ich verstand überhaupt nichts, und Herr Schwint muß mein Mienenspiel für das richtige in diesem Abschnitt unseres Handels gehalten haben, und daß wir uns in einem Handel befanden, erfuhr ich aus seinen nächsten Worten: Angenommen, ich wäre Ihr Kunde, dann wäre die Sache so, daß Sie bei mir Freude am Morgen suchten und ich bei Ihnen Freude zum Abend. Wenn ich nun zu Ihnen sagte: Könnten Sie mir nicht einmal etwas Erfreuliches zum Abend mitbringen?, dann würden Sie denken: Der Schwint, der spinnt! Ich stelle mich jeden Morgen eine halbe Stunde bei ihm an, und dafür soll ich ihm etwas über den Ladentisch schieben? Wo wäre denn da, müßten Sie denken, mein Nutzen? So weit war ich noch gar nicht mit meinem Denken. Ich hielt bei der Frage, was der Mann wohl mit den Annehmlichkeiten des Abends meinen und wie der Buchhandel da hineinspielen mochte, und ich rief mir zu, hier sei der Punkt, an dem ich Meister Schwint vom Hörfehler seiner Kundin Lörke sagen müßte. Der Auftritt einer betagten Frau unterbrach den dunklen Dialog zwischen dem Meister und mir, aber ich konnte ihn zu klärenden Überlegungen kaum nutzen, denn die Szene machte mir drastisch klar, wie man dran 78 79 war bei Meister Schwint, wenn man nicht beizeiten zur Stelle sein konnte. Aber junge Frau, sagte der Bäcker in jenem Tonfall, der mir den Gedanken ans Älterwerden nicht angenehmer macht, werte Frau Kundin, wo denken Sie hin? Schrippen jetzt? Knüppel noch? Hörnchen um diese Stunde? Wie lange kommen Sie schon bei mir, Frau Lüderitz? Da wissen Sie doch, daß um die Zeit kein müder Krümel mehr zu haben ist! Herr Schwint hat Frau Lüderitz ein halbes Graubrot verkauft, und er war nicht der Mann, sich wortlos auf die Wirkung des Vorgangs zu verlassen. Ja, ja, Herr Farßmann, sagte er, so ist das, wenn man nichts zu bieten hat. Grausame Welt, aber keiner von uns beiden hat sie gemacht. Nun muß jeder sehen. Ich bat um die andere Hälfte des Graubrots und wollte gehen, aber er war entschlossen, uns in einen Handel zu bringen. Herr Farßmann, sagte er, seit Sie mein Kunde sind, habe ich Sie im Auge. Sie sind ein Beobachter, habe ich bemerkt. Sie haben einige Male zugesehen, wenn ich die beiden Beutel mit den Brötchen füllte. Was Sie aber nicht gesehen haben, ist, wo ich mit den Beuteln bleibe. Die hänge ich in einer Hofecke an zwei bestimmte Nägel. Den einen Beutel holt mein Zahnarzt, den anderen holt der Mann, der bei meinem Wagen die Durchsichten macht. Es ist noch ein dritter Nagel da, aber mehr, das gilt eisern, wird es niemals geben. Herr Schwint schwieg auf eine Weise, daß mir einfallen mußte, was zu sagen war: Und Sie meinen, der dritte Nagel. . . Das wäre ja fabelhaft, nur müßte ich nun doch genauer wissen, an welche Gegenleistung Sie denken. Versteht sich, Herr Farßmann, sonst schleppen Sie mir was Astronomisches an oder bulgarische Kochbücher. Obwohl, ich dachte, ich hätte mich angedeutet. Für die Freuden des Abends, Sie werden verstehen! Das glaubte ich jetzt auch, aber ich sagte, soweit ich wüßte, sei das Angebot unseres Buchhandels auf diesem Gebiet weder breit gefächert noch sonderlich profiliert. Soweit Sie wissen, Herr Farßmann, Sie sind gut! Aber ich erwarte mir ja nichts Ausgefallenes, ich erwarte mir nur Sachen, die es gibt und die ich sonst nicht kriege. Zum Beispiel, wenn Sie mir dieses chinesische Ding besorgen könnten, Tsching Peng Meck, da brauchten Sie auch nicht mehr von meinen Torten zu kaufen. Weil ich zu sehr in einen Handel verstrickt war, in dem ich vorerst nur mit einer Nachfrage aufwarten konnte, hatte ich nicht die Muße, das Vorkommen von Selbstkritik beim Umgang eines Bäckermeisters mit seinen Produkten zu bestaunen, aber die Aussicht, vom Kuchenzwangskauf ebenso loszukommen wie von Fräulein Weigels Dankbarkeit und dem dazugehörenden Ge-tuschel im Büro wie auch von der unsinnigen finanziellen Belastung, ließ mich zu allem nicken, was Herr Schwint mir vorgetragen hatte, und als ich begriff, daß der eigentliche Hauptgewinn in arbeitstäglich zwei warmen Schrippen plus einer halben Stunde Mehrschlaf bestand, sprach ich, wie ich es aus dem Kino kannte: Der Handel gilt! Und Bäckermeister Schwint hat mir gezeigt, wie sorglich er den einzuhalten gedachte, denn er hat in ein Ge- So 81 heimfach gegriffen, es muß ein Geheimf ach gewesen sein, und hat mir sechs Brötchen ausgefolgt, zwei scharfge-backene, zwei sehr helle und zwei von normaler Beschaffenheit. Ich zahlte, dankte und ging und widerstand der Versuchung, mich bei dieser Gelegenheit auch gleich meiner Geisterbräute zu entledigen, denn ich ahnte, daß Herr Schwint in mir den Mann mit Verständnis für sein Verlangen sah, weil ich mich offen zu zwei Gefährtinnen bekannte. Von denen er übrigens anzunehmen schien, sie würden mich auf meinem Krankenlager besuchen, denn er hatte mir die Schrippen für sie gegeben, obwohl er wußte, daß ich heute nicht in meinen Buchladen ging- An diesem Punkt fuhr ich mir in die Gedanken und herrschte mich an: Du Spinner gingest in keinen Buchladen nicht, wenn du gingest. Wenn du gingest, gingest du in eine Buchhaltung, und wie du da ein Exemplar von diesem verdammten Kin Ping Meh auftreiben willst, das wird nun deine Sorge sein! Ich entsann mich zu gut des verrückten Gebarens eines Vetters, der mir den chinesischen Roman einmal geliehen hatte. Er verlangte Pfänder von mir, und jeden Abend kam er vorbei, um zu sehen, ob ich die Scharteke noch hatte, und dann wollte er wissen, wie weit ich mit dem Lesen war, und danach wurden die scharfen Stellen besprochen, und schließlich neigte mein Vetter dazu, nunmehr von den scharfen Stellen in seinem Leben zu berichten. Da war Kin Ping Meh aber besser. Übel fand ich, daß mich dessen Lektüre zu dem Irrtum 82 führte, in allen dicken alten Büchern aus China gehe es so lose zu. Ich habe eine Menge Zeit auf die Suche nach eingestreuten Unanständigkeiten gewendet, aber im Grunde bin ich nur über Speisefolgen, Schimpfreden bei Duellen und mir nicht recht einleuchtende Ansichten philosophischer Natur unterrichtet worden. Solche Dinge zu wissen ist nicht schädlich, aber ihr praktischer Nutzen bleibt beschränkt. Was man von den Informationen, die ich Kin Ping Meh entnahm, nicht sagen kann, aber wenn ich das belegen wollte, hörte ich mich bald wie mein Vetter an, und das möchte ich vermeiden. Ich habe es auch vermieden, mich lange bei dem Gedanken aufzuhalten, ich könnte dem Vetter zugunsten meines Bäckers und also zu meinen Gunsten die chinesische Sittenschilderei abschwatzen. Er hätte das Buch damals, als er es mir lieh, am liebsten an eine lange und unzerreißbare Schnur gebunden, und an der hätte er immer gezogen, wenn ihm nach Kontrolle war. Auch hätte er mir nie geglaubt, daß es mir nur um etwas mehr Ökonomie, etwas mehr Schlaf und etwas mehr Freude am Frühstück ging. Diesen Verwandten konnte ich getrost auslassen, wenn ich nach Wegen sann, auf denen sich zu Kin Ping Meh gelangen ließe. Aber dann ist mir doch nur der Vetter geblieben, denn in meinem Bekanntenkreis hat sich niemand zum Besitz des würzigen Werkes bekennen wollen - außer Fräulein Weigel, die ich in meiner Not auch danach gefragt hatte. Noch nie, sagte Fräulein Weigel, sei ihr einer so direkt gekommen, aber sie schätze das, und wenn ich mich am Abend bei ihr einfände, wollten wir mit verteilten Rol- 83 len ausgewählte Szenen lesen. An der Art, wie sie mich in die Rippen stieß, als sie mich aufforderte, Plunderstücke und Liebesknochen nicht zu vergessen, merkte ich, daß sie nicht nur an Freßsucht litt. Es war sehr unangenehm, denn Fräulein Weigel unterrichtete das Büro von meiner Offerte. So sprach sie jedenfalls, von einer Offerte, und in der Buchhaltung ging es einige Tage, wenn man mich einmal nicht zählt, recht fröhlich zu. Da habe ich Fräulein Weigel den Schwintschen Kuchen entzogen. Ich habe ihn den Tauben am Humannplatz geschenkt. Der Bäckermeister und Bücherfreund führte sich auch befremdlich auf. Wenn er sonst nur gekommen war, um neuestes Backwerk zu liefern oder die beiden Brötchenbeutel zu füllen oder festzustellen, ob ein Mann seiner Frau begehrliche Augen machte, erschien er jetzt immer dann, wenn ich im Laden war, und von anfangs nur fragender Mimik geriet er am Ende in eine Pantomime, in der er mich mit saugendem Blick ansah, dann die Schrippenbeutel von Zahnklempner und Wagenklempner schwenkte und schließlich so an der Haut um seine Augen zerrte, daß sie sich zu zwei vielsagenden Schlitzen verengten. Natürlich blieb mir nichts übrig, als bedauernd die Schultern hochzuziehen, und natürlich blieb unser gestischer Austausch niemandem verborgen und also der Bäk-kerin auch nicht. Sie sah verstört nach ihrem Mann und dann nach mir, und ich zog auch für sie bedauernd die Schultern hoch. Es war mir nur darum zu tun, ihr anzudeuten, daß ich für das Gebaren ihres Mannes nichts konnte. Aber der betrachtete plötzlich in tiefer Nachdenklichkeit seine Frau und mich, und das fehlte mir noch. Ich rief in einer Tonlage, die eine Botschaft war: Wie immer, Frau Schwint, zwei normale für mich und dazu, wie immer, zwei helle und zwei scharfe! Der Bäcker hat die Botschaft vernommen und hat sich in seine Backstube entfernt, und ich bin besorgt nach Hause und danach immer noch besorgt zur Arbeit gegangen. Es war an der Zeit, daß ich das chinesische Ding auftrieb, denn dieser Bäcker war bekanntlich nicht ganz bei Sinnen. Wer wußte, zu welchen pantomimischen Darstellungen er noch bereit war, um mich auch ja recht unmißverständlich an Kin Ping Meh und dessen bewegtere Stellen zu erinnern. Wenn jemals ein Mensch Grund hatte, die Schrumpel-stilzchen, welche der Konsum unter der Warenbezeichnung Brötchen feilhält, einfach für Brötchen zu nehmen und die Schwelle von Bäckermeister Schwint zu meiden, dann war ich dieser Mensch. Aber ich war auch, das merkte ich zu meinem Schrecken, den Schrippen des Meisters verfallen. Ich war süchtig auf eine Art, von der man vielleicht noch nicht gehört hat, ich war brötchensüchtig. Sucht ist Sucht, Trunksucht, Freßsucht, Eifersucht, fast aussichtslos, davon wegzukommen. Also ergibt man sich. Also zahlt man seinen Preis. Also mußte Herr Schwint seinen Kin Ping Meh erhalten. Also mußte ich zum Vetter hin. Ich fragte ihn gleich, ob er mir den chinesischen Reißer 84 85 verkaufen wolle, und er sagte, ohne hinzudenken: Für kein Geld! Das wollte aber nichts meinen, er hatte schließlich eine Zeitlang mit älteren Autos gehandelt. Für kein Geld! hieß nur: Für sehr viel Geld!, oder es hieß: Zwar für kein Geld, für Geld nicht, aber ich höre Vorschläge. Freilich hatte ich keine Vorschläge zu machen. Buchhalter ist auch in dieser Hinsicht kein Posten mit allzu vielen Möglichkeiten, denn Waren wie Geld kommen bei uns nur in Zeichen vor, und wollte man an sie in ihrer wirklichen Gestalt, müßte man in verzweigte Bündnisse treten. Von da an wird es kriminell. Weil es beim Handel üblich ist, an entscheidenden Punkten eher zu schweigen als zu reden, und weil ich auch gar nichts anderes wußte, schwieg ich nach dem Ausruf meines Vetters, und um die verstreichende Zeit zu nutzen, machte ich mir einen weiteren Gedanken: Der Bäcker zum Beispiel, dachte ich, hätte dir wortlos die andere Hälfte vom Graubrot ausgefolgt, von dem die arme Frau Lüderitz den ersten Teil bekommen hatte, wenn du ihm ein Buchhalter gewesen wärest. Kein Wort über abendliche Freuden hätte der mit einem Buchhalter getauscht, ganz zu schweigen von einem Geschäft, bei dem es um frische Semmeln ging und um eine alte und doch noch recht frische Geschichte. Ich erwog gerade, ob wir Buchhalter nicht heutzutage die eigentlichen Proletarier seien, als mein Vetter noch einmal sagte: Für kein Geld! Aber, sagte er weiter, und er machte ein Gesicht, wie ich denke, daß die Könige im Märchen es machten, wenn sie mittellosen Wanderbur- schen Unmögliches aufgaben, aber, sagte mein Vetter, wenn du eine Karte für den Tierparkball besorgst, ist die chinesische Schwarte dein. Er war immerhin ein Verwandter, und so kann ich nicht sagen, daß Tücke aus seinem Antlitz leuchtete, aber Karten für den Tierparkball, das war stark! Karten für den Tierparkball waren selbst unter märchenhaften Umständen kaum zu erlangen. Mein Vetter wußte das, und er wußte, daß ich es wußte. Den Nachrichten zufolge, welche wir beide verläßlich hatten, waren die Teilnehmer an dieser Geselligkeit von der erlauchten Art, wie sie zuletzt auf der sinkenden „Titanic" beobachtet werden konnte. Antiquitätenhändler, Speditionsdispatcher, Vulkaniseure, Spitzenfriseure, Leitende Leiter, Annoncenannehmer, Besitzer von Lackieranstalten und Mietgaragen, Verwandte von Verwaltern, Männer vom Fahrzeughandel und Frauen von den lauten Künsten - Leute, die mit dem Tierpark wenig zu schaffen hatten, wohl aber mit dem Ball, der dessen Namen trug. Ein Wunder, dachte ich, als ich im Schock nach meines Vetters verstiegener Forderung verwirrt Gedankenkreise um mich schlug, ein Wunder, daß Bäcker Schwint in diesem Zirkel fehlt, wo es ihm doch ein leichtes sein sollte, da hineinzugelangen - ein Beutelchen an einem Nägelchen in einem Balken auf einem Hof . . . Aber wahrscheinlich wußten sie einfach nicht voneinander, der Mensch mit den Karten für den Tierparkball und der Letzte Wirkliche Schrippenbäcker, und das war gut so, denn wo bliebe ich, wenn die beiden einen Handel hät- 86 8? ten? Ich bliebe draußen, weil der Verteiler so begehrter Billetts wahrscheinlich auch chinesische Romane schlüpfrigen Einschlags zu beschaffen wüßte. Und warum, zu welchem Vorteil für ihn, sollte Bäcker Schwint dann mir etwas an den Nagel hängen? Ich müßte weiter in die Queue um halber sieben in der Früh, müßte verbleiben beim überzogenen Budget und bei der Mär vom unbalancierten Liebeshaushalt, käme nicht fort aus dem lebensgefährlichen Argwohn, den der Bäcker gegen Männer hegt, mit denen er keinen Handel hat, und vor allem müßte ich wieder und wieder in jene Wildnis, in der die warme Schrippe nur eine Gnade und niemals Gewißheit ist. So war es ein Glück, daß der Billettmann vom Brötchenmann nicht wußte, und theoretisch den Fall gesetzt, ich begegnete dem einen, wie ich dem anderen praktisch begegnet war, so würde ich dem Parkballmenschen kein Wort vom Vorhandensein eines Letzten Großen Bäckers sagen. Aber das alles war aberwitzige Hypothese, und ich sagte meinem Vetter, von Geburt und Stand seien wir nicht die Leute, Eingang zu finden in jenen Ballkreis, und wie, um Himmels willen, war er zu so verblasener Absicht gekommen? Ernsthaft, er hatte ein Mädchen beim Füttern der Karakulschafe gesehen, und ernsthaft, er hoffte, dieses einmalig herrliche Wunderding von Schäferin im Festgepränge wiederzufinden. Dort, sagte er, und der hartgesottene Besitzer von Kin Ping Meh errötete dabei, dort werde er sie ansprechen. 88 Nun ist vielleicht jemand, der, wie ich, bereit ist, sich zweier Brötchen wegen in umständliche Verstrickungen zu begeben, nicht so geeignet, das Gebaren seiner Mitmenschen zu beurteilen, aber ich fand das Gebaren meines Vetters ausgefallen. Einzig die Liebe reichte als Erklärung zu, denn einzig in ihr gelten keine Abreden. Was erkennbar wird, wenn man sieht, daß mein Vetter bereit war, sich von Kin Ping Meh zu trennen, vorausgesetzt, er käme dadurch einem Mädchen nahe, welches wahrscheinlich ein wenig nach Schafen roch. Meines Vetters Verrücktheit fachte meine an: Ich fragte mich durch zum Verteiler der Parkballkarten. Natürlich war er das nicht im Hauptberuf, im Hauptberuf war er Erster Persönlicher Beauftragter für die Sicherung des Staatlichen Branntweinmonopols, und als solcher war er ein eisenharter Mann. Er muß mich, da ich ihn ohne Umschweife um eine Ballkarte gebeten hatte, für einen humoristischen Abenteurer gehalten haben, denn er verschwendete weder Klagen noch Argumente an mich, sondern erzählte mir zugespitzte Begebenheiten aus seinem Leben als Doppelposten. Die Anschläge auf das Branntweinmonopol waren im Vergleich mit den Vorkommnissen, bei denen es um liallkarten ging, ganz flache Bubenstreiche, und so stabil das Branntweinmonopol des Staates war, so labil blieb das Prinzip der gerechten Verteilung von Tierparkfestbill etts. Dem Doppelwächter ging einfach nicht ein, wie es zusammenhängen mochte, daß er die Karten an redliche 89 Abteilungsleiter, Brigadiers und Spitzensportler reichte, und wenn es dann zur festlichen Polonäse kam, führte der zweifelhafte Eismann vom Prenzlauer Berg eine Dame zum Tanz, die an einem günstigen Punkt des Anzeigenwesens frühzeitig Einblick in trächtige Annoncen gewann. Wie die das nur machen, sagte der Erste Persönliche Beauftragte, und weil er so gänzlich unbereit schien, faules Spiel für möglich zu halten, beschränkte ich mich auf die ungenaue Anmerkung, die Leute hätten wohl ihre Beziehungen, und er konnte nichts damit anfangen. Beziehungen, sagte er, das ist ja gerade meine Frage: Wie machen sich die Leute ihre Beziehungen? Die können doch nicht in die Zeitung setzen: „Biete Ballkarten, suche . . ." Oder: „Suche Ballkarten, biete ..." - Was wollten Sie eigentlich bieten? Ich wollte gar nichts bieten, sagte ich, ich suche nur!, und ich hörte den seltsamen Klang der Wahrheit in meinen Worten. Die Einsicht machte mich betroffen, daß ich tatsächlich nichts zu bieten hatte, und ich war bereit, hierin den Grund für meine Kühnheit zu sehen. Denn kühn war es wohl, so mittellos auf die Suche nach Einlaßkarten für das begehrteste hauptstädtische Fest zu gehen, kühn oder verrückt, weil: mittellos, das hieß auch aussichtslos. Was brauchen Sie denn? sagte ich zu dem Ersten Persönlichen Beauftragten für die Sicherung des Staatlichen Branntweinmonopols, und ganz sicher hätte er mich auf diese Frage hin verhaften lassen, wäre unsere Begegnung spirituosensteuerlicher Natur gewesen. Und Sie haben wirklich nichts? fragte er. So gut wie nichts, sagte ich. Ich kenne einen eifersüchtigen Bäcker, der mir zwei warme Brötchen an den Nagel hängen wird, wenn ich ihm ein scharfes chinesisches Buch besorge, und ich habe einen verliebten Vetter, der mir das scharfe chinesische Buch hergeben wird auf eine Karte für den Tierparkball. Der Persönliche Beauftragte schüttelte den Kopf und sprach: Zwei Karten! Nein, sagte ich, er braucht nur eine. Aber der Persönliche Beauftragte entgegnete mit Entschiedenheit: Er braucht zwei! Es ist ein Prinzip meiner Verteilung, niemals Einzelkarten wegzugeben. Der Tierparkball ist etwas für Paare, und wer da als einzelner hin will, bringt das durcheinander. Die Karten^von mir nur paarweise Gut, sagte ich, dann geben Sie zwei. Es war nur theoretisch, sagte der Beauftragte, ich erläuterte mein Prinzip. Sie haben nichts zu bieten, ich hauche nichts, wir können wunderbar theoretisch bleiben. Es interessiert mich, sagte ich, brauchen Sie wirklich nichts? Ganz und gar nichts? Der Beauftragte, man merkte es ihm an, sah sich gründlich durch, und am Ende beschied er mich: Ich brauche nichts, und das allein setzt mich in den Stand, m> mit Ihnen zu reden. Und die Tatsache natürlich, daß Sic nichts haben. Wenn Sie zum Beispiel Standesbeamter waren und hätten einen freien Trauungstermin für nächste Woche Freitag, dann könnte ich nicht so mit Ihnen reden. Aber Sie sind ja wohl kein Standesbeamter. 90 9i Sowenig wie ich Buchhändler bin, sagte ich. Und Sie brauchen tatsächlich einen Trauungstermin für nächste Woche Freitag? Mein Sohn braucht den. Erst sollte überhaupt nicht geheiratet werden, und nun muß es am nächsten Freitag sein. Mein Sohn hat verlangt, ich soll der Standesbeamtin für einen Freitagstermin zwei von meinen Ballkarten anbieten. Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe es getan. Und wissen Sie, was die Kollegin vom Personenstandswesen geantwortet hat? Sie hat gefragt, ob ich weiß, wie lang die Warteliste für Freitagstermine ist. Die ist so lang wie die Warteliste für Telefone. Was sie nicht braucht, sind Ballkarten. Was sie braucht, ist ein Telefon, ein privates. Er schien ungläubig in sich hineinzusehen und Zeuge eines Kampfes zu werden, und was er dann zu mir sagte, war eine Mitteilung vom Ausgang dieses Kampfes. Er sagte: Sie haben nicht zufällig Beziehungen zu einem, der Beziehungen zu Telefonen hat? Ich aber entgegnete: Und Sie haben nicht zufällig Beziehungen zu einem, der Beziehungen zu Tierparkballkarten hat? Er brauchte eine Weile, um seine Frage und meine Frage in ein Verhältnis zueinander zu bringen, und dann gingen in den Augen des Ersten Persönlichen Beauftragten für die Sicherung des Staatlichen Branntweinmonopols alle Lichter an, und er rief ergriffen: Ach, so machen die das! Er hatte mich für einen Abenteurer gehalten, als ich zu ihm gekommen war, und als ich von ihm ging, war ich einer. Denn ich ging, die Zuständige Person für Telefone zu suchen. In meinen Taschen trug ich nichts. In meinem Herzen wohnte die Hoffnung auf ein wenig warmes Frühstücksgebäck. In meiner Erinnerung waren Wünsche versammelt, die einander nur berührten, weil es mich gab. Ich war der Mann mit kommenden Beziehungen zu frischen Brötchen. Ich war der Mann mit möglichen Beziehungen zu anfeuernder Lektüre. Ich war der Mann mit denkbaren Beziehungen zu Tierparkballbilletts. Ich war der Mann mit vorstellbaren Beziehungen zu einem l'icitagstrautermin. Ich war der Mann mit nicht gänzlich ausgeschlossenen Beziehungen zu Telefonen. Ich steckte so voller Möglichkeiten, daß ich mich selber kaum zu glauben wagte. Und kaum zu denken wagte ich an die bald fällige Ikgegnung mit der Zuständigen Person für Telefone. I )cnn was würde sie zu fordern und ich darauf zu bieten haben? Schließlich, Telefon, das war ja schon ein anderer Ausdruck für Beziehungen. Telefon war Instrument und auch Symbol. Wer über die Vergabe von Telefonen zu sagen hatte, hatte das Sagen sehr. Wie sollte mit dem zu reden sein? Wie sollte ich mit ihm wohl reden? Das war eine vertrackte Schwierigkeit, und vor der standen andere, die auch nicht gerade simpel waren. Die Identität wie Adresse der Zuständigen Person herauszufinden war eine davon. Weil es anders auf Episches hinausliefe, sage ich nur kurz: Ich habe sie gemeistert. Ich habe auch das Problem gemeistert, wie an die Zuständige Person heranzukommen sei, aber vorher bin 93 ich noch zu Bäcker Schwint gegangen und habe mich in die Schlange gestellt wie an einem beliebigen Morgen, und niemand, denke ich, hat mir angemerkt, daß es mein letzter Aufenthalt unter den geduldig Bedürftigen werden sollte. Ein paar Kleinigkeiten nur trennten mich vom Bäckerhof, auf dem an güldenem Nagel goldene Brötchen meiner warteten. Ein paar Formalitäten hinderten mich eben noch am Wechsel meiner Verhältnisse. Lediglich ein Telefon sollte es sein, freigegeben von der dafür Zuständigen Person an die Beauftragte für das Personenstandswesen, kürzer und falsch auch Standesbeamtin genannt. Lediglich ein Trautermin mußte eingetragen und beglaubigt werden für einen eigentlich überfüllten Freitag. Lediglich zwei Tierparkballbilletts sollten herausgerückt sein vom Wächter über diese wie auch über das Branntweinmonopol des Staates. Lediglich mußte einem Vetter ein Buch entrissen werden, das in blumigen Wendungen verwegene Andeutungen machte. Lediglich war ein Bäckermeister in die Pflicht zu nehmen, von nun an eines jeden Backtagsmorgens zum Beutelchen für den Dentisten und zum Beutelchen für den Mechaniker an einen dritten Nagel ein Beutelchen für mich zu hängen. -Lediglich eine Schaltung war erforderlich im Netz der Beziehungen, um mich aus der Demutsfigur zu entlassen, die man Schlange heißt, so dachte ich, als ich ein letztes Mal in dieser Schlange stand, doch was mir überhaupt nicht beispringen wollte, war eine Idee davon, wie ich die Zuständige Person zu der besagten Schaltung bewegen könnte. Bald danach an diesem Morgen saß ich in einem be- deutenden Wartezimmer und verstand mich nicht ganz: Alle Strudel hatte ich umschifft, alle Felsen umfahren, eine Wand nur trennte mich noch von jener Stelle, an der es Telefone gab und infolgedessen und infolgediesem und infolgejenem und infolgeanderem dann auch goldkrustige Brötchen, und ausgerechnet hier wußte ich nicht weiter? Aus meiner Tasche stieg in sanftem Waber der Duft des heute noch einmal schwererstandenen Gebäcks zu mir auf; zwei scharf gebackene und zwei weiche Brötchen und dazu die zwei normalen und heute noch unversehrten Semmeln wärmten mir durch Schrippenbeutel und Taschenleder und Hosenbein hindurch das Bein, und mein Kopf war heiß, weil die Gedanken in ihm von übergroßer Eile waren. Wenn es denn nun zum Treffen kam mit der Zuständigen Person für Telefone, die gleichsam auch die Zuständige Person für meine Brötchen war, was konnte ich ihr sagen? Sollte ich jammern? Wer Telefone vergibt, hat schon allen Jammer dieser Welt gehört. Sollte ich schwindeln? Wer Telefone hat, kann jegliches prüfen. Sollte ich einfach alles offenlegen, also alles sagen? Ich ahnte aber, daß man Zuständige Person nicht wird, wenn man sich alles sagen läßt. Auf solcher Laufbahn hört man ausgewählte Teile an. Was jedoch war für meinen Fall das richtige Teil? Ich wußte es nicht und schickte mich gerade an, mich aus meinen Träumen zu trollen, als eine Person durch den Warteraum schritt, die an jedem Schritt als Zuständige Person zu erkennen war. So geht man, wenn man 94 95 entscheidend ist. So schreitet man, wenn man Schicksal macht. So bewegt sich die Macht. Gar nicht wuchtig, ganz unbedacht. Auf selbstbestimmter Bahn vorbei an Gleichgültigem, das man freundlich ansieht und nicht sieht. In einem Tempo, das in niemandes anderen Belieben steht. Da wußte ich ganz, daß hier für mich nichts zu holen war, und ich machte mich bereit, aus dem Wartezimmer zu verschwinden, sobald die Zuständige Person in ihrem Amtszimmer verschwunden war. Aber zwei Schritte an mir vorbei und noch dreie entfernt von ihrer Tür verhielt die Zuständige Person, und sie tat auch das mit jener vollkommenen Selbstverständlichkeit, welche sich aus langer Übung in Befugnis ergibt. Die Person hob ein wenig die Nase, wie auch wir Gewöhnlichen es tun, wenn wir einem Duft nachgehen, und erkennbar wurde ein Mann in mittleren Jahren, ein hochgewachsener und trainierter Mann mit vollem Haar in Grau und Schwarz, ein gut gekleideter, vielleicht eine Spur zu modisch gekleideter Mensch, der jetzt sehr menschlich wirkte, weil er mit offenen Nüstern in der Wolke stand, die von den Brötchen in meiner Tasche ins 4 Wartezimmer aufgestiegen war. Der mächtige Mensch sah auf die Tasche und sahyf daß ich ihr Besitzer war, und er gab mir einen Wink,' ihm zu folgen. Das heißt, weil ich mich der Wahrheit verpflichtet fühle, muß ich sagen: Im Grunde gab er der? Tasche den Wink, und mich erreichte dieser nur, weil die Tasche ihm nicht gut alleine folgen konnte. Wir folgten ihm, die Tasche folgte dem schönen Mann, und ich sorgte dafür. Er bot uns einen Sitzplatz an, und er sagte, während er meine Tasche nahm und öffnete: Ich darf doch mal? Er nahm den Schrippenbeutel aus der Tasche, und er sagte, während er die Schnur aufzog: Ich darf doch mal? Er steckte die schöne Nase in den Beutel, verdrehte die schönen Augen im süßen Duft, und er sagte, während er die Brötchen sacht auf seinen Schreibtisch gleiten ließ: Ich darf doch mal? Dann saß er lange da und betrachtete, was Bäcker Schwint so gut gebacken hatte, und in seinem schönen Mannsgesicht waren Freßgier und Sehnsucht versammelt, Demut beinahe, weil sein Auge so Vollkommenes sah, und jene Wildheit war auch in seinem Blick, vor der sich fürchten muß, wer zu verlieren hat, was ein solcher haben will. Er legte den Brötchenbeutel über die Brötchen, als gelte es, einen gleißenden Glanz etwas abzudecken, und er sagte zu mir: Wo gibt's denn die? Ich nannte den Namen meines Bäckers, und aus purer Geselligkeit dachte ich einen Augenblick daran, nach der Art von Frau Lörke hinzuzufügen, daß Herr Schwint auf eine aktenkundige Weise eifersüchtig sei, aber der Mann hatte jetzt wieder viel von einer Zuständigen Person, und so gab ich nur die Adresse des Meisters hinzu, und als ich mich noch fragte, wie man einer Zuständigen Person auf schickliche Art erklärt, daß es allerdings einige Umstände macht, will man an solches Gebackene kommen, hörte ich mich sagen: Beim Bäcker auf dem Hof in einem Balken sind drei Nägel, an einen davon hängt man diesen Beutel mit abgezähltem Geld . .. Ich wollte die Prozedur noch näher erläutern, wollte 96 97 auch erklären, daß sich der Beutel nicht ohne weiteres fülle, wollte von diesem Weiteren berichten, wollte erzählen vom Bäcker, der sich seine Abende mit chinesischer Lektüre anzuschärfen gedachte, und von einem Vetter, den es zu einer Schäferin im Tierpark zog, und vom Kummer des Ballkartenverteilers wegen des Sohnes und eines schwer erlangbaren Trautermins und von einer Standesbeamtin, die kein Telefon besaß, aber die schöne Mannsperson hatte kein Ohr für Beiwerk; sie wollte nur Namen und Adresse des Bäckers notieren. Ich gab die noch einmal an, und während der Mann schrieb, fragte er leichthin: Und wer braucht nun das Telefon? Ich lieferte ihm die Daten der Standesbeamtin, lieferte aber nicht die Geschichte dazu, denn allzu deutlich zeigte die Zuständige Person, daß sie von Geschichten nichts hören wollte. Geschichten sind eine umständliche Lebensform, und dies war ein Mann der kurzen Wege. Er nahm den Hörer von einem der vielen Apparate auf seinem Tisch, drückte einen Knopf und wartete, und während er wartete, hängte er seine Nase noch einmal in den Semmelduft, der von meinen Brötchen in seinj Zimmer stieg, und für einen Augenblick schien alles Amt | von ihm abzufallen. Aber als er seinen Anschluß bekam, war er nur noch] Amt. Er las die Anschrift der Standesbeamtin ins Tele- j fon und fügte hinzu: Eine Sofortsache. Dann legte er auf und sagte zu mir: Sehen Sie zu, daß die Frau heute nachmittag zu Hause ist, und sorgen Sie, daß ab morgen meine Brötchen an dem Nagel hängen. Ein Sortiment wie | Ihres hier. Er zog den Leinenbeutel von meinen Brötchen, und er betrachtete sie nicht anders als liebevoll. Ich darf doch mal? sagte er und nahm von den schärfer gebackenen Schrippen eine, roch an ihr, wog sie auf der Hand, betrachtete sie aus verschiedenen Entfernungen, schien gar in sie hineinzulauschen und biß schließlich hinein. Als wisse er nun erst genau, welch vorteilhaften Handel er eingegangen war, nickte er und sprach beim Kauen: Jawohl, die nehmen wir, ich schicke den Fahrer. Dann gab er sich ganz meinen Brötchen hin, er verschlang alle sechs, und mir blieb die Zeit, unser Geschäft zu überdenken: Die Frau bekam ihr Telefon, die jungen Menschen ihren Trautermin, der Vetter sein Festbillett, der Bäcker das Lustding aus China, und der Mann, der vor meinen Augen meine Brötchen fraß, würde von nun an immer Brötchen bekommen. Meine Brötchen. Meine Brötchen? Wieso denn, Moment doch mal, wo lilieb da ich? Wenn der Persönliche meine Brötchen, wo lilieb dann ich? Wenn die Standestante telefonieren konnte, was konnte ich? Wenn die Jungmenschen einander bald amtlich addieren durften, was machte das mir? Wenn mein Vetter Eintritt fand in höhere Tier-parkkreise, was sprang für mich dabei heraus? Wenn es den mörderischen Bäcker nun abends lustig anheben würde, was brachte das mir am Morgen? Mich brachte das alles nur um die Aussicht auf die Brötchen an jenem dritten Nagel. Mich brachten all diese Geschäfte aus dem (icschäft. Irgendwo in diesem Handel war ich verlorengegangen, und ich verstand es nicht. Und ich mochte es nicht. Und ich konnte gar nichts machen. 98 99 Ich konnte nur zurück in die Bäckerschlange treten, wenn ich die von mir erschlossenen Beziehungen in Beziehungen zueinander gebracht haben würde. Ich konnte am Ende der Kette verstohlen ein Buch über den Bäckertisch schieben und wispern, es solle, auch wenn man mich weiterhin in der Schlange sehe, beim Brötchenbeutel am dritten Nagel bleiben, und dann würde ich in die alte Ordnung fallen. Etwas anderes blieb mir nicht. Unmöglich, dem Bäcker meinen Handel zu erklären und zu hoffen, das werde ihn bewegen, einen weiteren Haken ins Holz zu schlagen. Ich wußte, was er mir nach meiner Geschichte sagen würde. Ja, ja, Herr Farßmann, würde er sagen, so ist das, wenn man nichts zu bieten hat. Grausame Welt, aber keiner von uns beiden hat sie gemacht. Nun muß jeder sehen. Und auch die Zuständige Person, die vor meinen Augen gerade mein letztes Brötchen fraß, würde sich, gesetzt, sie hörte mir überhaupt zu, kaum anders vernehmen lassen. Wahrscheinlich würde sie sagen: Ich darf doch mal? und mir dann mit schönem Schwung in den Hintern treten. Dachte ich, und es war schon Grimm, mit dem ich zusah, wie die Zuständige Person die letzten Krümel meines letzten Brötchens aus den Mundwinkeln leckte, aber der Grimm wandelte sich in Giftiges, als die Person Anstalten machte, unser Treffen zu beenden. Sie erhob sich und hatte die Augen dabei auf der Tür. Da sagte ich: Nicht den Fahrer schicken, bitte. Der Bäckermeister Schwint ist eigen. Und stolz ist er auf seine Frau. Sie müssen die Schrippen selber vom Nagel holen, und wenn Sie ab und an in den Laden gehen und Frau Schwint ein artiges Komplimentchen machen, das hat der Meister gern. Ein-, zweimal die Woche einen Scherz ins Ohr geflüstert, Sie werden sehen, wie das den Bäcker freut! Die Zuständige Person schien es nicht gewohnt zu nein, beraten zu werden, und daß eine Artigkeit aus ihrem Munde offene Frauenohren fand, war ihr wohl übergeläufig. Sie erhob sich, tat einige Münzen in meinen Brötchenbeutel und gab ihn mir mit einem Blick, der eine Anweisung war. Dann schob sie mich in Richtung Tür, wobei sie nicht zu sagen vergaß: Ich darf doch mal? Seither stehe ich wieder beim Bäcker Schwint in der Schlange, aber ich beschränke meinen Einkauf auf zwei Brötchen und gelegentlich ein halbes Brot, und die etwas taube Frau Lörke bringt es fast um, daß ich ihr nicht verrate, warum diese Änderung. Herr Schwint lebt noch auf freiem Fuß, und die Zuständige Person steigt noch wie von hohem Roß, wenn nie aus dem Dienstwagen steigt, um durch ein Tor auf den Bäckerhof zu schreiten. Zweimal hat es sich schon ergeben, daß ich dabei war, wenn der stattliche Mann in den Laden kam, um der hau Schwint etwas ins Ohr zu sagen, was ihr dann beide ()hrcn rötete. Es hat sich in beiden Fällen so gefügt, daß ilcr Bäcker in der Nähe war, und von seinen mächtigen Kückenmuskeln habe ich abgelesen, wie sehr er lauschte. Wenn ich dann beim Frühstück sitze, beiße ich in ioo IOI meine Schrippen, als könnten es von dieser Art die letzten sein. Denn manchmal, so denke ich, trifft man noch auf eine Tomate, die wie eine Tomate schmeckt. Manchmal riecht eine Gurke herb und süß, wie die Gurken einstens rochen. Manchmal sehen Erdbeeren nicht nur aus, als wären sie Erdbeeren. Manchmal sind Brötchen, was Brötchen einmal waren. Und manchmal ist Eifersucht noch so mörderisch, wie es sonst nur die alten Geschichten erzählen.