Natonek Hans: Kinder einer Stadt Während der Geschichtsstunde, unter dem misstrauischen grünen Altersblick des Professors Nowak, ließ Epp einige verschlossene Zettel unter der Bank kursieren. Sie enthielten Einladungen zu seinem Geburtstag: „Bella garant alii, tu felix Austria nube!“ Professor Nowak sang es wie eine Litanei und strich sein weißes Bärtchen. Seine Augen waren gierig, die Ursache des Geraschels unter der Bank zu erspähen. Hinter dem Wahlspruch des Kaisers Maximilian von Österreich lauerte spinnengleich eine geradezu lüsterne Spannung, das heimliche Treiben unter der Bank zu fassen. Er machte die Jungens mit dem monotonen, einschläfernden Geträufel der Worte sicher, um dann wie aus einer Deckung plötzlich hervorzustoßen. Waisl, Tornaschek und Dowidal lasen die Einladungen und setzten bereits— Dowidal allerdings nicht — ihr Antwortschreiben auf. Man hätte das alles in der Pause mündlich bereden können, aber das umständliche Verfahren der unterirdischen Post war viel reizvoller und verkürzte die endlose Langeweile der habsburgischen Landerwerbungen unter der Parole der Einheirat. Dowidal zerknüllte den Zettel in seiner Tasche. Ob Epp ihm ins Gesicht schlug, ob er ihn ein paar Wochen später freundlich heranwinkte – es war ganz gleich, der kleine, innerlich ungeschützte Dowidl schrie bei jeder Berührung schmerzhaft auf. Beschlossene Sache: Ich geh nicht hin. Die scharfen Falten um den Mund, frühe Ätzung des Leids und der Reife, färbten sich gelblich. Wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre, dieses trotzige: „Ich gehe nicht hin“ durchzuhalten. Es wäre ja doch schön, dachte er, ein so vornehmes Haus zu betreten. Ein Eingeladener, einer, der mit dazu gehört. Im gleichen Augenblick fiel er mit Wolfszähnen über diese Illusion her und riss sie in Stücke: Ich gehöre nicht hin, ich habe nichts mit diesen spielenden, sauber angezogenen Knaben zu schaffen, und wenn ich doch hingehe, aber ich werde nicht hingehen, würde ich mich verstellen und so tun, als ob ich dazugehöre, wie auf dem Spielplatz. Er lädt mich ja doch nur ein, um mich zu demütigen. So giftige Blasen stiegen aus der trüben Tiefe seines Lebens. Dowidl kannte nicht die ritterliche Arglosigkeit Egon von Epps; der hatte den Kampf schon vergessen und war ahnungslos, was diese Balgerei dem andern bedeutete ihm selbst bedeutete sie nichts. Überdies hatten Epps Eltern gewünscht, dass er einen vom Glück wenig begünstigten, einen sogenannten „unbeliebten“ Mitschüler einlade und ausdrücklich Jakob Dowidal genannt. Der aber in seiner geduckten Verbissenheit stieß die freundliche Hand fort; sie tat ihm weh, als hätte sie wieder geschlagen. Aber an Epps Geburtstag, entschlossen, nicht hinzugehen, zog Dowidal doch neue Schnürsenkel an Stelle der vielfach geknoteten in seine Schuhe, die er sorgfältig putzte, und suchte in dem wüsten Durcheinander einer Schublade ein Paar schwarze Strümpfe, denn die verwaschenen braunen sahen greulich aus. Er fand aber keine. Die kurzen Hosen waren schäbig, sie zwängten ihn in eine Kindheit, die er nicht mehr besaß. Im Durchwühlen der Kommode stieß er auf eine runde Schachtel aus brauner Pappe, die eine Walnuss vergrößert nachbildete. Sie enthielt ein kleines, beinernes Kegelspiel mit einem Kreisel. Es war ein Geburtstagsgeschenk einer entfernten Verwandten seines Vaters, die als Patin jedes Jahr einmal gespenstisch auftauchte, aus einer andern Welt vorgefahren kam und, ohne ihre Handschuhe auszuziehen, unter Hinterlassung eines kleinen Geschenks ebenso gespenstisch verschwand. Noch viele Jahre später roch Jakob ihr moschusähnliches Parfüm, das sich mit dem Benzingeruch des Handschuhs mischte, auf den er den vorgeschriebenen Patenkindkuss drückte. Immer gab es die gleiche geheuchelt überraschte Aufregung, wenn auf die Stunde genau jedes Jahr ihr altes verpudertes Gesicht auftauchte, von dem sie den Schleier halb emporzog als Geste verwandtschaftlicher Vertraulichkeit. Eine mit Rosen bemalte, staubige Likörflasche mit ebensolchen Gläsern wurde hingestellt, aber Tante Johanna war viel zu fein, davon zu nippen, saß auf dem Stuhl, als säße sie nicht, zog alsbald den halbgelüfteten Schleier herunter und verschwand unter Zurücklassung eines Paketchens, Tribut der Verwandtenliebe. Die Spielsachen wanderten den Weg des Tausches, da der kleine Jakob nur scheinbar klein, in Wahrheit über seine Jahre erwachsen war und die Illusion der Spiele durchschaute. Die große Nuss mit dem Kegelspiel, die seine Mutter versteckt hatte, war ihm nun ein willkommener Fund. Das konnte man jetzt anbringen, denn selbstverständlich kam niemand mit leeren Händen zum Geburtstag. Er hielt die große Nuss in der Hand ließ ihren Inhalt klappern und ertapp sich dabei wie er sie Egon von Epp überreicht. Dabei wurde er sogar rot. Er stapfte los mit den neuen den neuen Schnürsenkeln, den alten braunen Strümpfen und den ausgewaschenen, glänzigen Kniehosen. Das Kegelspiel hatte er in blaues Seidenpapier gehüllt. Wie neu, als wäre es eben aus dem Laden geholt, stellte Jakob mit Befriedigung fest. Das Haus des Fabrikbesitzers und Abgeordneten Dietrich von Epp lag am Fluss, in einem Stadtteil, der erst im Entstehen war. Jakob strich hinter den Büschen herum, drückte sich an die Zäune der Neubauten, nicht wie ein Eingeladener, sondern wie ein Ausgestoßener. Er beobachtete, lauerte. Er sah die Mitschüler kommen; sie sahen ihn nicht. Sie hatten ihre neuen Anzüge an, die sie wochentags nicht trugen. Sie waren freudig erregt und hielten kleine Paketchen in der Hand. Sogar Waisl, der ein armer Junge war, kam in einem sonntäglichen Matrosenanzug mit einer blauroten Krawatte. Jakob sah aus seinem Hinterhalt alles; genau, dass er es hätte aufschreiben können: auf den Ärmeln hatte Waisl gekreuzte Anker und hinter ihm her flatterten die Schleifen der Matrosenmütze. Jakobs Neid verwandelte sich in Spott und verlor so an bitterem Geschmack. Wie kommt Waisl zur Marine? Es kam ihm die Lust an, ihn zu bemitleiden. Wie sie sich zu Hause angestregt haben, ihn auszustaffieren, damit er bei Epps nach etwas aussieht! Darüber war er erhaben. In seinem Kopfe bildete sich unbewusst ein System, das eigene Elendsgefühl auf andere zu übertragen, um es so erträgliche zu machen. Mädchen kamen in hellen Kleidern, sie gingen wippend, mit staksigen Schritten, die Hüften waren schon rundlich und bewegt, aber ihrer selbst noch nicht bewusst. Es waren die Freundinnen von Egons Schwester, alle trugen ein Paketchen. Auch Valerie Bögendorf war dabei, ein vielumschwärmtes dunkles Mädchen mit einer Haut wie das elfenbeinerne Kegelspiel in Dowidls feuchter Hand. ln Epps Garten waren Lampions aufgehängt. Sie werden, dachte Jakob, Schokolade trinken und Kuchen essen, Lotterie und Pferderennen spielen, Eislimonade trinken, sich im Garten verstecken, mit den Mädchen schöntun, als gingen sie schon in die Tanzstunde — er sah aus dem Hinterhalt alles, durchschaute alles, verachtete alles — er, der Zaungast. Ich geh nicht hin, sagte er trotzig. Er schlich sich davon. Er fühlte sich dem Kinderfest hoch überlegen. Er machte sich einen Stolz und einen Vorzug daraus, nicht dazuzugehören, ein Ausgestoßener. Er ging stromabwärts, ohne Ziel, als würde er vom Fluss getrieben. Gesicht und Stirn waren zerfurcht, die Augen trübe und sein Rücken gebeugt. Das lächerlich klappernde Kegelspiel flog im Bogen ins Wasser.