Das neue Erzählen fordert mehr Diesseitigkeit, Lesbarkeit, Popularität. Weckt Interesse für das Reisen und Entdecken. Nach der Jahrtausendwende entflammte erneut Kritik an der Wirklichkeitsnähe der Literatur. Die Anlehnung des Prosa-Stils an die Alltagssprache wird abgelehnt als oberflächlicher Plauderton und die Reise- und Entdeckerfiguren als „Neckermann-Literatur“ abgetan – sie fliehe vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein. Die Gegenwartsliteratur produziere gleichförmige und belanglose Massenware. 2010 Kritik am deutschen Gegenwartsroman Kritische Artikelserie in der „Zeit“ 2010: der Gegenwartsroman leidet unter akutem Anpassungszwang und chronischer Leistungsschwäche. Die Gegenwartsliteratur verhalte sich „wie der Kellner im Restaurant, der es allen recht machen will. (Iris Radisch). Der deutsche Gegenwartsroman setzt sich vor lauter Geschichtsversessenheit nicht intensiv genug mit der eigenen Wirklichkeit auseinander. 2014 Billers Kritik an den Schreibinstituten Maxim Billers Kritik an Saša Stanišić – dieser habe sich von seinem eigentlichen Thema, dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, abgewandt. Biller kritisiert die Schreibinstitute, die junge, wohlbehütet aufgewachsene Studierende anziehen, die … den literarischen Markt dominieren. Daher blieben die wirklichen sozialen Probleme der Gegenwart unbehandelt. 2003 Der Esra-Skandal Maxim Billers Roman Esra führte zum juristischen Verbot des Romans, in dem intime Details der Beziehung zwischen einem männlichen Ich-Erzähler und seiner Geliebten geschildert werden. Die ehemalige Freundin Billers erkannte sich in dieser Figur wieder und beantragte das Verbot des Romans. Der Konflikt in diesem Rechtsstreit ließe sich als ein Konflikt zwischen der rechtlich garantierten Freiheit der Kunst und den Persönlichkeitsrechten bezeichnen. In letzter Instanz wurde zugunsten der Klägerin entschieden, der bereits erschienene Roman wurde verboten. Zwei Jahre später verlangte die Klägerin Schmerzensgeld von Biller und seinem Verlag. Unter dem Titel „Freiheit, die wir meinen“ solidarisierten sich über 100 Autoren, Schauspieler, Verleger und Künstler mit Maxim Biller. Das Urteil schaffe Bedingungen, unter denen „weder Die Leiden des jungen Werthers noch Die Buddenbrooks hätten erscheinen können. 2010 Feuilleton-Diskussion um den Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann, die in ihrem Romandebüt Textteile des Netzliteraten Airen benutzte, ohne ihn als Quelle anzuführen. Saša Stanišić 1978 in Višegrad geboren (bosniakische Mutter, sebischer Vater) 1992 nach der Besetzung Višegrads Flucht der Familie nach Deutschland (Onkel in Heidelberg), die Eltern gingen 1998 weiter in die USA Nach dem Abitur 1997 studierte er an der Universität Heidelberg DaF und Slawistik 2005 – Erzählung Was wir im Keller spielen – autobiografisch, Krieg in Ex-Jugoslawien 2006 – Wie der Soldat das Grammofon repariert – Stanišićs erster Roman (Alexandar, der mit seinen Eltern nach Deutschland flieht, entgeht der Alltagsrealität durch Flucht in eine Welt aus Geschichten – großer Erfolg, in 30 Sprachen übersetzt 2014 – Vor dem Fest – S.s zweiter Roman (Preis der Leipziger Buchmesse) 2016 – Fallensteller 2019 – Herkunft (Ich-Erzähler, Beschreibung der Jugoslawienkriege, Familiengeschichte, Integration, Tod der Großmutter Kristina) Maxim Biller 1960 geboren in Prag als Kind jüdisch-russischer Eltern, 1971 flüchtete die Familie in die BRD Studium der Literaturwissenschaft in Hamburg und München (Magisterarbeit über das Bild der Juden im Frühwerk Thomas Manns) Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Für die FAZ-Kolumne schrieb er bis 2019 Moralische Geschichten. Biller lebt in Berlin, seine Tochter Zelda ist auch als Autorin tätig 2022 März – Abschluss der literarischen Tätigkeit, Mai unterschrieb er die Aufforderung an Scholz, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern 2000 Roman Die Tochter (Liebe zwischen einem Israeli, der die Zeit vergessen will, als er Soldat im Libanonkrieg war, und einer Deutschen) 2003 Roman Esra (autobiografisch, Liebe zu einer in Deutschland lebenden Türkin) Autofiktion 2013 Novelle Im Kopf von Bruno Schulz (übersetzt in 15 Sprachen) Post-DDR-Literatur Der Lyriker Kurt Drawert (geboren 1956, Facharbeiter für Elektronik, studierte am Literaturinstitut in Leipzig, seit 1986 als freier Schriftsteller – Lyriker – nach der Wende ging er nach Bremen, später nach Darmstadt als Leiter des Zentrums für junge Literatur): Über die DDR schrieb er 1996: „…in gewisser Weise ist mir das Land, heute, wo es mir in den Gedanken erscheint, gerade in seiner Abwesenheit, in seiner Verlorenheit, real. Als ich ich ihm lebte, war es mir immer unwirklich erschienen“. Dagegen meinte Uwe Tellkamp, die DDR auch nicht wirklicher geworden als zuvor (Tellkamp: Was war die DDR – Zeitungsartikel FAZ, 16.8.2007): War sie eine Pädagogische Provinz, die ihr Anliegen, Erziehung des Menschen zum höheren Zweck, mit Lehrern bewerkstelligte, die, einst gestrafte Söhne, zu strafenden Vätern wurden; … War sie ein Großkombinat namens Brot u. Lügen mit …einem Hafen der 1000 kleinen Dinge …? Uwe Tellkamp Geboren 1968, Abitur 1987, verpflichtete sich zum Dienst als Unteroffizier auf Zeit in der NVA. Als Genscher an den Balkon trat und sagte, sie können ausreisen, wurden die Züge von dort über Dresden in die Bundesrepublik geleitet. Honecker hatte sich ausbedungen, dass diese Züge noch mal über DDR-Gebiet fahren, was ein schwerer Fehler war. Anfang Oktober eskalierte das Ganze, denn in der Stadt gab es natürlich Gerüchte, dass diese Züge kommen. Es herrschte Visums-Pflicht, man konnte nicht mehr in die Tschechoslowakei oder nach Polen fahren. Es grassierte dann der Witz: Wir können im Grunde nur noch mit den Füßen voran aus dem Land. Jeder hatte Angst, was wird und wohin das Ganze treibt. Sehr, sehr viele Menschen sind dann raus zum Bahnhof und haben versucht, sich an die Züge ranzuhängen, um rauszukommen und zu flüchten. Das ist die Vorgeschichte. Die Kaserne, in der ich war, hatte dann am 5. Oktober den Einsatzbefehl, gegen die aus dieser Anarchie hervorgegangene Gruppe, eine Oppositionsbewegung, vorzugehen.“^[ Nach der Wiedervereinigung Studium der Medizin in Leipzig, heute lebt er wieder in Dresden im Viertel Weißer Hirsch. Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. 2008 Der Schlaf in den Uhren. 2022 Der Turm Zeit – sieben Jahre vor der Wende bis zum Mauerfall Ort – Dresdner Villenviertel Personen – Verwandte, „Bildungsbürger“, eine Menge von Figuren Erzählstil – personal, erlebte Rede Drei Protagonisten: EOS-Schüler und NVA-Unteroffizier Christian Hoffmann – autobiografisch Oberarzt in der Medizinischen Klinik – Christians Vater Richard Hoffmann. 50. Geburtstag, Affären Biologe, Lektor eines renommierten Verlags, Meno Rohde – Christians Onkel. Bruder von Anne, Richards Frau. Konflikt zwischen Flucht in eine Nischengesellschaft und „Bekennung der Farbe“. Schreibt ein poetisch geschriebenes Tagebuch – Passagen davon in den Roman übernommen. Gattung – Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Schlüsselroman Eugen Ruge Geboren 1954 in Sosva, oblast Sverdlovsk, UdSSR, Mutter Russin, Vater – marxistischer DDR-Historiker, der von den Sowjets in das Lager 239 in Sibirien deportiert wurde. 1956 mit den Eltern nach Ost-Berlin, Mathematikstudium an der Humboldt Uni. 1986 – Schriftsteller, Drehbuchautor, Dokumentarfilmer, Übersetzer von Tschechow-Stücken 1988 – Übersiedlung in die BRD 2011 – In Zeiten des abnehmenden Lichts (Gegenbuch zu Der Turm) Zeit – die Geschichte der DDR aus der Perspektive von vier Generationen, von Exil bis zur Wiedervereinigung Personen: Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel, Familie der „Roten Aristokratie“ Vergleich mit der generationellen Ordnung des Erzählens bei Anna Seghers Die Toten bleiben jung oder Willi Bredel Die Söhne. Bei Ruge Bewegung in Richtung wachsende Desillusionierung: anders als bei Bredel oder Seghers ist bei Ruge der absehbare Höhepunkt durch den bevorstehenden Krebstod des Protagonisten Alexander Umnitzer markiert. Lutz Seiler Geboren 1963 in Ostthüringen, Baufacharbeiter, Dienst bei der NVA, begann Lyrik zu schreiben. 1989 als Saisonkraft auf der Insel Hiddensee – diese Erfahrung verarbeitete er in seinem Roman. Studium der Geschichte und Germanistik in Halle. Lebt als freier Schriftsteller in Wilhelmshorst und Stockholm. 2014 Roman Kruso. Zeit : 1989 Raum: Hiddensee, Dornbusch, „Zum Klausner“ Protagonisten: Edgar Bendler, 24 Jahre alt, verlässt sein Studium in Halle, fährt auf die Insel Hiddensee und findet dort eine Saisonarbeit als Abwäscher beim „Klausner“ Alexey Krusowitch, Küchenmitarbeiter Kruso, als Autorität in der Schiffsbrüchigen-Szene anerkannt, entwickelt eine Freiheitsutopie, der auch Ed verfällt. Kruso und Edgar werden Freunde und widmen sich den neu dazu Kommenden, die mit dem Staat abgeschlossen haben, oder gescheitert sind (Rituale). Sie nehmen nicht einmal wahr, dass der Staat langsam zerbröckelt, immer mehr Freunde verlassen den Ort. Die Freundschaft zwischen Kruso und Ed geht daran unaufhaltsam zu Grunde. Im Epilog erhählt Ed über die Recherche von Lutz Seiler in Sachen der 174 DDR-Flüchtlingen, die in der Ostsee umgekommen sind.