Simone Hirth 365 Tassen Kaffee mit der Poesie Auswahl Erste Tasse Die Poesie ist wie immer früh aufgestanden. Sie interessiert sich nicht für Feiertage, genauso wenig wie für Großwetterlagen, Knallerbsen, Duftkerzen, Ansprachen an das Volk. Zu wenig umrührerisch, sagt die Poesie, und rührt mit ihrem Bleistift im Kaffee. Sie wird heute das alte Brot zu den Schweinen tragen, eine Wasserbombe einfrieren, die Zimmerpflanzen mit einem Schluck Rotwein gießen und eine weiße Unterhose im Garten vergraben. Es darf nicht zu leicht sein, sagt sie, aber es muss einfach bleiben. Die Poesie steckt ihren Finger in den Kaffee und schreibt in tropfenden großen Buchstaben ein Wort damit an meine Wand, das es noch nicht gibt. Sie hat recht. Es ist jetzt wieder 365 Tage lang Zeit, eine neue Sprache zu finden. Sechsundzwanzigste Tasse Jemand hat einen Brief an die Poesie unter dem Türspalt zu uns hereingeschoben. Die Poesie liest und wird rot. Es könnte ein Liebesbrief sein, aber auch eine Rechnung. Die Poesie bringt es fertig, beides mit derselben Begeisterung zu lesen. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, wie sie das schafft. Alles eine Frage des Windes, der Dichtgummis und des Verzichts, sagt die Poesie. Es ist ein lebenslanges Lernen neben ihr. Hundertsiebte Tasse Wir machen ein Picknick. Es soll möglichst wenig kosten und ganz einfach sein. Sonst könnten wir ja gleich ins Wirtshaus gehen. Wir lassen uns ins Gras plumpsen, die Poesie häuft Sauerampfer auf unsere Teller und träufelt Tautropfen in unsere Tassen. Als Nachspeise schlecken wir etwas Harz. Die Poesie hinterlässt klebrige Fingerabdrücke auf meinem Bauch. Wir werden nicht satt, bekommen aber Sommersprossen. Neunundvierzigste Tasse Ich habe keinen Hunger, sagt die Poesie und schiebt ihr Wurstbrot weg. Stattdessen knabbert sie etwas Vogelfutter und rührt versonnen mit einer Feder im Kaffee. Wenn sie das tut, weiß ich, sie hat wieder vom Fliegen geträumt. Und sie wird später die Schwermut anrufen und mit ihr plaudern. Ich öffne das Fenster, damit vielleicht eine Amsel oder eine Meise zu uns hereinflattert. Ich weiß, dass dies eher nicht passieren wird. Aber ich zerbrösle das Wort VIELLEICHT und streue es der Poesie zwischen die Körnchen. Funfundsechzigste Tasse Eine Wanderkarte liegt ausgebreitet auf dem Tisch. Die Poesie studiert sie, scheint aber unzufrieden. Sie haben die Schleichwege vergessen, sagt sie. Sie nimmt einen wasserfesten Stift und zeichnet sie ein. Das sind nur die, die ich bis jetzt kenne, sagt die Poesie. Den Rest werden wir heute suchen. Wir schmieren uns einen großen Berg Butterbrote. Hundertsiebenundsechzigste Tasse Die Poesie wirft den Stumpfsinn in ein Glas Wasser. Er ist eine Sprudeltablette und löst sich blubbernd auf. Es schäumt und spritzt auch ein wenig, die Poesie ist entzückt. Später füllt sie die Flüssigkeit in einen Cocktailshaker, gibt ein paar Wildkräuter und einige Stachelbeeren hinzu und schüttelt alles kräftig durch. Jetzt stehen kunterbunte Drinks vor uns, so knallbunt, dass es schmerzt in den Augen und wir die Drinks mit Kaffee wieder etwas schwärzen müssen. Sie schmecken aber wunderbar. Die Poesie rülpst. Ich kichere. Wir lehnen uns zurück und legen die Füße auf den Tisch. Der Tisch ist eine Kiste voll modriger Brauchtümer. Wir stoßen ihn um. Neunundsechzigste Tasse Seit den frühen Morgenstunden surrt die Nähmaschine der Poesie. Sie braucht ein neues Alltagskleid, und das ist nirgends zu kaufen. Das ist auf jeden Fall selbst zu nähen aus: löchrigen Putzfetzen, verblichenen Fleckerlteppichen, gekündigten Verträgen, weißen Westen, leeren Versprechungen, einem alten Hut, vom Wind zerrissenen Flaggen, gesprengten Korsetts, davongeschwommenen Fellen, Reklamationsschreiben, aufgeplatzten Tabus, ausrangierten Spitzenhöschen, geschwärzten ttit der Poesie Chatverläufen, etwas Laub und ein paar Schlingpflanzen. Das Heid wird wider Erwarten äußerst elegant- Die Poesie schreibt ein SMS an den Kanzler: Danke für den Stoff. Zweihundertsechsundzwanzigste Tasse Badeseewetter. Die Poesie wirft sich ein Handtuch über die Schulter und stürmt los. Ich begleite sie. Die Poesie trägt keinen Bikini und keinen Badeanzug. Alles nur hinderlich, sagt sie. Sie wirft sich nackt in die Fluten und taucht lange nicht mehr auf. Ich fürchte schon, sie sei ertrunken, aber die Poesie ertrinkt nicht in einem Badesee. Sie taucht lachend wieder auf und spuckt Fontänen in alle Richtungen. Ertrinken würde ich eher auf dem Trockenen, ruft sie. Ihre Lippen sind schon blau, als sie sich lachend und spritzend neben mich ins Gras plumpsen lässt. Sie wickelt sich in ihr Handtuch und schlürft Kaffee, den ich aus der Thermoskanne in Plastikbecher gieße. Ihre Lippen bekommen langsam wieder die normale Farbe zurück. Wir sitzen nicht am Badesee, sagt sie. Wir sitzen am Nabel der Welt, der mit Wasser gefüllt ist. Hundertste Tasse Heute trinken wir den Kaffee zwischen den Zeilen, unter einer Luftmatratze, die mit Wind gefüllt ist, auf einem Spinnennetz, das Wairösser tragt, zwanzigtausend Meilen vom Meer entfernt und trotzdem schwimmend, im Morgentau, durch Schlagzeilen rudernd, mühelos und ohne die Felle noch fangen zu wollen, die uns längst davon trieben. Wir brauchen keine Felle mehr. Wir sammeln Federn und schreiben uns damit fort. Hundertsechste Tasse Die ersten Kirschblüten sind aufgegangen. Die Poesie wird den Tag im Garten unter dem Baum verbringen und zuschauen, wie weitere Blüten aufgehen. So gewinnt man keinen Wettbewerb, keinen Gerichtsstreit und schon gar kein Kapital. Das Wort GEWINNEN hat die Poesie aber schon vor Jahren in der Jauchegrube versenkt. Hundertzweiundzwanzigste Tasse Robinson Crusoe hat an unsere Tür geklopft. Wir haben ihm einen festen Wohnsitz angeboten. Wir sind keine Insel, sagte die Poesie, Inseln sind elitär und un- Simone Hirth solidarisch. Wir leben hier mitten auf dem Festland, im endlosen Alltag. Und das ist die Kunst. Robinson Crusoe schien wenig überzeugt und ging wieder. Wir haben nichts mehr von ihm gehört. Nun sitzen wir am Küchentisch, zerkleinern das Wort INSELSTATUS und rühren das Pulver in unseren Kaffee. Er schmeckt exotisch, aber nur für einen Moment. Und auf den können wir verzichten. Hundertdreißigste Tasse Es gibt Schlamm. Das heißt Sand, frisch vom Badesee geholt, aufgegossen mit Wasser. Statt Kaffee. Ein Vorgeschmack auf den Sommer, sagt die Poesie, und auf vieles mehr. Die Sandkörnchen knirschen zwischen unseren Zahnen, aber das soll so sein, das nehmen wir in Kauf. Noch einen Schluck Wasser darauf, und runter damit. Auch wir sind nur zwei Getriebe, die hin und wieder ein wenig Sand vertragen können, sagt die Poesie. Sonst werden wir zu schnell. Sonst laufen wir zu glatt. Sonst bleibt nichts hängen. Ich fische einen winzigen Krebs aus meiner Tasse. Er zwickt mich in die Hand. Es ist kein Traum, ich bin wach. Die Poesie sitzt mir schlammverschmiert gegenüber und grinst. Ich streichle den Krebs. Und werde mir merken, wie es sich anfühlt. Hundertsechsundfünfzigste Tasse Wir trinken Kaffee im Bauch des Trojanischen Pferdes. Jemand schiebt von außen an. Wir haben keine kriegerischen Absichten, wir möchten uns nur irgendwo hinschieben lassen, wo wir sonst nicht hingekommen wären. Ich bin gespannt, wie Troja von innen ausschaut, sagt die Poesie. Als das Pferd zum Stillstand kommt, öffnet die Poesie die Luke. Sie streckt ihren Kopf ins Freie, zieht ihn aber gleich wieder ein. Es brennt längst, sagt sie. Wir bleiben drinnen. Wh trinken Kaffee im Bauch des Trojanischen Pferdes. Wir haben keine kriegerischen Absichten. Wir haben etwas zu lesen dabei. Wir hoffen, dass jemand das Pferd bald weiterschiebt. Feuerfest ist es nämlich nicht. Die Poesie bastelt zur Sicherheit schon an einem Motor. Der soll das Tier dann fortbewegen. Und uns darin mit. 365 Tassen Kaffee mit der Poesie Zweihundertnevmte Tasse Die Poesie sitzt auf einem riesigen Strohballen und trinkt ihren Kaffee eilig aus. Dann springt sie herunter, schiebt den Ballen mit einer Mistgabel an und rollt ihn vom Feld. Sie rollt ihn den Feldweg hinunter, zur Straße, und auf der Straße immer weiter bis ins Parlament. Schaut her, sagt sie, hört euch an, was das Stroh zu sagen hat. Jeder Strohhalm ein Wort. Jedes Wort ein Strohhalm. Sie fängt an, den Strohballen mit der Mistgabel zu zerteilen und das Stroh auszubreiten. Die Allergiker verlassen den Saal. Hundertzweiundsechzigste Tasse Da ist ein Loch in der Luft, daneben noch eines, und noch eines. Die Poesie hat sie hineingeguckt. Nun bläst ein frischer Wind durch diese Löcher zu uns herein und wirbelt Staub auf, und Worte, Geschirr und Bequemlichkeiten, Buchseiten und Brauchtümer, Frisuren und Fristen. Wir werden alles neu sortieren müssen. Oder vermischen. Vermengen. Verbinden. Verwandeln. Die Poesie blinzelt und guckt weiter in die Luft. Gut so. Hundertzweiiindsiebzigste Tasse Kirschkernweitspucken. Die Poesie spuckt so kräftig, dass ihr Kirschkern eine Schallmauer durchbricht. Alles vibriert, so laut ist der Überschallknall. Sogar die Poesie selbst zuckt zusammen. Und steckt sich gleich noch eine Kirsche in den Mund. Wenn die Kirschen reif sind, sollte man sich vor ihr in Acht nehmen. Zweihunderterste Tasse In eine Auflaufform hat die Poesie Erde gefüllt und Gras gesät. Wir schauen ihm nun seit Stunden beim Wachsen zu. Das ist aber nur Tarnung, flüstert die Poesie. In Wirklichkeit planen wir die totale Wildnis. Das hier ist nur der Test. Dreiundneunzigste Tasse Ein Walross sitzt mir gegenüber. Die Poesie hat die ganze Nacht an dem Kostüm genäht. Dem Walross entweicht ein langer, tiefer, inbrünstiger Seufzer. Es schreibt auf einen Zettel: Ich verstehe diese Welt nicht mehr. Es knüllt den Zettel zusammen, steckt ihn in den Mund und beginnt, lang- Simone Hirth sam und bedächtig zu kauen. Ich tätschle dem Walross die riesige Flosse. Es schluckt und seufzt noch einmal. Nach einer langen Pause schält sich die Poesie aus dem Kostüm und sagt: Jetzt geht es wieder. Das Kostüm hängen wir sorgfältig auf einen Bügel und in den Kasten. Fürs nächste Mal. Siebenundsiebzigste Tasse Die Poesie telefoniert mit einem Tibeter und streichelt dabei einen Maulwurf, der ihr zugelaufen ist. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Aber es klingt zuversichtlich. Dreiundsechzigste Tasse Die Poesie übt, auf einem Grashalm zu pfeifen. Das tut sie oft, wenn ihr keine Wörter einfallen. Sie wird jedes Mal besser. Der Klang ist mit Wörtern nicht zu beschreiben. Deshalb sollte man, wie die Poesie, immer einen Grashalm in der Tasche haben. Das erleichtert vieles. Zweihundertelfte Tasse Wir sind auf der Suche nach der Sommerfrische. Man hat uns einige Tipps gegeben, wo sie zu finden sei. Wir sind durch die Gegend gefahren, haben Wälder, Wiesen, Bäche und Seen erkundet, haben Häuschen und Wohnungen angeschaut, die zu mieten, zu pachten oder zu kaufen gewesen wären. Nicht gerade günstig. Von der Sommerfrische aber keine Spur. So haben wir nichts gemietet, nichts gepachtet, nichts gekauft und sitzen also wieder hier an unserem Tisch. Aber niedriger. Die Poesie hat zwei wacklige Liegestühle vom Mistplatz geholt, darin haben wir es uns bequem'gemacht. Wir warten darauf, dass sie knackend zusammenbrechen. Bis dahin sitzen wir liegend und liegen sitzend und trinken Kaffee mit Eiswürfeln darin. Draußen knallt die Sonne vom Himmel. In Erwartung des Niedergangs sind unsere Gemüter hier drinnen dabei sehr erfrischt. Hundertsiebenundachtzigste Tasse Es ist wieder Picknickwetter. Picknick im Grünen haben wir oft genug gemacht, sagt die Poesie. 365 Tassen Kaffee mit der Poesie Also wandern wir los und suchen uns eine möglichst wenig grüne Stelle aus. Wir lassen uns am Rande der Autobahnauffahrt nieder. Dort sitzen wir auf unserer Picknickdecke, trinken Kaffee, essen winzige Sandwiches, Trauben, Käsewürfelchen und Fleischbällchen. Autos fahren vorbei, beschleunigen, reihen sich in die. rechte Fahrspur ein, beschleunigen, sind fort. Die Poesie klatscht vor Vergnügen in die Hände. Schneller, ruft sie, schneller, und wieder eins! . Wir sitzen dort, wo beschleunigt wird. Wir sitzen lange. Es ist laut. Es brummt in unseren Köpfen. Schneller. Neu iiu ndfünfzigste Tasse Schnell, schnell, sagt die Poesie. Wir stürzen unseren Kaffee hinunter. Die Poesie hat schon ihre Siebenmeilenstiefel geschnürt. Wir gehen heute querfeldein. Simone Hirth Rhea Krčmářova TVÍ I ci s Gesetz Auszug aus einem entstehenden Roman (work in progress) Anas Gesang: Schöne Mädchen essen nicht. Setz dir ein Lächeln auf und tanze durch den Tag. Sei pur. Sei frei. Sei du selbst. Ouvertüre Das Monster, flüstern sie. Es kommt. Es holt euch. Versteckt euch. Knochige Füßchen klatschen auf dem Fliesenboden auf, leicht wie Kirschen, die auf Beton aufprallen. Fast verhungerte Fingerchen greifen nach dem Ständer mit dem Magensondenbrei. Stimmchen, die ein Echo ihrer selbst sind, flüstern sich Warnungen zu wie Gebete. Nur noch die Glastür vor dem Therapieraum trennt mich von ihnen. Zwei von ihnen kauern auf dem Boden, haben keine Kraft mehr, aufzustehen. Eine oder einer steht vor dem Tisch, hinter ihm eine stille Gestalt, liegend, aufgebahrt. Wer liegt da? Elif? Solveig? Caroline? Ich warte, bis die Wolken vom Mond weggewandert sind und ich besser sehen kann. Jemand von ihnen hat sich an den Sicherungen des Pavillons zu schaffen gemacht, Licht und Heizung funktionieren nicht. Sie wollen nicht erfrieren, aber jeder und jede hat es in ihre Anabibel geschrieben: Kälte verbrennt Kalorien. Ich komme näher. Drücke mein Gesicht, oder was davon übrig ist, an die Glastür. Höre fünf kleine, schwache Lungen nach Luft schnappen. Hau ab, Ungeheuer, flüstern die Schatten, Lass uns in Frieden sterben. Ich muss meine Spiegelung nicht sehen, angedeutet in den Trenntüren zwischen Station und Stiegenhaus, als eine Schar von Bildscherben, im zersplitterten Spiegel im Therapieraum, im kleinen Rund dessen, was einmal mein Schminkspiegel war. Das Monster bin ich. AKT 1 ANA „Mila. Mila. Bitte wach auf!" Elifs Stimme schneidet durch das bisschen Schlaf, zu dem ich zioch im Stande bin. Ihre Stimme klingt noch atemloser als sonst. Piepsiger. Warum steht sie zwischen Milas Bett und meinem und kreischt in die Dunkelheit? Fuck. Wenn ich schlafe, bin ich nicht hungrig. Wenn ich schlafe, tut mir nichts weh. „Mila! Bitte. Nein." Jetzt weint sie. Dann spüre ich ihre Finger an meinem Oberarm. Ein schlankes Drücken durch die Daunendecke. „Caro! Bitte mach die Augen auf, Caro! Bitte nicht du auch noch." Ihre Fäustchen trommeln gegen meine Schulter. Sie ist noch schwächer als ich. Blaue Flecken werde ich trotzdem haben. Ich öffne meine Augen, sehe das Gespenstchen. Flanellpyjama, aus der Kinderabteilung, zwei Nummern zu groß. „Was ist los, Elif?" „Mila, sie ist ... sie rührt sich nicht ... kalt und ..." Ich zwinge meine Beine, den Boden zu berühren. Jeder der drei Schritte zwischen meinem Bett und Milas schmerzt. Ich drehe das Bettlicht auf. Mila liegt auf dem Rücken. Mund offen, Gesicht grau. Ein Arm hängt aus dem Bett. Die Unterseite, blau und grün angelaufen. „Ich kann sie nicht einmal bewegen." Elif weint. Der Fütterschlauch fuhrt durch die Nase. Ein bisschen Brei läuft aus dem Nasenloch. Vermischt sich mit Blut, trocknet auf der Wange ein. Ich schreie. Schwester Stephi steckt den Kopf in die Tür. Dann den ganzen Körper. „Was macht ihr denn für einen Krach? Es ist erst kurz nach sechs. Mädchen, versucht noch etwas zu schlafen." Sie sieht Mila. Flucht. „Nicht noch eine!" Scheucht uns aus dem Zimmer, in den Aufenthaltsraum. Im Schwesternzimmer ertönt eine Glocke, und noch eine. Schwester Corazon und die neue Lernschwester, deren Namen ich nicht kenne, laufen hinaus. Auf unser Zimmer zu. Elif läuft weg. „Elif! Elif! Bleib da!" Sie läuft schneller als ich, meine Knie schlagen aneinander. Ich bleibe stehen. Seitenstechen. Mit der Magensonde kann ich nicht laufen. Warum kann sie nicht vor dem Zimmer stehen bleiben? Blöde Kuh. „Wir müssen es den anderen sagen, Caro." Müssen wir nicht. „Was ist los?" Die Tür zum Nachbarzimmer öffnet sich. Brigitte im Bärchennachthemd und mit Haarrollern. Hinter ihr Solveig und Chrissi, in Sweatshirts und Sweathosen. Halten sich an den Händen wie immer. Niemand kommt aus Kevins Privatpatienten-Einzelzimmer. Einen Moment lang frage ich mich, ob er auch ... „Elif, was soll das Gejeier um sechs in der Früh?", sagt Brigitte. „Ich war am Klo, und dann hab ich zu Milas Bett geschaut, und sie ist so komisch dagelegen, Mund offen, und die Decke verrutscht, und dann bin ich zu ihr gegangen und wollte sie zudecken, und Mila ist, sie ist ganz kalt und blau, und voller Flecken, und ..." Elif ist kaum zu verstehen vor lauter Schluchzen. Brigitte greift sich an den Mund. Solveig und Chrissi fassen sich noch fester an den Händen. „Was, wenn sie letzte Nacht schon ...", flüstert Chrissi. „Wir hätten doch versuchen sollen, sie zu wecken. Wir hätten sie retten können." „Ich glaube nicht, dass ..." Ich breche ah. Was, wenn sie Recht hat? Sind wir mit schuld? Elif dreht sich um. Rennt weg. Wir finden sie in einer Ecke des Gruppenraums. Sie kauert sich zusammen. Wie ein kleiner Hund, den jemand getreten hat. „So werden wir alle enden. Alle." „Nein, das ist ..." Brigitte versucht sie zu trösten. Elif schlägt ihre Hand weg. Kevin kommt herein. Sieht uns. Dreht sich um. Geht. MIA Sie haben sich nicht mal die Mühe gegeben, mir abzusagen. Der Text auf dem Bildschirm verschwimmt langsam, während sich eine Tränenschicht über meine Augäpfel legt. Klosterbacher Sommerfestspiele ... Besetzung Figaros Hochzeit ... die Contessa singt Frau ... Hoffmanns Erzählungen ... die Antonia singt Frau ... Beide Rollen, für die ich vorgesungen habe, schon besetzt. Das waren die allerletzten möglichen Engagements für nächsten Sommer, nicht einmal eine Option als Zweitbesetzung habe ich, und was im Herbst danach sein wird, keine Ahnung. Die anderen Sommerengagemeiits haben sich wenigstens die Mühe gegeben, uns Leider-nicht-Engagierten ein Absage-E-Mail zu schicken, bevor sie die Besetzung bekannt gegeben haben. Zwölfhundert Euro in den Wind geschossen, für Zugfahrt und Unterkünfte und Klavierbegleitung für das Einstudieren der Rollen. Ich spüre, wie das Loch in meinem Magen sich zu öffnen beginnt, das Loch, das sich in den drei Jahren seit meinem Opernschulabschluss nie mehr gänzlich schließen lässt, das gestopft werden muss, in immer kürzeren Abständen. Warum hat man die da engagiert und nicht mich? Ich kenne die Antwort, öffne trotzdem neue Tabs, gebe die Namen der Sopranistinnen ein, die statt mir die Figaro-Gräfin und Hoffmanns Angebetete singen werden. Sehe die Fotos neben den Lebensläufen, zwei Frauen meines Alters, im Abendkleid, mit Hochsteckfrisur und Primadonnen-Make-up. Sie sind schlank, natürlich. Alle beide. Das Loch wird größer. Ich lese mir ihre Lebensläufe durch. Opernklasse an einem mehr oder minder bekannten Konservatorium oder einer Musikuniversität abgeschlossen, die obligaten Meisterkurse bei pensionierten Kammersängerinnen und Operettendoyens, Engagements in der freien Szene, ein paar Achtungserfolge bei Wettbewerben. Nichts, was ich nicht auch hätte. Nein, sie haben nicht mehr als ich. Ich habe mehr als sie. Dabei hatte ich mich im Griff. All die Wochen vor den Vorsingen habe ich das Loch zwar gestopft, aber nichts gemacht, um die Füllung wieder loszuwerden. Wenn ich mich um meine Stimme sorge, stopfe ich nur, oder ritze. Ich klappe den Laptop fast mit Gewalt zu. Das Loch dehnt sich über den Magen hinaus aus, gähnt dort, wo mein Zwerchfell sein sollte, meine weiblichen Organe, meine Lunge, meine Stimmbänder. Mein Blick fallt auf den Dreijahreskalender, der über meinem Tisch hängt, zwischen Bett und Pianino. Dort, wo Engagements sein sollten, Aufführungen von mittelgroßen Opernhäusern, Auftritte bei regionalen Festspielen, zumindest Operettenkonzerte vor gelangweilten Touristen, grinst mir die Leere entgegen. Dazwischen weiße Flecken, Tipp-Ex-Bahnen über einem Engagement, das mir abgesagt wurde. Vereinzelt einige Termine, Schubertmesse, Mozartrequiem, Stabat Mater. Zumindest wenn der neue musikalische Leiter des Kirchenorchesters die Gnade findet, mich zu behalten. Die Altistinnen, Tenöre und Bassbaritone hat er anstandslos übernommen, die Soprankollegin, mit der ich alterniere, auch. Mich will er heute Nachmittag vorsingen lassen. Warum eigendich? In den letzten drei Jahren muss er mich einige Male gehört haben. Was erwartet mich? Das Loch ragt und verlangt, und alles in mir muss sich zwingen, nicht aufzustehen und in die Küche zu laufen. Ich werde nicht essen. Ich werde das Essen nicht loswerden. Nicht jetzt. Ich darf nicht. Auf meinem Schreibtisch stehen noch der Teller und das Besteck vom Frühstück. Die anderen ziehen mich gerne damit auf, dass ich immer alleine in meinem Zimmer esse. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal entspannt mit anderen gegessen habe. Vielleicht nie. Ich greife nach dem Obstmesser, wische es ab, ziehe den linken Ärmel hoch. Auf der Innenseite meiner Oberarme liegen die schlafenden Schlachtfelder, Linien von weiß bis halb verheilt, wenn mich jemand fragt, warum ich nie ärmellose Kleider trage, sage ich, dass meine Oberarme zu fett sind, und niemand bohrt je nach. Das Messer öffnet die Haut, die Fruchtsäurereste bringen die Wunde zum Brennen, ich sitze einige Minuten da, sehe das Blut den Arm hinunterrinnen. Erst nachdem das Loch im Bauch sich geschlossen hat, greife ich zum Taschentuch. Als ich die Holztür der Sankt-Mauritius-Kirche öffne, höre ich den Chor proben, die Haydnmesse für nächsten Sonntag. Ich gehe die Wendeltreppe hinauf, langsam genug, um nicht allzu sehr außer Atem zu kommen, schnell genug, um nicht als fette Schnecke gesehen zu werden. Der Schnitt pocht zwischen Haut und Pflaster, kleine Schnittwunden schmerzen manchmal am fiesesten. Die Türe steht offen, der neue musikalische Leiter sitzt am Klavier. Ich frage mich jedes Mal, wie sie es geschafft haben, einen Bösendorfer hierhinauf zu hieven. „Ah, Fräulein Isabella. Setzen Sie sich bitte." Er weist auf einen Stuhl in der Nähe der Tür. „Was möchten Sie denn hören? Ich habe alles vorbereitet." „Ehrlich gesagt möchte ich mit Ihnen nur sprechen." Der Schnitt pocht. Das Loch gähnt. „Fräulein Isabella, schauen Sie, Gott hat Sie mit einer hübschen Stimme ausgestattet, das ja. Aber Stimme allein, wissen Sie, heutzutage ... ich habe eine Vision. Will die Sänger von der Orgelempore locken, und, wie gesagt, Frau Annamaria, äh, Isabella, ihre Stimme ist hübsch, sicher, sicher, aber sie ... passt nicht zu meiner Vision, sie ist zu, nun, lyrisch für eine Künsderin mit Ihren, ahm, Proportionen." Wie diplomatisch wc versucht zu sagen, dass er keine fetten Sopranistinnen engagieren will, wenn er sie nicht am Orgelbalkon verstecken kann. „Vielleicht schaffen Sie es ja doch noch, sich ein bisschen präsentierbarer zu machen, ja? Sie sind ja noch nicht so alt." Das Loch frisst meine Stimme. Ich nicke, gehe. Ich bin nicht sicher, wie ich die gotische Wendeltreppe vom Chorleiterzimmer wieder ins Erdgeschoß bewältige. Das Loch öffnet sich, verschlingt mich. Ich will denken, bremsen. Aber das Wesen, das zum Vorschein kommt, bin nicht mehr ich. Mias Gesetz Auf dem Heimweg ein Zwischenstopp im Fastfoodlokal, zwei volle Menüs, Limonade inklusive, zwei Liter oder mehr, ist doch jetzt auch egal, ob da Kohlensäure drin ist. Dann zusammengekauert am Fliesenboden im Bad sitzen, würgen, hoffen, dass ineine Mitbewohnerinnen nichts mitbekommen haben, wie können sie, sie sind in der Orchesterprobe, in der Korrepetitionsstunde, beim Aufwärmtraining für die Vorstellung am Abend. Was mir bleibt, ist, zu warten, bis mich die Begräbnisinstitute anrufen, damit ich für ein bisschen Geld den Toten Ave-Marias hinterhersinge. Aber kann ich das überhaupt noch, wenn ich mir die Stimme aus dem Hals würge? Das Loch dehnt sich aus bis ins Unendliche. Ich stehe auf, gehe in mein Zimmer, öffne den Klavierdeckel, wo ich alles versteckt habe, was in der Wohngemeinschaft verboten ist. Chips, zwei Tüten, ich schmecke nicht, ob das Paprikageschmack ist oder Zwiebel oder Sauerrahm, dann noch eine Packung Kekse, halbgekaut im zitternden, schmerzenden Magen, ich kämpfe gegen das Loch an, zähme es für einige Minuten zumindest. Dann liege ich auf dem Bett. Unten lassen oder loswerden? Stimme ruinieren oder noch fetter werden? Ich stehe auf, trinke in der Küche ein großes Glas heißes Wasser. Gehe wieder ins Badezimmer. Fast zärüich schließe ich die Tür. Irgendwann liege ich auf meinem Bett, das Zimmer dunkel, mein Magen und meine Kehle so wund wie schon lange nicht mehr. Das Monster hat sich schlafen gelegt, langsam kommt mein Verstand zurück, Scham und Schmerz im Schlepptau. Was habe ich gemacht? In zwei Tagen ist meine nächste Gesangstunde bei Frau McWhorter. Bis dahin wird meine Stimme sich nicht ganz erholt haben. Soll ich hingehen und mich wieder auf eine Lebensmittelvergiftung ausreden? Oder absagen und trotzdem einhundert Euro zahlen, als Schmerzensgeld für meine eigene monströse Verfressenheit? Wenn ich ihr absage, wird sie vielleicht nicht mehr mit rnir arbeiten wollen. Dumm, Isabella, dumm. Eine der besten Lehrerinnen Wiens hat sich bereit erklärt, mit dir zu arbeiten, und du musst dir diese Chance sabotieren. Ohne McWhorter hab ich keine Chance beim Wettbewerb der Mozart Foundation. Das letzte große Wettsingen, für das ich noch nicht zu alt bin. Die letzte Chance, doch noch einen Agenten zu finden, Dirigenten und Kulturmanager auf mich aufmerksam zu machen. Die letzte Chance, doch noch eine Gesangskarriere zu haben. Und ich habe sie aus mir herausgewürgt. Weil ich mich nicht unter Kontrolle habe. Weil ich hungrig und verfressen bin. Weil ich zu fett bin, um engagiert zu werden. Das Monster blubbert und lacht. (Isabellas Lehrerin stellt ihr ein Ultimatum:Wenn Isa ihre Probleme nicht in Jen Griff bekommt, wird sie nicht mehr mit ihr arbeiten. Isabdk beginnt, nach einer Klinik zu suchen.) ANA Gruppentherapie. Niemand will reden. Im Essensraum achtet heute niemand darauf, ob wir genug essen. Elif sitzt neben mir und heult sich das Müsli salzig. Milas Platz: leer. Harrys Platz: leer. Paulas Platz: leer. Dann sitzen wir im Zimmer der Twinfluencerinnen. Sehen uns Milas Social Ac-counts an. Ihre Eltern haben sie nicht gelöscht. Wissen vermutiich nichts von ihnen. Sollen wir was kommentieren? RIP Mila oder so? Goodbye du Engel? #ulti-mategoal #weightlossjourney Wir posten heute nichts. Morgen dann wieder. Milas Eltern kommen erst am frühen Abend, da ist das Bett schon frisch bezogen. Die Mutter sitzt am Bettrand. Wie ein Stofftier, dem man die halbe Füllung herausgerissen hat, flüstert Elif. Der Vater stopft Milas Kleider und Bücher in Plastiksackerbi, mechanisch. Später werden wir ein Armband und ihre Bürste im Nachttisch finden. Ein Notizbuch auf dem Tisch. Ein Nachthemd am Boden ihres Kleiderspinds. Milas Handy hat Solveig an sich genommen. Die Eltern fragen nicht, und wir sagen nichts. MIA (Isabella singt beim Begräbnis von Mila, der letzten im Sanatorium Gertraudshöhe verstorbenen Ess-stö'rungspatientin. Danach bekommt sie den Anruf, dass in der Klinik ein Platz frei geworden ist.) Möglicherweise macht die Klinik im Frühling oder Sommer einen freundlicheren Eindruck. Jetzt, Ende Februar, sind die leicht verfallenen Pavillons, umgeben von braunen Rasenflächen, leise sterbenden Bäumen und ausgemergelten Büschen kein tröstender Anblick. Angeblich streiten sich Bund und Land seit Jahren über die Zukunft des ehemaligen Society-Sanatoriums, in dem laut Website seit den siebziger Jahren die psychiatrische Klinik untergebracht ist. Beim Portier ein kleiner Kiosk mit Zeitschriften und Keksen, der ist für die Patienten und Patientinnen der Abteilung 11 -Allgemeine Störungen des Essverhaltens - aber angeblich verbotene Zone. Anamnesegespräch, ich sitze im Zimmer der Oberärztin Frau Dr. Grimgerde Pierer, Rollkoffer neben mir. Finger ineinander verknotet wie Brezelchen. Mir wird zu meiner Entscheidung gratuliert, dann bekomme ich eine Broschüre mit allen Ge-und Verboten. Die zweite Liste ist wesentlich länger und ergibt wenig Sinn. Kein Joghurt untereinander tauschen. Bei Tisch keine Jacken, Hüte, Kapuzen oder Decken tragen. Teelöffel sind nur für den Tee da. Kein Messer mit aufs Zimmer nehmen. Gut, das letztere Verbot kann ich nachvollziehen. Aber ich werde hier kein Messer brauchen. Hoffentlich. Ich werde gewogen, ignoriere die Zahl, die sieben Kilo, die seit letztem Jahr dazugekommen sind. Dann folge ich Schwester Corazon aus dein Verwaltungsgebäude, hinein in Pavillon 11. „Sie haben das Bett am Fenster, Frau Magister." Die Schwester öffnet die Tür zum Dreibettzimmer, geht vor. Auf dem Bett neben dem, wdas meines sein wird, sitzt eine junge Frau, sehr, sehr blond, sehr, sehr dünn, das ahnt man auch durch die dicke Fleecejacke, die Kuschelleggings, die Wollsocken. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, sie könnte siebzehn sein, oder auch Ende zwanzig. Quer über ihr Gesicht klebt ein Plastikschlauch, der in ihrer Nase beginnt und in einem mit einer dicken brauen Flüssigkeit gefüllten Sack endet, der an einem Ständer mit Rollen hängt. Oder beginnt der Schlauch im Sack und endet in ihrer Nase? Sie sieht mich, und ihre Hand fährt an den Mund. Ihr Erschreckensseufzer füllt das Zimmer. Die Augen in ihrem ausgehungerten Gesichtchen werden noch größer. Sie steht vom Bett auf, so gut sie kann, packt den Ständer mit dem Essensbrei und läuft an uns vorbei aus dem Zimmer. „Caroline, das war aber nicht sehr nett!", ruft die Schwester ihr nach. „Sie müssen ihr verzeihen, Ihre Vorgängerin hat das Haus sehr unerwartet verlassen, und auf eine Art, die, nun, nicht sehr schön war. Die jungen Damen und der Herr sind noch ein wenig aufgewühlt." Will ich wirklich wissen, was genau der nicht so schöne Abgang war? Den Nachmittag verbringe ich im Garten, gut eingepackt, wobei mir ohnehin nie so leicht kalt wird wie dünneren Menschen. Morgen geht es los mit Gesprächen und Therapien und Malrunden und Kochnachmittagen. Ich werde das Loch zähmen. Lernen, wie man normal isst. Dann werde ich abnehmen. Zu den Wettbewerben fahren. Schlank, schön. Werde gewinnen, und dann werden die Opernhäuser mich endlich hören, und die Agenturen. Ich werde Engagements bekommen, vielleicht sogar eine fixe Anstellung an einem mittelgroßen Opernhaus, werde mir einen Ruf erarbeiten, ein Repertoire. Werde zu Festspielen eingeladen, werde reisen, werde auf der Bühne stehen. Werde singen und all das bekommen, wofür ich in den letzten fünfzehn Jahren gearbeitet habe. AKT 2 MIA (In der ersten Therapiesitzung erzählt Isabella davon, wie ihre Essstörung angefangen hat.) Mir sind von diesem Gespräch nur nicht die Gesichter hängen geblieben. Ist das nicht seltsam? Nur Körperteile in Bewegung. „Weißt du, dass die Krankenkasse jetzt Kinderdiätkurse hat?" Die Leihtantenhand klatscht das Flugblatt auf den Küchen tisch, die Mutterfinger nehmen es an sich. Elternaugen studieren medizinisch klingende Versprechungen. „Sie hat ja doch ein bisschen", spuckt der Leihtantenmtmd. „Ich will ja nicht sagen, dass, aber nicht dass sie so ... also wie ihr ..." Das Vaterauge senkt sich zur Fülleansammlung in der Körpermitte, der Vatermund seufzt schuldbewusst. Mutterfinger bohren sich in Oberschenkelmasse, zwicken seitliche Fettfalten. Mutterseufzer. „Also vor den Geburten war ich ... waren sie beide ..." Man wird helfen können, lehrt der Leihtantenmund. Messen, wiegen, Maßnahmen setzen. Im Gesundheitszentrum angerufen wird am nächsten Tag. Wie alt ... elf ... aha ... wie groß ... nun ... wie schwer ... also ... wirklich ... Zwei Tag später der Termin, ein Ärztezimmer, unauffällig. Noch ist sie erst elf, höre ich den Arzt sagen. Noch kann man das Allerschlimmste verhindern. Was ist dieses Schlimmste denn? „Wollen Sie, dass das Kind mit zwanzig Diabetes hat? Dass es mit vierzig an einem Herzinfarkt krepiert? Wollen Sie, dass das Kind endet wie ... Sie?" Jetzt hängt das Schuldbewusstsein in Mutter- und Vaterblicken. Drei Tage später dann die erste Diättabelle an unserem Kühlschrank, festgeheftet mit einem kleinen rosa Bonbonmagneten. Das Auswendiglernen beginnt. Damit mir die Umgewöhnung leichter fällt, im Camp dann. Eine halbe. Karotte (Idein): 23 Kalorien. Eine Handvoll Erbsen (roh): 64 Kalorien. Ein Knäckebrot (ungebuttert): 47 Kalorien. Ein Würfel Schokolade (Nuss): VERBOTEN! Die kleine Waage ist türkis, hebt sich von der küchenbraunen Arbeitsfläche ab. Gut, sagt meine Mutter, dann sehen wir immer, wo sie ist. Die passenden Messbecher und Messlöffel bringt mein Vater erst ein paar Tage später mit, Grundausstattung ist teuer, sagt er. Alles hat jetzt eine klar definierte Größe. Das Joghurt existiert nur mehr löffelweise. Die Süßzeugschublade bekommt zuerst ein Schloss, die Schlüssel zu entwenden und zurückzugeben wird meine erste selbst erlernte Missetat. Meistertat. Die Chips stehle ich zuerst nur scheibchenweise, fünf, sechs helfen in den ersten Tagen gegen den schlimmsten Hunger. Das Verstecken wird meine beste Freundin. Eltern und Leihtante wundern sich, dass die Zahlen auf der neu angeschafften Personenwaage (Leihtantengeschenk) sich manchmal nur minimal senken, manchmal sogar reglos stehen bleiben. Es geht zu langsam, mahnt die Leihtante, aber im Camp wird alles besser werden. Die kleine türkise Waage verfolgt mich bis in die Schule. Vor ihrem Auftauchen hat mir meine Mutter Käsebrote oder Wurstsemmeln mitgegeben, und manchmal auch Kekse, die ich Daniel oder Sabrina geben konnte, damit sie mich die Hausaufgaben abschreiben lassen und damit sie sich neben mich setzen. Meine Vollkornknäckebrote, weich geworden vom Hüttenkäse, und die halbe (sorgfältig abgewogene) Grapefruit will niemand mit mir tauschen, nur der Mistkübel empfängt sie dankbar. Fettes Schweinchen, sagen Daniel und Sabrina. Fettes Schweinchen, sage ich zu mir selbst. Das Loch zwischen Darm und Rippen dröhnt manchmal so laut, dass ich die Stimme der Lehrerinnen nicht mehr höre. R.hea Krcmärova Meine Geschwister beginnen, mich anders zu behandeln. Flüstern hinter meinem Rücken. Nennen mich Friss-a-bella und essender Ball. Zuerst nur, wenn wir zu dritt sind. Zwei Tage nach Zeugnisvergabe die Abfahrt ins ärzdich verordnete Sommerlager. Dass meine Noten sich verschlechtert haben, wird nicht auf die Diät geschoben. Die Leihtante tadelt meine fehlende Disziplin, beim Lernen, beim Hungern, aber da ich insgesamt immerhin um eineinhalb Kilo weniger geworden bin, wird mir verziehen. Ich werde in ein Bergörtchen verfrachtet, das im Winter vor Schitouristen vibriert, im Sommer aber wie im verfluchten Schlaf erscheint. Neunundsiebzig dicke Kinder zwischen sieben und siebzehn. Ich irgendwo dazwischen, vom Alter, vom Gewicht her. Das Hungern geht weiter, während meine Eltern und meine dünnen Geschwister sich nach Antalya fliegen lassen, zu Meer und Strand und endlosen Büffets. Auf Einladung der Leihtante, als Belohnung für die gute Entscheidung. Vier Wochen bin ich eingesperrt in sonniger Bergleere. Achtundzwanzig Tage, achthundert Kalorien, jeden Tag fünf Stunden Sport, sechs hungrige Mädchen oder Buben pro Zimmer, drei dunkle Holzstockbetten, ein Kästchen pro Person, Zimmerkontrolle jeden Morgen. Ich zähle die Tage, drücke kleine Striche in die Dunkelheit des Stockbettholzes. Dreieinhalb Wochen noch. Dreieinviertel. Drei. Zwei Stunden Völkerball jeden Vormittag. Oder Volleyhall. Oder wieder Völkerball. Ich bin so ungeschickt wie beim Turnen in der Schule, oder noch ungeschickter, wenn in meinem Magen vier Knäckebrote mit bröckeligem Hüttenkäse und einer halben Birne kämpfen, oder einer Marille. Bananen sind verboten, zu viele Kalorien. Die anderen haben mehr Furor in sich, ich frage mich, wo sie die Energie speichern. Jeden Tag werden die Ballwege schneller, aggressiver, hinterlassen dunklere Flecken auf meiner Haut, prallen härter von meinen Fingerspitzen ab. Die Betreuer loben es, sagen, die anderen lassen ihre Wut ab, ihren Kummer. Sie fordern Verständnis von mir, Solidarität, ich sei doch schließlich nicht die Einzige, die von ihrem Gewicht traumatisiert sei. Nach dem dritten Tag lerne ich, mich nicht mehr zu beschweren. Nach zwei Wochen kenne ich die Namen aller Hausberge, auf die man uns geschleppt hat. Die Reibungswunden vom Vortag, die unter der Hose lauern, vermischen sich mit denen des neuen Tages. Wir sollen nicht jammern, sagt man, diese nachmittäglichen Touren seien ja nur eine Vorübung für die eine, die ganztägige Wanderung zürn Bergsee und zurück. Man müsse unsere Kondition in Form bringen, wenn wir von zu Hause schon so vernachlässigt worden seien. Gewogen werden wir alle zwei Tage, öffentlich. Unsere Zahlen werden auf ein großes Packpapier geschrieben, das im Esssaal hängt. Wir sollen uns von unseren Erfolgen motivieren und von unserem Versagen anspornen lassen, sagen die Betreuer. Minus zehn Gramm. Plus zwanzig. Minus fünfzig. Unsere Bewacher sind Sportstudierende mit Sommerfreizeit. Einige schon seit drei, vier Lagern dabei. Einige der Kinder auch. Das sei doch ein schöner Erfolg des Camps, sagen die Betreuer. Man sehe, wie gut die Methode funktioniere, wenn die Eltern ihre Kinder wieder und wieder zum Abnehmen schicken. Dann ein Ausflug, in die Bezirkshauptstadt. Wir bekommen ein bisschen Taschengeld ausbezahlt, um Postkarten zu kaufen und mit unseren Erfolgsgeschichten zu füllen. Im kleinen Kiosk neben der Bergbahn kaufe ich zwei Packerin Chips und drei Salamistangerln. Ich schlinge sie hinter dem Kassenhäuschen hinunter, kauernd, sicher vor allen Blicken. Endlich kein dauerkreischendes Loch mehr im Bauch. Endlich Essen spüren auf meiner Zunge. Im Fastfoodlokal hole ich mir Nachschlag, kauere mich wieder hinter das Kassenhäuschen, schlinge. Mein Bauch schreit, er ist so dick, so voll. Mein Herz klopft stärker als nach drei Stunden Volleyball. Ich entleere mich gleich auf der Bergbahntoilette, nicht weil es geplant war, vielleicht aus Instinkt, vielleicht ein Aufschrei meines gefolterten Magens. Würgen und würgen und wieder würgen, halbgekaute Pommes frites, Chipskrümel, Hamburgerbisse, Ketchupblobs, Colasauce, braunbunt in der Porzellanschüssel, und dann mehr und noch mehr und immer mehr, bis ich leer bin, und frei. Ich bin die Einzige aus meiner Gruppe, die am Tag nach dem Ausflug nicht zugenommen hat. Noch nie war ich so stolz auf mich. Ich habe sie alle überlistet, das System besiegt. Das Diätcamp geht weiter. Ich hungere. Schwitze. Weine. Den anderen gehe ich aus dem Weg, so gut es irgend geht. Weiß, dass ich mich nicht beliebter gemacht habe durch meine Weigerung, mich am Ausflugstag anzumästen. Den anderen, die nicht schlau genug waren, ihre kleinen Kalorienorgien nur temporär in ihren Mägen aufzunehmen, wird der Ausgang gesperrt, die Möglichkeit, in die Dorfmitte zu gehen, in das eine offene Greißlergeschäft, und sich mit Jugendzeitschriften und Postkarten und Zigaretten einzudecken, sich ein kleines bisschen Vergnügen in die Diäteinsamkeit zu holen. Nur ein kleiner Junge und ich dürfen drei Tage nach dem Bezirksstadtausfiug im Ortzentrum spazieren gehen, in Begleitung einer Betreuerin, einer Sportstudentin, die tatsächlich überzeugt ist, mit der Diätcamparbeit etwas Gutes zu tun, und zwar nicht nur sich selbst. Man verbietet es uns, den anderen etwas mitzunehmen, Strafe sei schließlich Strafe. So trotten wir durch montane, monotone Nachmittagshitze durch den Ort, zum Gemischtwarenladen. Etwas Essbares kann ich mir dort nicht kaufen, nicht unter Aufsichtsblick, erst auf halbem Rückweg kann ich an etwas Essbares gelangen, als ich mich entschuldige und in ein Gasthaus entwischen kann. Angeblich um auf die Toilette zu gehen, im Wirklichkeit, um mich mit Erdnüssen und Haselnussschnitten einzudecken. Zwei Packungen Nüsse esse ich gleich auf der Gasthoftoilette, und ich lasse sie auch gleich da, um mein Ausflugsrecht nicht zu gefährden. Die Betreuerin merkt nichts, dass ich mir im Greißlerladen Diätkaugummis gekauft habe, hat sie sogar gelobt. Jeden Morgen ein bisschen dünner, sagt sie. Am nächsten Morgen beginnen meine Tage, und das Bluten tut noch mehr weh als die letzten Male. (Isabella lernt die anderen Patientinnen kennen, die sich ziemlich abweisend verhalten. Sie stellen ihr Totenkerzen auf den Nachttisch, verstecken ihre Sachen, schreiben „JRIP Mik" auf den Spiegel.) MIA (Als Therapieaufgabe schreibt Isabella über ihre Selbstverletzimgen.) Eigentlich hat die Kratzer außer mir auch niemand gesehen. Fast mikroskopisch waren sie. Das Glas hatte ziemlich präzise Kanten. Fein, da will man sich einmal richtig weh tun, und dann hat man nicht mal ein vernünftiges Messer zur Hand, hab ich mir gedacht. Aber ein Glas tut es ja auch. Wenn auch vom Schwedendis-konter oder wo auch immer meine Eltern das Zeug gekauft haben. Die roten Linien waren zwei Millimeter lang, höchstens drei, am linken Handgelenk, dafür, dass die Schnitte so klein waren, taten sie weh, übermäßig weh. Habe sie angeschaut, mir beim Bluten zugesehen, ganz feine rote Lacken, versickert ist das Blut in die Minifältchen rund ums Handgelenk. Als ich wieder bei mir war, hab ich mir dann Bepanthen draufgeschrniert und sie mit Pflastern versorgt. Die Pflaster haben meine Eltern kaum zur Kenntnis genommen. Dass es ein dummer kleiner Unfall war, hat man mir geglaubt. Friss-a-bella ist ein Trampel, haben mein Bruder und meine Schwester wieder einmal gesungen. 75 Ich darf so was nicht mehr machen, habe ich mir gesagt. Nie mehr wieder. Nie mehr wieder. Und jetzt mache ich es immer noch. Dabei will ich nicht noch mehr Einträge in meiner Klinikakte. Die Schwester hat das Buttermesser mitgenommen. Vielleicht muss es ja kein Messer sein. Was kann denn noch meine Haut und mein Fleisch durchschneiden? Ich hab nur ein paar Sicherheitsnadeln. Damit kann ich nicht viel machen. Die Gläser sind aus schlankem, weichem Plastik, die Teller auch. Meinen Taschenspiegel und meine Puderdose haben die anderen mir gestohlen. Vielleicht sollte ich hinausgehen und zwischen den anderen Gebäuden suchen. Oder versuchen, in einem ruhigen Moment in einen der leeren Pavillons zu schleichen. Chrissi sagt, einige der Kellerfenster seien nicht verschlossen. Warum schleichen sich die anderen heimlich in die leeren Pavillons? Wären sie mir wichtig, würde ich das melden. Aber sie sind mir egal. Was zählt, ist der Schmerz, der sich einen Weg suchen muss. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte bessere Fingernägel. Falsche. Oder harte. So richtig lange, knallrot gelackte Fingernägel, so richtige Krähen, und nicht bloß meine abgebissenen Stummelfmgerrestchen, lang und rot und scherenscharf. Stilettoscharf. Mit diesen Krallen steche ich tief in meine schwammigen, hässlichen Oberschenkel, die Haut so hell wie Cottage-Käse, uneben, verdammt noch mal, warum ist keine glatte Fläche, wo sie sein sollte, selber schuld, bohre hinein in dieses feiste Fleisch, kratze die Haut auf, scheiß drauf, ob es weh tut, reiße sie wund, blutig, bohre mit aller Kraft und Wut in diese Fettstellen, bohre sie auf, reiße, schlitze, schneide, wühle, fetzt sie auf, wund, blutig, so, wie es sich gehört. Und dann die Oberarme. Und dann der Arsch. Bohre meine Krallen, meine Fingernagelmesser in dieses widerliche, hassenswerte vorhandene Fleisch. Und dann mein Bauch. Das Abstoßendste überhaupt. Wer braucht den, warum konnte ich nicht ein kleines Mädchen bleiben, kleine Mädchen haben keinen Busen, keinen Bauch. Reiße ihn in Fetzen. Bohre. Schneide. Wühle. Fetze. Tiefer und mehr und mehr und mehr und weiter ... Bis ich eine einzige blutige, zerfetzte, wundenübersäte, fieischtriefende Masse bin. MIA (Isabella erzählt mehr über ihren Aufenthalt im Diütcamp.) Gruppenausflug Nummer zwei, in eine andere Bezirkshauptstadt. Die Betreuer können nicht mit allen mitlaufen, schenken mir, deren Sünden nicht mit der Waage messbar sind, ein wenig Vertrauen. Die Würstchen mit Senf und Ketchup schmecken wie ein Festmahl, nach Tagen voll von Grahambrot und Sellerie und Lightkäse. Zwei Paar kann ich mir leisten, Semmeln und Limonade inklusive. Das Loswerden ist dieses Mal schwerer, mein Finger im Hals will an keine sensible Stelle treffen, vor der Kabine im Touristen-WC, in die ich mich verkrochen habe, steht eine Gruppe älterer Damen, ihre besorgten Fragen nach meinem Wohlergehen hemmen mich zusätzlich. Ich schaffe es, „verdorbener Magen" zu wispern, hoffe, dass niemand von der Gruppe zufällig draußen steht. Noch Stunden danach ist mir schlecht, ich vermeide bei der Rückfahrt, meine Mitgefangenen anzusehen, verzichte auf Abendaktivitäten, gehe vor allen anderen ins Bett. Wälze mich dennoch die halbe Nacht in halbtot gewaschener Schikursbettwäsche. Auch am nächsten Tag die öffendiche Belobigung, auch dieses Mal hin ich die Einzige, die ein paar Gramm abgenommen hat. Eine Holländerin, vier Jahre älter und fünf Kleidergrößen schwerer als ich, nennen wir sie Roosje, hat es seit diesem Tag besonders auf mich abgesehen. Roosje ist einer derTeens, die zum wiederholten Mal ins Camp abgeschoben wurden. Sie lässt keine Gelegenheit aus, mir aufzulauern, mich zu knuffen, hänseln, piesacken, bringt meine Leidensgenossinnen im Sechserzimmer gegen mich auf. Niemand redet mit mir, leiht mir eine Mädchen-zeitschrift, wenn es Zweierteams beim Gruppensport bin, bleibe ich meistens über. Meine kleinen Vorräte aus dem Gasthaus auf halbem Weg zwischen Herberge und Ortskern esse ich alleine, um sie loszuwerden, schleiche ich in ein Klo bei den Turnsälen. Zwei Abende später steht Roosje vor mir, im dunklen Treppenhaus, Haare wirr wie der Blick, schubst mich, faucht, was ich ihr getan haben soll, kann ich nicht verstehen. Sie reißt an meinen Haaren. Boxt in meinen Bauch. Zwei-, dreimal steigt sie mir mit der Ferse auf den Fuß, den violetten Abdruck Ihrer hundertzwranzig Kilo wird man noch einige Tage sehen. Nennt mich fett und falsch und verfressen. Ich lache, sie schlägt zu, dreimal, viermal. Ich reiße mich los, hechte zum Betreuerzimmer. Die Erwachsenen wollen sich meine Wunden zuerst gar nicht anschauen. Bitten mich, nichts zu sagen. Haben vermutlich Angst, dass ihr kleines Sommerlager geschlossen wird. Rufen den Dorfarzt erst, als ich in Tränen ausbreche. Sicherheitshalber, sagen sie, er wird nur einige Prellungen fanden. Der Arzt riecht nach etwas, das ich nicht zuordnen kann. Den Vorfall will er sich nicht schildern lassen, unterbricht mich nach drei Sätzen. Fragt mich, warum ich denn meine Mitpatientinnen ärgere und den Betreuern Kummer bereite. Warum ich mein Abnehmen aufs Spiel setzen will. Ich solle an meine Knie denken. Meine Hüften. An die Orangenhaut und den dicken Bauch, die doch kein Mann hübsch finden wird. An den Herzinfarkt, der mich hinraffen werde. Dann tätschelt er meinen Kopf und schickt mich hinaus. Auf dem Weg vom Arztzimmer laufe ich an der leeren Küche vorbei, danke für das Wunder, sie unversperrt zu finden. Die Aufseher, die damit beschäftigt sind, Roos-je ein Donnerwetter zu verpassen oder auch nicht, achten nicht auf mich. Die zwei Semmeln und drei Bananen ohne alles stopfe ich in einer Ecke in mich hinein, würge sie im Angestelltenklo wieder aus. Die Tage bis zur Abfahrt zähle ich, ritze kleine Striche in die Stockbettwand. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Nicht mehr zunehmen. Nie wieder dick werden. Und vor allem: Nie wieder Diätcamp. ANA Beim Mittagessen im Aufenthaltsraum beobachten wir das Ungeheuer, so gut es geht. Vorsichtig, diskret. Es ist eine Medusa, flüstert Solveig. Haare fett wie Pasta, deren Anblick uns zu Stein verwandeln könnte. Oder noch schlimmer, zu Fett. Es isst alles auf. Hungrig. Traurig. Einsam. All eine am Tisch in der Ecke. Dann steht es auf, geht hinaus. Wir folgen dem Monster. Dass wir unsere Teller halbvoll stehen lassen, ist man von uns gewohnt. Die Strafpunkte werden wir überleben. Das Monster geht nicht ins Zimmer zurück. Lässt sich von den fetten Beinchen in Richtung Therapieraum fragen, und weiter, dorthin, wo der Korridor eine Biegung macht, bevor er zur Sackgasse wird. Wo nur die Abstellräume für Bettwäsche und anderes Klinikzeug sind, und die eine einsame Toilette, mit der alle von uns Mias schon sehr gut vertraut sind. Es verschwindet ins Innere. Wir schleichen an die Türe, alle. Drücken Ohren an Pressspan. Geben uns Mühe, nicht zu rascheln. Von innen Dumpfes. Grollendes Widerhallen. Gebrochene Umlaute. Dann hören die Geräusche auf, wir fliehen um die Biegung. Hören die Türe aufgehen, hören Schritte in Richtung Patientenzimmer. Sehen das Ungeheuer, wie es vorbeiwatschelt. Die Knie, sagt eine von uns. Habt ihr die gesehen? Die kleinen Bodenkacheln drücken sich viel mehr in sein Gewebe. ES hat Kniefleisch und Kniefett, das die Umrisse der Bodenmarkierungen speichert. ES muss gekniet haben, sagen die Anas. So fliegen wir zurück in das Zimmer, wo sie das Monster neben uns einquartiert haben. Setzen uns auf das Bett gegenüber, in dem ich schlafe. Starren dem Monster mehr oder minder auffällig auf die nackten Knie. Sehen, was nicht sein darf. Kacheleindrücke. Haut, in rötlich-weißliche Quadrate gepresst. Ein Ungeheuer kann trotzdem keine Mia sein. Eine Ana schon gar nicht. Du triggerst uns, du Monster. Dich haben uns die Medizinischen mit Absicht hineingesetzt. Um uns zu testen. Uns in Versuchung zu führen. Fuck. So bin ich, so wäre ich geworden, wenn ich nicht Ana entdeckt hätte, wenn ich keine Ana geworden wäre, flüstert Brigitte. Berührt ihre leeren Brüste. Macht sie weg. Sie triggert mich. (Die anderen verstärken ihre Aggressionen gegen Isabella, kleben mit gemeinen Sprüchen versehene Mernes von dicken Menschen rund um ihr Bett. Dann fotografieren sie Isa heimlich beim Schwimmen und stellen die Fotos ins Internet. Isaklla verfällt ins Selbstzweifel und beginnt zu hungern und sich öfter zu übergeben. Als sie das Hungern nicht mehr aushält und einen Binge-Rückfall bekommt, beschließen die anderen, sie endgültig loszuwerden.) AKT 3 MIA (Isabella beginnt, sich in 'ein Monster zu verwandein.) Wie konnte das passieren? So schlimm sah meine Orangenhaut noch nie aus. Sie scheint sich ausgebreitet zu haben, über Nacht, von den Oberschenkeln aus über die Knie bis zu den gestern noch glatten Waden. Den Bauch hinaufgewandert bis zu den Brüsten, vom Po aufwärts überziehen die Dellen den halben Rücken. Beruhig dich, Isabella. Es ist das Licht. Das ist eine optische Täuschung. Muss es sein. Rhea Krcmarovä Mias Gesetz T Mein Mund ist größer geworden, breit und fleischrosa sitzt er in meinem Gesicht. Etwas kratzt gegen meine Zunge. Wieso fühlen sich meine Eckzähne spitzer an? Ich öffne den Mund, ein bisschen. Hebe die Lippen an. Schließe die Augen, zwinge mich, sie wieder zu öffnen. Sehe in den Spiegel. Links und rechts vom Lippenin-nenrand wachsen Zähne hinunter, wie fast weiße Stalaktiten. Von unten recken sich Stalagmitenanfangszähne hinauf Ich stecke einen Finger in den Mund, beiße leicht zu. Sehe vier kleine Löcher in der Haut, aus denen das Rot quillt. Dann erst schmecke ich mein Blut. Am Tag danach bin ich nur ein Bauch, mit einem Mund unter hängenden Brüsten, einem Mund, der sich von Seite zu Seite zieht, sich öffnet, wo einmal Eierstöcke und Gebärmutter waren, wer weiß, vielleicht hat der Mund sie auch gefressen. Ein Bauch mit Mund und zwei Beinen, kein Kopf, nur Bauchhirn, nur wandelnder Hunger, dafür sind mir Arme gewachsen, zwei Paar mehr, drei Paar. Ich bin, was ich schon immer war. Ein unheiliges Ungeheuer, das nach allem krallt, alles frisst, was sich ihm in den Weg stellt. spezial Literatur Stefan Abermann Jessica Beer Mascha Dabic Rad ka Den ema rkovä Marko Dinic Gustav Ernst Laura Freudenthaler Peter Giacomuzzi Sabine Hassinger Elias Hirsch! C. H. Huber Käthl Katrin Rauch Sama Maani Nicolas Mahler Alfred Pfoser Evelyne Polt- Hei nzl Julya Rabinowich llma Rakusa Sabine Scholl Veronika Schuchter Doris Schönbaß Heinrich Steinfest Evelyn Steinthaler Josef Winkler mitSprache Hhea Kicmiravä.