Grundlagen Interpretationsmethoden Zusätzliche Aufgabenpräzisierungen Mitunter wird den einzelnen Operatoren noch eine pointiertere Bestimmung angefügt. Diese fordert Sie auf, einzelnen Aspekten einer Aufgabe besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Beispiele: • ... arbeiten Sie dabei insbesondere... heraus. • ... berücksichtigen Sie dabei insbesondere... • ... und erläutern Sie dabei vor allem, wie... • ... und gehen Sie dabei vor allem darauf ein, wie... „TIPP--— Auch bei der umfassenden Arbeitsanweisung „Interpretieren Sie die ausdrücklich keine weiteren Operatoren nennt, ist es zweckmäßig, wenn Sie bei Ihrer Vorgehensweise den Inhalten bestimmter Operatoren folgen. Fassen Sie also den Inhalt zusammen, beschreiben Sie den Aufbau und analysieren Sie die Sprache. 2 Interpretationsmethoden Die Suche nach brauchbaren Interpretationsverfahren beschäftigt die Wissenschaft seit Langem. Ein bedeutender Ansatz begann im 19. Jahrhundert unter naturwissenschaftlichem Einfluss. In der Folgezeit entwickelten sich verschiedene Methoden mit unterschiedlichen Schwerpunkten. 2.1 Positivismus In Anlehnung an die Naturwissenschaften entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine philosophische Richtung, deren Vertreter mit klaren, nachweisbaren Fakten arbeiten wollten. Diese Zielsetzung beeinflusste auch die damalige Textphilologie: Man sammelte Lebenszeugnisse des Autors, spürte den Entstehungsgeschichten von Werken nach und verglich die Bearbeitung von Themen, Motiven und Fassungen. Literatur erschien als Teil historischer Wirklichkeit und konnte durch sie beschrieben und sachlich erklärt werden. Konzentriert sich die Arbeit also weitgehend auf den Verfasser, so spricht man von der positivistischen Der Begriff „Positivismus" geht auf den französischen Philosophen und So2iologen Auguste Comte (1798-1RS7) 7iiriirlc. der Interpret im Leben des Autors nach Ereignissen, die zum Verstehen des Textes beitragen. Er erforscht Tagebücher und Briefkorrespondenzen und überprüft Aussagen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Allerdings darf das Biografische nicht zur Vernachlässigung des künstlerischen Aspekts fuhren. 2.2 Ceistesgeschichte Am Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich eine Gegenbewegung zum Positivismus. Ihre Vertreter sahen Dichtung in einem übergreifenden geistigen Zusammenhang von Kultur, Philosophie und Kunst. Nach ihrer Vorstellung spiegelt Literatur die geistigen Kräfte und tragenden Ideen der jeweiligen Zeit. Zum Verstehen eines Textes erschien ihnen deshalb eine bloß rational und analytisch ausgerichtete Vorgehensweise unzureichend. Sie betrachteten ihn vielmehr als ein Ganzes und versuchten, seine Aussage einfühlend nachzuerleben. Dem Gefühl und der Intuition, d. h. dem unmittelbaren Erfassen des Inhalts, wurde dabei eine besondere Rolle zugewiesen. Gegner werfen diesem Verfahren Subjektivität, Spekulation, Realitätsfremdheit und die Vernachlässigung detaillierter Analysen vor. 2.3 Werkimmanenz Bei dieser Methode, die sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an Universitäten und Schulen verbreitete, wird das dichterische Werk als ein autonomes Kunstobjekt betrachtet. Man versucht es aus sich selbst heraus (also immanent) zu verstehen. Die Arbeit am Text steht im Vordergrund. Biografische und historische Bezüge bleiben hier unberücksichtigt. Aufgrund intensiver Lektüre erfolgt die sorgfältige Untersuchung vor allem formaler Elemente. Aus ihrem funktionalen Zusammenspiel wird die Aussage erfasst und gedeutet. Die Textnähe macht diese Methode zur Grundlage jeder weiterführenden Interpretation. Kritische Stimmen verweisen allerdings auf die Gefahr von Einseitigkeit und lebensferner Literaturbetrachtung durch Ausklammern textexterner Einflüsse. Bei der werkimmanenten Methode interessiert den Betrachter nur das Werk seihst, also weder die Biografie des Autors noch ein historischer Bezug. 8 / Grundlagen Interpretationsmethoden / 9 2.4 Psychoanalytisches Verfahren Die Vertreter dieser Richtung berufen sich auf Sigmund Freud (1856-1939), den Begründer der Psychoanalyse. Nach ihnen lassen sich Stoff- und Motivwahl, Figurengestaltung und sprachliche Bilder auf verdrängte Triebe, Wünsche und seelische Verletzungen des Autors zurückführen. Die psychoanalytische Methode, die besonders in den 1960er-und 70er-Jahren verbreitet war, beschränkt sich aber nicht nur auf den Autor, sondern untersucht auch die handlungsauslösenden Kräfte und Verhaltensweisen der Figuren sowie mögliche Auswirkungen auf (unbewusste) Leserreaktionen. Das Verfahren bedeutet eine Abkehr von überzogenen idealistischen Vorstellungen. Allerdings lassen die enge Fixierung auf Psychisches und das Ausklammern des historisch-sozialen Umfelds unkritische Spekulationen befürchten. Außerdem besteht bei Anwendung dieser Methode die Gefahr, das Künstlerische des Werkes zu vernachlässigen. Sigmund Freud im Jahr 1909 wird, entfalten. So kommt es, dass Leser verschiedener Epochen unterschiedliche Zugänge zu seiner Aussage finden. Ein Leser der Gegenwart etwa versteht ein klassisches Drama anders als ein Leser um 1900. Die moderne Rezeptionsästhetik beschäftigt sich seit dem Ende der 1960er-Jahre bevorzugt mit Fragen, die die Wahrnehmung des Lesers beeinflussen, beispielsweise mit seinen Interessen, seiner Bildung und dem sozialen Umfeld, in dem er steht. Der Rezipient hat also durch seinen Verstehenshorizont Anteil an der Aussage des Textes. Entscheidend ist daher die Frage nach der Reaktion des Lesers: Findet bei ihm eine Erweiterung seines geistigen Horizonts statt? Oder ist sein Blickfeld so eingeschränkt, dass er die Tiefe der Textinformationen nicht erkennt bzw. diese völlig missversteht? Leser verschiedener Epochen haben einen anderen Zugang zum selben Text; Vincent van Gogh: Die Roman/eserin (1888) 2.5 Literatursoziologie Für die Interpreten besteht ein enges Verhältnis zwischen Gesellschaft und Literatur. Vor allem interessiert sie die Frage, welche Antwort der Autor auf die gesellschaftlichen Wirklichkeiten seiner Zeit findet. Bei dieser Methode rücken also soziologische Themen in den Vordergrund, die allerdings mehr oder weniger mit einer bestimmten Weltanschauung, z. B. dem Marxismus, verknüpft sein können. Die Gefahr der Literatursoziologie liegt also in ihrer Einseitigkeit. Indem sie Literatur in den Dienst der Ideologie stellt, verfehlt sie die Komplexität eines Werkes. Zudem wird durch die Überbewertung des Gesellschaftlichen das Kunstwerk an den Rand gedrängt. 2.6 Rezeptionsästhetik Ein geschriebenes Werk ist bewusst oder unbewusst auf einen fiktiven Leser angelegt und auf sein Verständnis hin verfasst. Von diesem unterscheidet sich der reale Leser. Seine Wahrnehmung wird durch seine Individualität und seinen soziokulturellen Kontext beeinflusst. Die Textsignale erreichen ihn deshalb nur gefiltert. Das bedeutet: Ein literarischer Text wird sich immer entsprechend den Vorgaben und Bedineunsen der jeweiligen Zeit, in der er gelesen 2.7 Übersicht wichtiger Interpretationsmethoden Die verschiedenen Varianten, an Textinterpretationen heranzugehen, bringen spezifische Vorteile, aber auch Probleme mit sich. Geistesgeschichte Q intuitives Nacherleben Q Subjektivität Werkimmanenz Q ausschließliche Arbeit am Text Q Vernachlässigung textexterner Bereiche Positivismus Q Berücksichtigung biografischer und epochaler Einflüsse Q Vernachlässigung de Künstlerischen Methoden l der Textinterpretation Literatursoziologie Literatur als Spiegel gesellschaftlicher Auseinandersetzungen Ideologisierung der Kunst o e Psychoanalyse Q Bedeutung des Unbewussten Q Vernachlässigung des Künstlerischen Rezeptionsästhetik...... Q Leseranteil an der Textaussage Q Relativität der Lesererkenntnis