. . . Auch ich bin, wie Sie, über die Uebersetzung Ossians für unser Volk und unsre Sprache, eben so sehr als über ein Episches Original entzückt. Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Thätigkeit, und Seligkeit des menschlichen Lebens, muß, wenn man in faece Romuli an der Würksamkeit guter Bücher nicht ganz verzweifeln will, gewiß würken und Herzen rühren, die auch in der armen Schottischen Hütte zu leben wünschen, und sich ihre Häuser zu solchem Hüttenfest einweihen. – Auch Denis Uebersetzung verräth so viel Fleiß und Geschmack, theils glücklichen Schwung der Bilder, theils Stärke der deutschen Sprache, daß ich auch sie gleich unter die Lieblingsbücher meiner Bibliothek gestellt, und Deutschland zu einem Barden Glück gewünscht, den [4] der schottische Barde nur gewecket – Aber Sie, der vorher so halsstarrig an der Wahrheit und Authenticität des schottischen Ossians zweifelte, hören Sie jetzt mich den Vertheidiger, nicht halsstarrig zweifeln, sondern behaupten, daß Trotz alles Fleisses und Geschmacks und Schwunges und Stärke der deutschen Uebersetzung unser Ossian gewiß nicht der wahre Ossian mehr sey. Der Raum fehlt mir, das jetzt zu beweisen: ich muß also meine Behauptung nur, wie ein türkischer Mufti, sein Fetwa hinsetzen, und hier der Name des Mufti . . .
. . . Meine Gründe gegen den deutschen Ossian sind nicht blos, wie Sie
gütigst wähnen, Eigensinn gegen den deutschen Hexameter überhaupt: denn
was trauen Sie mir für Empfindung, für Ton und Harmonie der Seele zu, wenn ich
z.E. den Kleistischen, den Klopstockischen Hexameter nicht fühlen sollte? aber
freylich, weil Sie doch Einmal selbst darauf gekommen sind, der Klopstocksche
Hexameter bey Ossian? freylich auch hinc illæ lacrimæ! Hätte der Herr D.
die eigentliche Manier Ossians nur etwas auch mit dem innern Ohre überlegt –
Ossian [5] so kurz, stark, männlich, abgebrochen in Bildern und Empfindungen –
Klopstocks Manier, so ausmalend, so vortreflich, Empfindungen ganz ausströmen,
und wie sie Wellen schlagen, sich legen und wiederkommen, auch die Worte, die
Sprachfügungen ergiessen zu lassen – welch ein Unterschied? und was ist nun ein
Ossian in Klopstocks Hexameter? in Klopstocks Manier? Fast kenne ich keine zwo
verschiednere, auch Ossian schon würklich wie Epopäist betrachtet.
Aber das ist er nun nicht, und sehen Sie, das wollte ich Ihnen nur sagen, von
jenem hat schon, wie mich dünkt, eine Kritische Bibliothek geredet, und das geht
mich nichts an. Ihnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Ossians Gedichte
Lieder, Lieder des Volks, Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks
sind, die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben fortsingen
können – sind sie das in unsrer schönen epischen Gestalt gewesen? haben sies
seyn können? – mein Freund, wenn ich mich zuerst gegen Ihre zweifelnde
Halsstarrigkeit gegen die Ursprünglichkeit Ossians auf Nichts so sehr, als auf
inneres Zeugniß, auf den Geist des Werks selbst berief, der uns mit weissagender
Stimme zusagte: "so etwas kann Macpherson unmöglich gedichtet haben! so was läßt
sich in [6] unserm Jahrhunderte nicht dichten!" mit eben dem innern Zeugniß rufe
ich jetzt eben so laut: "das läßt sich wahrhaftig nicht singen! in solchem Ton
von einem wilden Bergvolke wahrhaftig nicht fortsingen und erhalten! folglich
ists nicht Ossian, der da sang, der so lange fortgesungen wurde!" Was sagen Sie
zu meinem innern Beweise? – nächstens fülle ich Ihnen vielleicht damit Seiten!
. . . So eigensinnig für Ihren deutschen Ossian hätte ich Sie doch nicht geglaubt! Es mir durch Zergliederungen und einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen, "daß er gewiß so gut, als der Englische sey!" In Sachen der blossen, schnellen Empfindung, was läßt sich da nicht aus zergliedern? was nicht durch ein grübelndes Zerlegen heraus beweisen, was – wenigstens die vorige schnelle Empfindung gewiß nicht ist. Haben Sie es wohl diesmal bedacht, was Sie so oft, oft, und täglich fühlen, "was die Auslassung Eines, der Zusatz eines andern, die Umschreibung und Wiederholung eines dritten Worts; was mir andrer Accent, Blick, Stimme der Rede durchaus für anderen Ton geben könne?" Ich will den Sinn noch immer [7] bleiben lassen; aber Ton? Farbe? die schnelleste Empfindung von Eigenheit des Orts, des Zwecks? – Und beruht nicht auf diesen alle Schönheit eines Gedichts, aller Geist und Kraft der Rede? – Ihnen also immer zugegeben, daß unser Ossian, als ein poetisches Werk so gut, ja besser, als der Englische sey – eben weil er ein so schönes poetisches Werk ist, so ist er der alte Barde, Ossian, nicht mehr; das will ich ja eben sagen.
Nehmen Sie doch Eins der alten Lieder, die in Shakespear, oder in den
englischen Sammlungen dieser Art vorkommen, und entkleiden Sies von allem
Lyrischen des Wohlklanges, des Reims, der Wortsetzung, des dunkeln Ganges der
Melodie: lassen Sie ihm blos den Sinn, so so, und auf solche und solche Weise in
eine andre Sprache übertragen; ists nicht, als wenn Sie die Noten in einer
Melodie von Pergolese, oder die Lettern auf einer Blattseite umwürfen? wo
bliebe der Sinn der Seite? wo bliebe Pergolese? Mir fällt eben das Liedchen aus
Shakespears Twelfth-Night in die Hände, bey welchem der Liebesieche
Herzog von hinnen scheiden will: –
that old and antik song
Me thought it did relieve my passion much –
[8] More than light airs and recollected terms
Of these most brisk and giddy-paced times.
- - it is old and plain
The Spinsters and the Knitters in the Sun
And the free Maids that weave their Thread with Bones
Do use to chant it: it is silly sooth
And dallies with the innocence of Love
Like the old Age –
Nun, werden Sie bey solchem Lobe nicht so begierig, wie der verliebte Ritter selbst? Auf! übersetzen Sies flugs in Denissche Hexameter:
Song.
Come away, come away, death!
And in sad cypress let me be laid!
Fly away, fly away, breath!
I am slain by a fair cruel Maid!
My Shroud of white stuck all with yew
Oh prepare it!
My part of death, no one so true
Did share it!
Not a Flow'r, not a Flow'r sweet
On my black Coffin let there be strown
Not a Friend, not a Friend greet
My poor Corpse, where my Bones shall be thrown.
A thousand thousand Sighs to save
Lay me o where
True Lover never find my Grave
To weep there.
[9] Der sollte nicht mein Freund seyn, der bey
diesem so einfältigen, Nichtssagenden Liede, insonderheit lebendig gesungen,
nichts mit fühlte! Indessen, wenn es übersetzt würde (Wieland hat es, so
wie die Meisten dieser Art, nicht übersetzt!) wenn der Einige fast, dem ich
hiezu Biegsamkeit zutraue, der Sänger des Skaldengesanges und der Grabschrift
Aspasiens, und des griechischen Schnitterliedchens und der süßen Nänie auf die
Wachtel und das Schnittermädchen des Himmels, und auf die Herzensangst jenes
guten Pfarrers – wenn dieser Dichter, der so Mancherley, und dies Mancherley so
vortreflich seyn kann, es übersetzte, wie anders erhält er den Abdruck der
innern Empfindung, als durch den Abdruck des Aeussern, des Sinnlichen, in Form,
Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange
stromweise in die Seele fliesset. Schlagen Sie die Dodslei'schen Reliques of
ancient Poetry auf, von Einem Ende zum Andern; übersetzen Sie was und wie
schön Sie es wollen, aber ausser dem Ton des Gesanges, und sehen Sie denn, was
Sie haben werden!
Sie kennen doch die liebe, süsse Romanze, von der ich mich wundere, daß sie sich in den [10] Dodslei'schen Reliques nicht finde: Heinrich und Kathrine
In ancient times in Britain Isle
Lord Henry was well knowne –
ein englischer Schulrektor, seines Namens Samuel Bishop, hat gewisse Ferias poeticas gefeyret: i.e. Carmina Anglicana Elegiaci plerumque argumenti (ich schreibe Ihnen den verdienstvollen Titel) latine reddita geschrieben, und in diesen Carminibus Anglicanis latine redditis ist auch unsre Romanze Elegiaci argumenti, und also auch Elegiaco versu, schön skandirt und phraseologisirt, die sich also anhebt:
Angliacos inter proceres innotuit olim
Henricus priscæ nobilitatis honos!
und wo ist nun die Romanze? – Daß es mit Ossian kaum
anders sei, sehen Sie nur einmal die schöne Macferlansche Uebersetzung
von Temora. Der Verf. selbst ein Schotte? der Ossian singen gehört? ihn
doch also fühlen muß? Sehen Sie nun, was unter den Händen des guten, flinken
Lateiners aus der rührenden Stelle geworden ist, da Oscar fällt, und der Dichter
plötzlich abbrechend, sich an seine Geliebte wendet – In der N. Bibl. der sch.
W. Band 9. St. 2. S. 344. sind die Uebersetzungen aus Mac [11]pherson,
Macferlan, und Denis neben einander. Sie können nachschlagen und sehen! ...
. . . Ihre Einwürfe sind sonderbar. Bey alten Gothischen Gesängen, wie Sie sie zu nennen belieben, bey Reimgedichten, Romanzen, Sonnets und dergleichen schon künstlichen oder gar gekünstelten Stanzen, geben Sie mir nach; aber bey alten ungekünstelten Liedern, wilder, ungesitteter Völker - wilder ungesitteter Völker? ich kann ihre Stelle kaum ausschreiben. So gehörte ihr Ossian und sein edler, grosser Fingal so schlechthin zu einem wilden ungesitteten Volk? und wenn jener auch alles idealisirt hätte, wer so idealisiren konnte, und wem so idealisirt, dergleichen Bilder, dergleichen Geschichte, der Traum des Nachts, und das Vorbild des Tags, Gemüthserholung und beste Herzenslust seyn konnte; der war wildes Volk? Wohin man doch abgerathen kann, um nur seine Lieblingsmeinung zu retten.
Wissen Sie also, daß je wilder, d.i. je lebendiger, je freywirkender ein Volk ist, (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!) desto wilder, d.i. desto lebendiger, freyer, sinnlicher, lyrisch [12] handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und todte Lettern Verse sein: vom lyrischen, vom lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Nothdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bey manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Nationalliede gehören, und mit diesem verschwinden – davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wunderthätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu seyn! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtnisse heftet! Je länger ein Lied dauren soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen – wohin wendet sich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian überall
erscheinen, ein wilde[13]res, rauheres Volk, als die weich idealisirten
Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht bekannt, wo sanfte Empfindung ströme:
ihr Tritt ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde, und in Absicht auf
solche Bearbeitung und Kultur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das sich mit
den Ossianschen darinn vergleichen lasse. Aber sehen Sie einmal im Worm,
im Bartholin, im Peringskiöld, und Verel ihre Gedichte an –
wie viel Sylbenmaasse! wie genau jedes unmittelbar durch den fühlbaren Takt des
Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssylben mitten in den Versen symmetrisch
aufgezählt, gleichsam Losungen zum Schlage des Takts, Anschläge zum Tritt, zum
Gange des Kriegsheers. Aehnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoß, zum Schallen des
Bardengesanges in die Schilde! Disticha und Verse sich entsprechend! Vokale
gleich! Sylben Conson – wahrhaftig eine Rhythmik des Verses, so künstlich, so
schnell, so genau, daß es uns Büchergelehrten schwer wird, sie nur mit den Augen
aufzufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen lebendigen Völkern, die sie
hörten und nicht lasen, von Jugend auf hörten und mit sangen, und ihr ganzes Ohr
darnach gebildet hatten, eben so schwer gewesen sey. Nichts ist stärker und
ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt,
wie [14] lange behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache
gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der
lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder. Aus Musik,
Gesang und Rede könnt' ich Ihnen eine Menge sonderbarer Phänomene anführen, wenn
ich einmal psychologisiren wollte!
Denken Sie nicht, daß ich übertreibe. Unter 136 Rhythmusarten der Skalden,
habe ich nur Einen, den Sangbaren, in Worm näher studirt (denn ihre
eigentliche Prosodie, der zweite Theil der Edda ist meines Wissens noch
nicht erschienen!) und was denken Sie, wenn in diesem Rhythmus von 8 Reihen
nicht blos 2 Disticha, sondern in jedem Distichon 3 Anfangähnliche Buchstaben, 3
consone Wörter und Schälle, und diese in ihren Regionen wieder so metrisch
bestimmt sind, daß die ganze Strophe gleichsam eine prosodische Runentextur
geworden ist – und alles waren Schälle, Laute eines lebenden Gesanges, Wecker
des Takts und der Erinnerung, alles klopfte, und stieß und schallte zusammen! –
Machen Sie nun die Probe, und studiren Reyner Lodbrogs Sterbegesang in
den Runen des Worms, und lesen denn die feine, zierliche Uebersetzung,
die wir davon im Deutschen, in ganz anderm Ton und ganz anderm Sylben[15]maasse
haben – der verzogenste Kupferstich von einem schönen Gemälde! Nun komme jemand
und mache aus dem Schlachtgesang der Dysen, aus dem Zaubergespräch
Odins am Thor der Hölle, aus dem jüngsten Gericht der Eddagötter
ein schönes Heldengedicht in Hexametern, oder schöne griechische Sylbenmaasse,
wie Herr Denis aus dem Gespräch Gauls und Mornis,
Fingals und Roskranen gemacht hat; aus Evind Skaldaspillers
Trauerlied auf Hako eine Elegie im Ton der Rothschildsgräber – was würde
Vater Odin und der alte Skaldaspiller sagen? – Daß sich nun diese
Skaldische Rhythmik nicht auf Island und Skandinavien eingeschränkt, können Sie
aus Hickes, und andern; am neuesten noch in den Dodslei'schen
reliques aus der Vorabhandlung von dem complaint of conscience
(Th. 2. B. 3. S. 277.) sehen, wo aus dem Angelsächsischen dergleichen mehr als
Eine Probe angeführt wird.
Aber noch mehr. Gehen Sie die Gedichte Ossians durch. Bey allen Gelegenheiten
des Bardengesanges sind sie einem andern Volk so ähnlich, das noch jetzt auf der
Erde lebet, singet, und Thaten thut; in deren Geschichte ich also ohne
Vorurtheil und Wahn die Geschichte Ossians und seiner Väter mehr als Einmal
lebendig erkannt habe. Es sind die fünf Na [16]tionen in
Nordamerika: Sterbelied und Kriegsgesang, Schlacht- und Grablied,
historische Lobgesänge auf die Väter und an die Väter – alles ist den Barden
Ossians und den Wilden in Nordamerika gemein; der letzten Marter- und Rachelied
nehme ich aus, dafür die sanften Kaledonier ihre Gesänge mit dem sanften Blut
der Liebe färbten. Nun sehen Sie einmal, was alle Reisebeschreiber,
Charlevoix und Lafiteau, Roger, und Cadwallader
Colden vom Ton, vom Rhythmus, von der Macht dieser Gesänge auch für Ohren
der Fremdlinge sagen. Sehen Sie nach, wie viel nach allen Berichten darinn auf
lebende Bewegung, Melodie, Zeichensprache und Pantomime ankömmt, und wenn nun
Reisende, die die Schotten kannten, und mit den Amerikanern so lange gelebt
hatten, Kapt. Timberlake z.B. die offenbare Aehnlichkeit der Gesänge
beyder Nationen anerkannten – so schliessen Sie weiter. Bey Denis stehen wir
steif und fest auf der Erde: hören etwa Sinn und Inhalt in eigner, guter
poetischer Sprache, aber nach der Analogie aller wilden Völker kein Laut, kein
Ton, kein lebendiges Lüftchen von den Hügeln der Kaledonier, das uns hebe und
schwinge, und den lebendigen Ton ihrer Lieder hören lasse: wir sitzen, wir
lesen, wir kleben steif und fest an der Erde.
[17] Als eine Reise nach England noch in meiner Seele lebte – o Freund, Sie
wissen nicht, wie sehr ich damals auch auf diese Schotten rechnete! Ein Blick,
dachte ich, auf den öffentlichen Geist, und die Schaubühne, und das ganze
lebende Schauspiel des englischen Volks, um im Ganzen die Ideen mir aufzuklären,
die sich im Kopf eines Ausländers in Geschichte, Philosophie, Politik und
Sonderbarkeiten dieser wunderbaren Nation, so dunkel und sonderbar zu bilden und
zu verwirren pflegen. Alsdenn die größte Abwechselung des Schauspiels, zu den
Schotten! zu Macpherson! Da will ich die Gesänge eines lebenden Volks lebendig
hören, sie in alle der Würkung sehen, die sie machen, die Oerter sehen, die
allenthalben in den Gedichten leben, die Reste dieser alten Welt in ihren Sitten
studiren! eine Zeitlang ein alter Kaledonier werden – und denn nach England
zurück, um die Monumente ihrer Litteratur und ihre zusammengeschleppten
<Kunstwerke> und das Detail ihres Charakters mehr zu kennen – wie freute
ich mich auf den Plan! und als Uebersetzer hätte ich gewiß auf andern Wegen
ähnliche Schritte thun wollen, die jetzt – Denis nicht gethan hat! Für
ihn ist selbst die Macphersonsche Probe der Ursprache ganz vergebens
abgedruckt gewesen.
[18] . . . Sie lachen über meinen Enthusiasmus für die Wilden beynahe so, wie
Voltaire über Rousseau, daß ihm das Gehen auf Vieren so wohl
gefiele: Glauben Sie nicht, daß ich deswegen unsre sittlichen und gesitteten
Vorzüge, worinn es auch sey, verachte. Das menschliche Geschlecht ist zu einem
Fortgang von Scenen, von Bildung, von Sitten bestimmt: wehe dem Menschen, dem
die Scene mißfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll! Wehe
aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem Seine Scene die
Einzige ist, und der die Erste immer, auch als die Schlechteste, verkennet! Wenn
alle mit zum Ganzen des fortgehenden Schauspiels gehören: so zeigt sich in jeder
eine neue, sehr merkwürdige Seite der Menschheit – und nehmen Sie sich nur in
Acht, daß ich Sie nicht nächstens mit einer <Psychologie> aus den
Gedichten Ossians heimsuche. Die Ideen wenigstens dazu liegen tief und
lebendig genug in meiner Seele, und sie würden manches Sonderbare lesen!
Für jetzt. Wissen Sie, warum ich ein solch Gefühl theils für Lieder der
Wilden, theils für Ossian insonderheit habe? Ossian zuerst,
habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die [19] meisten, immer in bürgerlichen
Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos amusante,
abgebrochene Lecture, kaum lesen können. Sie wissen das Abentheuer meiner
Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen
Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und
Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom
weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen,
Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf ofnem
allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menschen, die strengere Gesetze
haben, als die Republik Lykurgus, mitten im Schauspiel einer ganz andern,
lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit
denselben endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne
Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder
und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den
Orten, da sie geschahen – hier die Klippen Olaus vorbey, von denen so viele
Wundergeschichten lauten – dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberase, mit
ihren vier mächtigen Sternebestirnten Stieren abpflügte, "das [20] Meer schlug,
wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich, ihren schweren Pflug ziehend,
die Stiere wandten, glänzten 8 Sterne vor ihrem Haupte" über dem Sandlande hin,
wo vormals Skalden und Vikinge mit Schwerdt und Liede auf ihren Rossen des
Erdegürtels (Schiffen) das Meer durchwandelten, jetzt von fern die Küsten
vorbey, da Fingals Thaten geschahen, und Ossians Lieder Wehmut sangen, unter
eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da lassen sich
Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors.
Wood mit seinem Homer auf den Trümmern Troja's, und die
Argonauten, Odysseen und Lusiaden unter wehendem Segel, unter rasselndem Steuer:
die Geschichte Uthals und Ninathoma im Anblick der Insel, da sie
geschahe; wenigstens für mich sinnlichen Menschen haben solche sinnliche
Situationen so viel Würkung. Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich
auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit Meer
bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hofte . . .
Verzeihen Sie es also wenigstens einer alternden Einbildung, die sich auf
Eindrücke dieser Art, als auf alte bekannte und innige Freunde stützet. –
[21] Aber auch das ist noch nicht eigentlich Genesis des Enthusiasmus, über welchen Sie mir Vorwürfe machen: denn sonst wäre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein blosses Meergespenst, das mir erscheinet. Wissen Sie also, daß ich selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes, unter lebenden Völkern zu sehen, denen unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können, um ihnen dafür etwas sehr Verstümmeltes oder Nichts zu geben. Wissen Sie also, daß, wenn ich einen solchen alten - - Gesang mit seinem wilden Gange gehört, ich fast immer, wie der französische Marcell gestanden; que de choses dans un menuet! oder vielmehr, was haben solche Völker durch Umtausch ihrer Gesänge gegen eine verstümmelte Menuet, und Reimleins, die dieser Menuet gleich sind, gewonnen? –
Sie kennen die beyden lettischen Liederchen, die Leßing in den
Litteraturbriefen aus Ruhig anzog, und wissen, wie viel sinnlicher
Rhythmus der Sprache in ihrem Wesen liegen mußte; lassen Sie mich itzt ein paar
Peruanische aus Garcilasso di Vega ziehen, die ich nach Worten,
Klang, und Rhythmus so viel möglich übertragen; Sie werden aber gleich selbst
sehen, wie weit sie sich übertragen lassen.
[22] Das Erste ist die Serenate eines Liebhabers in der Abenddämmerung:
Schlummre, schlummr', o Mädchen,
Sanft in meine Lieder,
Mitternachts, o Mädchen,
Weck' ich dich schon wieder!
Was läßt sich seinem Mädchen mehr und süsser sagen? – Das andre ist ein blosses Bild, eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und Blitz. In den Wolken ist eine Nymphe mit einem Wasserkruge in der Hand, bestellet, um zu gehöriger Zeit der Erde Regen zu geben. Unterläßt sies, läßt sie die Erde in Dürre schmachten, so kömmt ihr Bruder, zerschlägt ihren Krug, das gibt Blitz und Donner, und denn zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom Ungewitter in der Dürre, mit Regen begleitet, Ihnen als sinnlich, als anschauend gefällt: so hören Sie das Lied oder Gebet an sie, wie Sie wollen:
Schöne Göttin,
Himmelstochter!
Mit dem vollen
Wasserkruge,
Den dein Bruder
Jetzt zerschmettert
Daß es wettert
Ungewitter,
Blitz und Donner!
[23] Schöne Göttin,
Königstochter!
Und nun träufelst
Du uns Regen,
Milden Regen!
Doch oft streuest
Du auch Flocken
Und auch Schlossen!
Denn so hat dir
Er der Weltgeist!
Er der Weltgott!
Virakocha!
Macht gegeben
Amt gegeben!
Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht angeführt: denn Sie wissen, in welchem Ruf die dummen Peruaner stehen? ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren, und da arbeitet meine Nachbildung dem Original so matt und schwach nach.
Sie kennen das Kleistische Lied eines Lappländers, und die Hand dieses
braven Mannes konnte für uns gewiß nicht anders, als verschönern: aber wenn ich
Ihnen nun den rohen Lappländer gäbe? – wenigstens aus der dritten Hand, denn ich
habe Scheffer nicht bey mir:
O Sonne, dein hellester Schimmer beglänze den Orra-See!
Ich würde den Fichtengipfel ersteigen, könnt' ich schauen den Orra-See!
[24]Ich würd' ihn ersteigen, den Gipfel, meine Blumenfreundin zu sehn!
Ich würd ihn bescheeren, ihm alle Zweige, seine grünen Zweige stümmeln –
Hätt' ich Flügel, zu dir zu fliegen, Flügel der Krähen
Dem Laufe der Wolken folgt' ich, ziehend zum Orra-See!
Aber mir mangeln die Flügel! Enteflügel! Füsse der Ente!
Rudernde Füße der Gänse, die mich zu dir bringen!
O du hast lange gewartet, so viel Tage! schöne Tage,
Du mit erquickenden Augen, mit deinem freundlichen Herzen! –
Was ist stärker, als Flechte Sehnen! als eisene, mächtige Ketten
So fesselt uns die Liebe, die Umschafferin Sinns und Willens:
Denn der Wille des liebenden Jünglings ist Windesgang
Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken!
Folgt ich ihnen allen, ich irrte vom Rechten Weg' ab.
Drum bleibt mir Ein Entschluß, die sichre Bahn zu gehn!
Es ist, wie gesagt, aus der dritten Hand, dieses lappländische Lied – Aber noch immer, wie natürlich, wie sehnlich sinnet der junge, begehrende Lappländer, dem sein Weg zu lange wird, dem Alles, was er sieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Krähe und Ruderfüsse [25] sich zum Orrasee, auf sein Mädchen beziehen muß! Der auf die Schnelle und Langsamkeit seines Weges, auf sein Hineilen der Seele, auf seine vorwandernde Gedanken, auf seine Lust, Richtsteige zu suchen, wie natürlich! wie sehnlich zurück kommt! Que de choses dans un menuet! und ich liefre Ihnen doch nur die stammlendsten, zerrissensten Reste.
Ein andres lappländisches Liebeslied an sein Rennthier wollte ich
Ihnen auch mittheilen; aber es ist verworfen, und wer mag Zettel suchen? Dafür
stehe hier ein altes, recht schauderhaftes Schottisches Lied, für das ich schon
mehr stehen kann, weil ichs unmittelbar aus der Ursprache habe. Es ist ein
Gespräch zwischen Mutter und Sohn, und soll im Schottischen mit der rührendsten
Landmelodie begleitet seyn, der der Text so viel Raum gönnet:
Dein Schwerdt, wie ists von Blut so roth?
Edward, Edward!
Dein Schwerdt, wie ists von Blut so roth
Und gehst so traurig da! – O!
Ich hab geschlagen meinen Geyer todt!
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen meinen Geyer todt,
Und das, das geht mir nah! – O!
Dein's Geyers Blut ist nicht so roth!
Edward, Edward!
Dein's Geyers Blut ist nicht so roth,
Mein Sohn, bekenn mir frey! – O!
[26] Ich hab geschlagen mein Rothroß todt!
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen mein Rothroß todt!
Und’s war so stolz und treu! O!
Dein Roß war alt und hasts nicht noth!
Edward, Edward,
Dein Roß war alt und hasts nicht noth,
Dich drückt ein ander Schmerz! O!
Ich hab geschlagen meinen Vater todt,
Mutter, Mutter!
Ich hab geschlagen meinen Vater todt,
Und das, das quält mein Herz! O!
Und was wirst du nun an dir thun?
Edward, Edward!
Und was wirst du nun an dir thun?
Mein Sohn, bekenn mir mehr! O!
Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
Mutter, Mutter,
Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
Will wandern über Meer! O!
Und was soll werden dein Hof und Hall,
Edward, Edward,
Und was soll werden dein Hof und Hall,
So herrlich sonst und schön! O!
Ach! immer stehs und sink' und fall,
Mutter, Mutter,
Ach immer stehs und sink' und fall,
Ich werd es nimmer sehn! O!
Und was soll werden dein Weib und Kind,
Edward, Edward?
Und was soll werden dein Weib und Kind,
Wann du gehst über Meer – O!
Die Welt ist groß! laß sie betteln drinn,
Mutter, Mutter!
[27]] Die Welt ist groß! laß sie betteln drinn,
Ich seh sie nimmermehr! – O!
Und was soll deine Mutter thun?
Edward, Edward!
Und was soll deine Mutter thun?
Mein Sohn, das sage mir! O!
Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn,
Mutter, Mutter!
Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn,
Denn Ihr, Ihr riethets mir! O.
Könnte der Brudermord Kains in einem Populärliede mit grausendern Zügen geschildert werden? und welche Würkung muß im lebendigen Rhythmus das Lied thun? und so, wie viele viele Lieder des Volks! Doch aus meinem Briefe soll kein Buch werden u.s.w.
. . . Endlich werden Sie aufmerksam, und mahnen mich um mehrere solche Volkslieder; ich aber beweise nun wieder gegen Sie Eigensinn. Denn aus Ihrem vorletzten Briefe z.E. ist mir noch ein Einwurf auf dem Herzen. "Auch Herr D. habe ja so viel lyrische Stücke, und die so schön wären!"
Lyrische Stücke hat er, und schön sind sie; aber wie viel lyrische Stücke,
und wodurch sind sie schön? Was ist das andre im Original, was bey ihm nicht
lyrisch ist, der Grund des Ge[28]dichts, auf dem seine Oden nur Blumen sind, ist
das Hexameter? Und denn auch, wie? wodurch sind sie schön? Durch schöne
Römische, Griechische Sylbenmaasse, und durch so schöne Anordnung in denselben,
daß ich ja eben deswegen behauptet, sie seyn die schönen Bardenlieder Ossians
nicht mehr! Was macht Macpherson fast bey jedem solcher Stücke für Ausrüfe über
das Wilde, oder Sanfte, oder Feierliche oder Kriegerische ihres Rhythmus, ihrer
Melodien, ihrer Sylbenmaasse, das Seele des Gesangs sey – nun muß ich aber
bekennen, daß bey den meisten Fällen ich weder Wahl, noch Veranlassung eben zu
solchen Römischen und Griechischen Sylbenmaasse; ja wenn ich von den Gesängen
der Wilden überhaupt Ton habe, nirgends Veranlassung zu Einem solcher
Römischen und Griechischen Sylbenmaasse sehe. Ich mag mit Herrn D. nicht
wetteifern; er hat so viel poetischen Styl und Sprache in seiner Gewalt; aber
ich wolte Ein Stück bey ihm sehen, das nicht in einem andern Sylbenmaasse eben
so gut, das ist, eben so geziert, erscheinen sollte, und manches ist, ohne
Umschweif, übel gewählt.
Zur Probe davon sehen Sie einmal den dritten Band durch. Da hat ihm, ich weiß
nicht, welcher Kunstrichter, den Rath gegeben, mehr des Skaldischen
Sylbenmaasses zu gebrauchen, [29] und nun sehen Sie, wie es der Uebersetzer
mißbraucht hat. Die vortrefliche, so vielsaitige Goldharfe, die unter der Hand
des dänischen Skalden allen Zauber- und Macht- und Leyer- und Wunderton
hat annehmen können, so wie gegenseitig den Ton der Liebe, der Freundschaft, der
Entzückung, ist in den Händen des Uebersetzers eine hölzerne Trommel mit zween
Schlägen geworden. – Schade nur, daß eben dadurch die schönen Lieder von
Selma und das süsse Carrikthura verunstaltet sind. Im ersten Bande
hat der Uebersetzer gar eine Cantate in Reimen nach aller Form erfunden,
und da ihm nun kaum zwey Reime gelingen, so sinkt dies ganze Stück fast unter
die Kritik hinab.
Wie ganz anders hat Klopstock auch hier z.E. in der Sprache
gearbeitet! Der sonst so ausfliessende ausströmende Dichter, wie kurz! wie stark
und abgebrochen! wie altdeutsch hat er sich in seiner Hermanns-Schlacht
zu seyn bestrebt! Welche Prose gleicht da wohl seinem Hexameter! welch lyrisches
Sylbenmaaß seinen sonst so strömenden griechischen Sylbenmaassen! Wenn in seinem
Bardit wenig Drama ist: so ist wenigstens das Lyrische im Bardit, und im
Lyrischen mindstens der Wortbau so Dramatisch, so Deutsch! – Lesen Sie z.E. das
edle, simple Stückchen:
Auf Moos', am luftigen Bach etc.
[30] und so viele, ja fast alle andre, und dann
zeigen Sie mir Etwas in dem Bardenton in Denis. Da nun Klopstock selbst
sich so sehr hat verleugnen können, verändern müssen – ist dies Muß nicht eine
grosse Lehre? Sie <schrieben> mir neulich, da Sie Denis Sylbenmasse
priesen, Ihnen sey bey seinem Fingal und Roskrane Klopstocks Hermann
und Thusnelde (in den Brem. Beytr.) eingefallen: desto schlimmer, denn
Klopstocks neuerer Bardeton ist wohl nicht ganz der in Hermann und
Thusnelde. Ich bins gewiß nicht allein, der diesen veränderten, härtern
Bardeton im neuern Klopstock empfindet, und ohne mich in das Bessre oder
Schlechtre einzulassen, gehe ich gern mit den Jahren des Dichters, und mit der
Natur fort, und bin stolz darauf das Deutsche Bardenmäßige in seinem
Was that dir Thor, dein Vaterland.
und in allen neuern Stücken, wo so viel kurzer, dramatischer Dialog und Wurf der Gedanken ist, zu empfinden . . .
. . . Der Faden unsres Briefwechsels vervielfältigt sich so, daß ich kaum mehr weiß, wo ich ihn angreifen soll, um ihn [31] fortzuführen – am besten also, wo er mir in die Hände fällt.
Die Anmerkungen, die Sie "über das Dramatische in den alten Liedern"
dieser Art machen, ist so nach meinem Sinn, daß ichs mir immer mit unter den
Charakterstücken der Alten gedacht habe, die wir Neuere so wenig erreichen, als
ein todtes momentarisches Gemälde eine fortgehende, handelnde, lebendige Scene.
Jenes sind unsre Oden; dies die lyrischen Stücke der Alten, insonderheit wilder
Völker. Alle Reden und Gedichte derselben sind Handlung: Lesen Sie z.E. im
Charlevoix selbst die unvorbereitete Kriegs- und Friedensrede des
Eskimaux: es ist alles in ihr Bild, Strophe, Scene! Was für Handlung in
Odins Höllenfahrt, im Webegesange der Valkyriur, im
Beschwörungsliede der Hervor, und bey Ossian auf jeder Seite, in
jedem Stücke! Damit Sie nun nicht wieder sagen, daß ich Ihnen viel nenne und
nichts gebe: so mache ich mit Abtragung meiner Schuld den Anfang, und lege
Ihnen, zumal ich jetzt zu schreiben, nicht mehr Zeit habe, ein paar der
genannten bey. Ich hätte sie Ihnen so neu aufstutzen und idealisiren können:
denn blieben sie ja aber nicht mehr, was sie jetzt sind, und eben am
<Aerugo> der Bildsäule, am dun[32]keln, einförmigen, nordischen Zauberton
der Stücke, ist Ihnen und mir ja gelegen:
Odins Höllenfahrt.
Es erhub sich Odin
Der Menschen höchster!
Und nahm sein Roß
Und schwang sich aufs Roß
Und ritt hinunter
Zu der Höllen Thor.
Da kam ihm entgegen
Der Höllenhund!
Blutbespritzt
War seine Brust!
Mit offnem Rachen,
Und scharfem Gebiß
Und Wuth und Schaum.
Und riß den Rachen
Und bellt' entgegen
Dem Zaubervater
Und bellte lang!
Und fort ritt Odin
Und die Erd' erbebte.
Da kam er zum hohen
Höllenschloß,
Und ritt gen Aufgang
Zum Höllenthor,
Wo die Seherin
Im Grabe lag.
Und sang der Weisen
Todtenerweckenden
Gräbergesang:
Und sah' gen Norden
Und legte Runen
[33]Und beschwur und fragt',
Und foderte Rede
Bis sie zürnend endlich
Sich erhub und begann
Todtenstimme:
"Wer ist der Mann?
Ich kenn' ihn nicht!
Der meine Ruhe
Zu stören beginnt!
Ich lag mit Schnee
Und Eis bedeckt,
Und Regen beflossen
Und Thau benetzt,
Und lag so lang!"
Ein Wandrer bin ich,
Kriegerssohn.
Du sollst mir Kunde
Vom Höllenreich geben.
Ich will sie dir geben
Aus meiner Welt!
Jener goldne Sitz
Wem ist er bereitet?
Jenes goldne Bette
Für wen stehts da?
"FürBalder'nsteht,
Sieh her! der Trank,
Der Honigtrank
Und der Schild liegt drauf!
Bald werden um ihn
Die Götter trauren!
Unwillig red' ich
Nun laß mich ruhn!"
Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter
[34] Und lasse nicht ab,
Bis ich Alles weiß!
Sprich, wer wirdBaldern
Den Tod bereiten?
Und Leben berauben
Odins Sohn?
"Hoderists,
Der wird dem Bruder
Den Tod bereiten
Und Leben berauben
Odins Sohn!
Unwillig red' ich
Nun laß mich ruhn!"
Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter,
Und lasse nicht ab,
Bis ich Alles weiß!
Sprich, wer wirdHodern
Den Haß vergelten
UndBaldersMörder
Zum Grabe senden?
"In Westen wird Rinda
Dem Odin zu Nacht
Einen Sohn gebären,
Der kaum gebohren
Wird Waffen tragen,
Seine Hand nicht waschen,
Sein Haar nicht kämmen,
Bis er Balders Mörder
Zu Grabe gebracht.
Unwillig red' ichs
Nun laß mich ruhn!"
[35] Noch ruhe nicht, Jungfrau!
Ich forsche weiter,
Und laß nicht ab
Bis ich Alles weiß.
Wer sind die Jungfraun,
Die stumm dort weinen
Und Himmel an werfen
Im Schmerz den Schley’r
Noch das sprich mir
Eher sollt du nicht ruhn!
"O du kein Wandrer,
Wie ich erst gewähnt!
Du bist Odin selbst
Der Menschen Höchster."
Und du keine Weise
Propheten Jungfrau;
Keine Seherin!
Drey-Riesen-Mutter
Vielmehr bist du!
"Weg, Odin! wandre
Nachheim! hinweg!
Und rühme daheim,
Daß Niemand der Menschen
Wie du's vermocht,
Forschen wird,
Bis einst der Arge
Die Ketten bricht
Und die Götter fallen
Und die Welt zerfällt
Und Nacht beginnt!"
[36] Der Webegesang der Valkyriur.
(Der Schicksalsgöttinnen, vor der
Schlacht, zu des
Grafen Randvers Tod, und des Königs Siege)
Umher wirds dunkel
Von Pfeilgewölken!
Sie breiten umher sich
Wetterverkündend!
Es regnet Blut!
Auf! knüpfet an Spiesse
Das Schicksalsgewebe
Blutrothen Einschlags,
Ihr Todesschwestern
Zu Randvers Tod.
Sie weben Gewebe
Von Menschendärmen!
Menschenhäupter
Hängen sie dran!
Bluttriefende Spiesse
Schiessen sie durch
Und sind mit Waffen
Und Pfeil gerüstet
Und dichten mit Schwerdtern
Das Sieggarn vest.
Sie kommen zu weben
Mit nackten SchwerdternHild, Hiorthrimul,
Sangrida, Svipul,
Eh die Sonne sinkt
Werden Schilde spalten
Und Panzer brechen
[37] Und Schwerdter treffen,
Daß die Helme tönen.
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Dies Schwerdt trug einst
Ein Königs Sohn!
Hinaus, hinaus
An die Schaaren hinan,
Wo unsre Freunde
In Waffen schon glühn!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus
Zum König hinan!
Gudr, Gondula!
Da sahen sie schon
Schilde blutroth
Den König decken!
Wir weben, wir weben
Schlachtgewebe!
Hinaus, hinaus!
Wo die Waffen tönen
Und Helden fechten!
Wir wollen nicht fallen
Den König lassen!
Die Valkyriur walten
Ueber Leben und Tod!
Es soll gebieten,
Dem Erdenkreis
Dies Volk der Wüste!
Mächtiger König
Ich verkünde dir:
Es naht in Pfeilen
[38] Ein Tod heran!
Dein Feind ist gefallen! –
Und Irrland wird
Trauer treffen,
Die seinen Söhnen
Nie schwinden wird!
Das Geweb' ist gewebt!
Das Schlachtfeld fließt
Von rothem Blut!
Der Krieg wird wüten
Noch Länder hindurch!
Wie ists nun schrecklich
Umherzuschaun!
Blutwolken fliegen
In der Luft umher!
Ach! Kriegerblutes
Wird die Luft getüncht,
Eh unsre Stimmen
Erfüllt einst sind.
Singt all' ihr Schwestern
Dem Könige Heil!
Und Siegeslieder!
Und Heil uns Schwestern
Und unserm Gesang'!
Und wer sie hört
Die Schlachtgesänge,
Der lern' und singe
Sie den Kriegern vor.
Und reiten auf Rossen
In der Luft hinweg:
Mit nackten Schwertern
Hinweg von hier!
[39] . . . Habe ich denn je meine skaldische Gedichte in Allem für Muster neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! sie mögen so einförmig, so trocken seyn: andre Nationen sie so sehr übertreffen: sie mögen für Nichts als Gesänge, nordischer Meistersänger oder Improvisatori gelten; was ich mit ihnen beweisen will, beweisen sie. Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber grosse, zaubermäßige, feyerliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freye Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird – nur das wolte ich bey den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also lassen Sie mich reden.
Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden
ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig
anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht
durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie
in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen)
durch alle dies nicht zerstreuet; noch minder durch Künsteleyen, sklavische
Erwartungen, furchtsamschleichende Politik, und verwirrende Prämeditation
verdorben – über alle diese Schwächungen des [40] Geistes seligunwissend,
erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie
schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesse mit einer unvorbedachten
Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer
allezeit haben bewundern müssen, und – müssen bleiben lassen. Unsre Pedanten,
die alles vorher zusammen stoppeln, und auswendig lernen müssen, um alsdenn
recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrte:
Apotheker, und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten,
als daß sie endlich, wie Shakespear’s Launcelots, Policeydiener, und
Todtengräber uneigen, unbestimmt, und wie in der letzten Todesverwirrung
sprechen – diese gelehrte Leute, was wären die gegen die Wilden? – Wer noch bey
uns Spuren von dieser Festigkeit finden will, der suche sie ja nicht bey
solchen; – unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande,
mehr durch Thätigkeit, als Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich
anführete, Beredsamkeit ist, alsdenn die Einzigen und besten Redner unsrer Zeit.
In der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben diese
Sicherheit und Festigkeit des Ausdrucks am meisten mit [41] Würde, mit
Wohlklang, mit Schönheit zu paaren wußten; und da sie also Seele und Mund in den
festen Bund gebracht hatten, sich einander nicht zu verwirren, sondern zu
unterstützen, beizuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke
von αοιδοις, Sängern,
Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren.
Homers Rhapsodien und Ossians Lieder waren gleichsam
impromptus, weil man damals noch von Nichts als impromptus der
Rede wußte: dem letztern sind die Minstrels, wiewohl so schwach und entfernt,
gefolgt; indessen doch gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur
auslöschte. In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von
Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt: nach
Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über
Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen,
noch weniger imaginiren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben,
Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen – und endlich wurde Alles
Falschheit, Schwäche, und Künsteley. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und
verlor Festigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des
Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit [42] und Wahrheit und Andringlichkeit.
– Alles ging verlohren. Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter
der menschlichen Seele seyn sollte, ward die ungewisseste, lahmste, wankendste:
die Gedichte fein oft corrigirte Knaben- und Schulexercitien. Und freylich, wenn
das der Begriff unsrer Zeit ist, so wollen wir auch in den alten Stücken immer
mehr Kunst als Natur bewundern, finden also in ihnen bald zu viel, bald zu
wenig, nachdem uns der Kopf steht, und selten was in ihnen singt, den Geist der
Natur. Ich bin gewiß, daß Homer und Ossian, wenn sie aufleben und
sich lesen, sich rühmen hören sollten, mehr als zu oft über das erstaunen
würden, was ihnen gegeben und genommen, angekünstelt, und wiederum in ihnen
nicht gefühlt wird.
Freylich sind unsre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und
Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr,
sondern denken und grüblen nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt,
im Sturm und im Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern
erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beydes
– und haben uns das schon so lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns
freylich jetzt kaum eine freye Ausbildung mehr [43] glücken würde, denn wie
kann ein Lahmer gehen? Daher also auch, daß unsern meisten neuen Gedichten, die
Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste
Hinwurf verleihet, und kein späteres Nachzirkeln ertheilen kann. Einem
Homer und Ossian würden wir bey solchem poetischen Fleiß
gewiß nicht anders vorkommen, als einem Raphael oder Apelles, der
durch Einen Umriß sich als Apelles zeigt, der schwachhändig, krizzelnde
Lehrknabe – u.s.w.
. . . Als ob ich mit dem, was ich neulich vom ersten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererey unsrer jungen Dichterlinge, auch nur im mindesten zu statten kommen könnte? Denn was ist doch bey ihnen für ein Fehler sichtbarer, als eben die Unbestimmtheit, Unsicherheit der Gedanken und der Worte, daß sie nie wissen, was sie sagen wollen, oder sollen? – Weiß aber jemand das nicht, wie kann ers durch alle Korrektur lernen? Durch Schnitzeley kann da ja ein Bratspieß zur marmornen Bildsäule Apolls werden?
Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst sind hierin zwey
Hauptfälle [44] möglich. Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die theils
sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrschend sind,
vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den
Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar fassen,
wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben
sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert
sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in
seiner Seele diese Klasse von Kräften die würksamste, die geläufigste
Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der
glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. Im ersten Falle haben Milton,
Haller, Kleist und andre gedichtet: sie sannen lang, ohne zu schreiben:
sprachen sie aber, so wards und stand. Bey Milton wenige Verse, die er so
Nächte durch gleichsam als Mosaische Arbeit in seiner Seele gebildet hatte, und
frühe dann seiner <Schreiberin> sagte: Haller, dessen Gedichten
mans gnug ansieht, wie ausgedacht und zusammendrängend sie sind: Leßing
ist, glaub' ich, in seinen spätern Stücken der Dichtkunst auch in dieser Zahl –
alle so lebendig, und in der Seele ganz vollendete Stücke nehmen sich, wenn
nicht [45] durch ein Schnelles, so durch ein Tiefes und Beständiges des
Eindrucks aus. Sie dauren, und die Seele findet bey jedem neuen wiederholten
Eindruck gleichsam noch etwas Tiefers und Vollendetes, was sie anfangs nicht
bemerkte. Von der zweiten Art muß z.E. Klopstock in den ausströmendsten
Stellen seiner Gedichte seyn: Gleim, dessen Gedichte so viel Sichtbares
vom Ersten Wurf haben: Jacobi, dessen Verse Nichts, als sanfte
Unterhaltungen des Moments werden, und andre, die die Sache freylich nachher bis
zu jeder Nachlässigkeit übertrieben haben. Rammler, glaube ich, sucht
beyde Arten zu verbinden, ob freylich gleich die Erste, die Ausgedachte, bey ihm
ungleich sichtbarer ist. Wieland sucht sie zu verbinden, ob er gleich
immer doch mehr, aus dem Fach der Weltkenntniß seines Herzens zu schreiben
scheint, Gerstenberg zu verbinden – und überhaupt verbindet sie in
gewissem Maasse jeder glückliche Kopf: denn so entfernt beyde Arten im Anfange
scheinen; so wenig Ein Genie sich der Art des Andern aus dem Stegreife
bemächtigen kann: so kommen sie doch endlich beyde überein; lange und stark und
lebendig gedacht, oder schnell und würksam empfunden – im Punkt der Thätigkeit
wird beydes impromptu, oder bekömmt die Festigkeit, Wahrheit,
Lebhaftigkeit und [46] Sicherheit desselben, und das – nur das ist, was ich
sagen wollte. Was liessen sich aber auch nur aus dem für grosse, reiche
Wahrheiten der Erziehung, der Bildung, der Unterweisung ziehen! Was liessen
sich überhaupt aus dieser Proportion oder Disproportion des erkennenden und
empfindenden Theils unsrer Seele für psychologische und praktische Anmerkungen
machen! – Aber Sie müssen auf meine Psychologie über Ossian warten!
Ich bleibe hier in meinem Felde. Da die Gedichte der alten, und wilden Völker
so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne,
und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben: so
hat mich dies längst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die
ich Ihnen hier zum freundschaftlichen Gutachten mittheile. Zuerst, sollten
also wohl für den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also für die Seele
des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist,
dergleichen lebhafte Sprünge, Würfe, Wendungen, wie Sies nennen wollen, so
eine fremde böhmische Sache seyn, als uns die Gelehrten und Kunstrichter
beybringen wollen? Sie wissen die Einwürfe, die man hier aus Klopstocks
Kirchenliedern, wie es immer gelautet hat, für <die>gute Sache des
Christlichen [47] Volks gemacht hat, lassen Sie uns sehen, was daran sey?
Zuerst muß ich Ihnen also, wenn es auf Erfahrung und Autorität ankommt,
sagen, daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des
Volks, und eben die Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem
Mittel gedacht, ersonnen, entsprungen und gebohren sind, und die sie daher mit
so viel Aufwallung und Feuer singen, und zu singen nicht ablassen können. Mir
ist z.E. ein Jägerlied bekannt, das ich wohl unterlassen werde, Ihnen
ganz mitzutheilen, weil sich das Meiste und Anziehendste in ihm, auf lebendigen
Ton und Melodie des Horns beziehet; aber bey allem Simpeln und Populären
ist kein Vers ohne Sprung und Wurf des Dialogs, der in einem neuen Gedichte
gewiß Erstaunen machte, und über den unsre lahme Kunstrichter, als so
unverständlich, kühn, dithyrambisch schreyen würden. Ein Jäger hat Abends spät
das Netz gestellt, und bläßt alleweil bey der Nacht, (welche Worte die
Jägerresonanz sind) mit seinem Horne das Wild aus dem Korn ins lange Holz:
alleweil bey Nacht begegnet ihm also von fern eine Jungfrau stolz, und da
hebt sich dieser Dialog an:
[48] Wo aus? wo ein? du wildes Thier!
Alleweil bey der Nacht!
Ich bin ein Jäger, und fang dich schier, u.s.w.
"Bist du ein Jäger, du fängst mich nicht
Alleweil bey der Nacht!
"Mein' hohe Sprüng', die weißt du nicht, u.s.w.
Dein' hohe Sprüng', die weiß ich wohl,
<Alleweil bey der Nacht!>
Weiß wohl, wie ich sie dir stellen soll. u.s.w.
Und sehen Sie, plötzlich, ohne alle weitere Vorbereitung erhebt sich die Frage:
Was hat sie an ihrem rechten Arm?
und plötzlich, ohne weitere Vorbereitung die Antwort:
Nun bin ich gefangen, u.s.w.
Was hat sie an ihrem linken Fuß?
"Nun weiß ich, daß ich sterben muß!"
und so gehen die Würfe fort, und doch in einem so gemeinen, populären Jägerliede! und wer ists, ders nicht verstünde, der nicht eben daher auf eine dunkle Weise, das lebendige Poetische empfände?
Alle alte Lieder sind meine Zeugen! Aus Lapp- und Esthland, Lettisch und
Pohlnisch, und Schottisch und Deutsch, und die ich nur kenne, je älter, je
volksmäßiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender. Wenn Ihnen meine
Skaldischen, und Lapp- und Schottländischen Lieder nicht genug sind, hören Sie
einmal ein Andres, aus den Dodsleischen Reliques: ich wähle ein
ganz gemeines, deren [49] wir unter unsrem Volk gewiß hundert ähnliche, und wo
nicht Lieder, doch Sagen haben. Es ist nichts in der Welt mehr, als Sweet
Williams Ghost: und doch, wie wenig kann ich ihm in der Uebersetzung, seinen
Aerugo, sein Feierliches Populäres lassen.
Zu Hannchens Thür, da kam ein Geist,
Mit manchem Weh und Ach!
Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß
Und ächzte traurig nach.
"Ists, Vater Philipp! der ist da?
Bists, Bruder! du, Johann?
Oder ists Wilhelm, mein Bräutigam!
Aus Schottland kommen an?"
Dein Vater Philipp, der ists nicht!
Dein Bruder nicht, Johann!
Es ist Wilhelm, dein Bräutigam,
Aus Schottland kommen an!
Hör, süsses Hannchen, höre mich,
Hör' und willfahre mir!
Gib mir zurück mein Wort und Treu,
Das ich gegeben Dir!
"Dein Wort und Treu geb' ich dir nicht
Geb's nimmer wieder Dir!
Bis du zu meiner Kammer kommst,
Mit Liebeskuß zu mir!"
Zu deiner Kammer soll ich ein,
Und bin kein Mensch nicht mehr?
Und küssen deinen Rosenmund?
So küß ich Tod dir her!
Mein süsses Hannchen, höre mich,
Hör' und willfahre mir.
Gib mir zurück mein Wort und Treu
Das ich gegeben dir!
[50] "Dein Wort und Treu geb ich dir nicht,
Geb's nimmer wieder Dir!
Bis du mich führst zur Kirch' hinan
Mit Treuering dafür!"
Und an der Kirche lieg' ich schon
Und bin ein Todtenbein!
'S ist, süsses Hannchen, nur mein Geist,
Der hier zu dir kommt ein!
Ausstreckt sie ihre Liljenhand
Streckt bebend sie ihm zu:
"Da, Wilhelm, hast du Wort und Treu,
Und geh, und geh zur Ruh!"
Und schnell warf sie die Kleider an
Und ging dem Geiste nach,
Die ganze lange Winternacht
Ging sie dem Geiste nach.
"Ist, Wilhelm, Raum noch, dir zu Haupt,
Noch Raum zu Füssen dir?
Ist Raum zu deiner Seite noch,
So gib, o gib ihn mir!"
Zu Haupt und Fuß ist mir nicht Raum
Kein Raum zur Seite mir!
Mein Sarg ist, süsses Hannchen, schmal
Daß ich ihn gebe Dir!
Da kräht der Hahn! da schlug die Uhr!
Da brach der Morgen für!
"Ach, Hannchen, nun, nun kommt die Zeit,
Zu scheiden weg von Dir!"
Der Geist – und mehr, mehr sprach er nicht
Und seufzte traurig drein
Und schwand in Nacht und Dunkel hin
Und sie, sie stand allein!
"Bleib, treue Liebe! bleibe noch
Dein Mädchen rufet dich!"
Da brach ihr Blick! ihr Leib der sank,
Und ihre Wang' erblich! –
[51] Nun sagen Sie mir, was kühn geworfner, abgebrochner und doch natürlicher, gemeiner, volksmässiger seyn kann? Ich sage volksmässiger: denn was die Bräutigamssitte betrift, lesen Sie die Gebräuche der Wilden, z.E. der Nordamerikaner; und das Kostume der Erscheinung, in seiner ganzen Natur, brauche ich Ihnen nicht zu erklären – künftig weiter!
. . . Sie glauben, daß auch wir Deutschen wohl mehr solche Gedichte hätten,
als ich mit der schottischen Romanze angeführet; ich glaube nicht allein,
sondern ich weiß es. In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder,
Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und
Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben gewiß nichts nachgeben würden;
nur wer ist der sie sammle? der sich um sie bekümmre? sich um Lieder des Volks
bekümmre? auf Strassen, und Gassen und Fischmärkten? im ungelehrten Rundgesange
des Landvolks? um Lieder, die oft nicht skandirt, und oft schlecht gereimt sind?
wer wollte sie sammlen – wer für unsre Kritiker, die ja so gut Sylben zählen,
und skandiren können, drucken lassen? Lieber lesen wir, doch nur zum
Zeitvertreib, unsre [52] neuere schöngedruckte Dichter – Laß die Franzosen ihre
alte Chansons sammlen! Laß Engländer ihre alte Songs und Balladen
und Romanzen in prächtigen Bänden herausgeben! Laß in Deutschland etwa der
Einzige Lessing sich um die Logaus und Scultetus und
Bardengesänge bekümmern! Unsre neuen Dichter sind ja besser gedruckt und
schöner zu lesen; allenfalls lassen wir noch aus Opitz, Flemming,
Gryphius Stücke abdrucken. – Der Rest der ältern, der wahren Volksstücke,
mag mit der sogenannten täglich verbreitetern Kultur ganz untergehen, wie schon
solche Schätze untergegangen sind – wir haben ja Metaphysik und Dogmatiken und
Akten – und träumen ruhig hin –
Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir noch in unsern Provinzialliedern,
jeder in seiner Provinz nachsuchten, wir vielleicht noch Stücke zusammen
brächten, vielleicht die Hälfte der Dodsleien Sammlung von Reliques,
<aber> die derselben beinahe an Werth gleich käme! bey wie vielen Stücken
dieser Sammlung, insonderheit den besten schottischen Stücken sind mir deutsche
Sitten, deutsche Stücke beygefallen, die ich selbst zum Theil gehöret – haben
Sie Freunde in Elsaß, in der Schweitz, in Franken, in Tyrol, in Schwaben, so
bitten Sie – aber zuerst, daß sich diese Freunde [53] ja der Stücke nicht
schämen; denn die dreusten Engländer haben sich z.E. nicht schämen wollen und
dörfen. Selbst die Melodie des Ihnen einmal angeführten: Come away, come
away, death! erinnere ich mich einmal dunkel gehört zu haben, und noch nicht
vor langer Zeit erinnere ich mich eines Bettlerliedes, das an Inhalt so gemischt
und voll Sprünge war, und in seiner sehr lyrischen alten Melodie so traurig
tönte. – Unter ihrem Jammer kam die Sängerin, eine Penia selbst, im
halben Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn sie der bittre Tod
überwände, und ihr (ich glaube es ist Gewohnheit oder Ausdruck) die Füsse
bände; endlich kämen 4 oder 6 Leute, die sie von Hause und Freunden weg,
unter dem Schall der Todtenglocke, in ihr Grab trugen –
Und wenn die Glocke verliert ihren Ton
So haben meine Freunde vergessen mich schon! –
sagen Sie, ist der Zug nicht elegisch und rührend?
Da ich weiß, daß dieser Brief keinem von den eckeln Herren unsrer Zeit in die
Hände kommen wird, die über einen veralteten Reim oder Ausdruck gleich rümpfen!
Da ich weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage ich
kein Bedenken, Ihnen z.E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein
sehnend-trauriges Liebeslied hinzu[54]setzen, das, wenn es ein Gleim,
Ramler oder Gerstenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern
überträfe! –
Der süsse Schlaf, der sonst stillt Alles wohl
Kann stillen nicht mein Herz mit Trauren voll,
Das schafft allein, die mich erfreuen soll!
Kein Speis', kein Trank, mir Lust, noch Nahrung geit,
Kein Kurzweil ist, die mir mein Herz erfreut,
Das schafft allein, die mir im Herzen leit!
Kein Gesellschaft ich nicht mehr besuchen mag,
Ganz einig sitz in Unmuth Nacht und Tag,
Das schafft allein, die ich im Herzen trag’.
In Zuversicht allein an ihr ich hang'
Und hoff, sie soll mich nicht verlassen lang,
Sonst fiel ich g'wiß ins bittern Todes Zwang.
Ist das Sylbenmaass nicht schön, die Sprache nicht stark, der Ausdruck empfunden? Und, glauben Sie, so würden sich in jeder Art mehrere Stücke finden, wenn nur Menschen wären, die sie suchten!
Wir haben z.B. viele und vielerley neue Fabeln, was sagen Sie demohngeachtet aber zu einer solchen alten Fabel im alten Ausdruck und Ton:
Kukuk und Nachtigall.
Einmal in einem tiefen Thal
Der Kukuk und die Nachtigal
Eine Wett thäten anschlagen,
Zu singen um das Meisterstück,
[55]Wers gewönn' aus Kunst oder aus Glück
Dank sollt' er davon tragen.
Der Kukuk sprach: "so dirs gefällt
– Hab der Sach einen Richter erwählt!"
Und thät den Esel nennen.Denn weil der hat zwey Ohren groß,
So kann er hören desto baß
Und was recht ist, erkennen!
Als ihm die Sach nun ward erzählt, (vermuthlich vertalt)
Und er zu richten hat Gewalt,
Schuf er: sie solten singen!
Die Nachtigall sang lieblich aus;
Der Esel sprach:Du machst mirs kraus!
Ich kanns in Kopf nicht bringen.
Der Kukuk fing auch an und sangWie er denn pflegt zu singen:– lacht fein darein!
Kukuk! Kukuk!
Das gefiel dem Esel im Sinne sein.
Er sprach: in allen Rechten
Will ich ein Urtheil sprechen:Hast wohl gesungen, Nachtigal,
Aber! – Kukuk! – singt gut Choral!
Und hält den Takt fein innen,
Das sprech' ich nach meinem hohen Verstand,
Und ob es gölt ein ganzes Land
So laß ichs dich gewinnen –
Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber zehn solche gemacht, als alle . . . sche? Lassen Sie mich die Moral nicht dazu setzen, sie ist schlechter gesagt, neuer, und wie vielerley Moral kann sich nicht jeder selbst daraus [56] ziehen, – in Theilen und im Ganzen! Die Herrn, die so bürgerlich feist wohlmeinend achten, daß jener Titel und dieser Kragen doch das Ding verstehen müßte –
Dieweil er hat zwey Ohrengroß
So kann er freilich hörenbaß!
Die Herren, die aus Stumpfsinn, und Gedankenlosigkeit gleich über jeden etwas gedrängten oder lebhaften Styl schreien, "ey nicht Griechische Lauterkeit! Ciceronische Wohlberedtheit" in ellenlangen Deutschlateinischen Perioden! So voll Anspielungen, voll Bilder, voll Gedanken – sonst aber freylich . . . kurz:
Der Esel sprach: du machst mirskraus,
Ich kanns in Kopf nicht bringen –
Aber Kukuk singt gut Choral
Und hält den Takt fein inne! –
Was liessen sich sonst noch vor Deutungen machen,
wenn man etwas die Welt kennet? – Aber zu unserm Zweck: wie fest und tief
erzählt! Ohne erzwungne Lustigkeit und doch wie lustig und stark und treffend in
jedem Wort, in jeder Wendung! – Aller guten Dinge sind drey! und zu unsern
Zeiten wird so viel von Liedern für Kinder gesprochen: wollen Sie ein
älteres Deutsches hören? Es enthält zwar keine transcendente Weisheit und Moral,
mit der die Kinder zeitig genug überhäuft werden – es ist nichts als ein
kindisches
[57]Fabelliedchen.
Es sah' ein Knab' ein Rößlein stehn
Ein Rößlein auf der Heiden.
Er sah, es war so frisch und schön
Und blieb stehn, es anzusehenUnd stand in süssen Freuden.
Ich supplire diese Reihe nur aus dem Gedächtniß, und nun folgt das kindische Ritornell bey jeder Strophe:
Rößlein, Rößlein, Rößlein roth,
Rößlein auf der Heiden!
Der Knabe sprach: ich breche dich!
Rößlein etc.
Das Rößlein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich
Daß ichs nicht will leiden!
Rößlein etc.
Jedoch der wilde Knabe brach,
Das Rößlein etc.
Das Rößlein wehrte sich und stach,
Aber er vergaß darnach
Beim Genuß das Leiden!
Rößlein etc.
Ist das nicht Kinderton? Und noch muß ich Ihnen Eine
Aenderung des lebendigen Gesanges melden. Der Vorschlag thut bey den Liedern des
Volks eine so grosse und gute Würkung, daß ich aus Deutschen und Englischen
alten Stücken sehe, wie viel die Minstrels darauf gehalten: und der ist
nun noch im Deutschen wie im Englischen in den Volksliedern meistens der dunkle
Laut von the in beydem Geschlecht (de Knabe) 's statt das ('s
Röß[58]lein) und statt ein ein dunkles a, und was man noch
immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort bekommt auf
solche Weise immer weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit
' Knabe sprach
' Rößlein sprach, u.s.w.
in den Liedern mit mehr Accent, und endlich lassen Sie mich noch mit einer weitern Anmerkung hieraus schliessen. In schnellrollenden, gereimten komischen Sachen, und aus dem entgegen gesetztesten Grunde in den stärksten, heftigsten Stellen der tragischen Leidenschaft, dort insonderheit in leichtsinnigen Liedern, hier am meisten in den gedrungenen Blank-Versen haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie schädlich es uns Deutschen sey, daß wir keine Elisionen haben, oder uns machen wollen? Unsre Vorfahren haben sie häufig und zu häufig gehabt: die Engländer mit ihren Artikeln, mit den Vokalen bey unbedeutenden Wörtern, Partikeln u.s.w. haben sie zur Regel gemacht: die innre Beschaffenheit beyder Sprachen ist in diesem Stücke ganz Einerley: uns quälen diese schleppende Artikel, Partikeln u.s.w. oft so sehr, und hindern den Gang des Sinns oder der Leidenschaft – aber wer unter uns wird zu elidiren wagen? Unsre Kunstrichter zählen ja Sylben, und können so gut skandiren! Sie [59] also, der kein Kunstrichter ist, erlauben Sie also in dergleichen Fällen mir wenigstens, mich freyherrlicher maassen des Zeichens (') bedienen zu können, nach bestem Belieben u.s.w.
. . . Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: "woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?" Gewöhnen wäre immer das Leichteste zu erklären: denn wozu kann man sich nicht gewöhnen, wenn man nichts anders hat und kennet? Da wird uns im kurzen die Hütte zum Pallast, und der Fels zum ebnen Wege – aber darauf kommen? es als eigne Natur so lieben können? Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der That die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann.
Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseyende Gegenstände,
Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind
da nun Umstände, gegenwärtige Züge, Theilvorfälle! Und alle hat das Auge
gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist
kein [60] anderer Zusammenhang unter den Theilen des Gesanges, als unter den
Bäumen und Gebüschen im Walde, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als
unter den Scenen der Begebenheit selbst. Wenn der Grönländer von seinem
Seehundfange erzählt: so redet er nicht, sondern mahlet mit Worten und
Bewegungen, jeden Umstand, jede Bewegung: denn alle sind Theile vom Bilde in
seiner Seele. Wenn er also auch seinem Verstorbnen das Leichenlob und die
Todtenklage hält, er lobt, er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des
Verstorbnen selbst, mit allen Würfen der Einbildung herbeygerissen, muß reden
und bejammern. Ich entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu setzen;
denn da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der
Morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne
Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche
Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmäßig ausgesponnen
hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und
Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden.
Alle Grabbegleiter und Freunde des Verstorbnen sitzen im Trauerhause, den Kopf
zwischen die Hände, die Arme aufs Knie gestützt: die Wei[61]ber auf dem
Angesicht und schluchzen und weinen in der Stille; und der Vater, Sohn oder
nächste Verwandte fängt mit heulender Stimme an:
Wehe mir, daß ich deinen Sitz ansehen soll, der nun leer ist! Deine Mutter bemühet sich vergebens, dir die Kleider zu trocknen!
Siehe! meine Freude ist ins Finstre gegangen, und in den Berg verkrochen.
Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich: ich streckte meine Augen aus, und wartete auf dein Kommen.
Siehe du kamst! du kamst muthig angerudert mit Jungen und Alten.
Du kamst nie leer von der See: dein Kajack war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen.
Deine Mutter machte Feuer und kochte. Von dem Gekochten, das du erworben hattest, ließ deine Mutter den übrigen Leuten vorlegen, und ich nahm mir auch ein Stück.
Du sahest der Schaluppe rothen
Wimpel von weiten, und ruftest: da kommt Lars (der Kaufmann).
Du liefst an den Strand und hieltst das Vordertheil der Schaluppe.
Denn brachtest du deine Seehunde hervor, von welchen deine Mutter den Speck abnahm, und dafür bekamst du Hemde und Pfeileisen.
[62] Aber das ist nun aus. Wenn ich an dich denke, so brauset mein Eingeweide.
O daß ich weinen könnte, wie ihr andern: so könnte ich doch meinen Schmerz lindern.
Was soll ich mir wünschen? Der Tod ist mir nun selbst annehmlich worden, aber wer soll mein Weib und meine übrigen kleinen Kinder versorgen?
Ich will noch eine Zeitlang leben:
aber meine Freude soll seyn in Enthaltung dessen, was den Menschen sonst so lieb
ist." -
Der Grönländer befolgt die feinsten Gesetze vom Schweben der Elegie, die auch
– irrt, doch nicht verwirret! –
und von wem hat er sie gelernet? Sollte es mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht eben so seyn? und wenn sie in der Natur der Einbildung liegen, wen sind sie nöthig zu lehren? wem unmöglich zu fassen, der nur dieselbe Einbildung hat? – Alle Gesänge des A. T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Propheten sind voll davon, und die sollten doch kaum poetische Uebungen seyn. –
Selbst einen allgemeinen Satz, eine abgezogne Wahrheit kann ein lebendiges
Volk im Liede, im Gesange, nicht anders als auch so lebendig, und kühn
behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines dogmatischen Locus nicht,
und es schläft gewiß ein, wenn es [63] denselben geführt werden soll. Sehen Sie
z.E. in den mehr angeführten Dodsleiischen Reliques die alten
moralischen Stücke an: My heart to me a kingdom is u.s.w. Sie brechen
immer in ihrem lyrischen Gange nur die Blumen ihrer Moral, und kommen, da hier
kein sichtbarer Gegenstand, keine an einander hangende Geschichte und Handlung
der Einbildung und dem Gedächtniß vorschwebet, jenem immer durch Anwendung,
diesem durch Symmetrie, Refrain des Verses und zehn andre Mittel zu statten.
Hören Sie einmal eine Probe der Art über den allgemeinen Satz: Der Liebe läßt
sich nicht widerstehen! Wie würde ein neuer analytischer, dogmatischer Kopf
den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger?
Ueber die Berge!
Ueber die Quellen!
Unter den Gräbern,
Unter den Wellen
Unter Tiefen und Seen
In der Abgründe Steg
Ueber Felsen, über Höhen
Findt Liebe den Weg.
In Ritzen, in Falten,
Wo der Feuerwurm nicht liegt!
In Höhlen, in Spalten,
Wo die Fliege nicht kriecht!
Wo Mücken nicht fliegen,
Und schlüpfen hinweg,
[64] Kommt Liebe! Sie wird <siegen>
Und finden den Weg!
Sprecht, Amor sey nimmer
Zu fürchten das Kind!
Lacht über ihn immer
Als Flüchtling, als blind!
Und schließt ihn durch Riegel
Vom Tagstrahl hinweg!
Durch Schlösser und Riegel
Find Liebe den Weg!
Wenn Phönix und Adler
Sich unter euch beugt!
Wenn Drache und Tiger
Gefällig sich neigt!
Die Löwin läßt kriegen
Den Raub sich hinweg.
Aber Liebe wird siegen
Und finden sich Weg!
Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Lassen Sie den dummsten Menschen das Lied dreymal hören: er wirds können, und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber eben dieselbe Sache auf einförmige, dogmatische Art, in hübsch abgezählten Strophen, und seine Seele schläft.
Alle unsre alte Kirchenlieder sind voll dieser Würfe und Inversionen: keine
aber fast mehr und mächtiger, als die von unserm Luther. Welche
Klopstocksche Wendung in seinen [65] Liedern kommt wohl den
Transgressionen bey, die in seinem "Ein feste Burg ist unser Gott!" "Gelobet
seyst du Jesu Christ!" "Christ lag in Todesbanden!" und dergleichen
vorkommen: und wie mächtig sind diese Uebergänge und Inversionen! Wahrhaftig
nicht Nothfälle einer ungeschliffenen Muse, für die wir sie gütig annehmen: sie
sind allen alten Liedern solcher Art, sie sind der ursprünglichen, unentnervten,
freyen und männlichen Sprache besonders eigen: Die Einbildungskraft führet
natürlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der
studirende Gelehrte, fühlt sie, zumal von Jugend auf gelernt, und sich gleichsam
nach ihnen gebildet, so innig und übereinstimmend, daß ich mich z.E. wie über
zehn Thorheiten unsrer Liederverbesserung, so auch darüber wundern muß, wie
sorgfältig man sie wegbannet, und dafür die schläfrigsten Zeilen, die
erkünsteltsten Partikeln, die mattesten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der
grosse ehrwürdige Theil des Publicums, der Volk heißt, und für den doch die
Gesänge castigirt werden, eine von den schönen Regeln fühle, nach denen man sie
castigiret! Und Lehren in trockner, schläfriger, dogmatischer Form, in einer
Reihe todter, schlaftrunken nickender Reime mehr fühlen, empfinden und behalten
werde, als wo ihm durch [66] Bild und Feuer, Lehre und That auf Einmal in Herz
und Seele geworfen wird.
Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine Schutzschrift etwa für die
Klopstockischen Lieder schreiben wolle? Ich glaube sehr gerne, daß auch
sie nicht immer Lieder des Volks sind, und daß sie seltner ganze
Gegenstände, als kleine Züge aus diesen Gegenständen, seltner ganze Pflichten,
Thaten und Gestalten des Herzens, als feine Nüancen, oft Mittelnüancen von
Empfindungen besingen, daß also ein sehr sympathetischer, und zu gewissen
Vorstellungen sehr zugebildeter Charakter zum ganzen Sänger seiner Lieder
gehöre. Aber dem ohngeachtet ist das, was viele sonst gegen ihn sagten, und noch
mehr, was man ihm entgegen stellet, so trocken, so mager, so unkundig der
menschlichen Seele, daß ich immer wetten will, das kühnste Klopstockische Lied,
voll Sprünge und Inversionen, einem Kinde beygebracht, und von ihm einigemal
lebendig gesungen, werde mehr für ihn seyn, und tiefer und ewiger in ihm
bleiben, als der dogmatischte Locus von Liede, wo ja keine Zwischenpartikel und
Zwischengedanke ausgelassen ist. – Mein Gott! wie trocken und dürre stellen sich
doch manche Leute die menschliche Seele, die Seele eines Kindes vor! Und was für
ein grosses, trefliches Ideal wäre mir dieselbe, wenn ich mich [67] je an Lieder
dieser Art versuchte! Eine ganze jugendliche, kindliche Seele zu füllen, Gesänge
in sie zu legen, die, meistens die Einzigen, lebenslang in ihnen bleiben, und
den Ton derselben anstimmen, und ihnen ewige Stimme zu Thaten und Ruhe, zu
Tugenden und zum Troste seyn soll, wie Kriegs- Helden- und Väterlieder in der
Seele der alten, wilden Völker – welch ein Zweck! welch ein <Werk>! und
wie viel wahrhafte Bestrebungen zu solchem Werke haben wir denn? Reimgebetlein
und Lehrverse genug!
Wenn Luther über jene beyde wegen der Religion verbrannte anstimmt:
Die Asche will nicht lassen ab,
Sie stäubt in allen Landen
Hier hilft kein Bach und Grub' und Grab,
Sie macht den Feind zu schanden!
Die er im Leben durch den Mord
Zu schreyen hat gezwungen,
Die muß er todt an allem Ort
Mit heller Stimm' und Zungen
Gar frölich lassen singen – –
oder wenn er schließt:
Die laß man liegen immerhin
Sie habens keinen Frommen!
Wir wollen danken Gott darinn
Sein Wort ist wieder kommen,
Der Sommer ist hart für der Thür
Der Winter ist vergangen.
Die Gartenblumen gehen herfür,
[68] Der das hat angefangen
Der wird es auch vollenden –
so wolte ich fragen, wie viele unsre neuern Liederdichter dergleichen Strophen, (ich sage nicht dem Inhalt, sondern der Art nach) gemacht haben? und wie viele haben Luthern verbessert?
. . . Auch Sie beklagens, daß die Romanze, diese ursprünglich so edle und feyerliche Dichtart bey uns zu Nichts, als zum Niedrigkomischen und Abentheuerlichen gebraucht, oder vielmehr gemißbraucht werde – ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer, tiefer und daurender ist das Vergnügen, das eine sanfte oder rührende Romanze, des alten Englands oder der Provinzialen, und eine neuere Deutsche voll niedrigen abgebrauchten, pöbelhaften Spottes und Wortwitzes nachläßt. Aber noch sonderbarer ists, daß in dieser letzten Gestalt die Romanze uns fast nur bekannt geworden zu seyn scheint.
Gleim sang seine Marianne so schön – ich sage, er sang sie
schön: denn eigentlich ist das Stück Zug vor Zug eine alte Französische Romanze,
die Sie, (wenn Sie das noch nicht wissen,) wie mich dünkt, auch in dem neuen
[69] choix des Romances anciennes & modernes finden werden – und so
sang man ihm nach. Seine beyden andern Stücke neigten sich ins Komische; die
Nachsinger stürzten sich mit ganzem plumpen Leibe hinein, und so haben wir jetzt
eine Menge des Zeugs, und Alle nach Einem Schlage, und alle in der
uneigentlichsten Romanzenart, und fast alle so gemein, so sehr auf ein
Einmaliges lesen – daß, nach weniger Zeit, wir fast Nichts wieder, als die
Gleimschen übrig haben werden.
Dazu kommt nun noch das, daß die wenigen fremden, die übersetzt sind, so
schlecht übersetzt sind, (ich führe Ihnen nur die schöne Rosemunde, und
Alkanzor und Zaide an, welche letztere noch den Vorzug hat,
zweymal elend übersetzt zu seyn) und da der Ton nun Einmal gegeben ist: so singt
man fort, und verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter
diese Dichtart haben könnte, nemlich für unsre lyrischen Gesänge, Oden,
Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen, an
einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu gewöhnen, kurz uns von
so manchem drückenden Schmuck zu befreyen, der uns jetzt fast Gesetz geworden.
Sehen Sie einmal, in welcher gekünstelten, überladnen, gothischen Manier die
neuern sogenannten Philosophischen und Pinda[70]rischen Oden der Engländer sind,
die ihnen als Meisterstücke gelten! Von Gray, von Akenside, von
Mason u.s.w. ob wohl in ihnen Sylbenmaaß, oder Innhalt, oder Einkleidung
die mindste Odenwürkung thun könne? Sehen Sie, in welche gekünstelte horazische
Manier wir Deutsche hie und da gefallen sind – Ossian, die Lieder der Wilden,
der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf bessern Weg bringen,
wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen
wolten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebey stehen, und
da wird wieder Nichts. – Irre ich mich, oder ists wahr, daß die schönsten
lyrischen Stücke, die wir schon jetzt haben, und längst gehabt haben, schon mit
diesem männlichen, starken, festen deutschen Ton übereinkommen, oder sich
ihm nähern – was wäre nicht also von der Aufweckung mehrerer solcher zu hoffen!
–
Ja Nachschrift! wo keine Schrift, wo lauter Umrede
rings um das leider! halb erloschne und entstellte Schaustück der menschlichen
Natur Ossian, ist, oder es höchstens ewige Vorrede wird, zu dem was kommen will
und kommen soll und nie kommt. Lassen Sie uns also, m. Fr., da die Sache einmal
so liegt, dem klügern? oder blödern? Theil des Publikum wenigstens ein favete
linguis ins Ohr lispeln, wie nichtig es mit Einkleidung des Briefwechsels,
der versprochnen Psychologie Ossians, (wenn der Druckfehler anzumerken
werth ist) die Fabelreise zu seinen Inseln völlig zu geschweigen, stehen müsse!
wie untreu eine Skandinavische Uebersetzung [114] sei, wo der Autor nur aus
Uebersetzung und höchstens Wortansicht translatirte, zumal endlich wie solch
Geschwätz, ausser dem vielleicht, was es hie und da sage, so wenig Muster seyn
könne und wolle, wie etwas der Art in der Welt zu sagen sey? Ueberhaupt
schien damals die lyrische Natur, zu der auch Ossian gebrochne Endtöne liefert,
dem Briefwechsler, noch so fernher zu tönen, daß er natürlich in die Miene des
Lauschers fallen muste, der zu hören glaubt, wo andre vielleicht nichts hören,
oder das sausende Kind der Lüfte.
Glücklich, daß er alle seinen kritischen Wahn- und Ahndungsglauben jetzt durch Eine Erscheinung (*) übertroffen sieht, der er mit Pindarischem Schwunge seinen Kranz zuwerfen wollte, wenn der Kranz nicht dahin verdorrte. Kein kritischer Schöpfeimer, und alle Fässer der Danaiden geben Wasser, wo kein Quell ist – und es ist und wird ewig allein jener wunderthätige Huf des Flügelrosses von Genie bleiben, der anschlägt und der siebenfache Quell strömet.
Siebenfacher Quell! Wenn deutsches Ohr noch mehr als Wortklanges und Sylbenbaues fähig ist! wenns kein Mährchen vom ersten April seyn und bleiben darf, daß die Göttin Harmonie
[115] – – des griechischen Himmels Kind –
noch Einmal mit der Asträa oder Uranischen Venus unser tiefes Cimmerien besuchen würde. Am meisten aber, wenn die volle, gesunde, blühende Weltjugend wieder hergestellt werden kann und soll, daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebsgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dürfe – eine Göttererscheinung auf dem Blumengürtel der Grazien und Genien des menschlichen Geschlechts darf so wenig Aus- und Zurufs, als sie den Augen solcher Hinzugerufnen auch nur sichtbar seyn kann
– – vulgus & arceo!
Allerdings wars nur immer, "lyrischen Stabs Ende!" wie unsre Lehrbücher sich zeither mit Ode, Hymne, Psalm, Elegie und womit nicht? getragen! – Gemälde zu liefern, ohne Subjekt, bloß des künstlich angelegten und so wohl unterhaltnen Gesichtspunkts, Kompositionsgeistes, Kolorits und alles andern feinern Details wegen! Dies allein aus der Autorität Eines fremden Vorbildes zu lernen, bey dem doch hundert conventionelle Befremdnisse eben der Schleyer sind, in dem wirs zuerst und zuletzt sehen, es mit deutschem Kopf, Fleiß, Glück und Ehrlichkeit zu studiren, und sich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohlklang nur in Sylbenbau, Strophenbau, und [116] Regionen der Perioden-Deklamation zu setzen, und Alles durch die Kunst zu heben,
- - - die wie die Flöte
tönet , oder – –
über die Flöte sich hebt.
Aus Alle diesem muß nur immer ein Rembrand
werden, und obgleich Rembrand ein grosser Meister – –
Heil uns, m. Fr. zu unserm – wie soll ich sagen? Guido, Corregio oder
Raphael! Aber Engelgesichte hat er gemalt in Menschengestalt! Siehe dies
Bild! welche Wahrheit! Leben! tiefe Seele! wie heben sich die Figuren von der
Leinwand hervor, und sprechen (nicht mit uns! uns sehen sie nicht an! denn sie
sind nicht für uns gemahlt!) aber unter sich, wie handeln, wie sprechen sie, und
<enthüllen> uns Gesicht und Seele. Wehe, der hier ausruft: "das war noch
Einmal gesungen!" sondern der es still fühlt, "das muß so empfunden gewesen
seyn, oder" -
Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur.
Wohlklang! er wird was er war. Kein aufgezähltes Harmonienkunststück! Bewegung! Melodie des Herzens! Tanz! In Fehlern und Eigenheiten, wie ist ein Genie noch überall lehrend!
[117] Daß wir doch schon, m. Fr., eine Komposition "über den Allgegenwärtigen! die Frühlingsfeyer" und dergl. hörten! oder vielmehr, daß diese Stücke der Musik schon Gepräge wiedergegeben hätten, was sie – ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Lassen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein Zwey Wünschen hierüber schliessen.
Unser jetzige musikalische Poesienbau – welch ein Gothisches Gebäude! Wie fallen die Massen aus einander? Wo Verflössung? Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder Schwestern herrsche oder diene – ihr Pieriden und Kastalinnen, wo?
Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben noch eine erbärmlichere Gestalt. Das
Erste, das berühmteste von Allen, Ramler Tod Jesu, als Werk des Genies,
der Seele, des Herzens, auch nur des Menschenverstandes, (s.v.v.) welch ein
Werk! Wer spricht? wer singt? erzählt sich Etwas in den Recitativen – so kalt!
so scholastisch! als kaum jener Simon von Kana würde gethan haben, da er vom
Felde kam, und vorbey zu streichen Lust hatte. Und nun zwischen inne in Arien,
in Choral, in Chören – wer spricht? wer singt? auf Einmal eine nützliche Lehre
aus der biblischen Geschichte gezogen, locus communis in der besten
Gestalt! und dazu beynahe in allen Personen und Dichtungen des Lebens! und [118]
von einer zur andern mit den sonderbarsten Sprüngen! Durchs Ganze kein
Standpunkt! kein fortgehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks – R.
Tod Jesu ist ein erbauliches, nützliches Werk, das ich in solchem Betracht
tausendmal beneidet habe! Jede Arie ist fast ein schönes Ganze! Viele Recitative
auch – aber als poetisches Werk des Genies – für die Musik! – Hr. R. hat selbst
ein viel zu feines Gefühl, als daß er das nicht weit inniger bemerke.
Seine Hirten bey der Krippe! Welche Poesie für die Musik? welch ein
Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zu hinterst, und es ist fast noch immer
derselbe Eindruck! Idylleneindruck, wo lauter Schäferbilder und Worte und von
Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenseele ist! bloß eine Maske
Jesaias, Virgils und Pope in Schäferkleidern! – Und endlich Poesie zur Musik –
wo im ganzen Stück nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder für die Leinwand,
(da die Lanze z.E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, empor strebt, steht,
grünt, wird ein Palmbaum u.s.w.) durchaus nicht für den Tonschöpfer! So
weiterhin und was wäre von seiner Auferstehung zu sagen?
Und nun, wie bearbeiten unsre Tonkünstler das Alles nach dem einmal
hergebrachten Leisten? Da doch eben der Ursprung dieses Leistens, die
Umstände, unter welchen er entstanden u.s.w. wo nicht Jedermann, so doch gewiß
uns Deutschen zurufen müste: "nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hinten! und
es wird ewig Schande seyn, einen Münter an Metastasio zu messen!"
Was das aber nun für eine Gattung Poesie sey, die wahre Mittelgattung zwischen
Gemälde und Musik! und was das für eine Gattung Musik sey, die über Poesie nicht
herrschet – – –
[S. 114, Anmerkung] * Oden, bey Bode 1771. Die vorigen Flicke vom Aufsatz waren Jahre vorher dem Verf. entkommen. zurück
Druckvorlage
Von
Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hamburg: Bey Bode 1773, S.
3-70 und S. 113-118.
Die Ossian-Abhandlung erschien zuerst im November
1772 als Einzeldruck in Hamburg (Bode; vordatiert auf 1773) und dann - unter
Verwendung desselben Druckstockes - in der Sammlung "Von Deutscher Art und
Kunst"; in beiden Drucken erschien die Abhandlung ohne Nennung des
Verfassers.
Die Druckvorlage gibt einen durch zahlreiche Fehler
entstellten Text. Für die Edition wurden herangezogen:
- Herders Sämmtliche
Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. V. Berlin 1891. - S. 159-207: Ossian
(verantwortlich: Reinhold Steig; maßgebliche Edition).
- Von deutscher Art
und Kunst. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Durchgesehene und bibliographisch
ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1977 (= Universal-Bibliothek, 7497). - S. 5-62:
Ossian.
- Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Martin Bollacher u.a. Bd.
2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781. Hrsg. von Gunter E. Grimm.
Frankfurt a.M. 1993 (= Bibliothek deutscher Klassiker, 95). - S. 447-497:
Ossian.
Wortlaut, Orthographie und Interpunktion der Druckvorlage blieben unverändert; keine Eingriffe bei schwankendem Schreibgebrauch; die von Steig übernommenen Emendationen in spitzen Klammern. Mit Steig und abweichend von den meisten neueren Drucken wird die in der Druckvorlage gegebene Gliederung des Textes nach Briefen - durch Trennlinien aus (wechselnden) Ornamenten - durch größeren Abstand und einfache Trennlinie wiedergegeben. So wird der Einsatz der Briefe deutlicher und damit die für den Stil der Abhandlung wesentliche Fiktion des "Auszugs aus einem Briefwechsel".
Literatur
Blackall,
Eric A;: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Mit einem
Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955-1964. Von Dieter Kimpel. Stuttgart
1966.
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Poetik in Deutschland (1750-2000). Freiburg i.Br. 2004 (= Rombach
Wissenschaften. Reihe Litterae, 118).
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Autor? Der Ursprung einer kulturgeschichtlichen Fiktion im Werk Johann Gottfried
Herders. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich
Detering. Stuttgart u.a. 2002 (= Germanistische Symposien - Berichtsbände, 24),
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Edition
Rudolf Brandmeyer