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Die Erziehung des Menschengeschlechts

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie


Die Erziehung des Menschengeschlechts ist das religionsphilosophische

Hauptwerk Gotthold Ephraim Lessings.

Die besondere Bedeutung des Textes erschließt sich nicht auf den ersten Blick,

besonders wenn man die Fiktion ernst nimmt, die Schrift sei von einem "guten

Freund", der sich gern "allerlei Hypothesen und Systeme" mache, "um das

Vergnügen zu haben, sie wieder einzureißen" (Brief an A.H. Reimarus, 16.4.

1778). Sie ergibt sich aber bei genauerer Untersuchung aus drei Zusammenhängen:

1.der Stellung im Gesamtwerk;

2.dem Text selber;

3.den Argumentationszusammenhängen zu den anderen religionsphilosophischen

Schriften.

Entstehungsgeschichte

Die "Erziehung des Menschengeschlechts" gehört zu Lessings Spätwerk, kann also

nicht als jugendliches Herumexperimentieren mit zweifelhaften Hypothesen

angesehen werden, sondern muss als Ergebnis jahrelanger Beschäftigung mit dem

Thema gelten.

Die §§ 1-53 sind zuerst 1777 erschienen als Teil des Fragmentenstreits mit

Hauptpastor Goeze ("Anti-Goeze", 1778) und anderen. Innerhalb dieses bedeutenden

Zusammenhangs nimmt die Schrift eine Sonderstellung ein, weil es der größte von

Lessing selbst verfasste zusammenhängende Teil ist, und sich somit aus dem Status

reiner "Gegensätze" hervorhebt.

Die komplette Schrift (§§ 1-100) erschien 1780, in dem Jahr, in dem auch die

so genannten "Jacobi-Gespräche" geführt wurden, eine der wenigen Äußerungen

Lessings, in denen er ohne taktische und "erzieherische" Filterungen seine

eigenen Ansichten über die Religion darlegt.

Allein schon durch diese zeitliche und werksgeschichtliche Stellung wird die

Bedeutung der Schrift klar. Außerdem erschien zur selben Zeit (1779) "Nathan der

Weise", Lessings dramatisches Hauptwerk, das eine ganz ähnliche Thematik

behandelt. Dass Lessing dieses Werk durchaus als Fortsetzung der

religionsphilosophischen Diskussion versteht, zeigt folgende Äußerung:

:"Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen"

:(Brief an E. Reimarus, 6.9. 1778)

Der Text

Vordergründig vergleicht Lessing in der Schrift die Entwicklung der menschlichen Vernunft mit der Entwicklung der Vernunft beim einzelnen Menschen, wobei Gott als eine Art Erzieher der Menschheit erscheint. Die göttliche Offenbarung ist dabei für das Menschengeschlecht das, was die Erziehung für den einzelnen Menschen ist. Diese "Erziehung" erfolgt im wesentlichen in drei Stadien:

Im ersten geschieht sie durch umittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen

(=AT); im zweiten Stadium werden durch die Lehre von der Unsterblichkeit der

Seele Lohn und Bestrafung ins Jenseits verlagert (=NT); und in einem dritten

Stadium wird es keine Belohnungen und Strafen mehr geben, weil die menschliche

Vernunft soweit entwickelt ist, dass die Menschen das Gute tun, weil es das Gute ist (=Ewiges Evangelium).

Diese drei Stadien durchlaufen alle Völker, so dass man an ihren positiven

Religionen den jeweiligen Entwicklungsstand ihrer Vernunft erkennen kann.

Die zentralen Kategorien des benutzten Vergleichs sind "Offenbarung" und "Erziehung" auf der einen und "Vernunft" und "Entwicklung" auf der anderen Seite. In der gesamten Schrift gibt es sowohl Belege für eine angenommene Dominanz der Offenbarung (§§ 7, 77), als auch für ein Primat der Vernunft (§§ 4, 65, 84, 91).

Dieser oberflächliche Widerspruch löst sich auf, wenn man die fremdgesteuerte

Offenbarung (durch einen außerweltlichen Gott) und die selbstgesteuerte Vernunft (durch einen innerweltlichen Gott) nur als zwei Seiten einer dialektischen Einheit betrachtet (nahegelegt auch durch die §§ 36, 37) und die autonome menschliche Vernunft als deren tiefere Struktur begreift. Dann erscheint die göttliche Offenbarung nur als ein Bild für den jeweiligen Entwicklungsstand der menschlichen Vernunft und Gott als Bild für den innermenschlichen Imperativ zu eben dieser Weiterentwicklung, die in einer zunehmenden Konkretisierung des Bildes von der Offenbarung besteht. Die Offenbarung wird damit zum "Noch-Nicht" der Vernunft.

Die "Erziehung" eines "ausgewählten Volkes" durch "göttliche Offenbarung" steht

also dafür, dass die gesamte Menschheit sich durch mythologische Erklärungen der Natur und durch die schrittweise Entmythologisierung dieser Erklärungen, d.h. rein immanent, entwickelt. Offenbarung erscheint Lessing hierbei lediglich als historisches Faktum, während die Vernunft ewig ist.

Der Entwicklungsgedanke belegt nicht nur den "Glauben" Lessings an einen

innerweltlichen Gott (deus sive natura), sondern auch seine Überzeugung von

einer positiven Entwicklung der Menschheit. Es ist für ihn ein Naturgesetz allen Lebens, dass eine ständige Spannung zwischen gegenwärtiger Unvollkommenheit und zukünftiger Vollkommenheit besteht, und dass die Entwicklung der Vernunft und Moral von einem zum anderen Pol verläuft.

Argumentationszusammenhänge zu anderen Schriften

Bei allen religionsphilosophischen Schriften Lessings ist stets ein (reales oder fiktives) Gegenüber mitzudenken. Er setzt sich mit den herrschenden Strömungen religionsphilosophischen Denkens seiner Zeit auseinander. Dabei ist ihm die Meinung des jeweiligen Dialogpartners zu wichtig, um einfach "beiseite" gesetzt zu werden ("Leibniz, von den ewigen Strafen", 1773). Vielmehr bemüht er sich in exoterischer Redeweise, seine Gegner auf ihrem jeweiligen "Wege zur Wahrheit zu führen" (ebd). Insofern sind sämtliche Schriften nicht esoterisch, sondern immer als "Gegen-Schriften" zu verstehen, bei denen man wissen muss, an wen er sich wendet, um dann indirekt daraus seine eigene Meinung zu erschließen. Diese "Taktik" hat nichts mit Opportunismus zu tun, sondern entspringt der Hochachtung vor der Meinung des anderen (Toleranz) und der Überzeugung, dass niemand jemals "vorsätzlich sich selbst verblendet habe" ("Eine Duplik", 1778).

Die herrschenden geistigen Strömungen, mit denen Lessing sich auseinandersetzt,

sind im wesentlichen: der Deismus, die Neologie, die Orthodoxie.

Gegen die Deisten verteidigt Lessing das Recht des "Gefühlschristen" auf seine

Religion und sein tätiges Christentum ("Gegensätze zum 1.-5. Fragment", 1777;

"Das Testament Johannis", 1777). Er wendet sich gegen deren "Vernünfteln", das

spitzfindig, überheblich und widerlegbar ist, und plädiert dafür, alte Gesetze,

für die noch kein vernünftiger Ersatz da ist, beizubehalten ("Der Freigeist",

1749; Brief an Karl, 2.2. 1774).

An den Neologen kritisiert er vor allem die Vermengung von Glaubenssätzen und

Vernunftüberlegungen. Er sieht in den Halbheiten und Falschheiten dieser

Rechtfertigungsideologie die Vernunft zur bloßen Stütze der Offenbarung

degradiert ("Fragment eines Gesprächs", 1774).

Die Orthodoxen fordert er auf, ihre Religion kritisch zu überprüfen und diese

Diskussion nicht auf die eigene Religion zu beschränken, sondern den gemeinsamen Kern aller positiven Religionen herauszufinden ("Rettung des Hier. Cardanus", 1754; "Über die Elpistiker", 1763). Die Argumentation sollte dabei nicht mit "zufälligen Geschichtswahrheiten", sondern mit "notwendigen Vernunftwahrheiten" geschehen ("Neue Hypothese über die Evangelisten ...", 1778; "Die Religion Christi", 1780) und über die Unzulänglichkeiten des bloßen "Buchstaben" der Bibel hinausgehen ("Eine Parabel", 1778). So könnte es gelingen, zu einer "natürlichen Religion" vorzudringen , die dann wiederum die Offenbarung als Beleg für ihre vernünftige Notwendigkeit nicht mehr benötigt, weil sie auf einem "Christentum der Vernunft" (1753) basiert.

Viele dieser Argumentationszusammenhänge ziehen sich durch die Diskussionen

innerhalb des Fragmentenstreits, als dessen Teil ja auch die "Erziehung des

Menschengeschlechts" zuerst erschienen ist. Und alle Gedanken treten auch

innerhalb der "Erziehung" auf, in der ja gerade die relative Wahrheit der

christlichen Religion einerseits und ihre geschichtliche Notwendigkeit

andererseits erläutert werden.

So ist für den gläubigen "Gefühlschristen" eines der beiden "Elementarbücher"

(AT, NT) durchaus noch angemessen, solange kein vernünftiger Ersatz da ist, oder

von ihm nicht angenommen werden kann. Es ist deshalb nicht nötig, daran

"herumzuvernünfteln", wie das die Deisten tun.

Den Rechtfertigungsüberlegungen der Neologen setzt Lessing in der "Erziehung"

eine -zumindest- gleichgewichtige Vernunft entgegen, die bei genauem Hinsehen

sogar der dominante Teil der dialektischen Verbindung ist.

Das ganze Konzept der Schrift schließlich setzt die Kritik an der Orthodoxie

konstruktiv um, in dem Lessing hier ja ausführlich die eigene Religion

hinterfragt, sie auf eine Stufe mit anderen Religionen stellt, und versucht, zu

einem gemeinsamen Kern, dem "Ewigen Evangelium" oder dem "Christentum der

Vernunft" zu gelangen.

Literatur

Original Text

:Allison, H. E.: Lessing and the Enlightenment, New York 1964

:Bohnen, K.: Geist und Buchstabe, Köln 1974

:Guthke, K. S.: Der Stand der Lessing-Forschung, Stuttgart 1963

:Haug, M.: Entwicklung und Offenbarung bei Lessing, Gütersloh 1928

:Rilla, P.: Lessing und sein Zeitalter, Münster 1973

:Thielicke, H.: Offenbarung, Vernunft und Existenz, Gütersloh 1957

 

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Letzte Änderung vom 08.02.2004 15:04:46 . Der Inhalt dieses Wikipediaeintrags unterliegt der GNU FDL.

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