Hesse, Hermann * 2. 7. 1877 Calw, | 9. 8. 1962 Montagnola/Tessin. Die Mutter war Angehörige einer Missionarsfamilie, deren Aufenthalt im westl. Indien erste Anregungen für die langjährige Beschäftigung H.s mit fernöstl. Kultur u. Gedankenwelt lieferte. Der Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert, war Leiter des Calwer Verlagsvereins u. hatte als langjähriger Missionar u. Indologe bedeutende philolog. Werke über ind. Sprachen, insbes. das Malayalam, herausgegeben. Durch H.s Zutritt zu Gunderts umfangreicher Bibliothek u. die publizistische Tätigkeit seiner Eltern erhielt er entscheidende literar. Anstöße. Der zum Theologiestudium bestimmte l4jährige Stipendiat entlief nach neun Monaten unvermittelt aus der Klosterschule Maulbronn und wurde Mechanikerlehrling, später Buchhändler. Der Selbstmordversuch des Vierzehnjährigen und der dramatische Abbruch des Studium bilden die bleibende Grundlage eines Werks, das eine radikale Selbstsuche spiegelt. H.s literar. Anfänge sind der dt. Romantik verhaftet. Am stärksten zeigt sich dies in der Lyrik (Romantische Lieder. Dresden 1899) und den "Prosastudien" Eine Stunde hinter Mitternacht, 1899, die auch phantastische Traum- und Märchenerzählungen enthält. Auch die frühe Prosa, deren Naturverbundenheit u. lyr. Stil (Peter Camenzind. Bln. 1904) seinen Erstlingswerken das Echo verschaffte und die ihn literarisch etablierte u. finanziell unabhängig machte, ist dem romantischen Literaturkonzept verpflichtet. Romantisch muten vor allem die Vagantenmotive an. Der Dorfjunge, der als begabtes Kind sein Bergdorf verlässt, um eine Schulbildung zu erhalten und dabei seine tiefe Neigung zur Kunst und Literatur entdeckt, kommt in seiner eigenen Schriftstellerei über Anfä.ngerversuche nicht hinaus, fasst aber den Plan einer großen Dichtung, in der den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen und lieb zu machen wäre. Das von Nietzsche, Schopenhauer und Buddha beeinflusste äasthetische Ideal stößt ihn ab, er bezieht sich auf Franz von Assisi. Seine unglückliche Liebe zu der Malewrein Erminia Aglietti sucht er beim Wein zu vergessen. Bei seiner Reise nach Oberitalien als erfolgreicher Journalist fühlt er die schäbige Lächerlichkeit der modernen Kultur. Erst nach dem sein Freund ertrunken ist, erkennt Peter, dass seine Freundschaft zu ihm sein einziger Besitz dieser Jahre war. Er wandert nach Umbrien, der Heimat von Franz von Assisi. Nach seiner Rückkehr nach Basel lernt er eine arme Schreinersfamilie, die den halbgelähmten Boppi betreut. Als Boppi stirbt, geht er endgültig in sein Heimatdorf Nimikon zurück und widmet sich seinem gebrechlichen Vater und dem Wohl der Gemeinde. Das Buch endet mit derHoffnung, daß er das Lebenswerk doch noch vollendet, aber gleichzeitig mit der Versicherung, daß es darauf gar nicht so sehr ankomme, weil das Werk sowieso das schöne Bilderbuch des Lebens nicht aufzuwiegen vermächte. In der Zeit des beginnenden Expressionismus sucht Hesse, den avantgardistischen Strömungen abgewandt, seinen eigenen Ausweg aus der Krise des Erzählens in Handhabung der kleineren, skizzenhaften Prosastudien, Momentaufnahmen der Nautr und Landschaft, in denen die Menschen nur in märchenhafter Typisierung dargestellt werden: Diesseits, 1907, Nachbarn, 1908, Am Weg, 1915, Wanderung, 1920. Daneben, der kritischen Einschätzung seiner eigenen Erzählkunst ungeachtet, schreibt er in romanhafter Form die Leidensgeschichte des Schülers Hans Giebenrath Unterm Rad, 1906. Als Abschluss der ersten Phase seines Schaffens erschien 1915 die Vagabundengeschichte Knulp, 1915, ein modernes Gegenstück des Eichendorffschen Taugenichts. 1 Knulp enthält drei Geschichten aus dem Leben Knulps auf. Die erste Geschichte, "Vorfrühling" , stellt den "heiteren und unterhaltsamen Menschen" vor, der nach der Entlassung aus dem Spital, in der kalten Jahreszeit seine Wanderschaft im Hause eines früheren Weggenossen unterbricht. Der ungesicherten Existenz Knulps wird hier das häusliche Behagen eines sesshaft gewordenen Freundes gegenübergestellt, dessen Frau sich weit mehr um ihn kümmerte als ihm lieb ist. Knulp hingegen freundet sich mit der Nachbarsmagd Barbara Flick an. Aber auch von ihr nimmt er bald Abschied. Mit "Meine Erinnerungen an Knulp" ist die folgende Geschichte überschrieben. Sie enthält Gespräche zwischen Knulp und einem Kameraden über den Sinn des Lebens, der Sesshaftigkeit und der Wanderschaft, über Freundschaft undLiebe. "Das Ende" ist der Titel der abschliessenden Geschichte, die von Knulps Rückkehr in die Gegend seiner Heimat berichtet. Der ausgezehrte, dem Tod nahe Vagabund blickt auf die Zeit zurück, in der noch "alles aus mir hätte werden können". Der Jugendfreund und Arzt Dr. Machold, findet ihn und nimmt ihn mit in sein Haus nach Bülach. Hier legt er die Beichte seines Lebens ab: die Enttäuschung von der zwei Jahre älteren Franziska und der schlechte Einfluss von deren Bruder haben ihn aus der Bahn geworfen. Das Böse hat nie Gewalt über ihn gewonnen, hat ihn aber in die Vereinsamung geführt, Der Winter rückt näher, und in fiktiven Gesprächen mit dem "lieben Gott" beklagt er sich über die "Zwecklosigkeit seines Lebens". Aber seine Wanderschaft wird zuletzt von Gott legimitiert: Er habe "den sesshaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen". Für Knulp ist am Ende "alles wie es sein soll", und im Alter von vierzig Jahren schläft er auf der Landstrasse, nach der Versöhnung mit Gott und in dem heiteren Bewusstsein, dass er "überall ein Stück Kindertorheit und Kinderlachen hintragen konnte", im Schnee für immer ein. Doch kurze Zeit später verspürt Knulp wieder den Drang nach Freiheit und überlässt seine Freunde wieder ihrem Alltag. In diesen Erzählungen wird das Motiv aus Peter Camencind" wieder aufgegriffen. War Camencind ein Dichter, so ist Knulp ein wandernder Handwerksbursche, der auch dichtet. Seine Ueberlegenheit zeigt sich in der endgültigen Absage an alle Illusionen, an das Glück des Besitzes und bürgerlicher Häuslichkeit. Für ihn gibt es keinen Rückzug in irgendeine patriarchische Idylle, sondern nur das freie Durchgehen auf den eingeschlagenen Weg eines sonderbaren Vagabunden.. Er weilt immer nur gastweise unter den Leuten, aber dafür, dass er Aussenseiter bleibt, erwächst ihm das innige, naive Verstehen der Natur, jener Blick ins Wesentliche, der eigentlich den Dichter ausmacht. Typische Motive wie Wanderschaft, Einsamkeit, Sehnsucht, Heimat und Ferne werden in verbrauchten Metaphern und konventionellen Wendungen vergegenwärtigt. Dadurch wirkt das Gefühlsleben Knullps ebenso imitiert und übertholt wie seine "Philosophie", die sich in einer betont naiven Sprache Ausdruck verschafft und die immer wieder in unverbindliche Einfalt ableitet. Ein weiteres Thema lässt sich aus diesen Geschichten ablesen: die Selbstverwirklichung des Menschen. "Erkenne dich selbst" und "werde, der du bist" sind Forderungen, die in Hesses Werk häufig auftreten. Knullp sucht seine Rechtfertigung bei Gott; der bis dahin mit dem Schicksal Hadernde erkennt, was ihm lag und was ihm zu tun oblag. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen seine völkerversöhnenden polit. Aufsätze u. offenen Briefe (<>) in dt., schweizerischen u. österr. Zeitungen u. Zeitschriften. Die pazifistische Tendenz führte zum Bündnis mit wenigen Gleichgesinnten wie Romain Rolland u. Theodor Heuss,[1] setzte ihn aber auch schärfsten Anfeindungen von dt. Seite aus. H. reagierte auf den Horror des Kriegs sowie auf familiäre Krisen (Tod des Vaters, Trennung von der gemütskranken Frau) mit einer ernsten Depression (1916), die er mit Hilfe einer praktizierten Psychoanalyse (in einem Luzerner Sanatorium bei seinem späteren Freund Dr. J. B. Lang, einem Schüler Carl Gustav Jungs) allmählich überwand. Über Lang kamen nicht nur Motive der Gnostikforschung Jungs in sein neues Werk Demian (Bln. 1919), sondern auch Strukturelemente der Psychoanalyse u. ein schonungsloser Wille zur Wahrhaftigkeit, der nachhaltiges Echo fand. H.s Aufsatz Künstler und Psychoanalyse(1918) wurde sowohl von Jung als auch von Freud mit Beifall aufgenommen. Im Demian wurde die bibl. Symbolik neu interpretiert und mit scharfer Kulturkritik durchsetzt. Unverkennbar war dabei H.s Auseinandersetzung mit Nietzsche, die sich in der polit. Flugschrift Zarathustras Wiederkehr: Ein Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen (Bln. 1919) fortsetzte. Der wahre Autor des Demian wurde zuerst von C. G. Jung u. Otto Flake erkannt u. daraufhin von Eduard Korrodi zu einer öffentl. Stellungnahme herausgefordert. Hesses Position äußert sich unter anderem darin, daß er sich von der Weimarere Republik und ihrer Politik der kleinen Schritte distanziert: Ich sehe die Welt als Künstler an und glaube, zwar demokratisch zu denken, fühle aber durchaus aristokratisch, d. h. ich vermag jede Art von Qualität zu lieben, nicht aber die Quantität. Er identifizierte sich später mit Ortega y Gassets Buch Der Aufstand der Massen (1930), pflichtete dem Geschichtspessimismus Schopenhauers bei und hielt jede politische Handlung für sinnlos. DEMIAN. Die Geschichte einer Jugend von Emil Sinclair. Demian w§chst in eionem langweiligen, kleinbürgerlichen Elternhaus auf. Sein Mitschüler Franz Kromer stiftet ihn zu kleine Diebstählen an und bringt ihn so in seine Abhängigkeit. Des verzweifelten Sinclair nimmt sich ein anderer Mitschüler, Max Demian, an, der an die Auserwähltheit Sinclairs und seine eigene glaubt. In einer eigenwilligen Auslegung der biblischen Geschichte von Kain und Abel wird das Recht, sich über alle konventionellen Bedenken hinwegzusetzten und nach eigenen Wünschen und Träumen zu handeln begründet Nach Jahren, in der Zeit einer Pubertätskrise, sieht er in seinen Träumen eine Frau, die immer mehr die Züge Demians annimmt. Ein Zettel in seinem Schulbuch mit dem Hinweis auf die alte Gottheit Abraxas, in dem sich das Göttliche und das Teuflische vereinige. Kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges trift er Demian endlich wieder. In dessen Mutter Eva erkennt er das geheime Wunschbild seiner Träume, die ideale Verbindung des Weibes als Frau und Mutter. Im Krieg übernimmt Sinclair Demians Vermächtnis, ein von bürgerlichen Konventionen freies Leben zu führen. Zitat Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. (Demian, 1919, 142) Das Anliegen des Demian nach Selbstfindung bildet auch den Kern der Erzählung Siddharta. 1931 fasste Hesse unter dem Titel Weg nach Innen seine Werke aus den Jahren 1918-1922 zusammen: Kinderseele, Klein und Wagner, Klingsors letzter Sommer, Siddharta. Gedichtzyklus Krisis: Ein Stück Tagebuch (Bln.) als Parallele zum Steppenwolf. Harry Haller empfindet die Spannung zwischen Werttradition und Wertzerfall in der für ihn nicht lebenswerten Zeit. Nach außen hin der Gesellschaft zwar notdürftig angepaßt, den Konflikt mit dem restaurativen u. euphor. Bildungsbürgertum der 20er Jahre bis zum äußersten Lebensüberdruß. Sein Schicksal wird mitleidlos, ironisierend u. auch stilistisch innovativ von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet u. variiert. Sein Konflikt löst sich durch die Bekanntschaft mit der Prostituierten Hermine, die Haller an sein verlorenes, herabgewürdigtes u. verdrängtes Selbst erinnert. An der Hand Hermines lernt er in der schmerzhaften Selbstanalyse des <> die schwierige Aufgabe zu meistern, sich zu akzeptieren u. den bedrohl. Symptomen der Zeit mit Humor zu widerstehen. Zum Steppenmwolf-Komplex gehören noch Texte: Kurgast, 1925 Nürnberger Reise, 1927 Krisis, 1928 1931 schrieb Hesse in einem Brief über seine Absicht: unter Wahrung einiger für mich "ewigen" Glaubenssätze, die Ungeistigkeit unserer Zeittendenzen und ihre zerstörerische Wirkung auch auf den höherstehenden Geist und Charakter zu zeigen. Der Roman ist von einer undifferenzierten Verurteilung der Nachkriegsgesellschaft geprägt, z. B. in Hochjagd auf Automobile im Magischen Theater des Steppenwolf. Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, (...) sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sence, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen. Nur aus Feigheit lebt er in ihr Diese Anleitung zum politischen Desinteresse und Zivilisationsfeindlichkeit hat die Abwehrmechanismen der deutschen bürgerlichen Gesellschaft geschwächt und die Machtergreifung erleichtert. Nicht zufällig tritt Hesse aus der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste 1930gleichzeitig mit Erwin Quido Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer und Emil Strauß aus, um gegen die Aufnahme Heinrich Manns und Alfred Döblins dadurch zu protestieren. (Hansers Sozialgeschihcte, S. 45) 1932: Morgenlandfahrt: Welchen Sinn oder welche Tendenz meine Erzählung habe, darüber kann ich nicht mitreden. Es soll mir lieb sein, wenn die Zahl der Meinungen darüber recht groß ist /.../ Das Thema der Morgenlandfahrt ist: Sehnsucht nach Dienen, Suchen nach Gemeinschaft, Befreiung vom unfruchtbar einsamen Virtuosentum des Künstlers. ------------------------------- [1] Schriftleiter der von Ludwig Thoma u. Hermann Hesse herausgegebenen Zeitschrift <>. 1949 zum ersten Bundespräsidenten der BR gewaehlt.