http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Wolfgang Hagen Walter Ruttmanns Großstadt-Weekend. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei1 Es war kein Zufall, dass der Bayrische Rundfunk 70 Jahre nach der ersten Ausstrahlung der ersten Hörfunkcollage in der Geschichte des Radios - das war am 13. Juni 1930 um 21 Uhr über die Berliner und die Schlesische Funkstunde - Klangkünstler- und Elektronik- Freaks zum sogeannten Ruttmann-Remix einlud. Nun also sind, für alle Techno-Fans längst ein alter Hut, die Resultate von DJ Spooky, To Roccoco Rot, Mick Harris, John Oswald, Klaus Buhlert und Ernst Horn auf einer schönen CD zu hören. Ich persönlich finde sie allesamt misslungen - aber das soll heute nicht mein Thema sein. Die Frage bleibt: Wieso passt ein Stück von 1930 so genau in eine moderne Passform? Wieso klingt WEEKEND fast schon selbst wie ein Remix? Warum ist das Stück aus 1930 so verblüffend ähnlich dem, was in Europa erst seit den 70er Jahren im Rahmen des Neuen Hörspiels bekannt wurde? Wieso steht es so völlig vorbildlos isoliert in der Geschichte der Hörspiele, ohne Vorläufer und ohne Nachfolger? Was ist der Grund, dass Walter Ruttmanns WEEKEND bereits 1930 eine so eindringlichen Typus von Soundcollage realisiert, die um 1950 in Paris unter dem Namen Musique Concrete noch einmal erfunden werden mußte? Ruttmanns Collage wurde einmal gesendet, insgesamt ein halbes Dutzend mal öffentlich aufgeführt und verschwand dann für fast 40 Jahre vom Erdboden. Aus einer Kiste eines Freundes in New York tauchte es wieder hervor. Den akustischen Faden, den Ruttmann mit WEEKEND so klar und deutlich gelegt hat, warum riss er ab? Einspielung Anfang (1' 34'') http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (1 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm 2War das Stück zu aleatorisch, oder zu genau komponiert, zu verwegen, zu mondän, zu neusachlich, mit einem Wort: zu modern gemacht, um von den Zeitgenossen verstanden zu werden? Die WEEKEND-Collage ist aus Orginal-Tönen zusammengesetzt, wie wir es heute nicht anders machen würden. Sie klingt unter ihrer etwas kratzigen Patinahaube wie ein Echo aus einer verschollenen Zeit, die zugleich ihr Schicksal schon vorwegnimmt. Jean-Paul Goergen, auf dessen Ruttmann-Forschung ich hier vielfach zurückgreife, hat es ja treffend zusammengefaßt: Das Kind das Erlkönigsvisionen hat, also Ruttmanns Traum, wird in diesem Stück nicht zum Ende kommen, der Vater wird sein Kind nicht retten können, am Ende steht die ,Null". Nach 11 Minuten ist das Stück vorbei. Einspiel Ende 1' Das Stück ist atemberaubend vorzeitig und unzeitgemäß. Lotte Eisner, die große Filmkritikerin der 20er Jahre, Monografin über Murnau und Fritz Lang, besucht Ruttmann, der damals schon ein großer Star unter Deutschlands Regisseuren war, in dem Mariendorfer Atelier, wo WEEKEND entsteht. Ruttmann sagt ihr, sein Stück sei ein ,photografisches Hörspiel". ,Gewiß unterliegt das photographische Hörspiel ähnlichen Gesetzen wie die Musik'', erklärt Ruttmann, ,aber ausschlaggebend ist eben einfach das Fingerspitzengefühl für diese Dinge." Seine Symphonie der Geräusche fordert Rhythmus und akustische Logik - betont er. Sie mit der Montage zu schaffen, das ist das Grundmoment seines intensiven Arbeitens.3 Was ist die akustische Logik eines fotografische Hörspiel? Was ist ein gefilmtes Hörspiel, wie Meisner Ruttmann ebenfalls zitiert? Als es dann fertig ist, hat Ruttmann sich selbst nur einmal zu seiner Hörcollage geäußert, etwas abgelegen, in einer polnischen Literaturzeitschrift,. WEEKEND ist eine Tonmontagestudie. Auf dem Filmstreifen habe ich lediglich den Ton festgehalten, dies ist also ein blinder Film. In meinen Untersuchungen wollte ich übergeordnete Regeln der Verbindung von Tonelementen und ihrer Zusammenfügung zu einer Einheit aufdecken, so wie wir dieses bisher im Stummfilm mit den visuellen Elementen getan hatten. Dieses Experiment ist nicht ganz geglückt. Der Film ist schwierig und unverständlich, die Hörer verloren sich in einem Meer von Tönen, erfassten einige Assoziationen und Verbindungen, wesentliche Dinge aber glitten unbemerkt an ihnen vorbei.4 Ruttmann fand also sein Werk nicht ,geglückt"? Irgendetwas, so scheint es, bekommen wir offenbar nicht mit, beim Hören. Aber Ruttmann sagt uns nicht was. Was ist misslungen, was sind die ,wesentlichen Dinge", die ,unbemerkt an ihnen", an uns, den Hörerinnen und Hörern, vorbeiglitten? I. Ich will im Folgenden den Versuch unternehmen, diese wesentlichen Dinge der WEEKEND-Hörcollage, die zumindest Ruttmann für das Wesentliche gehalten hat, herauszufinden. Dazu muss ich einen langen Bogen schlagen. Er wird zunächst zum expressionistischen a) Maler Walter Ruttmann zurückführen, nach München, und damit b) zu Wassily Kandinsky, und über diesen zum spiritistischen Theosophen c) Charles Leadbeater, und über diesen weiter zurück zu d) Hyppolite Baraduc, einem Elektrophysiologen der Charcotschen Klinik, der Salpetriere. Von dort gehts wieder zu Kandinsky und zu e) Ruttmanns Anfängen als abstrakter Filmemacher und schließlich Radiocollagist. Dieser weite Bogen muß sein, denn Ruttmann ist vor allem anderen das, als was er in den frühen 20er Jahren bekannt war: der Begründer des abstrakten Films. Vom abstrakten Film aus streifen wir Ruttmanns berühmtesten Film f) ,Berlin, Sinfonie einer Großstadt" und verstehen dann erst, g) wie Ruttmann Töne collagiert und warum er so vorbildlos in der Mediengeschichte steht. Und vielleicht auch, warum wir, in seinen Augen, an den wesentlichne Dingen seines Stücks mit unseren Ohren vorbeigeglitten sind. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (2 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Ruttmann, 1887 geboren, aus einem begüterten frankfurter Elterhaus stammend, geht mit 18 Jahren nach Zürich und studiert Architektur. Dort verfällt er auf Malerei, wo Zürich nichts zu bieten hat. Walter Ruttmann, Ohne Titel, undatiert 1907 also nach München, in den Schmelztigel, in die, neben Paris, wichtigste Geburtsstätte der Avantgarde von 1910. Ruttmann ist wohl zu jung und unerfahren, um direkt in den Kreis der Expressionisten um Wassily Kandinsky, Gabriele Günter und Franz Marc zu geraten. Er studiert bei dem Lehrer, der auch der Lehrer von Gabriele Münter war, Kandinskys Lebensgefährtin und Mitstreiterin. Angelo Jank, Ruttmanns und Günters Lehrer, war der Doyen der akademischen Münchner Kunstszene in jenen Jahren, in dessen Ateliers nichts verborgen bleib, was sich malerisch-künstlerisch in der Stadt tat. Ruttmann ist geschäftstüchtig. So wird es in seinem Leben immer sein. Seine Kunst soll immer der Welt zugewandt sein, Angelo Janks Vermächtnis. 1908 bis 1914 in München heisst das: Plakate und Printdesign. Daneben eine immer abstrakter werdende Kunst, im Übergang vom Lovis Corinth'schen Impressionismus zum Kandinskyschen Expressionismus der Abstraktion. Ruttmann hat seine Bilder verkauft, die meisten sind verschollen, nur ein gutes Dutzend hat überlebt. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (3 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm 1914 zieht Ruttmann mit 26 Jahren in den Krieg. An der Ostfront kommt er als Gasschutz-Offizier zum Einsatz und erlebt fürchterliche Szenen. Nach München zurückgekehrt entstehen diese Bilder. Auch ohne großen Kunstsachverstand kann man Ohne Titel, 1918 / Ohne Titel, 1918 (,Abstrakt Nr. 8") die Einflüsse der beiden großen, brandaktuellen Schulen der Avantgarde von 1910 erkennen. Ruttmann beschäftigt sich einerseits, wie man den Mustern aus Kreisen und Rechtecken im linken Bild erkennen kann, mit dem pariser Kubismus von Picasso und Braque, aber der Haupteinfluß auf seine Malerei geht von Wassily Kandinsky aus, wie an dem rechten Bild zu erkennen ist. Da wir hier nun nicht unter Kunsthistorikern sind, kann ich Kenntnisse von Kandinsky-Bildern aus den zehner Jahren nicht blind voraussetzen. Aus dem Jahr 1910 stammt dieses erste ,abstrakte", heisst also ungegenständliche Bild http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (4 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Kandinsky: Ohne Titel (,Kandinsky 1910"), 1910 von Kandinsky. Ich möchte nun ihr Augenmerk darauf lenken, dass diese frühen, sehr eindringlichen Kandinsky-Bilder zwar allesamt ungegenständlich sind, aber dennoch Komponenten enthalten, die so etwas wie Elementar-Bauteile der Bilder darstellen. Und zwar sind das, Rechts: Wassily Kandinsky: Improvisation 31, 1913 (Seeschlacht) vom ersten Bild von 1910 an, immer wieder diese seltsam geformten, unterschiedlich gefärbten Farbkleckse, unscharf umrandete Farbinseln, Farbwolken, die in verschiedenen Grundfarbstimmungen uns hier begegnen. Ich stelle hier immer eine der wenigen erhaltenen Ruttmann-Abstrakt-Bilder daneben, damit Ihnen die Nähe deutlich wird, Wassily Kandinsky, Fragment 2 /Composition VII 1913 die zwischen diesen Bildkompositionen besteht. Die jetzt folgende bildinterpretative Operation wird mir die schulmäßige Kunsthistorik möglicherweise übel nehmen. Aber ich will ihnen etwas Auffälliges zeigen, das an nahezu jeder dieser frühen Kandinsky-Improvisationen deutlich gemacht werden kann. Man kann nämlich zeigen, wo dieser Farbwolken herstammen, die Kandinsky hier in zahllosen Bildern komponiert, und die auch in Ruttmanns frühen Gemälden auffällig sind. (6 Einblendungen). Woher stammen nun diese http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (5 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Farb-Formen, die ich hier eingeblendet habe? 1908 veröffentlichen zwei Protagonisten der damals virulenten spiritistischen Bewegung, unter dem Namen Theosophie, , modern spiritism" oder ,wissenschaftlicher Spiritismus weiter verbreitet, Charles W. Leadbeater und Annie Besant, ihr Buch ,Thought Forms". 1908 auf deutsch unter dem Namen ,Gedankenformen" erschienen. Unter Spiritisten und Theosophen, transzendentalen Anthroposophen und sonstigen Jenseits-Ontologen steht dieses Buch heute noch hoch im Kurs. Worum geht es? ,Gedankenformen" meint genau das, was es sagt: nämlich die reale Abbildung, Auszeichnung und Darstellung von Formen, in denen sich Gedanken und ihre Bewegungen materialiter darstellen. Das ist ebenso unvorstellbar wie simpel zugleich. Hier beispielsweise die Kombination zweier Gedankenformen von Love and Peace, von Liebe und Frieden. Hier die Gedankenform einer ,wachsamen Eifersucht". Es handelt sich um Orginal-Bildtafeln aus dem Leadbeater-Buch von 1908. Hier die Gedankenform einer ,Selbst Abkehr". http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (6 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Leadbeater hat in dem Gedankenform-Buch keinen Zweifel daran gelassen, wie er diese Farbwolken verstanden wissen will. Die Behauptung des ranghöchsten Theosophen aus der spiritistischen Schule der Madame Blavatski und ist: Der Mensch ist von Gedanken- und Gefühlswolken, von seinem Denken umgeben. Die Seele ist nicht in uns, sondern ein Real-Seiendes, um uns herum wirksam. Und das kann man darstellen durch diese ovale Aura unterschiedlicher Gefühls- und Gedankenbereiche. Jetzt wird auch deutlich, wie die Liebe eines Durchschnittsmenschen aussieht. So (rechts) sieht es aus, wenn der Mensch sich seiner Lieblingsbeschäftigung, nämlich dem kausalen Denken, hingibt. Hier (links) die Gedankenaura des Höherentwikkelten. Und hier kommt nun die rassistische und eugenische Pointe: die Kausalkörper-Aura des Meisters, der uns so blendet, dass wir seinen Körper nicht mehr sehen. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (7 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Die Aura des Zornesausbruchs in ihrem tiefen, von Blitzen durchzuckten Rot dürfte uns jetzt nicht mehr überraschen. Der Trick Leadbeaters ist bei alledem ein verkappt ontologischer. 1. Behauptung: Der Mensch ist von der Aura seiner Gedankenformen umgeben. Beweis: Die Abbildungen im Buch des Meisters der ,Thought Forms". 2. Behauptung: Der normale Mensch sieht das nicht. Beweis: Sie und ich und wir alle sehen normalerweise die Farbe unserer Gedankenwolken um uns herum nicht. 3. Behauptung: Geht in die Schule von Leadbeater, Besant und Blavatsky, dann werdet ihr erleuchtet. Beweis: Es gibt Millionen von Anhängern, hunderttausende von Seancen, Klopfgeistern, Telekinetikern, in Trance-Sprecherinnen des sogenannten ,Modern Spiritism" Ende des 19ten Jahrhunderts bis in die zwanziger Jahre hinein überall in Europa. Kandinsky ist kein Spiritist. Aber er hat starke Anleihen an der Leadbeaterschen Bildsprache genommen, und zwar noch 15 Jahre nach seinem ersten abstrakten Bild. Auch das hier ein Beispiel, wie Kandinsky in vielen Bildern die auratische Form der spiritistischen Bildsprache übernimmt. Beschäftigen wir uns noch ein wenig näher mit den Leadbeaterschen Orginalen. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (8 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Darf ich Ihnen die Gedankenform der reinen Liebe noch einmal näher bringen? Chock und Unfall sind natürlich beliebte Motive in dieser sehr einfachen Bildontologie der Spiritisten: Besant / Leadbeater Gedankenformen, 1908: Bei einem Schiffbruche (Die Figuren ,wurden durch einen schrecklichen Unfall hervorgerufen, und sie sind insofern sehr lehrreich, als sie zum Ausdrucke bringen, wie verschiedenen die Menschen auf eine plötzliche und ernste Gefahr, die sie alle betrifft, reagieren") Das lassen Sie bitte ohne weitere Kommentierung auf sich wirken. Sixten Ringbom, dem ich hier folge, hat schon 1970 auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht.5 Hier eine sehr frühe Kandinsky-,Impression", die ganz offensichtlich auf eine starke Nähe zu Leadbeaters und Besants ,Gedankenfomen" zurückgeht. Mein Buch Über das Geistige in der Kunst (1911) und ebenso Der blaue Reiter hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken. Der Wunsch, diese beglückende Fähigkeit in den Menschen, die sie http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (9 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm noch nicht hatten, hervorzurufen, war das Hauptziel.6 Kandinsky übernimmt, was nebenbei bemerkt, absolut nicht gegen seine Kunst spricht, einen ganz offensichtlich spiritistischen Kontext. Aber sein Ziel, das ,Erleben des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken", schließt eben auch die Behauptung Leadbeaters ein, nämlich dass Formen des Geistigen in einem ästhetisch- ontologischen Sinn existieren. Das ist bei Kandinsky ganz und gar kontinuumsphysikalisch gedacht. Es gibt in der Welt keinen Bruch zwischen Denken und Sein, zwischen Materie und Geist, es handelt sich um koexistierende materiell-geistige Gefühlswelten, um eine materielle innerweltlicht Immanenz des Geistigen. Und Kandinsky Trick ist es nun, das Medium der Vergegenwärtigung dieser Immanenz zu bieten: Und das ist die abstrakte Malerei. Nun, die Sache ist noch verzwickter, noch seltsamer, noch geheimnisvoller, noch verwickelter. Denn auch Leadbeater hat seine Gedankenformen nicht erfunden. Er verschweigt es nicht, sondern sagt es im Vorwort seiner ,Thought Forms". Nämlich von Hyppolite Baraduc, und eben hier haben wir es wieder mit Gedankenformen zu tun, allerdings hier unter dem Namen ,Psychikonen". Die psychikonische Wolke über dem Kopf dieses fotografischen Selbstportrait von Baraduc soll seine Gedankenwolke materialisieren. Baraduc hielt 1906 mehrfach Vorträge in München und dürfte hier auch diese fotografischen Abbildungen eines von den Reliquien von Lourdes beseelten Herzens gezeigt haben. Baraduc war Mediziner, Wissenschaftler, Arzt an der Salpetriere, und hat eine in vollem naturwissenschaftlichen Ernst vorgetragene Theorie der psychodischen ,OD"-Wellen entwickelt. Er hatte komplizierte elektrische Messgeräte gebaut, mit denen er die Seelenströme in unserem Körper messen und bilanzieren zu können behauptete, etwa zeitgleich, als man z.B. das EKG entwickelt hat, dass ja tatsächlich Herzrhythmen anhand von Körperströmen nachweist. Epistemologisch also war das Ganze so irrsinnig nicht gedacht. Aber der ontologische Plot, der medienspiritistische, kontiuumsphsyikalische Ansatz dahinter, das war der Wahnsinn. So als sei die Seele im physischen Sinn ein Teil von Mensch und Welt. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (10 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Auf dieser Fotografie beispielsweise sehen wir einen Jungen und seine Gefühlslage, seine wohl traurige Stimmung. Sie soll in diesen psychodischen Wolken fotografisch materialisiert sein. Hier wird die Vibration der Lebenskraft zweier Kinder auf fotografische Platten gebannt. Hier die Aura eines Alptraums und der anscheinend materielle Nachweis von hypnogenen Punkten, die von einer hypnotisierten Person ausgehen. Baraduc fotografiert eine Zwangsvorstellung, ohne Kamera, schlicht durch die Exposition einer belichtbaren fotografischen Platte: http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (11 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Aber wir wissen: Baraduc hat keine Zwangsvorstellungsemanationen fotografiert. Psychikonische Ausströmungen von Zwangvorstellungen sind nicht fotografierbar, weil es sie nicht gibt. In diesem Photo eine Zwangsvorstellung zu sehen ist eine Zwangsvorstellung. Medien produzieren immer die Zustände, die sie darstellen. Die Frage ist also: worum geht es hier? Und die Antwort lautet: Um eine Fotografie und die spiritistische Deutung ihrer technischen Artefakte. Das, was Baraduc in seiner Theorie sichtbar macht, macht also das Entscheidende unsichtbar. Nämlich, die Exposition einer belichtbaren Fotoplatte unter irgendeiner unklaren Einstrahlung von Lichtphotonen. Baraducs Theorie versteht nichts von Fotografie im technischen Sinn, und dreht dieses Unwissen in der Achse des Medialen um, so dass ein Wissen dabei herauskommt. Weil Baraduc Fotografie nichts versteht, kann er ihre Effekte als materielle Zeichen eines ontologischen Bestandes umkehren. Als den Seinsbeweis von Zwangsvorstellungen beispielsweise. Jetzt brauchen wir sie uns nicht mehr einbilden, jetzt sehen wir sie um uns herum daseiend, weil fotografisch abgebildet. Jetzt haben wir die Zwangsvorstellung einer Zwangsvorstellung. Das ist die negative Ontologie jedes technischen Mediums: Natürlicherweise sehen wir nicht, was wir auf der Fotografie jetzt sehen, und also - existiert es. Leadbeater, der Baraduc liest, dreht die Achse des Medialen eine Drehung weiter. Er engagiert einen Maler aus Brüssel und lässt die Psychikonen von Baraduc sauber und farbig ausmalen, und benennt sie um in ,Gedankenformen". Jetzt kann er beweisen, was auch Baraduc bewiesen hatte: Es existieren malbare, darstellbare Gefühle als Beweis der spiritistischen Allgegenwart von Geistern, Meistern und Seelen-Karmas. Wassily Kandinsky nun liest das, diesen Leadbeater, wofür es bei der intensiven Beschäftigung Kandinskys mit der Theosophie ausreichend Hinweise gibt. Alma Mahler beispielsweise, eine wichtige Kommunikatorin in jener Zeit, reichte das Leadbeater-Buch überall herum. So war es in Wien. Kandinsky kennt Leadbeater und dreht die Achse des Medialen um einen weiteren Winkel. Seine Frage ist jetzt nicht: Was ist die Fotografie, sondern: Was ist Malerei? Das ist die Frage Kandinskys, als er noch impressionistisch malte und figürlich. Welchen Weltbezug hat Malerei? Welchen Sinn, welche Geistigkeit steckt in ihr? Leadbeaters Gedankenformen geben ihm einen Schlüssel. Wenn er mit diesen Formen Bilder figuriert kann er Geistiges in der materiellen Welt dingfest machen, als abstrakte Formation von Gefühlswolken, Gedankenformen und Geistigkeit. Malerei entdeckt mehr in der Welt als man mit bloßem Auge sehen kann, denn es ist in dieser Welt mehr, als man mit bloßem Auge sehen kann. Das ist die Botschaft des abstrakten Expressionismus. Sie ist Ankündigung, Verkündigung eines eigentlichen Seins der Welt. Meine These also wäre: In jedem expressionistsch abstrakten Gemälde stecken Überformungen des Mediums, also Überformungen der Malerei, um sie als negativ ontologisches Medium auszuweisen. Negative Ontologie meint hier: Nur in http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (12 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm der abstrakten Malerei sehen wir die Welt, wie sie in Wahrheit ist, nämlich im Modus einer Verbergung, die eine Offenbarung ist. Hier sehen wir ihr Sein. So ist sie, in sichtbar materieller Geistigkeit, während wir sie mit bloßen Augen ja nicht mehr verstehen. Das bloße Augen trügen, die Malerei öffnet sie. Das sind ganz offenbar Reaktionen auf eine Krise, eine Reaktion auf neue mediale Dimensionen. Die Weltbildlichkeit, also das Sehen und Verstehen von Welt, gerät, wie wir alle wissen, durch die Fotografie und durch den Film um 1900 bis 1910, in eine dramatische Krise. Man kann Dinge zeigen, die noch nie zu sehen waren und man weiss nicht, was diese Dimension des 'Noch-Nie-Gesehenen' bedeutet. Hinzukommt: Die Naturwissenschaft, bis dato eine scheinbar vollkommene und vollendete Naturlehre, gerät zwischen 1900 und 1910 ebenso in eine tiefe Krise, Stichwort: Radiowellen, Radioaktivität, Röntgenstrahlen, daraus folgend: Relativitätstheorie, Quantenphysik. Die empirische Psychologie eröffnet weitere Erkenntnisfelder. Sie entdeckt psychische Automatismen, beschäftigt sich mit Hypnose, Hysterie und Trance, deutet die Träume und zeigt, Stichwort William James, die ,streams von concioussness", die Einheit von multiplen Personen in einem Körper. Wassily Kandinsky, aus Rußland nach München gekommen, weiß wie die anderen Avantgardisten in Paris, Mailand, Moskau und London, von diesen Umbrüchen sehr gut. Die Avantgarde von 1910 deuten diese epistemologischen und phänomenologischen Bedrohungen in einer Neudefinition ihres Mediums, der Malerei, um. Die abstrakte Malerei Kandinskys basiert insofern nicht zufällig auf einem Photoeffekt. Und mit der Umdeutung dieses Medieneffekts entdeckt sie im Medium ihrer eigenen Kunst, der Malerei, einen neuen phänomenologischen Weltbezug: Das Geistige in der Kunst, ein Negativ-Abzug des eigentlichen Seins der Welt, in der eine neue Seinsweise des Menschen möglich wird. Die Schlüssel für diese Möglichkeiten liegen allein in der Kunst. Als Walter Ruttmann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zur Malerei zurückkehrt, verschiebt er die Achse des Medialen der abstrakten Malerei um eine weitere Drehung. Ruttmann entdeckt in der abstrakten Malerei, präzise gesagt, den Photoeffekt wieder. So entsteht der abstrakte Film. Walter Ruttmann ist sein Pionier, er baut einen genialen Tricktisch, meldet ihn zum Patent an und realisiert 1921 Opus Nr. 1, seinen ersten programmatischen Film. Das in diesem Film realisierte Pathos eine kontinuumsphysikalischen, negativ ontologischen, weil ästhetischen Seinsbehauptung ist allerdings ebenso gegenmodern wie avantgardistisch. Dieses Pathos unterstellt die Einheit einer Welt, wie sie seit der frühen Neuzeit gedacht, und noch einmal besonders in der romantischen Naturphilosophie von Schelling um 1800 erträumt wird. Durch der Medien- und Wissensexplosion der Jahrhundertwende 1900 wird dieser Traum einer Einheit der Welt und eines in ihr verfügbaren Menschenseins bedroht und zugleich neu entfacht. [Einspiel Opus 1] Ruttmann weiss genau, was er tut. Die Zeit, in der wir leben, ist gekennzeichnet durch eine eigentümliche Hilflosigkeit künstlerischen Dingen gegenüber. ... Dieser spezifische Zeitcharakter ist in der Hauptsache hervorgerufen durch das 'Tempo' unserer Zeit. Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen usw., an sich nicht als Kulturerrungenschaften zu werten, haben zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate. Durch diese Schnelligkeit [...] ergibt sich für das Einzelindividuum ein fortwährendes Überschwemmtsein mit Material, dem gegenüber die alten Erledigungsmethoden versagen. Man sucht sich zu helfen durch eine Flucht zum Mittel der Association. Der historische Vergleich, die Heranziehung eines historischen Analogons, erleichtert und beschleunigt die Bewältigung der neuen Erscheinungen. Die Erfassung und Verdauung dieser Erscheinungen leidet aber natürlich unter dieser Methode - es ergibt sich wohl ein Beschäftigtsein mit der Zeit, aber kein 'Die Zeit sein'.7 Ruttmann will eine Kunst, die das Medium der ,Zeit ist", die das Sein der Zeit erfaßt, abbildet, ausdrückt. Und zwar so, dass erst in der medialen Abbildung dieses Seins der Zeit, wie auf einem technischen Negativ, etwas zum Vorschein kommt, das wir anders, positiv gar nicht sehen oder wahrnehmen oder denken könnten. Es ist zugleich zwar unser Sein, das sich zeigt, aber nur, indem es sich durch das Medium zeigt, ist es das Sein, - und gibt damit dem Medium, hier also dem Film seinen einzigen Sinn. Bevor er Opus 1 realisiert, hat er eine Vision davon beschrieben, wie das ,Die Zeit sein" im Film aussehen könnte. Es erscheint also z.B. an der Projektionswand eine chaotische Masse von schwarzen kantigen Flächen, die sich im plumpen, trägen Rhythmus zueinander bewegen. (...) Blitzartige, mehrmals wiederholte, in Intensität und zeitlicher Aufeinanderfolge gesteigerte Erhellungen zerreißen die dunkle Starrheit, es entwickelt sich daraufhin an einer bestimmten Stelle der Bildfläche ein sternartiges Helligkeitszentrum - die wellenartige Bewegung vom Anfang erscheint wieder, diesmal aber zunehmend aufgelichtet in lebhafterer Bewegtheit, (...) Es mag dann eine drohende dunkle, schlangenartig schleichende Bewegung einsetzen, die anschwillt, die Helligkeit zurückdrängt und schließlich einen außerordentlich http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (13 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm lebhaften Kampf zwischen Hell und Dunkel hervorruft - weiße Formen in Bewegtheit galoppierender Pferde stürzen sich gegen die andrängenden finsteren Massen - es entsteht ein Splittern, tobendes Durcheinander von hellen und dunklen Elementen, bis irgendwie durch sieghafte Steigerung des Lichts Ausgleich und Ausklang gebracht wird.8 Wir sehen, mit einem Wort, Leadbeatersche Gedankenformen, kinematografisch in Bewegung gebracht, - wir sehen, mit einem Wort, Halluzinationen. Wir sind, so würden wir es heute sagen, auf Droge. Opus 2, das nächste Filmwerk von Ruttmann, bekommt denn auch zunächst Aufführungsverbot. Man vermutet eine halluzinatorische Wirkung, die von dem Film ausgeht, und man vermutet das ja irgendwie nicht ganz zu Unrecht. Aber für Ruttmann ist Film keine Kopfdroge, sondern ein Seinsausweis der Moderne, eine Seinsbeschreibung des Mediums, der Kunst und der Welt zugleich. >> 51 Seit fast zehn Jahren bin ich von der Notwendigkeit dieser Kunst überzeugt. Erst jetzt bin ich der technischen Schwierigkeiten Herr geworden, die sich der Ausführung entgegenstellten, und heute weiß ich, daß die neue Kunst sein und leben wird - denn sie ist wurzelfestes Gewächs und nicht Konstruktion.9 Der Rest der Geschichte, der uns wieder zu WEEKEND zurückführt ist schnell erzählt. Ruttmann wird in Berlin und Paris berühmt als der Pionier des abstrakten Films, der er war und ist, der zwar nicht die Massen anzieht, aber seine künstlerische Wirkung nicht verfehlt. Die Werbung wird sofort aufmerksam auf die halluzinogenen Wirkungen seiner Techniken, http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (14 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Ruttmann dreht zwar nicht die ersten Werbefilme, aber die ersten in Deutschland an einem Tricktisch entstandenen Werbefilme. Dann, keine vier Jahre später, schreibt er: Während der langen Jahre meiner Bewegungsgestaltung aus abstrakten Mitteln ließ mich die Sehnsucht nicht los, aus lebendigem Material zu bauen, aus den millionenfachen, tatsächlich vorhandenen Bewegungsenergien des Großstadtorganismus eine Film-Sinfonie zu schaffen. (...) Ich besprach diese Schwierigkeiten mit meinem Operateur Kuntze, und aus der Notwendigkeit geboren, gelang es ihm, Filmmaterial so zu sensibilisieren, daß wir von den Lichtverhältnissen unabhängig wurden. 10 Berlin, Sinfonie einer Großstadt, die erste Sequenz. Sie schließt unmittelbar an die abstrakten Filme von Ruttmann an, und verabschiedet sich von ihnen. 1. Einstellung Wasserwellen, Durchblende abstrakte Jalousien, dahinter: schwebende, konzentrische Kreise durchziehen das Bild, Ein Rechteck von links unten, von einem herabkommenden Kreis überdeckt, eine ovale Form von rechts unten, auch sie wird vom Kreis vertrieben, der Kampf wird immer schneller, immer schneller, schließlich laufen Balken sich kreuzend durch das Bild, immer schneller, dann, Durchblende, eine Schranke an einem Bahnübergang geht zu. Ein Zug kommt, die Kamera liegt, wie Lumieres Kameras, am Boden nahe den Gleisen. Ein Zug fährt, abstrakte Tempobilder, Telegrafenmasten fliegen vorbei, die runden Puffereisen tanzen aneinander, usw. ein abstrakter Film mit Realbildern. Erst nach 6 Minuten und 30 Sekunden sehen wir den ersten Mensch. Was ist nun mit WEEKEND? Verstehen wir jetzt besser? Vielleicht. Ein konkreter Rahmen, ein Wochenende, aber abstrakt gefüllt. Es treten auf ein Mann, ein Kind, eine zählende Frau, ein paar Marschkapellen, Taube, Hund, Maschinen, Gähnen, Seufzer, Glocken, Sirenen, dumpfe Schläge, eine Registrierkasse, Schreibmaschinen, Kinderlieder, Gänseschnattern, ein Traktor, Hupen, Pfeifen, Hundebellen. Ruttmann konnte die Hörcollage machen, weil er abstrakte, jeweils von jedem Kontext abgeschnittene, aber figural und indexikal genügend wirksame Töne auf Film geschnitten hat. Sie bedeuten nicht viel, aber jeder wenigstens irgendetwas. Tonflecken zusammengeworfen wie Rohrschachklekse. Das sind: Leadbeatersche, Baraducsche und Kandinskysche Gefühlsformen für die Ohren. Ruttmann lässt sie fließen in der Zeit. Aber bitte: auf Film. Ruttmann produziert, belichtet den Ton und schneidet auf TRIERGON-Film, einem Verfahren, das in den zwanziger Jahren entwickelt wurde. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (15 of 16)6.11.2005 23:09:49 http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm Collagen wie die seine konnten damals nur auf diesem Material gemacht werden, Das Tonband existierte noch nicht, eine Platte ließ keine feinen Schnitte zu. Ruttmann wird abermals zum Pionier. Das TRIERGON-Verfahren schreibt, wie hier schön zu sehen ist, Lichtstreifen das Zelluloid, und der Projektor setzt aus diesen Lichtstreifen die Toninformation wieder zusammen. Mit WEEKEND also macht Ruttmann seinen allerabstraktesten Film. Nicht nur, weil man ihn nur hören und nicht sehen kann. Sondern vor allem, weil man eben doch alles sehen kann. Ein in der Tat negativ ontologisches, weil rein technisches Licht, das nur der sieht, der im Schneideraum schneidet. Wenn man es hört, wird es dunkel. Ruttmann sah den Ton, d.h. die gezackten Lichtausschläge der analog in Licht umgesetzten Schallwellen, d.h. er sah bei der Herstellung einen technisch gemalten Film. Wir haben ihn nie zu sehen bekommen, das Licht für den Ton auf dem Tonfilm, denn die Bedingung, dass wir ihn hören, ist, dass wir ihn nicht sehen. War das das Wesentliche, was den Hörern entgehen musste, was an ihnen, im buchstäblichsten aller Sinne vorbeiglitt, wie Ruttmann meinte? Nein, das war es nicht. Mit WEEKEND dreht Ruttmann die mediale Achse um einen letzten, allerdings um den entscheidenden Winkel noch einmal weiter. Leadbeater, Kandinsky, alle expressionistischen Lichtontologien sind hier nicht mehr existent. WEEKEND, das ist ein rein technisch belichteter Film, ansonsten ist ja alles schwarz. Herauskommt ein blindes Medium, das jede Art von Ontologie, jede Art von Seinsbehauptung dieser Welt, jede Art von einer ,Zeit die ist", schlichtweg durchstreicht. Letztlich bleiben alle Medien, wie Ruttmanns WEEKEND-Film, schwarz. Das Medium ist seine Botschaft, aber diese Botschaft hat keinen Seinscharakter. Weder negativ, noch positiv. Jedes technische Medium ist immer auch allotechnisch, es zeigt uns eine andere Welt. Aber diese Welt wird nie reell. Bestenfalls kann man sie hören. Aber gerade da entgeht uns das Wesentliche. Alles andere wäre - ein Hörsturz. 1. Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Tagungs des Graduiertenkollegs ,Codierung von Gewalt im medialen Wandel" der HUB. 1.11., 13.30h Grüner Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2. Mit Dank an Antje Vowinckel, die die Ruttmann-Partitur von WEEKEND rekonstruiert hat. 3. Jeanpaul Goergen: WALTER RUTTMANN. Eine Dokumentation. Freunde der Deutschen Kinemathek. (1989), 131. 4. Goergen, Ruttmann, 90. 5. Sixten Ringbom: The Sounding Cosmos. A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the the Genesis of Abstract Painting. Helsingfors: Abo Akademi 1970 6. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 10. Aufl., Bern: Benteli o.J. (zuerst 1912), 6 7. Aus dem Walter Ruttmann-Nachlaß, ohne Titel, undatiert, vermutlich um 1919/20. Unter dem Titel 'Malerei mit Zeit' veröffentlicht in: Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hg.): Film als Film, 1910 bis heute, Stuttgart 1977. Zitiert nach Goergen, Dokumentation, 77. 8. Ebd. 9. Ebd. 10. Walter Ruttmann, Wie ich meinen BERLIN-Film drehte, 1927, zit. nach Goergen, Dokumentation, 80. http://www.whagen.de/vortraege/RuttmannWeekend/HtmlVersion/ruttmann.htm (16 of 16)6.11.2005 23:09:49