278 Suche nach einer Tonfilmästhetik und ihr Anschluss an den Stummfilm diese Filme nicht nur zu besonders guten Tonfilmen, die ihren Erfolg vom Kurfürstendamm bis in die Provinz hinein verdienten, sondern ließ sie auch einander verwandt erscheinen. 7.2 Ästhetische Grenzbereiche Da der stumme Film mit dem Übergang zum Tonfilm zwar sehr schnell verschwand, in den Köpfen und Erwartungen der Kinogänger aber weit länger Bestand hatte, entstanden vorübergehend Filmformen, die Grenzbereiche der Tonfilmästhetik markieren und noch stark der Tradition des Stummfilms verhaftet waren. Sie sind das unmittelbarste und charakteristischste Produkt der Übergangszeit zwischen den filmhistorischen Phasen. Es sind Formen, bei denen man mitunter vielleicht der Auffassung sein kann, dass es gar keine ,echten' Tonfilme waren - worüber man sich streiten könnte (denn was ist' ein Tonfilm und was nicht?) -, doch sicherlich sind sie nicht von der Art und Form, in der der Tonfilm konventionalisiert wurde. 7.2.1 Geräuschfilm Der Geräuschfilm war eine äußerst eigentümliche Form des frühen Tonfilms, und zumindest in Deutschland gab es dafür auch nur sehr vereinzelte Beispiele. Es handelte sich um eine Mischform aus Tonfilm und Stummfilm mit Live-Musik-Begleitung, die eine ganz besondere Wirkungsästhetik entfaltete. Das erste Beispiel einer solchen Geräuschfilm-Aufführung fand in Deutschland am 9. Januar 1929 durch die deutsche Erstaufführung des unter seinem Originaltitel gelaufenen amerikanischen Luftkriegs films Wings (R: William A. Wellman) im Berliner Ufa-Palast am Zoo statt. Wings war ein äußerst aufwändiger Film der Paramount mit ,Breitwanď- und eingefärbten Teilen und 1927 als stumme und als nachvertonte Fassung in den USA bereits zwei Monate vor Theja^Singer erschienen.869 Wings hatte in Amerika überaus großen Erfolg und soll allein in New Yorker Kinos 64 Wochen lang gelaufen sein870, wobei dieser große Erfolg allerdings eventuell der stummen Fassung galt, weil die Tonfassung amerikanischen Quellen zufolge nur bei ,Roadshows', reisenden Tournee-Veranstaltungen, eingesetzt wurde. Die ame- 869 Zu Wings vgl. insbesondere Geduld 1975, S. 86-87; das mit dem Namen .Magnascope' benannte ,Breit-wand'-Verfahren beruhte nur auf einer Vergrößerung des Budes durch Projektion mit einem Obektiv kürzerer Brennweite auf eine vergrößerte, vorher abgedeckte Leinwand. Um zu vermeiden, daß die größer projizierten Sequenzen dunkler wirkten, waren sie auf helle Szenen (Luftkämpfe) beschränkt. Das Aufziehen und Schließen der Abdunkelung wirkte dem Effekt jedoch entgegen, so daß er kaum bemerkbar war. Vgl. R. T.: Besondere Vorführungsmaßnahmen zu „Wings" im Ufa-Palast am Zoo. In: KT, Nr. 3, 5.2.1929 (zum wenig merklichen Effekt auch Focus: Das Magnascope. In: FW, Nr. 28, 10.7.1929, S. 659). 870 Vgl. Anzeige in: Film-Kurier, Nr, 12, 12.1.1929; H.W-g. (Hans Wollenberg): Wings. In: LBB, Nr. 8, Geräuschfilm 279 rikanische Tonfassung war den Quellen zufolge mit der deutschen nicht identisch, denn sie war komplett mit Musik und Geräuscheffekten versehen; nur die Dialoge hatte man nicht nachvertont. Diese akustische Ästhetik war der frühen Konzeption des Tonfilms in den USA verpflichtet, den Filmton für die Aufzeichnung der Kinomusik zu benutzen, wobei es in den USA möglicherweise in der Stummfilm-ära verbreiteter als in Deutschland war, dass die Kinomusik auch Geräusche imitierte. In der in Deutschland gespielten Tonfassung wurde auf die technisch reproduzierte Begleitmusik verzichtet — doch dafür begann die akustische Inszenierung des Films bei der Premierenspielzeit im Berliner Ufa-Palast am Zoo bereits am Kinoportal, über dem Rudi Feld das Modell eines abstürzenden, brennenden Flugzeugs installiert hatte, und dazu heulte, „die Straßengeräusche übertönend, eine Sirene Fliegeralarm."871 Die Aufführungen selber wurden wie üblich vom Hausorchester des Ufa-Palasts unter der Leitung von Willy Schmidt-Gentner musikalisch untermalt An bestimmten Passagen des Films wurden jedoch Geräusche technisch reproduziert und von einer, wie es heißt, eigens hergestellten Gaumont-Anlage wiedergegeben.872 Wie das vor sich ging und auf ihn wirkte, schilderte Hans Wollenberg in der Ucht-Bild-Bühne: Wenn zum erstenmal — nach der Exposition des Films - der Kampfflieger zu ein paar ,Achten' zum Himmel aufsteigt, senkt sich der wundervolle Klang des Orchesters [...] zu gedämpftem Flüstern und — der Motor beginnt zu rattern. Ein unglaublich effektvoller Moment; und man spürt: eine neue Epoche im Kino. Und immer, wenn jene Szenen, die den eigentlichen Sinn und Gehalt des Films bilden, jene Fliegerszenen, über die Leinwand gehen, setzen die Geräusche ein: das Surren der Propeller, das Knattern der Maschinengewehre, das Pfeifen der abgeschossenen Flugzeuge im Absturz, das markerschütternde Dröhnen aufschlagender Fliegerbomben. Auge und Ohr vereinigen sich, um den sinnfälligen Extrakt eines technischen Zeitalters in sich aufzunehmen.873 Wollenbergs Faszination teilte auch Herbert Ihering, der ein recht entschiedener Anhänger des Geräuschfilms war874 (und ebenso recht entschieden den Tonspielfilm 10.1.1929, behauptete sogar, das Broadway-Kino Criterion habe Wings über zwei Jahre lang ununterbrochen gespielt. 871 Vgl. -d.: Technische Neuerungen im Ufa-Palast. In: Film-Kurier, Nr. 10, 10.1.1929. ebd.; es handelte sich dabei nicht um eine Lichtton-Anlage des Gaumont-Petersen-Poulsen-Systems, sondern um zwei nicht mit dem Projektor synchrongekoppelte, vom Orchester bediente Sprechmaschinen mit Elektroschalldosen, die über Röhrenverstärker mehrere Lautsprecher betätigten; vgl. R.T.: Besondere Vorführungsmaßnahmen zu „Wings" im Ufa-Palast am Zoo. In: KT, Nr. 3, 5.2.1929 (ferner Anonym: Der erste Geräuschfilm im deutschen Kino. Die Premiere des Flieger-Großfilms „Wings". In: FK, Nr. 12, 12.1.1929). 873 H.W-g. (Hans Wollenberg): Wings. In: LBB, Nr. 8, 10.1.1929. Vgl. Herbert Ihering: Submarine. In: Berliner Börsen-Courier, 13.6.1929; neu in: Ihering 1958, S. 573-575. Ober den nachträglich mit Musik, Geräuschen und Stimmengewirr, aber ohne Dialoge nachvertonten Film schrieb Ihering: „Submarine wäre viel besser als stummer Film gedreht worden, mit Geräuschen auf den Höhepunkten [...] — die Wirkung wäre ungeheuer gewesen." (S. 574). Zu einer ebensolchen Rezeption 280 Suche nach einer Tonfilmästhetik nicht befürwortete), und sicherlich wurde diese Filmform auch noch von vielen anderen als Genuss empfunden. Der Geräuschfilm veränderte das gewohnte Kinoerlebnis nicht radikal, sondern integrierte die technische Akustikwiedergabe in die Aufführungsform und Rezeptionsweise des Stummfilms, wodurch die Wirkung des stammen Films partiell und gezielt unterstützt wurde. Der Geräuschfilm schuf eine neuartige Wirkungsästhetik im Kino, ohne diejenige des Stummfilms abrupt außer Kraft zu setzen. Der größere ,Realismus' bei diesem Filmtypus bestand insofern - fast paradoxerweise - in der Wahrung der Künstlichkeit des Filmerlebnisses, wie es der Erwartung einer deutlich erkennbaren Medialität fiktionaler Darstellungen entsprach. Im Geräuschfilm wurden nicht alle im Film sichtbaren Geräusche vertont, sondern eine Selektion vorgenommen, eine ,^eräuschmäßige Unterstreichung einzelner Partien des Films, ihre Steigerung zu besonderem Effekt, ihre Heraushebung aus dem Gesamtfilm."875 Das Konzept der selektiven Geräuschwiedergabe fügte den mechanisch reproduzierten Ton kontrastiv in die Musikaufführung durch lebendig anwesende Musiker ein und erzielte eine punktuelle Brechung der harmonischen musikalischen Begleitung im Wechsel zur atonalen Geräuschwelt. Durch diese Kontrastierung der akustischen Filmuntermalung entstand eine besonders „packend suggestive" und „erregende" Wirkung der Geräuschpassagen.876 Die Ästhetik dieser Filmform diente also nicht einer Steigerung der scheinbaren Authentizität und ,Naturalistik' der filmisch entworfenen Welt, sondern war ein rhythmisches Stimmungselement, das innerhalb einer akustisch diffusen, unkonkreten und nur partiell konkret komponierten Wirkungsstruktur des Films an ausgewählten Stellen besonders intensive Rezeptionserlebnisse stimulierte. Das Konzept einer Selektion der Vertonung stieß jedoch auch auf Widerspruch, denn es ließ die Medialität der filmischen Darbietung allzu deutlich hervortreten, weil sich die technische Tonreproduktion durch ihre Selektivität ereignishaft in den Vordergrund schob und daher den Eindruck von Inkonsequenz erwecken konnte. Die Filmwoche, die allerdings zu den entschiedenen Gegnern des Tonfilms an sich gehörte, sprach von einer ,,wahllose[n] Gewaltsamkeit dieser Filmart": Der Zuschauer versteht nicht, warum er nicht die Flak-Geschütze hört, warum die Menschen stumm bleiben. Es ist ein Unsinn zu glauben, daß mit diesem Lautsprechergepolter, ob es nun von Grammophonplatte oder vom Filmstreifen kommen mag, irgendetwas gewonnen wäre. [...] Anderthalb Stunden lang nur Propeller und Maschinengewehre zu hören, kann man beileibe nicht als Förderung des Films betrachten.877 von Geräuschfilmen in Luxemburg vgl. Lesch 2001, S. 115f.. 875 Anonym: Der erste Geräuschfilm im deutschen Kino. Die Premiere des Flieger-Großfilms „Wings". In: FK, Nr. 12, 12.1.1929 (Bild und Ton, Nr. 2, 12.1.1929). 876 Ebd. 877 J-s (Paul Ickes): Wings. In: FW, Nr. 4, 23.1.1929, S. 91-92; S. 91. Geräuschfilm 281 Die Filmwoche stellte sich von Anfang an und ohne jede Konzessionen auf den Standpunkt, dass der Film, wenn er denn schon tönen wolle, es in Übereinstimmung mit der natürlichen akustischen Wahrnehmung zu tun habe. Doch auch der Film-Kurier, der Wings sogar drei Besprechungen widmete, konnte sich mit dem Prinzip der partiellen Vertonung nicht anfreunden - allerdings ebenso wenig mit der Kinomusik Willy Schmidt-Gentners als solcher, der die Geräuschuntermalung verantwortlich zugeschrieben wurde.878 Hier ist nicht deutlich zu entscheiden, ob der Geräuschfilm oder Schmidt-Gentner abgelehnt wurde. Insgesamt stieß Wings besonders in intellektuellen Kreisen der Filmkritik wegen seiner heroisierenden und idealisierenden Darstellung des Kriegs und eines romantisierten soldatischen Heldentums auf Ablehnung. Der Film-Kurier bezeichnete den Film noch gemäßigt als „keine Freude für die Friedliebenden"879. Trotz einer zwiespältigen Meinung über das akustische Kinoerlebnis von Wings ist bemerkenswert, dass eine Geräuschvertonung, die man in Deutschland abgelehnte, wenn sie vom Orchester ,live' produziert wurde, in der mechanischen Reproduktion als so .unglaublich effektvoll' akzeptieren konnte. Denn es ist relativ wahrscheinlich, dass die Geräusche bei der Tonaufnahme in den USA nicht auf anderem Wege erzeugt worden waren, wie es in amerikanischen Kinos üblich war, nämlich vom Orchester. Die Kinotechnik stützt diese Annahme, da ihr zufolge die „Naturtreue der Motorengeräusche [...] noch recht erheblich zu wünschen übrig" Heß.880 Es ist jedoch gar nicht so erstaunlich, dass eine solche Art der Geräuschvertonung in der technischen Reproduktion eher akzeptabel war als bei der aktuellen Filmbegleitung durchs Kinoorchester. Wenn das Kinoorchester Geräusche nachahmte, merkte man durch die räumliche Nähe und den raumfüllenden Klang nur allzu deutlich, dass es sich um Imitation handelte. Wenn dieselben Geräusche jedoch mechanisch reproduziert und über Lautsprecher wiedergegeben wurden, war ihr Klangbild technisch verändert und gerichtet, klang also ganz anders. Obwohl es beinahe paradox ist, wurde der Eindruck einer ,Echtheiť der mechanisch reproduzierten Geräusche gerade durch ihren künstlichen Klang verstärkt. Eine an den Geräuschfilm angelehnte Aufführungsform gab es noch einmal Ende 1930 bei einem der letzten Stummfilme mit Greta Garbo, Wilde Orchideen {Wild Orchids, USA 1929), bei den Berliner Erstaufführungen im Universum und weiteren Präsentationen andernorts. Die amerikanische Fassung des Films war durchgehend mit einer akustischen Vertonung aus Musik unterlegt sowie mit speziellen Sprach- und Geräuschteilen versehen, während der Film in Deutschland mit Live-Musik aufgeführt wurde. Die Live-Musik wurde jedoch gelegentlich unterbrochen 878 Vgl. Anonym: Wings. In: FK, Nr. 10,10.1.1929; -d .: Technische Neuerungen im Ufa-Palast. In: FK, Nt, 10, 10.1.1929; Anonym: Der erste Geräuschfilm im deutschen Kino. Die Premiere des Flieger-Großfilms „Wings". In: FK, Nr. 12, 12.1.1929 (Bild und Ton, Nr. 2, 12.1.1929). 879 Anonym: Wings. In: Film-Kurier, Nr. 10, 12.1.1929. Zur Einschätzung der Handlung vgl. u.a. Erich Kästner: Neue Filme, gute Stoffe, schlimme Regie. Neue Leipziger Zeitung, 28.1.1929; neu in Kästner 1989, S. 361-363. 880 R.T.: Besondere Vorfiihrungsmaßnahmen zu „Wings" im Ufa-Palast am Zoo. In: KT, Nr. 3, 5.2.1929. ■MmJÉJkíŠiM. 282 Suche nach einer Tonfilmästhetik und „einige Tanzszenen der javanischen Eingeborenen [...] mit synchroner Musik und Sprache"881 hervorgehoben (an anderer Stelle war von einem Schwertertanz und nächtlichen Gesängen die Rede882). Die Fachpresse war in diesem Fall vom Geräuschfilm durchwegs äußerst angetan. Der Film fand die Aufführungsform und die Tonpassagen „ganz großartig und von hinreißender Wirkung", und die Licht-Bild-Bühne kommentierte: Eine neuartige Vorführungsweise: Den stummen Verlauf des Films unterbrechen die sonderbaren Originalweisen der Javaner. Also nur im einmalig Wertvollen, Handlungs- und Stimmungsnotwendigen tönt der Film. Sonst illustriert ihn lebendiges Orchester, distanzschaffend [...], aber oft die warme Sinnlichkeit des Films widerscheinend. Das Publikum ließ sich tragen. Die stumme Beteiligung löste sich in starkem Schlußapplaus.883 7.2.2 ,100-prozentige' Ton-Stammfilme Eine zweite ästhetische Sonderform beim Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm bildeten Tonfilme, die als „lOOprozentige" Tonfilme galten, deren Status als Tonfilme auch nie in Zweifel gezogen wurde und die dennoch wie Stummfilme inszeniert waren, selbst wenn sie über eine durchgängige, planvoll konzipierte Tonspur verfügten. Das erste Beispiel dieser,stummfilmischen Tonfilmästhetik' war René Clairs Sous les toits de Vatis von 1930. Claudia Gorbman schreibt über diesen Film, dass sein Ton oft „akzentuiert unrealistisch" eingesetzt ist: ... zu einem großen Teil sind die drei Komponenten der Tonspur auf eine nicht realistische Weise vertauscht. Musik ersetzt natürliche Geräusche lautmalerisch: Als Fred an einer frühen Stelle des Films einen Handlanger verprügelt, hören wir statt des Geräuschs von Schlägen plumpe, dissonante Klaviertöne, die die potentiell aufregenderen Schläge nachahmen. Die Musik neigt zur Tilgung ganzer Unterhaltungen; als, beispielsweise, Albert mit seinem Freund, dem Taschendieb, in einem Hauseingang schimpft, hören wir nur energische Musik und kein Wort des Streits. Tatsächlich sind die meisten Dialoge des Films auf der Tonspur in keiner Weise Dialoge, sondern musikalisch unterlegt [...]884 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Clairs Sous les toits de Paris ist ohne jeden Zweifel ein Kleinod des frühen Tonfilms, der über den Einsatz der neuen akustischen Ausdrucksmöglichkeiten souverän und originell verfügt. Und dennoch könnte dieser Film, ohne schwerwiegenden Schaden zu erleiden, auf seine Tonspur verzichten, als stummer Film vorgeführt und mit Kinomusik begleitet 881 Georg Herzberg: Wilde Orchideen. In: FK, Nr. 275, 21.11.1930. 882 Haßreiter: Wilde Orchideen. In: F, Nr. 47, 22.11.1930. 883 pe.: Wilde Orchideen. In: LBB, Nr. 279, 21.11.30. 884 Gorbman 1987, S. 142 (Übersetzung von mir). ,100-prozentige' Ton-Stummfilme 283 werden, ja sogar ohne Musik eine fesselnde Wirkung entfalten — nur einige wenige Dialoge, wie etwa der Streit zwischen Albert und Pola im Dunkeln, würden ihre Wirkung ohne den Synchronton einbüßen. Sous les toits de Paris ist zum größten Teil als Stummfilm inszeniert und realisiert worden: Fast die gesamte Handlung teilt sich gestisch, mimisch und durch Schauspieleraktionen mit, nur werden keine Zwischentitel mehr verwendet. Sogar die berühmte Eröffnungssequenz mit dem Lied „Sous les toits de Paris" ist optisch so rhythmisiert, aufgelöst und gestaltet, als ob sie aus einem stummen Film stammen würde. Der Film spielt sogar mit diesem Prinzip, indem er den dramatischen Höhepunkt, den Streit zwischen Albert und Louis um Pola durch die Fenster der geschlossenen Bistro-Tür zeigt, ohne ihn akustisch wiederzugeben. Die Sequenz ist musikalisch untermalt und verlässt sich zur Vermittlung ihrer Dramatik und Intensität ganz auf die Mimik der Schauspieler. Auch die viel gerühmte Prügelei neben dem Bahngleis zwischen Albert und Fred ist eine Stummfilmsequenz, vertont mit dem lauten Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges, eine geschickte und originelle Idee, die auch schon zeitgenössisch bewundert wurde. Sie schließt mit einer weiteren Pointe: Das Ende des Zuggeräuschs wird von einem Schuss markiert, mit dem ein Umstehender die Straßenlaterne zum Erlöschen bringt; kaum erkennbar in Dunkel gehüllt, wird die Fortsetzung der Prügelei durch aufgeregte menschliche Rufe vermittelt. In Sous les toits de Paris sind Sprache und Geräusche einer Musikuntermalung selektiv und pointiert beigegeben, ergänzen einen Stummfilm mit einer auf Zusätze und Verblüffung bedachten Tonspur in seiner Wirkung, der Dialog fungiert zumeist nur als eine „lautmusikalische Akzentuierung der Bilder"885. Daher kann nicht erstaunen, dass gerade dieser Film in Deutschland gefeiert wurde wie kein zweiter Tonfilm und bei Intellektuellen wie auch dem ,breiten Publikum' außerordentlich erfolgreich war, obwohl er in der französischen Originalfassung lief. Sous les toits de Paris blieb ein Stummfilm, ohne sich dem Ton zu verschließen, und das Kino blieb, was es gewesen war, obwohl die Lautsprecher tönten: die schöpferische / Kreativität und Intelligenz des Publikums wurde noch gefordert und nicht durch eine akustische Wiederholung dessen, was man auch ohne Ton und Worte verstand, in die Schranken verwiesen. Fachwelt und Kritik feierten René Clair als den wegweisenden Tonfilmregisseur.886 Der Tonfilmstil von Sous les toits de Paris sollte sich allerdings nicht durchsetzen, wie man in Deutschland gehofft hatte. Clair selber nahm schon in seinem nächsten Tonfilm he million davon Abstand und verließ den Weg einer stammfilmischen Inszenierung im Tonfilm.887 Als eine Seitenlinie hatte ein stummfilmischer Inszenierungsstil im frühen Tonfilm indes noch etwas länger Bestand. Der Raub der Mona Lisa (D 1931) etwa griff stark auf die stummfilmische Inszenierungsweise zurück und ging sparsam, aber geschickt mit Dialogen um, zum Beispiel, wie auch in Fritz Langs M, indem ein 885 Wilhelm Karl Gerst in: FT, Nr. 24, 28.11.1931, S. 5. 886 Zu Reaktionen der Kritik Goergen 1999. 887 Zur tonfilmischen Inszenierung von Le Million Fischer 1977.