Hermeneutik Peter Rusterholz Unterschiedliche hermeneutische Konzepte gehen implizit von völlig verschiedenen Modellvorstellungen der Sprache, der Kunst und des Verstehensprozesses aus. 102 Wort- und Begriffsgeschichte hermeneuein -- interpretari Hermes,der Götterbote, legt den Sterblichen den Willen der Unsterblichen durch das Medium der Sprache aus. Sokrates zu Asklepion (Platon, Ion): Der Rhapsode soll Homers Sinn verstehen, nicht seine Worte nur. Aristoteles: Peri hermeneias (De interpretatione) ist eigentlich eine Art logische Grammatik. Das erste Kapitel enthält jedoch eine semiotische Theorie, eine Zeichenlehre. Dieses Zeichenmodell zeigt Analogien zu Platons Sprachmodell in seinem Dialog Kratyllos, der das Verstehen jedoch schon als dialogischen Prozess darstellt. 103 Während Platon von der Analyse der aus gesprochener Sprache gewonnenen Erkenntnisse auf das Denken schließt, vertritt Aristoteles in De interpretatione umgekehrt die These, die Untersuchung des Denkens gebe Aufschluss über die den Gedanken ihren Ausdruck verleihende Sprache. 103 Zur Geschichte der Auslegung von den Anfängen bis zu Luther 104 die grammatisch-rhetorische Auslegung: mit Hilfe der Wort- und Bedeutungsforschung und mittels der sprachlogischer Analyse ein nicht mehr verständlicher Text in moderne Sprache übertragen. Der ursprüngliche Sinn soll bewahrt werden. die allegorische Interpretation: einem buchstäblichen Sinn (sensus litteraris) wird eine übertragene Bedeutung, ein allegorischer Sinn (sensus allegoricus) gegeben. Stoiker: die homerischen Götter als Veranschaulichungen kosmischer Kräfte und moralischer Tugenden gedeutet. 105 Die Auslegung der Heiligen Schrift die Schule von Antiochia: der wörtliche historische Sinn der Schrift die Schule von Alexandria: die allegorische Auslegung Origines aus Alexandria versucht den dreifachen Sinn der Schrift zu finden: - einen somatischen, also buchstäblichen Sinn - einen psychischen, also moralischen Sinn - einen pneumatischen, d. h. allegorisch-mystischen 105 Kirchenväter: Ambrosius: die allegorische Deutung Hieronymus: die buchstäblich-historische Auslegung Augustinus: De doctrina christiana fixiert eine exegetische Tradition eines mehrfachen Schriftsinnes. Abwandlung dieser Tradition bei Augustinus von Dakien: 1. Der wörtlich-buchstäbliche Sinn erhellt die geschichtlich gesehene Tatsache: Jerusalem als historische Stadt, 2. der allegorische Schriftsinn: was in der Geschichte des alten Bundes vorgebildet und im neuen Bund ausgeführt ist, Jerusalem als Verweis auf die Kirche 3. der moralische Sinn: Jerusalem verweist auf ethisch richtiges Handeln, die Seele des Christen 4. der sensus anagogicus zielt auf die letzte, die eschatologische Wirklichkeit am Ende der Tage: Jerusalem als Gottesstadt, das Himmlische Jerusalem. 107 Allegorese: - dichterische Anwendung einer ursprünglich dichterischen Zwecken reservierten Theorie der Auslegung, die aus dem Litteralsinn eines Wortes weitere spirituelle Dimensionen erschließt - dichterische Technik der Allegorie, die in der Figurenlehre als eine continuata metaphora eine fortgesetzte Übertragung, ein Gefüge mehrerer Metaphern, in dem etwa eine Idee durch Personifikation veranschaulicht wird Die spirituellen Dingbedeutungen sind gesammelt worden in Bestiarien, Lapidarien und allegorischen Wörterbüchern. (Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterl. Bedeutungsforsch. Darmst. 1977) 107 Das Mittelalter fasste die antike Tradition als Präfiguration der christlichen Tradition. Dante hatte diese Methode in seinem Convivio (Gastmahl) beschrieben und betrachtet sie selbst in der Epistola a Cangrande als Schlüssel zum Verständnis der Divina Commedia 108 Hermeneutik von Luther bis Schleiermacher Luthers Auslegungsprinzip: scriptura sui ipsius interpres -- die Schrift legt sich selbst aus 109 Einzelne Stellen werden an der Gesamtaussage der Schrift überprüft, zu der der Ausleger im hermeneutischen Zirkel vom Einzelnen zum Ganzen verfahrend, durch Detailanalyse vom Buchstaben zum Geist der Schrift vorstößt. Matthias Flacius: Clavis scripturae sacrae, 1567, Grundlage für ale Hermeneutiken der lutherischen Orthodoxie 110 Johann Conrad Dannhauer 1603 Köndringen/Baden, | 7. 11. 1666 Straßburg Idea boni disputatoris et malitiosi sophistae (Straßb. 1629. 4. Aufl. 1656) im Anschluss an den aristotelischen Traktat Peri hermenéias -- Methode einer wissenschaftlicen sinn- und sachgerechten Auslegung signa voluntaria, die durch Konvention entstehenden Ausdrücke signa doctrinalia, die Termini der Logik der rechte Interpret analysiert die nicht einsichtigen Sätze durch Reduktion auf ihre logischen Voraussetzungen und unterscheidet so den wahren Sinn vom falschen. Hermeneutica sacra, 1654 die Rhetorik bekommt ein weit stärkeres Gewicht gegenüber 111 Die pietistische Gegenbewegung das eigene persönliche und lebenspraktische Anwenden der Schrift zum Kriterium der Wahrheit. August Francke: Hermeneutische Vorlesungen, Halle 1717 Johann Jakob Rambach: Instituiones hertmeneuticae sacrae, Jena 1724 suptilitas applicandi, die Anwendung auf die konkrete Lebenspraxis der Hörenden nur eine Hilfswissenschaft einer dogmatisch begründeten Disziplin. Spinoza, Grotius deuten die historischen Texte der Bibel anhand derselben Prinzipien wie die profane, die weltliche Geschichte. Auklärung: Christian Wolff Hermeneutische Wahrheit -- die Rekonstruktion der Meinung des Autors Weder die Eigenart verschiedener Textsorten und die Medialität der Sprache, die durch die Art des Sprechen aussagt, was explizit nicht gesagt wird, noch die historische Differenz zwischen Text und Interpret werden berücksichtigt. Johann August Ernesti: Institution interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761 subtilitas intelligendi -- Verstehen aus dem historischen Kontext, dem Wortsinn subtilitas explicandi - Verstehen aus dem sprachklichen Kontext, die Vielfalt der sich historisch je verschieden ausprägenden Methoden vgl. Rambachs suptilitas applicandi 113 Schleichermacher Hermeneutik das Verstehen als solches wurde zum Problem gemacht Es ist Peter Szondis Verdienst, schon 1970 auf die früher übersehenen Aspekte der Tradition in Schleiermachers Konzept verwiesen zu haben: Gadamer hat die psychologische Interpretation überbetont und den Zusammenhang von Schleiermachers grammatischer Interpretation mit der vorangehenden Tradition der Bibelhermeneutik vernachlässigt. Schleiermacher versucht eine sprachliche Äußerung aus dem Textkontext und dem historischen Lebenskontext zu erklären, indem er ein intersubjektiv begründbares Wissen in seinem Verständnis belegt: Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestalte, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber auch ist er ein sich stetig entwickelnder Geist und seine Rede ist nur als eine Tatsache von diesem im Zusammenhange mit den übrigen. *Schleiermacher, Hermeneutik[1], 1959, S. 81 114 Mit der Analyse der Rede in bezug auf das Ganze der Sprache (die langue Saussures) befasst sich die grammatische Interpretation; = der ganze Zusammenhang die Untersuchung der Rede im Kontext des Denkens des Autors oder der Sprechenden leistet dann die psychologische oder technische Interpretation. =der unmittelbare Zusammenhang (das Wort im Satz) Sprache wirkt als Begrenzung der Subjektivität des Denkens. Umgekehrt wirkt die Subjektivität des Denkens als kreative Energie der Individualisierung der Sprache. 115 das Neue: die Kommunikation nicht mehr lediglich als Bedeutungstransport und Interpretation als Bedeutungszuweisung (z. B. die Rekonstruktion der Autorenintention) die zunehmende Distanz von der Hermeneutik der Aufklärung bereits bei Hamann, Herder und Friedrich Schlegel vorbereitet 116 Im Gegensatz zur früheren Bibelhermeneutik ist sein Sprachverständnis nicht instrumentell-rhetorisch, Wortbedeutungen werden durch das sprechende Subjekt konstituiert und schaffen damit ein durch das Verstehen des Interpreten analysierbares Verhältnis von Tradition und Innovation. 117 Die Dialektik von grammatischer und psychologischer Interpretation umfasst Bereiche, die heute durch den Konflikt zwischen Hermeneutik und anti-hermeneutischen Bewegungen von Poststrukturalismus und Dekonstruktion getrennt sind. 117 Wilhelm Dilthey 118 Die Geisteswissenschaften sollten den zerrissenen Zusammenhang zwischen der individuellen Welt der Subjekte und der Objektwelt wieder herstellen. ...Die letzte Bedingung allen Erkennens ist also im Lebenszusammenhang; Leben wird im Erlebniszusammenhang verstanden: Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Stufen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem Systém der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich. (Dilthey, ed. Riedel,[2] 1981, S. 235) Erlebnis: das, was im Fluss der Zeit eine Einheit in der Präsenz bildet, weil es eine einheitliche Bedeutung hat. Eine gefährlich vereinfachende, die Literatur der Klassik mythisierende Fassung aus dem Buch Das Erlebnis und die Dichtung (1905) machte dann die Schule: Das Erlebnis - etwa eines Dichters wie Goethe - ist als Ergebnis wichtig: als poetischer Ausdruck. Nur auf diesem indirekten Weg über den gestalteten Ausdruck verstehen wir das Leben; so auch das Seelenleben anderer, in das wir uns über seinen objektivierten <> <>, das wir <>. 119 1900: Die Entstehung der Hermeneutik, Diese Abhandlung bezeichnet die hermeneutische Wissenschaft als die "Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen". Das "höhere" Verstehen erst in den späten Nachlass-Fragmenten[3]: nicht nur Projektion, sondern anschließende vergleichende Reflexion von Eigenem und Fremdem. Verstehen ist damit schon für Dilthey ein reproduktiv-produktiver Prozess. 120 In elementaren Formen des Verstehens wird aus der Wiederkehr derselben Bedeutung eines Wortes... auf deren neue Bedeutung in einem analogen Falle geschlossen; es ist dies das Verfahren des Analogieschlusses. Höhere formen des Verstehens reflektieren nicht nur auf die Bedeutung eines Wortes, sondern reflektieren auf die Weise, in der die einzelnen Wörter im Textgefüge miteinander verbunden sind. ... So wird der Analogieschluss durch einen Induktionsschluss abgelöst: Ein literarischer Text ist nie ein Fall, der auf einen je schon vorhandenen Fall lückenklos zurückgeführt werden könnte. Dieses Bestimmen "bestimmt-unbestimmter" Einzelheiten und seine Ordnung durch die Konstruktion wurde schon vor Dilthey bei Schleiermacher als grammatisch-komparatives Verstehen beschrieben, nach Dilthey in den Methoden des Strukturalismus präziser ausgearbeitet worden. 121 Martin Heideggers Phänomenologie -- Ontologische Wende der Hermeneutik die Postulate der Unhintergehbarkeit[4] (1)des Lebens und der Lebenswelt sowie (2)der Sprache. In seiner eigenen Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität vom Sommer 1923 gab er auch eine Geschichte der Hermeneutik seit Platon u. Aristoteles, Schleiermachers und Diltheys. Universalisierung der Hermeneutik zu einer neutralen Methode wurde dabei kritisiert, da sie die vorher wichtige Frage nach der Anwendung auf das Leben ausließ. (Diese Motive wurden von Hans-Georg Gadamer, der die Vorlesung von 1923 hörte, 1960 in Wahrheit und Methode ausgestaltet.) (Killy) Dasein -- pobyt: jsoucno, jím¾ jsme my sami Da-Sein -- svìtlina (Lichtung) bytí: In-der Welt-Sein -- bytí-ve-svìtì: § 32 seines Hauptwerkes Sein und Zeit 122 Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten. Dieses verstehende Sein zu Möglichkeiten ist selbst durch den Rückschlag dieser als erschlossener in das Dasein ein Seinkönnen. ... Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. ... Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten. Heidegger, 15. Aufl. 1979, S. 148 Der Vorgang des Verstehens ist also nicht mit einem Dekodierungsvorgang zu verwechseln, der einen verschlüsselten Text entschlüsselt. Gegenstand der Auslegung ist nicht ein Text, sondern das Dasein. Verstehen als Existential (als allgemeine Bestimmung des Daseins) ist dem Verstehen als Auslegung von Texten (als einem abgeleiteten Modus dieses Existentials) vorgeordnet. 123 die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt als das, was mit Auslegung überhaupt schon "gesetzt", das heißt in Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff vorgegeben wird. Vorhabe -- die Sinn-Antizipation, der Blickwinkel, mit dem der Betrachter das Ganze umfasst. Vorsicht -- die Zielform, auf die die Auslegung sich richtet, die Vollzugsformen des Verstehens. Vorgriff -- die Wahl der Begrifflichkeit, die Wahl der Methodik, die das Verständnis erschließt. Er hält das Methodenideal konsequenter Subjekt-Objekt-Trennung für eine Fiktion. Heidegger erklärt die Auslegung von Etwas als Etwas am Beispiel des Waldes, wie vom Vorverständnis eines Försters, eines Grundstückmaklers, eines Spaziergängers, eines Pilzsuchers bzw. eines Jägers betrachtet wird. In seinem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks (1950, in Holzwege) spricht er der Kunst eine privilegierte Stellung bei der Enthüllung der vernehmenden Öffnung zum Ereignis des Seins. Das Wesen der Kunst nennt Heidegger das Sich-ins-Werk-Setzen-der --Wahrheit. Im Kunstwerk findet die Wahrheit als ein Sich-Öffnen und Sich-Verschließen eine Gestalt. Heidegger denkt dieses Verhältnis des Sich-Öffnens und des Sich-Verschließens im Kunstwerk als das Zueinander und Gegeneinander von Welt und Erde. Die Welt ist der Erkenntnishorizont einer Person, jedes Lebewesen hat seine Welt. Die Erde aber ist die Gesamtheit alles Seienden, dass ,,als Sichverschließendes aufgeht``. ( S. 54 ) Deutlich wird das am Beispiel eines griechischen Tempels, das Heidegger anführt : ,,Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und lässt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Welt und Erde stehen in einem ewigen Streit miteinander und durchragen sich doch gegenseitig, da die Welt das Offene des Seins, die Erde aber das sich Verschließende darstellt. Die Welt ist jedoch nicht als Offenheit und Wahrheit an sich zu verstehen, die, wo immer sie ins Dunkel der Erde scheint, eine Lichtung erzwingt. Vielmehr ist die Lichtung, das Geschehen der Wahrheit am Werk, ein Prozess, der den Widerstreit an sich zeigt, die Wahrheit selbst, die sich jedoch ihrem Wesen nach auch verschließt. Den in die Gestalt des Werks eingelassenen Streit nennt Heidegger den Riss. In der Gestalt fügt sich der Riss als Einheit von Grundriss, Aufriss, Durchriss und Umriss. 124 Emil Staiger (1955) hat in seinem Aufsatz Die Kunst der Interpretation exemplarisch eine Vollzugsform des hermeneutischen Zirkels der Literaturwisssenschaft beschrieben. Der Aufsatz ist zu einem hermeneutischen Manifest der sog. "Stilkritik" oder der immanenten Deutung der Texte geworden. Texte sollen aus sich selbst verstanden werden. 125 Hans-Georg Gadamers Hermeneutik "Wahrheit und Methode"(1960) knüpft an Heidegger an und grenzt sich gegen Diltheys Versuche einer hermeneutischen Begründung der Geisteswissenschaften ab. Vorgriff der Vollkommenheit -- die Voraussetzung, dass nur das Verständlich sei, was eine vollkommene Einheit von Sinn darstelle. 126 Für Gadamer besteht der Vollzug des Verstehens darin, in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern. Die Erweiterung des Sinns erfolgt im Kontext der Wirkungsgeschichte der Tradition: Es gibt so weder einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer ein Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte Gadamer, 5. Aufl. 1986a, S. 311 Verschmelzung: ein Prozess der Konstituierung, der Abhebung von einem Gegenwartshorizont, der an der Tradition seine Vorurteile erprobt, bis er im Prozess des Verstehens den Horizont findet, der als höhere Allgemeinheit Gegenwärtiges und Vergangenes umfasst. 127 Jürgen Habermas (Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1967) versucht in produktiv kritischer Auseinadersetzung mit Gadamer die Bedeutung der Hermeneutik für Sozialwissenschaften zu klären. Das Verstehen sei nicht Einrücken in einen Traditionszusammenhang, sondern der Gewinn eines handlungsorientierten Selbstverständnisses. Habermas setzt Gadamer seinen Begriff der "Tiefenhermeneutik" und eine "emanzipatorische Ideologiekritik" entgegen. 128 Im Gegensatz zur radikalen Kritik der Methode bei Gadamer relativiert Habermas die scharfe Polarisierung von geisteswissenschaftlichem "Verstehen" und naturwissenschaftlichem "Erklären". Hirschs[5] Einwände gegen Gadamer. Hirsch sieht die Interpretation als Bedeutungszuweisung, Gadamer spricht nur von "Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn". 129 Gadamer sieht Interpretation nicht nur als nur reproduktive, sondern auch produktive Handlung, die sich im dialektischen Prozess der Horizontverschmelzung ereignet. 130 Hirsch blendet dabei zwei wichtige Aspekte aus: - die Lösung des Texts vom sprechenden Subjekt durch schriftliche Aufzeichnung - die Lösung vom direkt referentiellen Bezug, die zur Eigenart des literarischen Textes zählt - ob literarische Genres nicht auf konventionelle Textsorten reduziert würden. ------------------------------- [1] 1809/10 [2] Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Bln. 1910. Neuausg., hg. von Manfred Riedel. Ffm. 1981) [3] gest. 1911, [4] hintergehen: 2. (selten) listig, schlau umgehen: jmds. Anweisung h.; [5] Eric Donald, 1972: Prinzipien der Interpretation. München.