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Der hermeneutische Zirkel |
von griech. hermeneuein, deuten,
interpretieren |
Er erklärt das Zusstandekommen höheren Verstehens aus dem elementaren Verstehen. Der hermeneutische Prozeß bzw. Zirkel enthält ein Paradox: das, was verstanden werden soll, muß schon vorher irgendwie verstanden worden sein Beispiel: Theorie (Erziehungsreflexion, versucht die Praxis zu verstehen, geht aber gleichzeitig von ihr aus) und Praxis (Erziehungswirklichkeit). Verstehen im hermeneutischen Sinn ist nicht geradlinig sondern zirkelförmig! Wesentlich im Zusammenhang mit empirischen Methoden ist die Hermeneutik für die Hypothesenbildung. Ein Problem muß erst gesehen, erkannt und verstanden werden, der Sinn und die Bedeutung einer Situation muß erfaßt werden. Etwas ist nur problematisch im Hinblick auf bestimmte Normen, Werte und Zielvorstellungen, diese sind aber nur hermeneutisch zugänglich. Es muß ein bestimmtes Erkenntnis- und Veränderungsinteresse vorhanden sein! Bei der empirischen Überprüfung von Sachverhalten spielt die Hermeneutik eine wesentliche Rolle bei der Operationalisierung (qualitative Aussagen werden quantitfizierbar gemacht), aber auch die Interpretation von empirischen Resultaten ist ein hermeneutischer Vorgang. |
1. In der klassischen Hermeneutik von ca. 1500-1800 entspricht der hermeneutische Zirkel dem Verhältnis zwischen der Bedeutungsganzheit eines Textes und einem Bedeutungsteil. Um den Sinn eines Textes als ganzen zu verstehen, muß man den Sinn seiner Teile verstehen - und umgekehrt. Ganzheit und Teil stehen damit zueinander in einem Zirkelverhältnis: Sie bedingen sich gegenseitig. 2. Bei Schleiermacher (sowie später bei den Historisten und bei Dilthey) erhält der hermeneutische Zirkel einen neuen Inhalt. Er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen einem Teil des Bewußtseins- und Handlungslebens einer Person und der Ganzheit ihres Lebens, des sozialen Milieus oder der historischen Epoche. 3. Bei Heidegger und Gadamer besteht der hermeneutische Zirkel in dem Verhältnis zwischen der konkreten Teilauslegung von etwas und der Verstehensganzheit (dem Sinnhorizont), in dem sich die Auslegung immer schon befindet. Um ein bestimmtes Etwas zu verstehen, muß ich schon ein Vorverständnis des Zusammenhangs, in dem sich dieses Etwas befindet, mitbringen. Um von dem Zusammenhang ein Vorverständnis zu haben, muß ich einzelne seiner Teile (Momente) schon verstanden haben. |
Literatur: H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode,
1960, S.250ff., 275ff.
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Die zwei hermeneutischen Zirkel |
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Verstehen ist nach Dilthey ein gewöhnliches Gewahrwerden des sozialen Lebens aber auch, wenn verfeinert und kritisch kontrolliert, eine Untersuchungsmethode der Humanwissenschaften. Die wissenschaftlich kontrollierte Interpretation stellt eine höhere Form des Verstehens dar, die durch den hermeneutischen Zirkel (ein besonderes Vorgehen) gerechtfertigt ist. Es handelt sich dabei um eine wiederkehrende, kreisförmig verlaufende Bewegung, eben eine Zirkelbewegung, bei der die Einzelelemente nur aus dem Gesamtzusammenhang verständlich sind und sich das Ganze wiederum nur aus den Teilen ergibt. Andererseits kann man einen Text nur dann verstehen, wenn bereits ein gewisses Vorverständnis vorhanden ist. Man kann nicht vollkommen voraussetzungslos an einen Text herangehen, sondern muß das eigene Vorverständnis in seiner Geschichtlichkeit erkennen. Mit dem Verstehen des Textes erfährt das zugehörige Vorverständnis eine Korrektur und Erweiterung, so daß wiederum ein besseres Textverständnis entsteht usw.: "Nur wo der Interpret sich selbst in der Wirklichkeit versteht, die erkannt werden soll, kam, es zu dem Austausch kommen, in dem das Vor-Verständnis in wiederholtem Wechsel von dem Textsinn überwunden wird und die Wahrheit des Textes sich durchsetzt" (Heidegger 1963). |
Außer dem hermeneutische Zirkel I, der sich auf das Verhältnis von Vorverständnis und Textverständnis bezog, ist beim Verstehen von Texten ein weiterer hermeneutischer Zirkel anzuwenden, der innerhalb des beschriebenen Interpretationsvorgangs liegt (quasi auch parallel zu diesem ist) und ihn ergänzt Es handelt sich bei diesem Zirkel um die Erkenntniserweiterung im Verstehen durch die Relation zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen oder zwischen den Teilen und dem Ganzen (hermeneutischer Zirkel II). Korrekterweise sollte man beim hermeneutischen Verstehen eher von einer spiralförmigen als von einer zirkelartigen Bewegung sprechen, denn die Momente, zwischen denen das Verstehen hin- und herläuft, erfahren eine ständige Korrektur und Erweiterung. Das erste Verständnis eines Textes wird durch nochmaliges Lesen erweitert; der Leser ist nun in der Lage, sein anfängliches Verständnis unter Berücksichtigung des erweiterten Verständnisses zu beurteilen Die Oberwindung der hermeneutischen Differenz geschieht somit in der Bewegung der hermeneutischen Spirale Eine spiralförmige Bewegung charakterisiert aber nicht nur das Verhältnis zwischen Vorverständnis und Textverständnis, sondern auch das zwischen Textteil und Textganzem. |
Beispiel
Ein naturwissenschaftlicher Laie kann mit einem Buch über
Atomphysik nicht viel anfangen, ein Fremdsprachenunkundiger nichts mit
einem fremdsprachigen Text usw. Um zu verstehen, bedarf es der Aneignung
bestimmter Grundbegriffe bzw. Vokabeln, die - zusammen mit bestimmten
invarianten Regeln (z. B. Logik oder Grammatik) - dazu beitragen. weitere
Zusammenhänge zu erschließen.
Das ursprüngliche Vorverständnis, auch wenn es noch so rudimentär ist, muß zur Auslegung des Textes herangezogen werden denn es ist notwendige Voraussetzung für das Verstehen. Durch das Verstehen des Textes eignet man sich ein Wissen über das behandelte Gebiet an, mit dem das ursprüngliche Vorverständnis erweitert und korrigiert wird. Mit diesem somit erweiterten Vorverständnis läßt sich der Text wiederum besser verstehen und das ursprüngliche Textverständnis wird erweitert. Dieser Prozeß läuft entsprechend weiter, so daß der Text schließlich so verstanden wird, wie dies von seinem Produzenten beabsichtigt wurde. Die Differenz zwischen dem ursprünglichen und dem erweiterten Textverständnis bzw. dem Verständnis des Autors wird durch die abgebildete zirkelförmige Bewegung überwunden. Dennoch ist eine absolute Kongruenz zwischen dem Verstehenden und dem Autor des Textes kaum herzustellen. Deshalb muß die hermeneutische Differenz als Strukturelement des hermeneutischen Verstehens betrachtet werden. |
Beispiel
"ltem so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib
mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leinen verwürckt, vnd man
soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt
richten" (aus Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532; '
116) Einzelne Wörter, wie "vihe", "verwürckt" oder "fewer" sind für sich
allein heute unverständlich. Aber im Zusammenhang des Textes wird ihre
Bedeutung schnell erkannt und verstanden, so wird dann der gesamte Text
verstanden.
Einzelne, wichtige Begriffe lassen sich häufig erst aus dem Zusammenhang, aus dem Textganzen erschließen, während das vollständige Verstehen des Gesamttextes das Verstehen dieser Begriffe zur Voraussetzung hat Die hermeneutische Spirale besteht also auch darin, daß der Teil vom Ganzen her verstanden, korrigiert oder erweitert wird und sich umgekehrt das Ganze von den Teilen her bestimmt. |
Beispiel
Menschen die wiederholt die Erfahrung machen in
bestimmten sozialen Positionen herablassend behandelt zu werden, können
dazu angeregt wereden über Bestimmungsgrunde und Erscheinungsformen von
sozialer Ungleichheit nachzudenken. Wenn so entstandene Theorien
aufgegriffen und gesellschaftlich wirksam werden, z.B. wenn eine
revolutionäre Bewegung entsteht, werden die Inhaber von Machtpositionen
darauf reagieren, etwa durch verstärkte Repression oder subtilere
Gestaltung der Diskriminierung. Letztere bleibt vielfach unbemerkt, doch
wird sie möglicherweise langfristig durchschaut. Dann würde eine neue
Theorie über verborgene bzw. informelle Diskriminierung entstehen, die
eines Tages ebenfalls gesellschaftlich wirksam werden könnte.
Bei der hermeneutischen Spirale handelt es sich nicht um einen additiven Prozeß, also werden nicht die Wortbedeutungen nacheinander geklärt, danach der Textzusammenhang und schließlich der historische Kontext hinzugenommen. Es ist eher ein wechselseitiges Verstehen, ein Hin- und Herspiel von Grammatik und Satz, Wort und Satz, ... Das heißt das unverständliches zunächst zurückgestellt werden kann bis man sich nach dem Fortschreiten des Verstehensprozesses wieder daran macht das unverständliche zu verstehen. Das bedeutet also, daß sich bei diesem Zirkel das Verstehen von Teilen aus dem Ganzen ergibt und das verstehen des ganzen aus den Teilen. Auf Sprache bezogen heißt das: Viele Wörter sind äquivok (sie haben mehrere Bedeutungen). Wie zum Beispiel der Begriff "Rolle". Man kann aus dem Zusammenhang erkennen ob es sich um eine Tapetenrolle, eine Turnrolle, eine Schauspielrolle oder den soziologischen Rollenbegriff handelt. Viele Wörter erhalten ihre Bedeutung erst durch den Bezug auf andere Wörter (Indexikalität). "Wörter können sowohl als Signifikant (Bedeutungsträger) als auck als Signifikat (Sinn) stehen" (Merten 1983, S.64). Z.B.: Auto bedeutet als Signifikant ein Beförderungsmittel, aber als Signifikat könnte es ein Statussymbol bedeuten. Wenn man sich die Sprache ansieht fällt es schnell auf, daß für einen Signifikanten (ein Wort) mehr als einen Signifikaten (eine Bedeutung) und dafür wiederum mehr als einen Signifikanten (Synonyme) geben kann. Der Sinn einer Gesammtaussage kann erst dann erdannt werden, wenn die einzelnen Teile einer Aussage bekannt sind und verstanden werden. Dies schließt nicht aus daß der Sinn der unbekannten Wörter durch den Zusammenhang erkannt werden kann. |
Beispiel
Ein französischer Pionieroffizier der Expeditionsarmee
Napoleons fand 1799 in Ägypten in der Nähe von Rosette (70 km östlich von
Alexandria) einen Stein mit Inschriften in Griechisch, Demotisch und den
bis dahin nicht identifizierbaren Hieroglyphen Mit Hilfe der Überlegung,
daß es sich beim griechischen Text um eine Übersetzung der Hieroglyphen
handeln könnte und mit Hilfe der bekannten Eigennamen von Königen gelang
eine schrittweise Entzifferung der Hieroglyphenschrift, die Erstellung
einer "Grammatik" und eines Wörterbuches.
Anhand des hermeneutischen Zirkels läßt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis darstellen: Überlegungen über gesellschaftliche Zusammenhänge (=Theorie) gehen von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit und deren Wahrnehmung (=Praxis) aus und versuchen, diese zu verstehen. Dabei ergeben sich allgemeine Sätze und Ordnungsschemata, die wiederum zu einem besseren Verständnis der Praxis beitragen können.
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Quelle:
http://www.wu-wien.ac.at/
usr/h96b/h9651177/Arbeit3.html (01-05-11) |