Deutschsprachige Literatur in Mähren aus der Vogelperspektive. Die deutschsprachige Literatur aus Mähren steht im Schatten der Prager deutschen Literatur. Diesem Zustand entgegensteuern soll die Gründung der Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur im Lehrstuhl für Germanistik der Palacký-Universität in Olmütz, deren Datenbank http://www.germanistika.cz/as/dat.htm einen Download z. Z. ermöglicht und deren Leistung und zahlreiche Veröffentlichungen (http://www.germanistika.cz/astelle/issues.htm), vor allem ihr Lexikon deutschmährischer Autoren. Beiträge zur mährischen deutschsprachigen Literatur, Band 5. Universitätsverlag Univerzita Palackého, Olomouc, 2002. eine Pionierarbeit gelistet haben. Der berühmteste Autor, dessen Werk mit Brünn verbunden ist, ist ohne Zweifel Robert Musil. Er verbrachte in der Stadt seine Kinderjahre, die prägenden Jahre als Hochschulstudent und als einjährig Freiwilliger, als er begann Tagebücher zu schreiben und sich auch seine Schriftstellerkarriere vorzubereiten, im Jahre 1924, nach dem Tod seiner Eltern, führte er sogar mit den Hausbesitzern einen Rechtsstreit um die Wohnung und überlegte, ob er nicht Wien verlassen und sich in Brünn niederlassen sollte. Am wichtigsten sind aber seine mährischen Motive in den Verwirrungen des Zöglings Törless, in Tonka und einige Kapitel aus Der Mann ohne Eigenschaften. Brünn ist für ihn vor allem: eine Industrie zugewanderter Unternehmer, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. MoE I, 672 Brünner literarisches Leben im Jahre 1900 Im Jahre 1892, ein Jahr nachdem die Familie Musil nach Brünn gekommen ist, gaben zwei Brünner Realschullehrer Paul Kirsch und Ottokar Hanns Stoklaska den Band Dt. Dichterbuch aus Mähren im Verlag Rudolf M. Rohrer heraus. Dieser Band enthält ausschließåich Lyrik und wurde wohl vom Dt. Dichterbuch aus Österreich aus dem Jahre 1883 angeregt -- wie ähnliche Bände von Tiroler, später steiermärkischen Autoren. Das Ansehen des 1890 eher bescheidenen mährischen bzw. Brünner Literaturlebens sollte durch Beteiligung von Wiener Autoren, die in Mähren gebürtig waren oder - wie Saar -- sich häufig in Mähren aufhielten, etwas erhöht werden. Die Mitarbeitertafel führt Ebner-Eschenbach, Heinrich Glücksmann oder Ferdinad Saar an. Die Familie Dubsky, der Ebner-Eschenbach entstammte, hatte zwar einst auf dem Brünner Großen Platz ein Palais, dessen Prachtzimmer aus dem 18. Jh. heute zu den Schätzen des Wiener Museums für Angewandte Kunst zählt; Brünn spielte aber in der Biographie der Autorin keine Rolle. Trotzdem war die Feier ihres 70. Geburtstages im Deutschakademischen Leseverein im Oktober 1900 für Brno ein Anlass, um sich zu der berühmten Landsmännin zu bekennen. Einen guten Geschmack bewiesen die Organisatoren dadurch, dass Mitglieder des Stadttheaters ihre Novellen Er lasst die Hand küssen und Der Muff lasen. Der 1900 gegründete Verein Frauenbund gedachte auf seiner Vereinssammlung[1] ebenfalls der Dichterin. Die Vorsitzende wies allerdings mit Bedauern darauf hin, dass die hochbegabte Frau ihre so beredte Feder bis nun noch nicht in den Dienst der fortschrittlichen Frauenbewegung gestellt hat. Auch an den Lebensläufen der folgenden Autoren zeigt sich, dass Brünn eben kein literarisches Zentrum war und alle nach Wien zogen, weil sich dort ihnen größere Chance öffneten. Glücksmann, der spätere Dramaturg des Wiener Deutschen Volkstheaters in Wien, absolvierte nur die Mittelschule in Brünn. Saar war häufig bei der Familie Saar in Raitz und Blansko, wiederholt auch bei Gomperz in Habrovan, wo Caroline von Gomperz-Bettelheim Hausherrin war. 1900 schloss er z. B. auf dem Schloss Blansko seine Novelle Dissonanzen ab. Brünn war nur Umsteigestation, kein Ziel seiner Reisen. Die Industriestadt bildet eine Kulisse für die späte Novelle Die Familie Worel (1904). Von den Brünner Autoren der Anthologie 1892 blieben in Brünn im Jahre 1900 nur wenige. Ella Hruschka[2], Brünner Volksschullehrerin, übersiedelte nach der Pensionierung 1894 nach Wien. Ludwig Goldhann, Vorstand des Journalisten- und Schriftstellervereins in Brünn, starb 1893. Lorm veröffentliche seit seiner Niederlassung in Brünn 1891 nur noch ein paar Gedichte[3], populärphilosophische Betrachtungen und den schwachen Roman Eine mährische Gräfin, mit dem wir uns noch befassen werden. Von den noch 1900 in Brünn lebenden Autoren waren Emil Soffé[4], Professor an der Staatsoberrealschule, Zensor der Statthalterei und seit 1901 Theaterreferent der Morgenpost, und sein Kollege Ottokar Hans Stoklaska[5] von der Landesoberrealschule in den Zeitungen und Zeitschriften ihrer Vaterstadt präsent. Stoklaska war 1900 Präsident des Deutschen Journalisten- und Schriftstellervereins. Den Geschmack der Brünner Leser unter den fast 1200 Mitgliedern des Vereins Deutsches Haus bezeugt die Entscheidung, im Verlage Dt. Haus im Jahre 1899 deutsches Königsdrama König Vannius von Guido List[6], erscheinen und im Jahre 1900 den Mitgliedern als Weihnachtsgabe zukommen zu lassen. Standbilder der deutschen Könige Vannius und Gabin von Wollek schmücken auch die Eingangshalle des Deutschen Hauses. Wenn man nach Autoren jüdischer Herkunft fragt, ist Mähren um so mehr nur Kinderland oder Zwischenstation. Das blasse Bild der mährichen deutschsprachigen Literatur ist zum Teil auch auf die Prager bzw. böhmische Perspektive der Historiker der deutschsprachigen Literatur in Böhmen Mähren und Österreichisch-Schlesien zurückzuführen, zum Teil muß man allerdings zugeben, daß im Vergleich zu Prag die mährische Literaturszene weniger ausgeprägt war und Brünn für Olmütz oder Iglau keine große Anziehungkraft als Landeshauptstadt ausübte, weil das Literatur- und Theaterleben viel deutlicher als in Böhmen auf Wien orientiert war. Erfolgreiche Autor strebten nach Wien. Erst die Entstehung der Republik, die neue Lage der deutschsprachigen Kultur als einer vom tschechoslowakischen Staat abgewerteten Minderheitenkultur und die früher nicht gekannte Behinderung durch die Grenze zwischen Mähren und Österreich führten zu einer neuen Rolle Brünns für die Deutschen in Mähren. Im März 1919 entstand Die deutsche Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst, die jüdische und nicht jüdische, links und rechts orientierte Mäzene, Künstler, Schriftsteller und Publizisten, Musiker und Wissenschaftler aus ganz Mähren vereinigte, aber die Abwanderung der Schlüsselpersönlichkeiten nach Deutschland und Österreich nicht verhindern konnte. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 kamen zwar Autoren wie Felix Langer oder Max Zweig nach Mähren zurück, mußten aber bald in ein neues Exil gehen. Andere gebürtige Mährer -- wie Adolf Donath oder Hugo Sonnenschein -- zwangen die Umstände zwar zur Rückkehr in die Tschechoslowakei, sie blieben aber in Prag. Die Ausgliederung der Autoren jüdischer Abstammung aus der deutschsprachigen Literatur aus Mähren, wie es z. B. die Ausstellung des Münchner Adalbert-Stifter-Vereins vornimmt, ist nur insoweit gerechtfertigt, weil ihre Schriftstellerkarriere mit dem Antisemitismus gewisser Zeitgenossen konfrontiert wurde und weil ihre spätere Rezeption durch das Totschweigen in der NS-Zeit noch zusätzlich behindert wurde. Sonst waren sie meistens assimiliert oder interessierten sich für jüdische Themen erst dann, nachdem ihnen ihr literarischer Durchbruch mit anderen Themen gelungen war, wie z. B. Oskar Jellinek. Nur Eduard Kulke (1831-1897) und Max Grünfeld (1856 -1933), zwei Autoren der Ghettogeschichten, haben sich bewußt von ihren religiös indifferenten oder konvertierten Zeitgenossen abgehoben und die Welt der jüdischen mährischen Gemeinden festgehalten, das durch den gesellschaftlichen Wandel nach Erlassung liberaler Gesetze von 1848 bzw. 1861 allmählich verschwand. Jüdische Autoren Kafka, Brod oder Oskar Wiener[7] haben seinerzeit das Bild der Prager deutschsprachigen Literatur so wesentlich mitgeprägt, daß sogar ihre nichtjüdischen Zeitgenossen Meyrink und Leppin verfolgt wurden, weil sie von den Antisemiten irrtümlich für Juden gehalten wurden. Deutschsprachige Mährer jüdischer Abstammung sind nicht so eng mit ihrem Herkunftsland verbunden, wenigstens nicht im Bewußtsein breiter Leserschichten. Eine interessante Symbiose deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller mit ihrem tschechischmährischen Hinterland, dem sie ihre Stoffe verdanken, findet man nur bei Jakob Julius David, Philipp Langmann oder Oskar Jellinek, und zwar nur in einem Teil ihres Werkes. Andere wollten nicht als Mährer gelten und vermieden darum diese Themen, um nicht als "Provinzler" wahrgenommen werden. Die meisten verbrachten sowieso nur kürzere Lebensabschnitte in Mähren, wurden erst in Wien, Berlin oder in Prag berühmt und gingen völlig in dem neuen Milieu auf. Ihr ganzes Leben lang verbrachten in Mähren vor allem Autoren regionaler Bedeutung. Die Nähe Wiens, das wenig attraktive Angebot an Hochschulen in Mähren[8] und die Kurzlebigkeit interessanter Zeitschriftenprojekte in Brünn[9] sind Ursachen dafür, daß das literarische Leben in Mähren nur vorübergehend intensiver wird, vor allem in der Zeit zwischen 1889 und 1918. Wichtige gebürtige Mährer jüdischer Abstammung verlassen spätestens nach dem Abitur das Land. Das gilt für Sonnenfels, Lorm, David sowie für die Vetreter der starken Generation, deren Geburtsjahr zwischen 1880 und 1895 liegt und deren Werk erst nach 1918 kulminiert: Hans Müller und sein Bruder Ernst Lothar (*1890), Oskar Jellinek (*1886), Ernst Sommer (*1888), Max Zweig(* 1892) und Felix Langer (*1889) studieren Jura in Wien, Ernst Weiß (*1882) Medizin daselbst, Hermann Ungar (*1893) Jura in München, Ludwig Winder (1889) beginnt nach der Handelsakademie seine journalistische Laufbahn ebenfalls in Wien, Hugo Sonnenschein (*1889) beginnt nach dem Abitur in Brünn Literaturwissenschaft in Wien zu studieren. Sie sind alle nur dann der mährischen Literatur zuzuzählen, wenn sie im mährischen Literaturleben präsent bleiben und hier als bedeutende Landsleute wahrgenommen werden bzw. wenn ihr Werk thematisch mit Mähren verbunden blieb. Eine mechanische Zuordnung zur mährischen Literatur nach Geburtsort, wie sie im Fall von Leo Greiner[10] oder Flesch-Brunningen[11] z. B. bei Mühlberger vorliegt, scheint mir problematisch zu sein, weil man so in die Nähe der methodologisch abzulehnenden Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler gerät. Viel logischer erscheint mir deshalb vor allem Weiß, z. T. auch Ungar, und Winder im Kontext der Prager deutschen Literatur und David, Müller, Lothar und Jellinek im Kontext der Wiener Literatur darzustellen, obwohl ihre mährische Erfahrung sicher Spuren in ihrem Werk hinterlassen hat. Eine Ausnahme ist hier Langmann, dessen neuromantisches Spätwerk nach seiner Niederlassung in Wien 1901 fast ohne Resonanz blieb, während seine überwiegend naturalistischen Werke mit mährischen Stoffen Erfolg hatten. Und wenn das Symposion nicht auf die Epoche der Monarchie beschränkt wäre, müßte man wohl auch den 1882 in Wien geborenen Karl Kreisler nennen, dessen Leben und Werk zwischen 1909 bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt mit Brünn verbunden bleibt. Die Zahl derjenigen jüdischen Autoren, die z. B. der Landeshaupstadt Brünn ihr Leben lang treu geblieben sind, ist klein und sie sind heute beinahe vergessen. Im folgenden wird näher nur auf zwei von ihnen eingegangen, auf Alois Isidor Jeitteles und Max Grünfeld. Auch wenn die große Zeitspanne von fünf bis sechs Generationen und das äußere Kriterion der Herkunft, nach dem diese Auswahl getroffen wurde, zur Folge hat, daß die Zusammenhänge zwischen den sieben Autoren bloß marginal bleiben und keinen komparatistischen Ansatz ermöglichen, sollte man doch einen gemeinsamen Rahmen abstecken. Es wäre wohl eine Konstruktion, würde man zum Beispiel Sympathien für den Josephinismus als ein gemeinsames Merkmal bei allen sieben Autoren anzunehmen. Es bietet sich eher ein literatursoziologischer Ansatz, der die Entwicklung der Rahmenbedingungen des literarischen Lebens untersucht und die Rolle der sieben gewählten Autoren darin feststellt. Joseph Freiherr von Sonnenfels (1733 -- 1817) Trotz der erwähnten Vorbehalte gegen Geburtsort als Zuordnungskriterion soll hier ein in dieser Stadt geborener Justiz- u. Verwaltungsreformer, Publizist und Theatertheoretiker der österreichischen Aufklärung am Anfang unserer Vorlesungen stehen, nämlich Joseph Freiherr von Sonnenfels (1733 -- 1817). Seine Biographie zeigt den schwierigen Aufstieg eines getauften Juden aus dem Nikolsburger Ghetto bis in die Kreise des Wiener Kaiserhofs. Der erste Band von Sonnenfels´ Gesammelten Schriften (Wien 1783) enthält auch die autobiographische Schrift An mein Herz, in der allerdings seine jüdische Herkunft und die Konversion zum Katholizismus unerwähnt bleiben und eher seiner Gönner mit Dankbarkeit gedacht wird. Über die ersten 12 Jahre seines Lebens steht hier wenig, vielleicht deshalb, weil die Nikolsburger Jahre der Familie für die Konversion des Vaters ausschlaggebend waren, aber kaum aufklärerische Impulse fü[.1] r den Sohn brachten.: Meine früheste Kindheit war von dem fürstlichen Hause Dietrichstein in Schutz genommen. Ich war einer von den vielen Zöglingen, die durch liebreiche Vatersorge dieses erhabenen Hauses dem Staate heranwachsen[12] Noch einmal verdankte er dem Grafen Johann Karl von Dietrichstein eine wichtige Fürsprache, nämlich 1754, als er um seine Entlassung aus dem Deutschmeisterregiment in Klagenfurt ansuchte, nachdem er fünf Jahren als Soldat gedient hatte. Diese fünf Jahre sollten ihm helfen, ohne Erniedrigung die Herstellung der verfallenen Umstände meines Vaters abzuwarten. Eine ergiebigere, nicht zuletzt auch unterhaltsamere biographische Quelle als An mein Herz scheint ein Brief an einen ungenannten Freund zu sein, den der Olmützer Biograph von Sonnenfels, Willibald Müller, zitiert. Sonnenfels beanstandet darin die mangelnde Bildung seines piaristischen "Prefecten" in römischer Literatur; er behauptet bei den Piaristen nur das gelernt zu haben, was [ihn sein] glückliches Gedächtnis im Vorbeigehen behalten ließ. [...]Vielleicht war das ein Glück; die Leinwand, worauf der Maler arbeitet, ist ohne alle Farbe besser, als besudelt.[13] Sonnenfels beschreibt hier u. a. die Periode des Antichambrierens, nachdem ihm die durch Popowitsch besetzte Lehrkanzel der deutschen Sprache an der Universität Wien nicht gegeben wurde. Er kann sich mit der Wiener Protektion nicht anfreuden und faßt die Erfahrung, als seine Zeugnisse von der Universität, seine Aufsätze in französischer und englischer Sprache und seine gedruckten Stücke von den Mächtigen gar nicht angesehen wurden, im folgenden Dialog zusammen: Was will der Herr? Herr, ich suche eine Anstellung und wenn mich meine Verwendung unterscheiden wird, hoffe ich eine Beförderung. Von wem ist der Herr hergeschickt? Von Niemandem. Ich wußte, daß ein Mann an ihrem Platze zugänglich sein muß, und ich war überzeugt, daß die Verwendung bei Ihnen Jedermann den Zutritt öffnet. [...] Wer verlangt denn nach allem dem [Vorgelegten] ! Ich frage, wird der Herr von Jemandem recommandiert?[...] ich dächte, der Herr ist wohl gar ein Lutheraner? Keineswegs. Wenigstens ist es des Herrn sein Deutsch! Und das Gedruckte da? Es sind Versuche von mir! So, ein Autor gar? Der Herr ist in meine Kanzlei zu gescheidt. [...] Um Vergebung, [...] das wußte ich nicht, daß Ihre Untergebene keine gescheidten Leute sein dürften, auch wohl nicht vernünftig? Die Ursache läßt sich errathen und so bescheide ich mich wohl, bin ich in Ihrer Kanzlei nicht tauglich.[14] In dieser schwierigen Zeit ist der ambitionierte junge Absolvent der Universität und Verfasser der Programmschrift der von ihm mitbegründetetn Deutschen Gesellschaft (1761) gezwungen, eine Stelle des Rechnungsführers der Arciéren-Leibgarde anzunehmen. In seiner Schrift An mein Herz lautet es so: Hier fand ich mich in einer Stellung, von der ich damals glaubte, daß sie die Aussicht zu einer Verbesserung auf immer mir verschrenken würde; die ich aber heute als den eigentlichen Anfang meines Wohlstandes betrachten muß. Ich kam in Verbindung mit Freiherrn von Petrasch. Der Theaterreformator Petrasch (1714-1772), dessen Societas incognitorum eruditorum in terris austriacis in Olmütz in den Jahren 1746 -- 1751 den ersten Versuch einer kosmopolitsch orientierten wissenschaftlichen Gesellschaft der Aufklärung in Österreich darstellt, war der erste Lieutenant der Garde und trotz des bestehenden Rangunterschiedes zwischen einem Untergeordneten und einem Vorgesetzten nahm er Sonnenfels in seine Haus auf. Dank seiner allseitigen Förderung entstand hier Sonnenfels´ Rede auf Maria Theresien und eine Empfehlung Petraschs an den publizistisch engagierten Juristen, Staatsrath von Borie, verhalf Sonnenfels 1763 zu der Berufung auf die neu gegründete Lehrkanzel für Polizei- und Staatswissenschaften. Der neue Professor startete anonym sein erstes Zeitschriftenprojekt: Fragmente des Vertrauten, das an die Vorbilder der moralischen Wochenschriften anknüpft. Er versteckt allerdings sein Anliegen, aufklärerisches Gedankengut zu verbreiten, hinter den Vorwand, Einblicke in das Geschehen in vornehmen Häusern zu vermitteln, ohne dabei die richtigen Namen der behandelten Personen preiszugeben. Die schon etwas aus der Mode kommende Form der moralischen Wochenschrift präsentiert er nur als Zugeständnis an die Zensur. So erregt er Neugierde der Leserinnen. Die staatstreue Gesinnung und sein moralischer Eifer lassen ihn allerdings folgende Zeilen gegen die lockere Rokokogesellschaft schreiben, die heute als unzumutbare Verletzung der Privatsphäre gelten würden und nicht einmal als Rechtfertigung der sensationslüsternen Medien akzeptabel wären: Die Gebieterin wird eine entehrende Vertraulichkeit zurücknehmen, dessen sie eine unbesonnene Magd gewürdiget, und sie wird ihren Ruhm in Sicherheit setzen. der feile Unterhändler, der mit seine Geheimnissen einen schändlichen Handel treiben durfte, wird gescheuet werden. Die Siege rascher Eroberer weden erschweret seyn: vielleihct würden sie nicht ungerühmt gesiegt haben wollen! In zahlreichen Gesellschaften, in engeren Kreisen, auch nur vertrauter Freunde, wird Zurückhaltung und Eingezogenheit herrschen. Noch einsam, wird man unsichtbare Zeugen scheuen, und seine Handlungen danach richten.[15] Dem heutigen Leser graut vor einer Welt, in der man vor Angst vor einem "Vertrauten" noch einsam, unsichtbare Zeugen scheuen wird und seine Handlung danach richten. Unsere Erfahrung mit Diktaturen läßt uns diese Zeilen des Aufklärers nicht unbedenklich finden, also ahistorisch lesen. Sonnenfels kämpfte damals mit gedruckten Spiegelbildern der Gesellschaft gegen die übermächtigen Gegner der Aufklärung. Und dieser Kampf der Publizisten gegen undurchsichtige Seilschaften am Hof und in der Kirche war in der Josephinischen Zeit erfolgreich oder führte wenigstens zur Ablösung der alten Strukturen durch neue. Sympathisch wirkt andererseits an diesen Fragmenten, wie sie mit eingerückten Leserbriefen und fiktiven Träumen die Kenntnis der fortschrittlicheren deutschen Literatur (Gleim, Hagedorn, Wieland) auch in Österreich verbreiten, wie sie sich doch an der Messerschneide des Lasziven bewegen, das sie bekämpfen wollen. Die bedeutendste und mit Unterbrechungen auch die am längsten erscheinende Wochenschrift Sonnenfels´ war Der Mann ohne Vorurtheil (1765-67). Der Verfasser, ein anderer Rousseau[16], flüchtet vor dem Gewühle der Stadt auf seinen Landsitz und nimmt sich eines edlen Wilden Capa-kaum an, mit dem er dann (auf Dringen seiner Leser) die Wiener Gesellschaft besucht. Ganz überraschend wirkt die Kritik an der zunftmäßigen Organisation des Handwerks (II/1, 6. Stück) u. die schonungslose Schilderung des Elends der bäuerlichen Bevölkerung (II/1, 1. Stück). Das Thema der Benachteilligung der Juden bleibt jedoch ausgeklammert. Verstreut findet man hier auch Kritik an dem Stegreiftheater. Systematisch kämpfte Sonnenfels gegen die Figur des Hanswurst am Wiener Volkstheater in seinen Briefen über die Wienerische Schaubühne (Wien 1768. Neudruck Graz 1988. Herausgeberin Hilde Haider-Pregler). Polemisiert hat er allerdings auch gegen Lessing, dessen Hamburgischer Dramaturgie er die meisten Anregungen verdankt. Sonnenfels ist vor allem als ein Mann bekannt , der sich um die Abschaffung der Tortur in Österreich verdient machte. Er konnte es wagen mit dem Fürsten Kaunitz als Rückendeckung, seine Einwände gegen die Folter in seinen Universitätsvorlesungen auszusprechen. Das wichtigste Argument gegen die Wirksamkeit dieser unmenschlichen Verhöre entlehnt er Grotius : Der Unglückliche auf der Folterbank wird lügen, wenn er die Marter zu ertragen, und lügen, wenn er sie nicht zu ertragen fähig ist.[17] Sonnenfels hatte wesentlich zur Herausbildung liberaler Verhältnisse in der österreichischen Literatur beigetragen und damit Voraussetzungen für die Entfaltung des literarischen Lebens der nächsten Generationen mit anderen Aufklärern geschafft. Schon im Mann ohne Vorurtheil II/2, bekennt er sich allerdings als Befürworter der staatlichen Zensur, in der er ein wichtiges Instrument des Staates zur moralischen und sprachlichen Erziehung des Publikums sah. Darin war er den Ideen des aufgeklärten Absolutismus verpflichtet, der zwischen der Rechtssicherheit und religiösen Toleranz einerseits und der Bevormundung des Einzelnen durch den Staat andererseits keinen Widerspruch sah. Alois Isidor Jeittelles Schon nach den Josephinischen Judenpatenten (für Mähren 1782), die unter anderem das Studium den nicht getauften Juden ermöglichten, das grausame Familiantengesetz jedoch nicht außer Kraft setzten, kam Alois Isidor Jeittelles (1794 -- 1858) in Brünn zu Welt. Er studierte in Prag und in Wien Medizin und verkehrte in der Kaiserstadt mit Beethoven, Grillparzer und den Schauspielern des Burgtheaters Seine literarischen Neigungen teilte er mit seinem Vetter Andreas Ludwig Jeitteles (1799 -- 1878)[18], der nach seiner Konversion zum Katholizismus im Jahre 1828 sich in Wien habilitierte und zwischen 1834 -- 1869 Professor der Medizin an der Olmützer Universität war und unter dem Namen Justus Frey Gedichte schrieb. Mit einem anderen Cousin, Ignatz Jeitteles (1783 -- 1843)[19], gab Alois Jeitteles kurz das enzyklopädische Wochenblatt für Israeliten Siona (1819) heraus. Bleiben wir aber bei Alois Jeittles, der vor allem durch die Vertonung seiner Gedichte An die ferne Geliebte durch Beethoven bekannt wurde. Die Behauptung des Biographen Beethovens, Anton Schindler, Beethoven hätte die Kinder Israels in der Kunst gehaßt, ist also wenigstens in Bezug auf Alois und Ignaz Jeitteles nicht haltbar. Die Gedichte sind in dem Wiener Taschenbuch Aglaja erschienen [20], das 1819 bis 1832 Joseph Schreyvogel redigierte. Es ist kein dichterisches Meisterwerk, die Reimpaare Qual --Tal und Pein --sein wiederholen sich, aber die rhythmische Vielfalt und die Tonlage der Klage eines auf dem Hügel sitzenden und in das nebelige Tal blickenden Geliebten sprachen wohl Beethoven damals an. Er schreckte auch vor den abgedroschenenen Reimen Brust - Lust und von denjenigen Strophen nicht zurück, die gestehen, ohne "Kunstgepräng´ erklungen" zu sein. Trotzdem erreichten die Lieder von Jeitteles "die Huldin": wenn alle Kommunikationskanäle versagen, kann man immer noch sein Lied dem Westwind anvertrauen: Will denn nichts mehr zu dir dringen, Nichts der Liebe Bote sein? Singen will ich, Lieder singen, Die dir klagen meine Pein. Denn vor Liederklang entweichet Jeder Raum und jede Zeit, Und ein liebend Herz erreichet, Was ein liebend Herz geweiht! Die Reimkunst von Jeitteles war mehr für parodistische Zwecke als für Liebeslyrik geeignet. Leben und Dichtung wurden nach den Umwälzungen der Napoleonischen Kriege vom Fatalismus beherrscht, dessen typischer Ausdruck auf der Bühne die Modegattung "Schicksalsdrama" war. Auch der bedeutendste österreichische Dramatiker Grillparzer erreichte seinen größten Erfolg mit seinem ersten Bühnenstück Die Ahnfrau, nicht mit den späteren und reiferen Werken, die aber diese Modegattung mieden. Zacharias Werners Einakter Der 24. Februar oder Adolf Müllners Stücke Der 29. Februar und Die Schuld feierten noch größere Publikumserfolge und provozierten durch ihre Stereotypen direkt zur Parodie. Jeitteles schrieb sie gemeinsam mit Ignaz Franz Castelli (1781 -- 1862), dem Librettisten des höchst erfolgreichen sentimentalen Singspiels Die Schweizerfamilie (Wien 1810. Musik: Joseph Weigl). Sie nannten sie Schicksalstrumpf[21] (1818) und veröffentlichten sie in Leipzig unter dem Pseudonym von den Brüdern Fatalis. Die Handlung übertrifft die Schicksalstragödie an Unwahrscheinlichkeiten und wird von Moralino und Schicksal kommentiert. So fragt Kunigunde, warum ihr das alles geschehen sei. Und die Antwort Moralinos lautet: Weil das Schicksal war so dumm. Wär kein Schicksal dumm auf Erden, Könnten Trauerspiele werden??? Kunigunde freut sich darüber, ein Stoff zum Trauerspiel geworden zu sein. Weil sich ihr Mann zu schwach fühlt, sie wegen der Untreue umzubringen, bittet er darum das Schicksal, das zum Dolch wird. Ich glaube, Jeitteles´ Theaterfreunde haben sich bei der Parodie köstlich amüsiert. Seit 1821 lebte Jeittles als Arzt in Brünn, und versuchte hier, seine Übersetzungen Calderons zu veröffentlichen (es erschien nur der erste Band Das Fegefeuer des heiligen Patricius, 1824). Seine Zusammenarbeit mit dem Brünner Theater blieb auf ein einziges Stück beschränkt: nach einer spanischen Vorlage schrieb Jeitteles die Komödie Die Macht des Blutes, die am 28. 8. 1837 aufgeführt wurde. Von 1848 bis zu seinem Tode leitete er die Redaktion der Brünner Zeitung. ------------------------------- [1] am 22. 10. 1900, vgl. Tagesbote, Nr. 498 (26. 10. 1900), S. 3. [2] Der Wirkungskreis des Weibes , 1892, Essays über die Frauenfrage. [3] Z. B. in der Osterbeilage des Tagesboten (Nr. 177, 15. 04. 1900) erscheint sein Gedicht Der Blick eines Mädchens [4] 1900 erschienen gerade seine Essays Aus meiner Studiermappe. [5] Z. B. in der Osterbeilage des Tagesboten (Nr. 177, 15. 04. 1900) erscheint seine Ostergeschichte Auferstehung. [6] List: * 5. 10. 1848 Wien, | 21. 5. 1919 Berlin. Er stilisierte sich zum visionären Seher u. adeligen Eingeweihten urgerman. Arkanwissens. Das Erbe des <> sollte die 1911 gegründete Geheimloge <> verwalten. Von ihr führen direkte Verbindungslinien zur Hitlerbewegung. [7] Wiener (1873 --1944), älter und traditioneller orientiert als die Generation der Herder-Blätter (vier Hefte 1911/12), war Autor des Prager Romans Im Prager Dunstkreis, 1919, und Herausgeber der Anthologie Deutsche Dichter aus Prag, 1919. [8] Die Ständeakademie wird 1847 von Olmütz nach Brünn verlegt und 1849 in eine technischen Bildungsanstalt umgewandelt, von der Olmützer Franzensuniversität (1827 -- 1855) bleibt nach 1855 nur noch die Theologische Fakultät, die Gründung der Brünner technischen Hochschule verzögert sich: erst im Jahre 1873 ensteht die deutsch dominierte Hochschule, neben der seit 1899 die tschechische technische Hochschule exisitert. [9] Vor allem Moderne Dichtung (1890-1891) und Der Mensch (1918). [10] Greiner ( [11] Flesch entstammte einer jüdischen, seit zwei Generationen getauften jüdischen Kaufmannsfamilie, die in Brünn reich geworden war und in den erblichen Adelsstand als "Edle von Brunningen" erhoben wurde. Seine Mutter übersiedelte mit ihrem dreijähjrigen Sohn nach Abbazia, heute Opatija, um ihrem Geliebten, einem Linienschiffskapitän der K. u. k. Kriegsmarine, nahe zu sein, ließ sich scheiden und lebte später in Wien, wo Flesch-Brunningen schon die Volkschule besuchte. Brünn wird in seinen Lebenserinnerungen Die verführte Zeit (1988) gerade nur im Zusammenhang mit der Herkunft seiner Eltern erwähnt. Die Mutter, geborene Brosch, war Nichte ihres Ehemannes. [12] Sonnenfels gesammelte Schriften. Wien, mit von Baumeisterischen Schriften, 1783. S. 5 [13] Willibald Müller: Josef von Sonnenfels. Biographische Studie aus dem Zeitalter der Aufklärung in Österreich. Wien: Wilhelm Braumüller: 1882. s. 12 und 13. [14] Ebenda, S. 18. [15] Sonnenfels gesammelte Schriften. Wien, mit von Baumeisterischen Schriften, 1783. S. 96 ff. -- bei der Paginierung der Fragmente S. 16. [16] Ebenda. S. 105. [17] Ebenda. An mein Herz, Blatt 5. [18] Lucy Topoµská: Olomoucký nìmecký básník Justus Frey. In: Gaudeamus, Olomouc VSMO 1973, S. 39ff. [19] Ignatz Jeittles Hauptwerk ist Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Phi- losophie des Schönen und der schönen Künste(2 Bde., Wien 1835/36. Neudr. Hildesh./New York 1978), das im Gegensatz zu seinen journalistischen Beiträgen im Vormärz Zählen seine Journalbeiträgen seine konservative, der Goethe-Zeit nicht mehr gerechten Ansichten verrät. [20] 1820 erschien in diesem Almanach Grillparzer Gedicht Campo vaccino, das der <> die <> gegenüberstellte und Grillparzer bei Hof verdächtig machte. [21] Ein Wortspiel mit dem weggelassenen Fugen-S: ein Trumpf des Schicksals, aber auch der schicksalhafte Strumpf, um den sich die Handlung dreht. ------------------------------- [.1]