auf gründlich diskutiert zu haben: Wenn nun beide Seiten meinen, im Recht zu sein? Der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Gro-tius (1583 bis 1645), Erbe dieser Tradition, zieht daraus die Konsequenz, den Krieg durch Regeln der Kriegführung zu begrenzen. Und daraus entwickelte sich das Völkerrecht, zunächst als Kriegsrecht zwischen den christlichen Staaten. Da aber naturrcchtlich argumentiert wird, also nicht nur für alle Christen, sondern für alle Menschen - Grotius sagt: „als wenn es Gott nicht geben würde" -, konnten diese Argumente auch NichtChristen angewendet werden. Gegen die schamlose Unterdrückung der Indios in Amerika argumentiert schon Las Casas vor Karl V.: Das sind doch auch Menschen. Die können doch auch Gründe für einen gerechten Krieg haben, wenn sie angegriffen werden. Ein Völkerrecht, das internationalen Rechtsfrieden schafft, diese Aufgabe wurde damals gestellt. Noch immer arbeiten wir daran. Dieses verkannte Mittelalter leistete noch einen anderen Beitrag zur Zukunft einer europäischen Völkergemeinschaft: Auch die Freiheit des Bürgers hat hier ihre Anfänge, nicht erst in den Zeiten der bürgerlichen Aufklärung und Revolution. Die mittelalterliche Gesellschaft war eine Ständegesellschaft, in der die Geburt den gesellschaftlichen Ort definierte. Aber es gab zwei Ausnahmen: das Kloster und die Stadt, die zweite originale Schöpfung des Mittelalters. „Stadtluft macht frei": Kreuzzügler in Bethlehem*: Ungeahnte religiöse Erregung Ein entlaufener Höriger, der ein Jahr unbehelligt in einer Stadt weilte, war der Hörigkeit ledig. „Freiheit" war kein Losungswort des : Mittelalters, aber der Plural: „Freiheiten", í lateinisch Privilegien. Grundherren und ' Bischöfe gründeten Städte, um Händler und Handwerker zu gewinnen, und privi-I legierten sie. Auch die Errichtung von jü-' dischen Ghettos mit eigenem Recht war ! ursprünglich ein Privileg. In Verfolgungs-, zeiten allerdings wurden sie zur Falle. Noch größer war die Freiheit durch die I Reichsunmittelbarkeit der Reichsstädte. I Indem sie nur dem Kaiser unterstanden, 1 waren sie frei gegenüber den Lokalherrschaften. Im mittelalterlichen Stadtbürger ! ist der Staatsbürger vorbereitet. Und mit den Städten holt das Mittelalter technolo-! gisch und künstlerisch mächtig auf. Die i gotischen Kirchen sind mit ihren Gewöl- * Stahlstich nach einem Gemälde von Pierre Révoil (um 1830). ben auch statisch Wunderwerke ohne Vorbild. Die Bauhütten arbeiten international. Und diese Kirchen sind Gesamtkunstwerke. Im Islam beschränkt das Bilderverbot die Kunst. Sie weicht ins Ornament aus. In Byzanz ist die religiöse Plastik untersagt und die Ikonografie der religiösen Bilder streng reglementiert. In Europa ist die Kunst von diesen Beschränkungen frei. Freiheit war nicht durch Gesetze zur Gewaltenteilung garantiert, wie sie später Montesquieu forderte. Doch faktisch gab es die Trennung der Gewalten schon, in der ! Zweiteilung: die Hierarchie der Lehns-1 Ordnung und daneben die Städte und : Städtebünde, die Hierarchie der Kirche und daneben die der bischöflichen Gewalt I entzogenen Orden. Und dann der Dualismus ganz oben: ; Kaiser und Papst. Die Bibel erzählt die Geschichte vom Zinsgroschen. Jesus wird I gefragt, ob man dem römischen Kai- ! ser Steuern zahlen soll. Das ist eine Fal- : le. Sagt er Ja, ist er ein schlechter Jude, j sagt er Nein, ist er ein Aufrührer gegen die ! Besatzungsmacht. Seine Antwort: Zeigt mir mal eine Münze. Wessen Abbild ist drauf? Das des Kaisers. Also: „Gebt dem 1 Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was i Gottes ist." ] Dieser kleine Satz hat ungeheure i Wirkung entfaltet. Er ist antiabsolutis-i tisch: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Er ist aber auch ei-; ne Absage an die Theokratie. Und das . unterscheidet die christliche Welt von DANTE ALIGHIERI Dichter und Politiker 1265 bis 1321 Er wurde geächtet verfolgt und zweimal zum Tode verurteilt; da er jahrelang untergetaucht war, verbrannten sie wenigstens seine Texte: Dante Alighieri hatte einen unnachsichtigen Gegner - die Kirche. Der Literat aus der Florentiner Künstlerszene, Freund von Musikern und Malern wie Casel-la und Giotto, eckte mit der Obrigkeit erstmals als junger Kommunalpolitiker an: In seinen Schriften stritt er für eine scharfe Trennung von Kirche und Staat. Als Ratsvertreter in Florenz kämpfte er in der Vatikan-kritischen Fraktion derGuelfen gegen den Einfluss Roms auf die Stadt -sogar die obligatorische Waffenhilfe wollten sie dem Papst verweigern. Die Opposition Dante Alighieri wurde 1302 aus Florenz verbannt, die Leitung in Abwesenheit verurteilt. Mit seiner Beschwörung der antiken Römerkultur focht Dante gegen klerikale Übermacht und politische Auflösung. Damit wurde er auch über sein Land hinaus zur bedeutenden europäischen Figur. Sein thematisch breites Werk - philosophische Schriften, Liebesgedichte, Sprachtheorie - verfasste er an verschiedenen Exilorten. In den letzten sieben Lebensjahren, die der Flüchtling in Lucca und Ravenna verbrachte, schrieb er das wichtigste Werk der Renaissance, die „Göttliche Komödie". Das Großopus in 100 „Gesängen" und 14230 Versen beschreibt die Wanderung Dantes durch die Reiche des Jenseits: Geleitet vom Dichter Vergil, disputiert er in den Stationen Hölle, Purgatorium und Paradies mit den Geistern berühmter Toter über Theologie, Philosophie und Staat. Die in toskanischer Mundart verfasste „Göttliche Komödie" gilt als eines der genialsten Dichtwerke seit der Antike. Schon die Zeitgenossen erkannten das-bereits 50 Jahre nach Dantes Tod gab es an der Universität Florenz einen Dante-Lehrstuhl. 44