Papier wird ungeduldig Eine Revolution verändert die Medienwelt, und der Revolutionär, der alles, was uns vertraut ist, umstürzt, ist das Internet. Sein rasantes Wachstum stellt das alte Geschäftsmodell der Zeitungsverlage radikal infrage, denn Leser und Anzeigenkunden gehen in immer rascherem Tempo online. Nichts unter dem Zeitungshimmel bleibt, wie es war. Um das Ausmaß des Wandels deutlich zu machen: Im Jahr 1984 wurden in den Vereinigten Staaten täglich 63,3 Millionen Zeitungsexemplare verkauft; im vergangenen Jahr waren es nur noch 43,7 Millionen – ein Rückgang von rund einem Drittel in gut zwanzig Jahren. Es traf vor allem Amerikas große, renommierte Tageszeitungen, Blätter von nationaler und internationaler Bedeutung. Die Los Angeles Times verkaufte 1990 noch 1,2 Millionen Exemplare, heute sind es 770000; die Auflage sank allein im ersten Halbjahr 2006 um acht Prozent. Bei der New York Times betrug der Rückgang im selben Zeitraum 3,5 Prozent, bei der Washington Post 3,3 Prozent. Ein Trend, der seit Längerem anhält. Der Trend in Europa, auch in Deutschland, ist ähnlich. Vielleicht am alarmierendsten ist die Lage in Frankreich. Dort kommt zur Herausforderung durch das Internet die Konkurrenz der Anzeigenblätter. Die Auflage etwa von Métro oder 20 Minutes, die kostenlos verteilt werden, übertrifft die der etablierten Qualitätszeitungen wie Le Monde, Figaro oder Libération inzwischen bei Weitem. Diese finden finanziellen Rückhalt ausgerechnet in der Rüstungsindustrie – Le Monde bei der Lagardere-Gruppe, der Figaro bei Dassault. In Frankreich, wie in den USA, ist der Niedergang der Qualitätspresse durch mangelnde Investitionen in anspruchsvolle Regional- und Lokalzeitungen beschleunigt worden. Im Gegensatz dazu verfügt Deutschland bis heute über ein dichtes Netz hochwertiger Regionalblätter, auch wenn manche Lokalredaktion inzwischen rücksichtslos auf Rendite getrimmt oder gleich ganz ausgelagert wird. Blickt man auf die Lage der Zeitungen weltweit, dann ergibt sich ein anderes Bild als in Amerika und Europa. In manchen sich entwickelnden Ländern steigt die Auflage, etwa in Indien, wo vor allem die Regionalzeitungen zulegen. Im vergangenen Jahr kauften in über 210 Ländern insgesamt 439 Millionen Menschen jeden Tag eine Zeitung – ein historisches Hoch. Das ändert nichts an den bedrückenden Tendenzen in den Industrieländern des Westens; sie dürften Vorboten eines globalen Siechtums der Zeitungen sein. »Who killed the newspaper?«, fragte der Economist im September 2006 auf seiner Titelseite. Und antwortete auf die selbst gestellte Frage mit britischer Lakonie, das allmähliche Verschwinden der Zeitung sei zwar »Grund zur Sorge, aber nicht zur Panik«. Die Londoner Kollegen haben recht. So schnell werden die Zeitungen nicht aussterben. Aber die Herausforderungen, vor denen sie stehen, sind dramatisch. Nie hat sich die Mediennutzung rascher gewandelt. Der durchschnittliche europäische Internetbenutzer ist heute vier Stunden pro Woche online; mehr Zeit, nämlich zwölf Stunden, verbringt er nur noch vor dem Fernseher. Zehn Prozent der Internetbenutzer lesen überhaupt keine Zeitungen und Zeitschriften mehr. Ein naheliegender Ausweg für die Verlage ist es, redaktionelle Inhalte auch online anzubieten. »Die Zukunft der Zeitung ist digital«, verkündet Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns. In Berlin hat Springer einen zentralen »Newsroom« eingerichtet, wo Welt, Welt am Sonntag, Berliner Morgenpost samt der zugehörigen Online-Ausgaben gemeinsam produziert werden. »Online first«, heißt die Devise bei Springer: Hat eine der Zeitungen eine exklusive Story, dann steht sie nicht erst am nächsten Morgen im Blatt, sondern wird umgehend ins Netz gestellt. Schon heute ist bei manchen Zeitungen die Zahl der Leser ihrer Printausgabe kleiner als die der Nutzer ihrer Online-Angebote. So lesen 1,2 Millionen Menschen den britischen Guardian, seine Online-Ausgabe aber 12,7 Millionen – mehr als zehnmal so viele. 7,5 Millionen von ihnen leben in den Vereinigten Staaten, und mit einem Mal ist der Guardian die in Amerika meistgelesene britische Zeitung! Die New York Times lesen 4,9 Millionen, ihr Online-Portal aber nutzen schon 13,4 Millionen Menschen. Haben also jene Internetgurus recht, die seit Langem warnen: »Stick with ink and sink« – bleib bei der Druckerschwärze, und du wirst untergehen? Nicht unbedingt. Natürlich kann man noch heute höchst erfolgreich eine Zeitung machen, mit den Qualitätsmaßstäben, die gute Redakteure schon immer angelegt haben. Aber nichts darf Zeitungsverlage hindern, daneben auch das neue Medium zu nutzen, denn es ist schneller, flexibler, experimentierfreudiger. Und die bewährten strengen Qualitätskriterien, die kann – und sollte – man auch dem Onlinejournalismus verordnen. »Newspapers«, so sagt es Arthur Sulzberger Jr., der Verleger der New York Times, definierten sich nicht durch das zweite Wort – paper, sondern durch das erste – news. Nicht auf das Papier, auf die Nachricht kommt es an! Und die lässt sich genauso gut elektronisch transportieren. Überall sehen wir deshalb eine neue Konvergenz der Medien entstehen. Zeitungsjournalisten schreiben nicht nur Artikel für das gedruckte Blatt; sie produzieren zugleich Videos, Hörbeiträge oder Podcasts. Nicht dass dies jedem Zeitungsmenschen gefiele! In vielen Häusern, so auch bei der ZEIT, ist das Schreiben der Printredakteure für das Online-Angebot deshalb freiwillig. In anderen Verlagen aber geht traditionelle und neue Redakteursarbeit längst ineinander über. Zeitungen können nur gewinnen durch Tiefe und Exzellenz Ohne journalistische Glaubwürdigkeit geht es nicht. Und nicht ohne den Willen, in redaktionelle Qualität zu investieren. Nachdem im Jahr 2000 die Spekulationsblase der New Economy geplatzt und bei vielen Zeitungen die Anzeigeneinnahmen eingebrochen waren, wurden hierzulande in den Redaktionen Hunderte Stellen gestrichen, Korrespondentenbüros geschlossen, die Reisekosten gekürzt. Gründliche Recherchen aber brauchen Zeit und Geld; wo daran gespart wird, hapert es bald an der redaktionellen Leistung, nirgendwo mehr als im investigativen Journalismus. Die Zeitungen können den Wettbewerb gegen Fernsehen und Internet nicht durch Schnelligkeit, sondern nur durch Gründlichkeit, durch Sachkenntnis, ja durch Exzellenz bestehen. Das Problem heute ist nicht der Mangel, sondern vielmehr der Überfluss an Informationen. Mehr als je zuvor sind deshalb Journalisten gefragt, die im täglich anschwellenden Informationsstrom zu unterscheiden wissen zwischen wichtig und unwichtig, zwischen bedeutend und belanglos. Vielleicht muss einem deshalb um die Zukunft der alten, langsamen Zeitung auch nicht bang sein. Guter Journalismus jedenfalls bleibt gut fürs Geschäft. Noch verdienen viele Verlage anständige, oft zweistellige Renditen. Ein Artikel in der amerikanischen Online Journalism Review über Zeitungen im digitalen Zeitalter kam zu dem Schluss: »Alles deutet darauf hin, dass Zeitungsverlage ein blühendes und profitables Geschäft bleiben und dass Nachrichten noch sehr lange Zeit auf Papier verbreitet werden. Die Verlage haben noch eine Atempause, um mit neuer Technologie, mit neuen Märkten, neuen Geschäftsmodellen und neuen Medien zu experimentieren.« Eine Atempause. Verlage und Redaktionen müssen sie nutzen, damit aus ihr keine Galgenfrist wird. Sonst ergeht es ihnen wie der ältesten Zeitung der Welt. Soeben hat die schwedische Post Och Inrikes Tidningar angekündigt, dass sie nicht länger gedruckt werden wird. Im Jahr 1645, zum Ende des Dreißigjährigen Krieges hin von Königin Christine und ihrem Kanzler Axel Oxenstierna gegründet, um die Schweden zu informieren, »wofür all das Geld ausgegeben wurde«, ist sie bis heute Stockholms offizielles Regierungsblatt. Seit dem 1. Januar erscheint sie nur noch im Internet.