Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper, 1996 ein Handout So kommt der 17jährige nach sechsstündiger Bummelzugreise im Mai 1906 zum erstenmal als Tourist in die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Die Größe, der Verkehrstrubel und die Helligkeit der Großstadt beeindruckten und verwirrten damals jeden, der aus der Provinz anreiste. Nirgendwo in der Doppelmonarchie war der Verkehr so stark wie in Wien. 1907 fuhren hier 1458, mehr als die Hälfte aller in der k.u.k. Monarchie zugelassenen, Automobile. Sie verursachten in der Hauptstadt - bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde - 354 Unfälle im Jahr. Wichtiger waren immer noch die Pferdefuhrwerke: Es gab 997 zweispännige Fiaker, 1754 Einspännerund 1101 Lohnkutschen, die insgesamt 982 Unfälle hatten. Alle zehn inneren Bezirke waren bereits elektrifiziert. Auf den Straßen gab es also keine Gaslaternen mehr. Elektrisch beleuchtet war auch der Westbahnhof, wo die Züge aus Linz ankamen. Die Elektrifizierung von Wohnhäusern ging rasch voran: Allein in nichtamtlichen Gebäuden gab es 1908 schon 176 Bogenlampen und 657625 Glühlampen. Damit kam auf jeden dritten Wiener eine Glühlampe. Bei diesem ersten Besuch in Wien sei seine Begeisterung für die Architektur der Ringstraße erwacht, berichtet H. später in Mein Kampf: Ich fuhr hin, um die Gemäldegalerie des Hofmuseums zu studieren, hatte aber fast nur Augen für das Museum selber. Ich lief die Tage vom frühen Morgen bis in die späte Nacht von einer Sehenswürdigkeit v.ur anderen, allein es waren immer nur Bauten, die mich in erster Linie fesselten. Stundenlang konnte ich so vor der Oper stehen, stundenlang das Parlament bewundern; die ganze Ringstraße wirkte auf mich wie ein Zauber aus Tausendundeiner Nacht, An seinen Linzer Freund Kubiczek, der mal an er Musikhoschule in Wien studieren wollte, schreibt Hitler am 7. 5. 1906 : Morgen gehe ich in die Oper in »Tristan« übermorgen in »Fliegenden Holländer« usw. Trotzdem ich alles sehr schön finde sehne ich mich wieder nach Linz. Heute ins Stadttheater. Es grüßt dich dein Freund Adolf Hitler. Diese Angaben stimmen exakt mit dem Spielplan überein: Am Dienstag, dem 8. Mai 1906, wird Tristan gegeben, von 7 bis 1/2 12 Uhr, mit Erik Schmedes als Tristan, Anna von Mildenburg[1] als Isolde und Richard Mayr als König Marke. Am Mittwoch, dem 9. Mai, steht Der fliegende Holländer auf dem Programm. Die Habsburgermonarchie bildete von 1867 bis 1918 den k.u.k. Staat, eine Bezeichnung, deren Erklärung etwas Mühe macht: Es hieß alles, was zum Gesamtstaat gehörte, also zu Österreich-Ungarn, zum Beispiel die gemeinsame k.u.k. Armee. Dabei bedeutete das erste »k.« die westliche Reichshälfte, also Cisleithanien mit Böhmen, das zweite »k.« Ungarn. War nur die westliche Reichshälfte meint, hieß es »k.k.« als Abkürzung für Kaiser von Österreich und König von Böhmen. War aber nur Ungarn gemeint, so hieß es nur »k.« für König von Ungarn. Einvernehmliche politische Lösungen wurden zwischen den beiden gleichberechtigten Partnern immer schwieriger, ja fast unmöglich, vor allem 1906 nach der Durchührung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes in Cis-, nicht aber in Transleithanien. Weil sich die Tschechen, Polen und Österreicher weigerten als Österreicher bezeichnet zu werden, hieß die westliche Reichshälfte offiziel nach dem Vielvölkerparlament: »Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«. Die westliche Reichshälfte mit der Hauptstadt Wien hatte um 1910 28,5 Millionen Einwohner: fast 10 Millionen Deutsche (nur 35,6 Prozent), 6,5 Millionen Tschechen und Mährer, fast 5 Millionen Polen, über 3,5 Millionen Ruthenen (Ukrainer), 1,25 Millionen Slowenen, fast 800 000 Serbokroaten, 770 000 Italiener, 275 000 Rumänen, knapp 11000 Magyaren, außerdem rund 500 000 Ausländer, wozu auch ungarische Staatsbürger gezählt wurden. Eine »jüdische« Nation gab es nicht, da für die Anerkennung als Nation allein die Umgangssprache maßgeblich war und die Juden keine einheitliche Sprache hatten. Als Religionsgemeinschaft und Staatsbürger halten sie aber seit 1867 alle bürgerlichen Rechte. Die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts 1906 reduzierte die Bedeutung der Deutschen dann vollends auf jenen Rang, der ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Tschechen in Wien Wien war um 1900 eine Einwandenrungsstadt. Weil böhmakelnde Tschechen häufig auch literarisch karikiert wurden (vgl. Schnitzlers Erzählung Ein Ehrentag mit einem böhmakelnden Anführer der Klaque Dobrdal), sei mir dieser kurzer Exkus erlaubt. Die nicht in Wien Geborenene nannte man "Zuagraste". Wienerlieder und Kabarettlieder nahmen sich der Tschechen in Wien an. Wiener Lehnwörter aus em Tschechisch sind häufig Pejorativa: das tschechische Wort "frňák" ist auch in Wien Bezeichnung für ein überdimensioniertes Geruchsorgan. Noch Fritz Imhoff (geb. 1891 in Wien) sang: "Meine Rosa kommt aus Behmen, ich muß mich dafür schämen." In Wien behauptet man: Der gute Wiener Schmäh braucht schon durch die Namenwahl Erwartungen wecken. Erzählen Sie jemandem einen Witz von der Frau Bauer und der Frau Müller, wird das nicht zum Lachen sein. Aber wenn es die Frau Navratil und die Frau Pospischil ist, na dann hat das einen Schmäh! Die Literatur des Jungen Wien nimmt dieses Milieu nur selten wahr, um so mehr prägte die Tschechenfeindlichkeit der deutschnationalen Wiener Adolf Hitler. In Wien wuchs der Anteil der Tschechen von 1851 bis 1910 zahlenmäßig auf rund das Zehnfache. 1910 war bereits jeder fünfte Einwohner tschechischer Herkunft - bei stetiger weiterer Zuwanderung. Damit war die Entwicklung zu einem zweisprachigen Niederösterreich und einer zweisprachigen Hauptstadt Wien durchaus möglich, aber nur dann, wenn die Einwanderer Tschechen blieben und sich nicht assimilierten. Dieses ständige Reizthema seiner Wiener Jugend erwähnt auch H. in Mein Kampf: Rein deutsche Orte wurden so über den Umweg der staatlichen Beamtenschaft langsam, aber unbeirrt sicher in die gemischt-sprachige Gefahrenzone hineingeschoben. Selbst in Niederösterreich begann dieser Prozeß immer schnellere Fortschritte zu machen, und Wien galt vielen Tschechen schon als ihre größte Stadt. Die Deutschen bemühten sich, mit Steuerstatistiken nachzuweisen, daß sie allein die »Großmachtstellung« der Habsburger-inonarchie und deren »Hof-, Heeres- und Verwaltungsbedürfnisse und die Mitschleppung und Erhaltung der nichtdeutschen Ballastvölkerschaften« ermöglichten. Die Regierung sehe in ihnen aber |»nur den immerwährenden Schwamm, aus dem sie das ihr nötige Gold und Blut beliebig sich erdrücken kann« .[2] H. zeigt seine Vertrautheit mit dieser Art von Zahlen, wie sie bei Schubert zu finden sind, als er noch 1942 bei einem Abendessen mit Reinhard Heydrich erzählt: Die Tschechen seien Meister im Unterwandern, das beweise das Beispiel von Wien. Vordem Weltkriege seien von den 1800 k.u.k. Hofbeamten nur noch etwa 120 Deutsche gewesen, alles andere bis hinauf in die höchsten Stellen waren Tschechen.« Nach amtlichen Zahlen waren am 1. Januar 1914 von 6293 Ministerialbeamten, wie üblich gerechnet nach der Umgangssprache, 4772 (75,8 Prozent) Deutsche und nur 653 (10,8 Prozent) Tschechen. Wie viele Tschechen um 1910 in Wien lebten, ist nicht präzise anzugeben. Sicher ist nur, daß die Anzahl aus der Volkszählung von 1910, nämlich rund 100 000, zu niedrig ist. Wollten sich die Tschechen in Wien nicht schweren Diskriminierungen aussetzen, mußten sie in den - ja durchaus nicht geheimen - Fragebögen Deutsch als Umgangssprache angeben und wurden damit zu den Deutschen gezählt. Wer das Wiener Bürgerrecht besaß, galt ohnehin als Deutscher. Die Tschechen kamen als Industriearbeiter nach Wien, als Dienst mädchen, Köchinnen, Kindermädchen, Schuster, Schneider, Musi- ker. Da viele etwa als Lehrlinge oder Dienstmädchen bei ihren Arbeitgebern wohnten, verteilten sie sich über alle Bezirke und leb- ten nicht so konzentriert beieinander wie die Wiener Juden in der Leopoldstadt. Das förderte die Assimilation. Außer den in Wien seßhaften Tschechen gab es noch viele Saisonarbeiter, die am Bau oder in den Ziegeleien nur von Frühjahr bis Herbst arbeiteten und im Winter zu ihren Familien nach Böhmen zurückkehrten, die »Ziegelböhm« und »Maltaweiber« (Mörtel-mischerinnen). Außerdem kamen viele junge Männer nur für einige Jahre nach Wien, verdienten hier Geld, sammelten Erfahrungen und gingen dann nach Böhmen zurück. Dort legten sie ihr Geld an, etwa in einem Geschäft oder einem Haus, und förderten damit den wirtschaftlichen Aufschwung in Böhmen. So waren zwar stets viele Tschechen in Wien, aber eben immer andere, was die Historikerin Monika Glettler vergleicht mit einem »Hotel, das zwar stets besetzt war, aber immer von anderen Leuten«.^16 Ein anderes Feindbild, das Hitler aus Wien mitgebracht hat, waren die Juden. Auf die komme ich erst im Zusammenhang mit Seligmann Hirsch zu sprechen. ------------------------------- [1] Ihr erstes Engagement war 1895 am Hamburger Stadttheater, wo sie die Rolle der Brünhilde singen sollte. Mit Gustav Mahler, der bereits seit 1891 Kapellmeister an diesem Hause war, begann sie ein Liebesverhältnis. Obwohl das Verhältnis mit ihr beendet war, holte Gustav Mahler sie 1898 an die Wiener Hofoper, wo sie in den berühmten Inszenierungen Mahlers - auch in der Honorarhöhe - enormen Erfolg hatte: ihr Gehalt glich damit dem von Mahler, der die Wiener Hofoper leitete. Seit 11909 war sie mit Hrmann Bahr vrheiratet. [2] Anton Schubert: Das Deutschtum im Wirtschaftshaushalte Österreichs. Teil II. Reichenberg 1906, S. 220.