Peter Altenberg: Selbstbiographie Ich bin geboren 1862, in Wien. Mein Vater ist Kaufmann. Er hat eine Eigenheit: Er liest nur französische Bücher. Seit 40 Jahren. Über seinem Bette hängt ein wunderbares Bildnis seines Gottes »Victor Hugo«. Er sitzt abends in einem dunkelroten Lehnstuhle, liest die »Revue des deux Mondes« und hat einen blauen Rock an, mit breitem Sammetkragen `a la Victor Hugo. Nein, einen solchen Idealisten gibt es nicht mehr auf dieser Welt. Man fragte ihn einmal: »Sind Sie nicht stolz auf Ihren Sohn?!« Er erwiderte: »Ich war nicht sehr gekränkt, daß er 30 Jahre lang ein Tunichtgut gewesen ist. So bin ich nicht sehr geehrt, wenn er jetzt ein Dichter ist! Ich gab ihm Freiheit. Ich wußte, daß es ein Va-banque-Spiel sei. Ich rechnete auf seine Seele!« Jawohl, edelster, merkwürdigster aller Väter, lange habe ich dein göttliches Geschenk der Freiheit mißbraucht, habe edle und ganz unedle Damen heiß geliebt, bin in Wäldern herumgelungert, war Jurist, ohne Jus zu studieren, Mediziner, ohne Medizin zu studieren, Buchhändler, ohne Bücher zu verkaufen, Liebhaber, ohne je zu heiraten, und zuletzt Dichter, ohne Dichtungen hervorzubringen! Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extrakte! Extrakte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel! Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extrakte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in genießbare Bouillon zu verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste, mit einem Worte, sie dünnflüssig und verdaulich zu machen. Aber es gibt »geistige Mägen«, welche Extrakte nicht vertragen können. Alles bleibt schwer und ätzend liegen. Sie bedürfen 90 Prozent Brühe, Wässerigkeiten. Womit sollten sie die Extrakte auflösen?! »Mit eigenen Kräften« vielleicht?! So habe ich viele Gegner, »Dyspeptiker der Seele« ganz einfach! Schwer Verdauende! »Fertig werden« ist für den Künstler alles. Sogar mit sich selbst fertig werden! Und dann, ich halte dafür: Was man »weise verschweigt« ist künstlerischer, als was man »geschwätzig ausspricht«. Nicht?! Ja, ich liebe das »abgekürzte Verfahren«, den Telegramm-Stil der Seele! Ich möchte einen Menschen in einem Satze schildern, ein Erlebnis der Seele auf einer Seite, eine Landschaft in einem Worte! Lege an, Künstler, ziele, triff ins Schwarze! Basta. Und vor allem: Horche auf dich selbst! Gibt deinen eigenen Stimmen in dir Gehör! Habe kein Schamgefühl vor dir selbst! Lasse dich nicht abschrecken durch ungewohnte Laute! Wenn es nur die deinigen sind! Mut zu deinen Nacktheiten!! Ich war nichts, ich bin nichts, ich werde nichts sein. Aber ich lebe mich aus in Freiheit und lasse edle und nachsichtsreiche Menschen an den Erlebnissen dieses freien Inneren teilnehmen, indem ich dieselben in gedrängteste Form zu Papier bringe. Ich bin arm, aber ich selbst! Ganz und gar ich selbst! Der Mann ohne Konzessionen! Wohin bringt man es damit?! Zu 100 Gulden monatlich und einigen warmen Verehrern. Nun, die habe ich! Mein Leben war der unerhörten Begeisterung für Gottes Kunstwerk »Frauenleib« gewidmet! Mein armseliges Zimmerchen ist fast austapeziert mit Akt-Studien von vollendeter Form. Alle befinden sich in eichenen Rahmen, mit Unterschriften. Über einer Fünfzehnjährigen steht geschrieben: »Beauté est vertue«. Schönheit ist Tugend. Unter einer anderen: »Es gibt nur eine Unanständigkeit des Nackten - - - das Nackte unanständig zu finden!« Unter einer anderen steht geschrieben: »So erträumten dich Gott und die Dichter! Aber die schwächlichen Menschlein erfanden das Schamgefühl und verhüllten dich, sargten dich ein!« Wenn P. A. erwacht, fällt sein Blick auf die heilige Pracht und er nimmt die Not und Bedrängnis des Daseins ergeben hin, da er zwei Augen mitbekommen hat, die heiligste Schönheit der Welt in sich hineinzutrinken! Auge, Auge, Rothschild - Besitz des Menschen! Aber diese anderen starren, glotzen das Leben an wie die Kröte die Wasserrose! Ich möchte auf meinem Grabsteine die Worte haben: »Er liebte und sah!« Ja, in inneren Ekstasen leben, sich selbst heiß heizen, sich kochend machen, sich selbst in Brand setzen an den Schönheiten der Welt, war für Vater und Sohn alles, alles! Aber während der Alte noch ziemlich in Beziehungen stand mit dem Leben des Tages oder in Kollision geriet, begab sich der Junge ohne Bedenken und sofort aus diesem Pflichtenkerker heraus. Ja, ich bin arm, arm, aber mein edler Vater gab mir den Reichtum, den wenige Väter in milder Weisheit ihren Söhnen gewähren: »Zeit zur Entwicklung und Freiheit!« So konnte meine Seele, unbetrogen um die unerhörten Schätze, die jeden Tag und jede Stunde das Leben uns wie Perlen an öden Strand auswirft, so konnte meine Seele den tragischen oder zärtlichen Ereignissen sich liebevoll hingeben und wachsen, wachsen - - -. Meine Mama war ehemals eine ganz zarte wunderschöne Dame mit edlen Händen und Füßen und schmalen Gelenken. Wie eine Gazelle. Einmal brachte mein Vater aus England ein wunderbares Mädchen mit. Er sagte zu Mama: »Dies, meine Liebe, ist Maud-Victoria. Es ist das schönste Mädchen Englands.« Meine Mama sah, daß es wirklich das schönste Mädchen Englands sei, und sagte ganz traurig: »Wird sie nun bei uns bleiben müssen?!« In Folge dessen war mein Vater so gerührt, daß er das »schönste Mädchen Englands« wieder in die Heimat zurückschickte. Als mein Vater die Aschantee-Mädchen, meine geliebten Freundinnen, häufig besuchte und ihnen seidene Tücher schenkte, sagte jemand: »Der alte Mann ist von seinem Sohne erblich belastet.« Als Knabe hatte ich eine unbeschreibliche Liebe zu den Berg-Wiesen. Die Berg-Wiese, in Sonnenglut heißen Duft dampfend, aushauchend, mit Käfern und Schmetterlingen besät, berauschte mich direkt. Ebenso Wald-Lichtungen. An sumpfigen besonnten Stellen sitzen Schmetterlinge, blau-seidene kleine und schwarz-rote Admirale, und man sieht den Huf-Abdruck der Hirsche. Berg-Wiesen aber liebte ich einfach fanatisch, ja, hatte Sehnsucht nach ihnen. Unter den weißen heißen Steinen vermutete ich überall Kreuzottern, und dieses Tier war überhaupt das Märchen-Mysterium meiner Knabenjahre. Es ersetzte mir den Menschenfresser, den Riesen und die Hexe. Alle Bisse und deren Folgen, deren entsetzliche langsame Folterqualen, deren mysteriöse schleichende Wirkung, deren perfide geheimnisvolle Art, kannte ich auswendig, die Wund-Behandlung und so weiter. Der wunderbare zarte grau-schwarze Leib der Kreuzotter kam mir als das Schönste, Vornehmste vor, und als ich ein kleines Mädchen liebte, dachte ich mir immer und immer wieder nur eines aus: »Eine Kreuzotter bisse sie in den Fuß während einer Bergpartie, und ich söge ihr die Wunde aus, um sie zu retten!« Ich kannte genau das Terrain, auf dem mit unbedingter Sicherheit Kreuzottern hausen müßten, betrat es, lauerte; aber in meinem ganzen Leben habe ich keine lebendige Kreuzotter erschaut, obzwar die Gegend des Schneeberges davon wimmelt. Es blieb für mich nur ein böser, aber süß beruhigender Traum. Immer dachte ich es mir aus: die Geliebte wird gebissen, oberhalb des Fußknöchels. Alles steht ratlos und verzweifelt. Da hole ich aus der nächsten Sennhütte Enzianschnaps, erzeuge den Alkoholrausch, das einzige Heilmittel. Dann sagt sie: »Oh, wieso wußten Sie es?« Und ich sage einfach: »Ich habe es im Brehm gelesen.« Immer, überall wartete ich auf Kreuzottern. Niemals kamen sie. Mit 23 Jahren liebte ich ein wunderbares 13jähriges Mädchen abgöttisch, durchweinte meine Nächte, verlobte mich mit ihr, wurde Buchhändler in Stuttgart, um rasch Geld zu verdienen und für sie sorgen zu können später. Aber es wurde nichts aus alledem. Nie wurde etwas aus meinen Träumen. Ich habe nie irgend etwas anderes im Leben für wertvoll gehalten als die Frauenschönheit, die Damen-Grazie, dieses süße, kindliche. Und ich betrachte Jedermann als einen schmählich um das Leben Betrogenen, der einer anderen Sache hienieden irgendeinen Wert beiläge! Opfere dem unerbittlichen Tage und der harten Stunde, aber wisse es und fühle es, daß deine heiligen und wahrhaften Augenblicke nur jene sind, da dein gerührtes und erstauntes Auge die schöne sanfte Frau erblickt! Wisse es, Verführter des Lebens, daß du ein Taglöhner, ein Kärrner[1], ein Gefangener, ein Rekrut bist, ein Selbst-Betrüger und Betrogener des Lebens, und daß nur durch die »heilige schöne Frau« du ein Adeliger und ein Kaiserlicher werden könntest! Meinen kleinen Sachen, die ich schreibe, lege ich nur den Wert bei, den Mann, welchen seine tausend Pflichten erschöpfen und aushöhlen, ein bißchen aufzuklären über dieses leibliche, zarte und mysteriöse Geschöpf an seiner Seite. Hineingefressen in die Pflichten des unerbittlichen Tages, darf er es sich nicht erlauben, die Frau als ein seltsames und unerforschliches Wesen an und für sich zu betrachten, sondern als einfache Genossin in seinen Schwierigkeiten! Ihre Welt in ihr ist ihm teuer und verständlich, insofern er Segnungen davon empfängt. Das andere bleibe den Dichtern überlassen! So nehmen denn diese dem Leben ein wenig Entrückten immer und immer wieder ihre Leier und verherrlichen weinend jene Adeligsten, von welchen die anderen die brutaleren Vorteile ziehen! Ich selbst habe nur Leid erfahren an diesen Herrlichen, für welche ich mein verlorenes und unnötiges Dasein hingebracht habe. Dennoch glaube ich ein wenig mitgewirkt zu haben, daß ein Hauch von griechischem Schönheits-Kultus in die vom Leben bedrängten Jünglinge komme! Aber auch das mag nur eine Utopie sein. Arm und verlassen lebe ich nun dahin, den Blick noch immer gerichtet auf eine edle Frauenhand, einen adeligen Schritt, ein mildes weltentrücktes Antlitz. Amen - - -. Die Kinderzeit (in "Märchen des Lebens", Berlin 1908) Meine wunderschöne Mama trug ein weites Kleid aus dunkelbraunem Tüll mit hellbraunen Samtbändchen durchzogen. Man sagte, der Hofmeister der Familie W. mache ihr riesig den Hof. Wir verstanden das Wort »Hof« nicht. Eines Vormittags wurden wir zu dem Viadukt von vierzig Metern Höhe über dem Schwarzatal geführt, wo zwei Lastenzüge aufeinander aufgefahren waren. Die eine Berglokomotive hatte die andere direkt bestiegen. Wir nahmen zum Andenken sehr viel Zigarettenpapierschachteln mit, die einem Waggon entstürzt waren. Wir waren erstaunt, keine Leichen zu sehen. Selbst der Lokomotivführer war »mit dem Schrecken davongekommen«. Papa schenkte ihm einen Gulden. Als Belohnung, davongekommen zu sein. Eines Tages wurde berichtet, die Raupen der Kohlweißlinge fräßen alle Felder ab. Infolgedessen fingen wir alle Kohlweißlinge an den Fenstern des schrecklich heißen Speisesaales weg und zertraten sie, obzwar sie schon über die Schädlichkeit hinüber waren und nur mehr die unschädlichen Ideale ihrer Art repräsentierten. Die Raupen waren uns zu unappetitlich, sie zu vernichten. Um halb 12 Uhr vormittags kam der Bäcker mit den warmen, duftenden, vierfach eingekerbten Wecken. Da aßen wir heißhungrig zwei, worauf der Kellner vier auf die Rechnung stellte. »Kinder, Kinder, da könnt ihr ja keinen Appetit zum Mittagessen haben - - -«, sagte die Mama. Aber Pudding mit Himbeersaft fraßen wir doch noch zweimal und dreimal. Auf der sonnigen sandigen Straße zwischen den Wiesen interessierten uns die Sandläufer, die sprangen und flogen und nach Moschus dufteten und mattgrün schimmerten. Ferner die Admirale, schwarzrot, und die Dukatenfalter. Alles saß am liebsten an den trockenen Wagenrinnen der Lastwagen. Da konnte man ganz nahe hinschleichen. Wie gebannt von der Hitze saßen sie. Aber im letzten Moment kam der Selbsterhaltungstrieb über sie, und sie flogen wieder auf. Der Hofmeister der Familie W. ging immer öfter und öfter mit uns. Aber wir machten uns nichts aus ihm. Eines Tages wurde der geliebte Hund »Wolf« meiner Schwester in einem Bottich im Garten ertränkt gefunden. Die Gouvernante meiner Schwester weinte noch viel mehr als meine Schwester. Denn sie weinte wegen »Wolf« und zugleich wegen meiner Schwester. Während meine Schwester nur wegen »Wolf« zu weinen hatte - - -. Ich selbst sah nur den »aufgedunsenen Kadaver« und hatte keinerlei Mitgefühl. So verteilt sich alles verschieden in derselben Angelegenheit. In einer Allee von gelben Rispenstauden stachen die Bienen und die Wespen viele Vorübergehende. Da bat ich ein wunderschönes Mäderl der Familie K., dort ja nicht hindurchzugehen, und sie mußte mir darauf einen heiligen Eid schwören. Das Mäderl erzählte es ihren Eltern. Diese besprachen es mit meinen Eltern, und infolgedessen wurde uns der Verkehr verboten, weil solche »romantischen Beziehungen« ungesund seien. Was geht es ihn an, wenn sie zerstochen wird?!? Dazu ist die Gouvernante da. Der Hofmeister der Familie B. kam für vier Wochen zu uns als Aushilfe für unseren geliebten Hofmeister, der verreisen mußte. Er sagte: »Gnädige Frau, Ihre Kinder sind Prachtexemplare.« Jedenfalls betrachteten wir es als Ferialwochen. Im Walde nach dem Regen roch es immer wunderbar. Nach Schwämmen, feuchter Erde, feuchtem Moos und Erdbeeren. Im Kuhstalle roch es auch wunderbar und im Pferdestalle und in dem Schupfen, in dem Holz gesägt wurde, und in der Mehlmühle und auf der Wiese am Bache, wenn die Sonne hinsengte. Dann der Duft aus der heißen eleganten Hotelküche und der Duft der Zimmer nach den Kretonmöbeln und den Zirbelkieferkästen. Alle diese Gerüche gehörten zu dem Ferienglück mit dazu. Ja, sie waren sogar ein wesentlicher Bestandteil desselben. Von dem Geruche der Bahnhofshalle und des Waggons und dem schneidig-frischen Duft der Gebirgsluft in Station Payerbach gar nicht zu reden. Mama trug oft das braune Tüllkleid mit den hellbraunen Samtbändern. Der Aushilfshofmeister wollte uns immer für sich gewinnen, aber es war gar nicht nötig, denn wir hatten ihn auch von selbst sehr gern. Er sagte zum Beispiel: »Siehst du, was mir gestern besonders an dir gefallen hat - - -« Und dann kam eine Sache herausgestrichen, die gar nicht von Bedeutung war. Oder er sagte: »Gnädige Frau, ich muß Ihnen einen reizenden Zug Ihres Söhnchens mitteilen, auf die Gefahr hin - - -« Die Gouvernante meiner Schwester sagte zu ihm: »Monsieur, weshalb dienen?! Machen Sie doch Ihre Prüfungen!« - »Ich stehe mich so bedeutend besser«, erwiderte der Aushilfshofmeister. Im Hirschpark senkte einmal plötzlich der Vierzehnender den Kopf, fegte mit dem Geweih flach am Boden gegen mich her und hatte bereits stiere, glotzende Augen. Ich machte im letzten Moment einen Sprung zur Tür, und er fuhr krachend gegen die Planken. Infolgedessen wurde er erschossen, und ich bekam am nächsten Abend zum Souper ein Stückchen meines Mörders zu essen. Der Hofmeister sagte: »Hirsche sind gefährlicher als Tiger, weil man sie eben bloß für Hirsche hält, während man beim Tiger immer weiß, daß es ein Tiger ist!« Ich hielt diesen Satz damals für vollkommen unverständlich. Aber Mama sagte: »Wunderbar. Ist es nicht auch so mit den Menschen?!?« Worauf der Aushilfshofmeister ein verzücktes Gesicht machte und Mama die Hand küßte. Wir waren paff. Sehr beliebt war die Jagd auf die »Nußhäher«, die zum »Raubzeug« zählen, zum Raubgetier. Es war schwer, sich das von dem schönen Vogel mit den kleinen blauschwarzen Federchen vorzustellen. Aber wenn er am Boden lag, sagten die Jäger oft: »Du arger Sünder!« Abends, wenn es stark geregnet hatte, tappten Salamander über den Waldboden. Man hatte die Empfindung von vorsintflutlichen Welten: der feuchtwarm stille Wald und die schwarzgelben Molche - - -. Auch die Kreuzspinne war unheimlich, und man hoffte es immer, daß Regen und Wind sie vom Netze treiben würden. Aber es war wie aus Tauen gedreht, schaukelte und brach nicht im Sturm. Die ersten Herbstzeitlosen machten uns ganz gedrückt. Wir hatten uns so riesig an das geliebte Reichenau wieder attachiert wie alle herrlichen Sommer hindurch unserer Kindheit. Und an dem ersten Abend wieder in der Stadt waren wir immer tief unglücklich, obzwar es große Nüsse, Isenbartbirnen, kaltes Poulard und Sachertorte gab vor dem Schlafengehen Auch Mama war recht traurig und nachdenklich. Parfüm (in "Neues Altes", Berlin 1911) Als Kind fand ich in dem Schreibtisch meiner geliebten wunderbar schönen Mama, der aus Mahagoni war und geschliffenem Glase, in einer Lade einen leeren Flacon, der aber noch immer intensiv nach einem bestimmten, mir unbekannten Parfüm duftete. Oft schlich ich mich hin und roch daran. Ich verband dieses Parfüm mit aller Liebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Sehnsucht, Traurigkeit, die es überhaupt gibt. Aber alles bezog sich auf meine Mama. Später überfiel uns das Schicksal wie eine unvorhergesehene Hunnenhorde und bereitete uns allenthalben schwere Niederlagen. Und eines Tages zog ich denn von Parfümeriehandlung zu Parfümeriehandlung, um in kleinen Probefläschchen vielleicht das Parfüm zu entdecken aus der Mahagonischreibtischlade meiner geliebten verstorbenen Mama. Und endlich, endlich entdeckte ich es: Peau d'Espagne, Pinaud, Paris. Da gedachte ich der Zeiten, da Mama das einzige weibliche Wesen war, das mir Freude und Schmerz, Sehnsucht und Verzweiflung bereiten konnte, das mir immer, immer wieder aber alles verzieh und das um mich sich sorgte und vielleicht sogar insgeheim abends vor dem Einschlafen für mein künftiges Glück gebetet hatte... Viele junge Damen sandten mir in kindlich-süßen Begeisterungen später ihre Lieblingsparfüme, dankten mir herzlichst für ein von mir erfundenes Rezept, jedes Parfüm nämlich unmittelbar nach dem Bade direkt auf die nackte Haut des ganzen Leibes einzureiben, so daß es wie echte eigene Hautausdünstung wirke! Aber alle diese Parfüme waren wie die Gerüche von wunderschönen, aber eher giftigen exotischen Blumen. Nur Essence Peau d'Espagne, Pinaud, Paris, brachte mir melancholischen Frieden, obzwar meine Mama nicht mehr vorhanden war und mir nichts mehr verzeihen konnte von meinen Sünden! Erinnerung (in "Neues Altes", Berlin 1911) Der Rathauspark duftet nun von edlen Bäumen und edlen Sträuchern. Es ist kühl und schattig. Aber damals war es eine endlose graue Wiese mit eingetretenen staubigen oder kotigen schmalen Fußwegen. Eines Tages stand eine grüne Bretterbude da, das erste Wandelpanorama in Wien, genannt »Der Rigi«. Es roch nach Öllämpchen, und mein Hofmeister und ich saßen in der ersten Reihe auf Strohsesselchen. Der Rigi und alle Seen und Bergesketten zogen an uns vorüber, zu den Klängen eines italienischen Werkels. Dann wurde es allmählich finster, und die Berghotelfenster beleuchteten sich, denn sie waren ausgeschnitten und dahinter Licht. Das gefiel mir. Später machten wir eines Tages die erste Pferdetramwayversuchsfahrt mit, vom Schottenring bis Dornbach. Es fiel mir auf, daß es fortwährend klingelte, was bisher bei den Fuhrwerken nicht zu beobachten war. Man hielt das Ganze für gefährlich und unsicher und glaubte nicht recht daran, daß es sich einbürgern werde. Die Sonntage wurden in Hietzing bei »Domayer« verbracht. Es fiel uns angenehm auf, daß unser Vater dem Fiaker, der uns führte, du sagte und sich in leutselige Gespräche mit ihm einließ. Er kam uns vor wie ein milder Potentat. Die Trinkgelder waren enorm, gleichsam die Entschädigung für das vertrauliche Du. Die Rückfahrten vom Lande abends sind das Schönste; da schläft man wie ein Toter. Man verflucht den Moment der Ankunft, der Wagen ist das wunderbarste Bett gewesen. Aber jetzt kommt Stiegensteigen, Ausziehen, eine unsäglich beschwerliche Arbeit. Gebratene Äpfel spielten bei uns eine große Rolle. Alles duftete in den Zimmern danach. Das ist ganz abgekommen. Auch gedünstete Kastanien, goldigglänzend, auf schwarzgrünem Kohlpüree, waren eine Festspeise, die jetzt im Absterben begriffen ist. Die neue Generation macht sich nichts daraus. Wir vergötterten unsere Hofmeister und Gouvernanten, und sie uns. Die Eltern spielten nur eine zweite diskretere Rolle, traten erst in Aktion bei außergewöhnlichen Ereignissen. Sie waren einfach der »Oberste Gerichtshof«. Wir lebten »romantische Idyllen«, deshalb fiel es uns später so schwer, dem realen Leben Genüge zu leisten - - -. So wurde ich (in "Semmering", Berlin 1913) Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens, Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen, ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das »Extrablatt« mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tieferschüttert, meine Skizze »Lokale Chronik«. Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!« Und er nahm meine Skizze »Lokale Chronik« an sich. Richard Beer-Hofmann veranstaltete nächsten Sonntag ein »literarisches Souper« und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei Tage später schrieb mir Hermann Bahr: »Habe bei Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges Mädchen. Ersuche Sie daher dringend um Beiträge für meine neugegründete Wochenschrift ›Die Zeit‹!« Später sandte Karl Kraus, auch der Fackel-Kraus genannt, weil er in die verderbte Welt die Fackel seines genial-lustigen Zornes schleudert, um sie zu verbrennen oder wenigstens »im Feuer zu läutern«, an meinen jetzigen Verleger S. Fischer, Berlin W., Bülowstraße 90, einen Pack meiner »Skizzen«, mit der Empfehlung, ich sei ein Original, ein Genie, Einer, der anders sei, nebbich. S. Fischer druckte mich, und so wurde ich! Wenn man bedenkt, von welchen Zufälligkeiten das Lebensschicksal eines Menschen abhängt! Nicht?! Hätte ich damals, im Café Central, gerade eine Rechnung geschrieben, über die seit Monaten nicht bezahlten Kaffees, so hätte Arthur Schnitzler sich nicht für mich erwärmt, Beer-Hofmann hätte keine literarische Soiree gegeben, Hermann Bahr hätte mir nicht geschrieben. Karl Kraus freilich hätte meinen Pack Skizzen unter allen Umständen an S. Fischer abgeschickt, denn er ist ein »Eigener«, ein »Unbeeinflußbarer«. Alle zusammen jedoch haben mich »gemacht«. Und was bin ich geworden?! Ein Schnorrer! Blumen-Korso (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) Sechs Uhr früh. Es ist trocken, kühl, der Himmel weißlichblau, »bleu-lacté« würden die französischen Schriftsteller sagen - - -. Eine Blumenhandlung von falschen Blumen schlägt ihre Lider auf, graue Holzläden. In der staubigen Auslage blüht der Frühling, Schleedornröschen; der Sommer, Kornblumen; der Herbst, rosa und lila Astern und die Federkugeln von Leontodon. Ein blasses Ladenmädchen trägt weiße Rosen heraus, bekränzt einen Wagen, der vor der Türe steht. Die Blumen riechen wie alte Mousseline-Kleider. Blumenkorso - - - für Nachmittag vier Uhr! Logen-Sitze fünf Kronen! Es soll Geld unter die Leute kommen, Tausende verdienen indirekt, hat man eine Idee?! Es geht herunter bis zum - - -. Niemand kann es ausdenken. Auf der Gasse steht ein junges Weib mit einem schlafenden Kinde, starrt das »fliegende Rosenbeet« an, ein Stückchen einer »feenhaften Welt«, Rosen und Fiaker, das Mysterium des »schönen Überflüssigen«! Das Kind schläft tief in der reinen Morgenluft -. Vom ersten Stocke herab blickt eine junge Dirne im Hemde zwischen weißen Stores hervor: »Soll ich den Wagen mieten, soll ich nicht, soll ich, soll ich nicht, soll ich - - -?!« Das Ladenmädchen blickt hinauf: »Du Mistvieh -!« Das Ladenmädchen gähnt, steckt dem Kutscher eine Rose ins Knopfloch. Die junge Mutter mit dem Kinde geht weg. Das Kind schläft tief in der reinen Morgenluft. Die Dirne läßt die Stores herab. Der Rosen-Wagen fährt weg, die Rosen wiegen sich, verneigen sich, rauschen, schütteln sieh, eine stürzt herab auf den Asphalt - - -. Nachmittags mietet eine Dame und ein junges Mädchen den Wagen. »Les fleurs sont fausses - - -«, sagt das junge Mädchen. »So - - -«, sagt die Dame, »merkt man es?!« Blumenkorso. Zufahrt durch die Praterstraße. Fliegende Blumenbeete. Tausende verdienen indirekt! Die junge Dirne liegt auf ihrem Bette, schläft. Die Nachmittagssonne wärmt die weißen Stores. Sie träumt: »Rosen-Wagen - - - - - -.« Das Ladenmädchen sitzt in dem dunklen, dunstigen Blumenzimmer auf einem Strohsesselchen, schläft - -. Sie träumt: »Rosen-Wagen - - -.« Das junge Weib trägt das Kind durch die Straßen. Das Kind schläft tief in der dunstigen Nachmittagsluft -. Die Rose, die am Morgen aus dem Wagen gestürzt ist, steht in einem Glase in dem Zimmer eines Gassenkehrers. Sein Töchterchen sagt: »Pfui, sie stinkt - -.« Der Gassenkehrer hätte antworten können: »Das sind die Blumen, die auf dem Asphalt einer Großstadt blühen - - -!« Aber er sagte das nicht. Dazu war er zu bescheiden - - -. Er dachte: »Es ist vom Blumenkorso - - -!« Sonnenuntergang im Prater (in "Märchen des Lebens", Berlin 1908) Sie waren stundenlang im Grabenkiosk gesessen, letzter Augusttag, hatten Fiaker betrachtet mit Fremden, Automobile, wie Zugvögel von fernen Reisen, Damen auf dem Trottoire, die wunderbar sicher dahinglitten, und andere, die trippelten und tänzelten, um etwas Besonderes aus sich zu machen. In dem Kiosk saß eine Französin, die man nur mit den Augen grüßte. Und ein süßes, junges Geschöpf mit seiner »Tante«, das man auch nur mit den Augen begrüßte. Und fremde Damen mit Schleierhüten, die man überhaupt nicht grüßte. Und einige Männer, die schon vom Urlaube zurückgekehrt waren. Alle diese Menschen kamen sich ein bißchen deklassiert vor, daß man sie im Grabenkiosk ertappte in der Haute-Saison, während die anderen noch in Ostende oder Biarritz - - - Die beiden Freunde machten trotz alledem einige wichtige Beobachtungen, sammelten einige seltene Exemplare von Menschlein für ihre innerliche Käfersammlung, spießten sie auf, teilten sie ein in allgemeinere Klassen. Um sechs Uhr kam das rote Automobil, Mercedes 18-24, entführte sie in die Krieau. Dort war ganz staubfreie Landluft und Stille. Ein Herr in schwarzem Anzug und schneeweißen Handschuhen bestieg ein Pferd. Ein Fiaker brachte eine Tänzerin (die Hofoper war bereits geöffnet), ein graues Automobil kam an, dumpf, Bariton singend, also über 30 HP. Das Gärtchen war voll gelber Blumen, die wie kleine Sonnenblumen aussahen, und die Kaninchen im Käfig stellten die Ohren unregelmäßig schief. Die beiden Freunde rauchten Prinzesas und glotzten auf die zumeist leeren weißen Tische und Bänke. Im Vorfrühling, im Herbste entwickelt sieh hier ein Leben und »Treiben«. Aber man hatte den 31. August! Infolgedessen fuhren die beiden Freunde weiter zum Winterhafen. Donau, kleines Bahngeleise, große Lederfabrik, holperiges Granitpflaster, gut genug für Schneckengang gehende breiträderige Lastwagen! Das Automobil aber sprang, galoppierte, hüpfte, war wie deklassiert auf dieser gepflasterten Lastenstraße. Links war der Winterhafen, rechts ein erhöhtes Plateau aus Donausand und Donaukieselsteinen errichtet, bespickt mit jungen Birken. Da hatte man einen Rundblick auf bleigraue Hügel, schwarze Fabrikschornsteine und die Glut des Sonnenunterganges. Man sah das düstere Pulvermagazin, den Laaerberg, den Zentralfriedhof, den Kahlenberg - - -. Wie in grauem, flüssigem Blei des Himmels und der Erde wogte die dunkelrote Glut der Sonnenuntergangsstreifen. Die Lederfabrik war wie ein schwarzes Ungeheuer, und drei riesige Schornsteine sandten schwarzen Rauch in die Glut, wie schmale Dampfspritzen, die ungeheure Brände löschen möchten! Die dünnen, zarten Birken auf dem Donauschütte bebten im Abendwind, und die beiden Freunde suchten schöne, glatte, hellbraune Kieselsteine aus als Andenken an den friedvollen Abend. Auf der Landstraße wartete das rote Automobil, Mercedes 18-24, das ein kleiner Landstraßen-Orientexpreßzug werden konnte bei Schnelligkeit vier. Die rote Glut im Blei des Himmels wurde himbeerfarbig, dann dunkelgraurot. Die beiden Freunde sagten: »Nun gibt es nichts mehr zu schauen. Das Stück ist zu Ende.« Sie bestiegen daher das rote Automobil und sagten zu dem Chauffeur: »Geschwindigkeit vier, bitte - - -« Sie rasten in den Grabenkiosk zurück. Dort saß noch die Französin, die man nur mit den Augen begrüßen durfte. Aber in dieser Stunde durfte man bereits zu ihr sagen: »Guten Abend - - -« Und die beiden Herren sagten höflich: »Bon soir - - -.« Im Volksgarten (in "Wie ich es sehe", 4. Aufl., Berlin 1904) »Ich möchte einen blauen Ballon haben! Einen blauen Ballon möchte ich haben!« »Da hast du einen blauen Ballon, Rosamunde!« Man erklärte ihr nun, daß darinnen ein Gas sich befände, leichter als die atmosphärische Luft, infolgedessen etc. etc. »Ich möchte ihn auslassen - - -«, sagte sie einfach. »Willst du ihn nicht lieber diesem armen Mäderl dort schenken?!?« »Nein, ich will ihn auslassen - - -!« Sie läßt den Ballon aus, sieht ihm nach, bis er verschwindet in den blauen Himmel. »Tut es dir nun nicht leid, daß du ihn nicht dem armen Mäderl geschenkt hast?!?« »Ja, ich hätte ihn lieber dem armen Mäderl geschenkt!« »Da hast du einen andern blauen Ballon, schenke ihr diesen! »Nein, ich möchte den auch auslassen in den blauen Himmel!« - Sie tut es. Man schenkt ihr einen dritten blauen Ballon. Sie geht von selbst hin zu dem armen Mäderl, schenkt ihr diesen, sagt: »Du lasse ihn aus!« »Nein«, sagt das arme Mäderl, blickt den Ballon begeistert an. Im Zimmer flog er an den Plafond, blieb drei Tage lang picken, wurde dunkler, schrumpfte ein, fiel tot herab als ein schwarzes Säckchen. Da dachte das arme Mäderl: »Ich hätte ihn im Garten auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut, nachgeschaut - - -!« Währenddessen erhielt das reiche Mäderl noch zehn Ballons, und einmal kaufte ihr der Onkel Karl sogar alle dreißig Ballons auf einmal. Zwanzig ließ sie in den Himmel fliegen und zehn verschenkte sie an arme Kinder. Von da an hatten Ballons für sie überhaupt kein Interesse mehr. »Die dummen Ballons - - -«, sagte sie. Und Tante Ida fand infolgedessen, daß sie für ihr Alter ziemlich vorgeschritten sei! Das arme Mäderl träumte: »Ich hätte ihn auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut - - -!« Zwölf (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) »Das Fischen muß sehr langweilig sein«, sagte ein Fräulein, welche davon so viel verstand wie die meisten Fräulein. »Wenn es langweilig wäre, täte ich es ja nicht«, sagte das Kind mit den braunblonden Haaren und den Gazellenbeinen. Sie stand da, mit dem großen unerschütterlichen Ernst des Fischers. Sie nahm das Fischlein von der Angel und schleuderte es zu Boden. Das Fischlein starb - - -. Der See lag da, in Licht gebadet und flimmernd. Es roch nach Weiden und dampfenden verwesenden Sumpfgräsern. Vom Hotel her hörte man das Geräusch von Messern, Gabeln und Tellern. Das Fischlein tanzte am Boden einen kurzen originellen Tanz wie die wilden Völker - - - und starb. Das Kind angelte weiter, mit dem großen unerschütterlichen Ernst des Fischers. »Je ne permettrais jamais, que ma fille s'adonnât `a une occupation si cruelle«, sagte eine Dame, welche in der Nähe saß. Das Kind nahm das Fischlein von der Angel und schleuderte es wieder zu Boden, in die Nähe der Dame. Das Fischlein starb - - -. Es schnellte empor und fiel tot nieder - - ein einfacher sanfter Tod! Es vergaß sogar zu tanzen, es marschierte ohne weiteres ab - - -. »Oh - - -«, sagte die Dame. Und doch lag im Antlitz des grausamen braunblonden Kindes eine tiefe Schönheit und eine künftige Seele - - -. Das Antlitz der edlen Dame aber war verwittert und bleich - - -. Sie wird niemandem mehr Freude geben, Licht und Wärme - - -. Darum fühlte sie mit dem Fischlein. Warum soll es sterben, wenn es noch Leben in sich hat - - -?! Und doch schnellt es empor und fällt tot nieder - - - ein einfacher sanfter Tod. Das Kind angelt weiter, mit dem großen unerschütterlichen Ernst des Fischers. Es ist wunderschön, mit seinen großen starren Augen, seinen braunblonden Haaren und seinen Gazellenbeinen. Vielleicht wird es auch einst das Fischlein bemitleiden und sagen: »Je ne permettrais jamais, que ma fille s'adonnât `a une occupation si cruelle - - -!« Aber diese zarten Regungen der Seele erblühen erst auf dem Grabe aller zerstörten Träume, aller getöteten Hoffnungen - - -. Darum angle weiter, liebliches Mädchen! Denn, nichts bedenkend, trägst du noch dein schönes Recht in dir - - -! Töte das Fischlein und angle! Siebzehn bis dreißig (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) Ich kam einmal zu dem ersten Friseur der Residenz. Es roch nach Eau de Cologne, nach frisch gewaschenen Leinenmänteln und zartem Zigarettenrauch Sultan flor, Cigarettes des Princesses égyptiennes. An der Kassa saß ein junges Mädchen, mit hellblonden seidenen Haaren. »Ah«, dachte ich, »ein Graf wird dich verführen, du Wunderschöne - - -!« Sie sah mich an, mit einem Blick, der sagte: »Wer du auch seist, einer unter Tausenden, ich sage dir, das Leben liegt vor mir, das Leben - - -! Weißt du das?!« Ich wußte es. »Ah«, dachte ich, »es kann aber auch ein Fürst sein - - -!« Sie heiratete einen Cafetier, der in einem Jahr zugrunde ging. Sie war gebaut wie eine Gazelle. Seide und Samt erhöhten nicht ihre Schönheit - - am schönsten war sie wahrscheinlich nackt. Der Cafetier ging zugrunde. Ich traf sie auf der Straße mit einem Kinde. Sie sah mich an, mit einem Blick, der sagte: »Ich habe das Leben dennoch vor mir, das Leben, weißt du das - -?!« Ich wußte es. Ein Freund von mir hatte den Typhus. Er war Junggeselle, reich und bewohnte die See-Villa. Als ich ihn besuchte, machte eine junge Dame, mit hellblonden seidenen Haaren, die Eisumschläge. Ihre zarten Hände waren ganz aufgerissen vom Eiswasser. Sie blickte mich an: »Das ist das Leben - -! Ich habe ihn lieb - -! Weil das das Leben ist - -!« Als er genesen war, überließ er die Dame einem anderen reichen jungen Manne - - -. Er trat sie einfach ab, ganz einfach - - -. Das war im Sommer. Später überfiel ihn die Sehnsucht - - im Herbst. Sie hatte ihn gepflegt, sich an ihn angeschmiegt mit ihrem süßen Gazellenleib - - -. Er schrieb ihr: »Komm zu mir - - - Eines Abends im Oktober sah ich sie mit ihm in den wunderschönen Hausflur treten, in dem acht Säulen aus rotem Marmor schimmerten. Ich grüßte sie. Sie blickte mich an: »Das Leben liegt hinter mir, das Leben - -! Weißt du das?!« Ich wußte es. Ich kam zu dem ersten Friseur der Residenz. Es roch noch immer nach Eau de Cologne, nach frisch gewaschenen Leinenmänteln und zartem Zigarettenrauch Sultan flor, Cigarettes des Princesses - -. An der Kassa saß wieder ein junges Mädchen, mit braunen welligen Haaren. Sie blickte mich an mit dem großen Triumphblick der Jugend - - - profectio Divae Augustae Victricis - - -: »Wer du auch seist, einer unter Tausenden, ich sage dir, das Leben liegt vor mir, das Leben - - -! Weißt du das?!« Ich wußte es. »Ah«, dachte ich, »ein Graf wird dich verführen - - - es kann aber auch ein Fürst sein!« Fünfundzwanzig (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) Jeden Nachmittag um fünf Uhr erschien sie auf der Esplanade. Die Musik spielte in einem gelben Holz-Pavillon, und die Damen trugen wunderschöne Kleider und Hüte. An den meisten Tischen auf dem in den See rund vorspringenden Plateau schimmerte es weiß und lila oder weiß und grün. Das waren die Modefarben. Aber es gab auf dieser weiten Fläche von feinen Stoffen, gelbem Stroh, französischen Blumen, Eulen- und Straußfedern auch rostrote und stahlblaue seidene Flecken und ganz hellbraune aus Rohseide, wie Milchkaffee, mit matten schottischen Bändern - - -. Die junge Frau, die täglich um fünf Uhr auf der Esplanade erschien, war wunderbar schön und trug wunderbare Kleider. Zum Beispiel eines aus braunrosa Seide mit weißer und hellgrüner Stickerei. Aber ihr schönster Schmuck war das Kind, das mit der Bonne an ihrer Seite ging. L'enfant russe, Katja. Das ist Schönheit, Grazie, süße Heiterkeit und weißes leuchtendes bezauberndes Licht. Das ist der Mensch, wie ihn die ideale träumende Natur ersehnt, das ist die Dichtung der alten Mutter Erde - - -. Reiche elegante Herren saßen bei der jungen Dame - - -, aber nie zusammen. Zum Beispiel der Herr Graf T. und dann später der Herr von A. und dann der Rittmeister Baron; - - oder auch umgekehrt. Die Reihenfolge wurde nicht eingehalten. Manche blickten auch nur hin, ohne zu grüßen, und lächelten. Andere grüßten, wie wenn sie sagen würden: »Ich grüße dich! Ho! Warum denn nicht?! Es ist ja ein Kurort, ein Rendez-vous der Welt!« Katja saß da, mit ihren goldenen Haaren und den wunderbaren sanften Augen - - - - -. Niemand kümmerte sich um sie. Die Frau Mama, die schöne Frau Mama, stützte die Ellbogen auf den Tisch und schaute auf die Bäume mit den breiten Blättern, auf den schimmernden See, in die Augen des Herrn von - - -. Um sieben Uhr schickte man Katja schlafen. Sie sagte sanft: »Adieu Mami - - -.« Die junge Dame antwortete nicht - - -. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und schaute auf die Bäume mit den breiten Blättern, auf den schimmernden See, in die Augen des Herrn von - - -. Die Esplanade wurde dunkel. Die wunderschöne junge Dame ging langsam die Allee entlang - - -. Niemand kümmerte sich um sie. Bis dahin Prinzessin des Lebens und jetzt, wenn der Abend kommt, einsam - - -! Und in der Nacht vielleicht wieder Prinzessin, Königin, Göttin - - -. Abenddämmerung, Frieden - - -. Eltern sitzen auf den Bänken, ein wenig ermüdet von den Landpartien; Kinder denken ernst an das Souper, und junge Menschen, die sich lieb haben, führen leise Gespräche und fühlen sich riesig glücklich - - -. Sie haben die Empfindung: »Es ist eine unvergeßliche Stunde in meinem Leben - - -.« Immer haben sie solche »unvergeßliche Stunden«, diese jungen Leute, die sich lieb haben. Die jungen Mädchen denken. »Vielleicht wird es so sein - - -. Ich werde einst sagen: ›Weißt du noch, wie wir damals abends auf der Esplanade saßen?!‹ Da sagte ich: ›Wie der See im Dunkel verschwimmt und dennoch leuchtet - -!‹ Und du sagtest: ›Wie du - - -! Damals warst du wie ein Dichter!‹« Und dann kommt die Mutter, dieses unselige Geschöpf, das vor der Seele Schildwache steht, und sagt: »Ellie« oder »Marion« oder »Riquetta«, »ich glaube, es wird kühl«, oder »es ist spät, ich glaube, wir gehen nach Hause - - -«. Und die jungen Männer sagen: »Auf Wiedersehen, Fräulein, kommen Sie morgen früh auf die Esplanade!?« Und die Fräulein sagen »vielleicht - - -«. Die Fräulein sagen immer »vielleicht«, aber sie meinen »bestimmt - - -!« Die Esplanade wurde leer. Die junge wunderschöne Dame setzte sich auf eine Bank. Der See sang ein sanftes Lied - - -. Da sang ihre müde stolze Seele mit, den einzigen Laut der Liebe, den sie hatte: »Adieu Mami - - -.« Die Natur (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) Er trug auf dem Spaziergang ihre Jacke. Diese war außen hellbraun, innen aus lila Seide. Der Duft der Seide berauschte ihn, wiegte ihn ein - - -. Er atmete diesen Duft ein, der von ihrem süßen warmen ambrafarbigen Leib in die weiche Seide geflossen war, extrait fleure d'Anita - - -. »Warum haben Sie die Jacke getragen?!« fragte Frau v. E., »macht Ihnen das Vergnügen?! Wozu - -?!« »Aus Höflichkeit - -«, sagte er, »es ist eine Jacke wie eine andere, man muß das tun - - -.« Bei dem kleinen Gasthofe am See-Ufer, auf der Wiese mit den Birnbäumen war eine Schaukel. »Schaukeln Sie mich - - -«, sagte das Fräulein. Wenn sie an ihn heranschwebte, hatte er die Empfindung einer ungeheuren Nähe, manchmal berührte er ihr Kleid, einmal sogar - - -. »Warum haben Sie das Fräulein geschaukelt - -?!« fragte Frau v. E., »es ist kindisch, so etwas gibt es in den Bilderbüchern, ich habe es von Erwachsenen nie gesehen - - -.« Er schwieg. »Er ist ein Gymnasiast - -«, dachte Frau E. Als er oben am Hügel mit dem jungen Mädchen auf dem kurzen warmen trockenen Grase lag, in der Abendsonne, berührte er leise ihre Hand. Der Wind wehte lau. Ein Vogel machte »hi hi hi hi hia - - -.« Dann versank die Sonne. Der Wind wehte kalt. »Wie war es - - -?!« fragte Frau E. den Herrn. »O schön - - -. Erst ist es warm und trocken, dann sinkt das Thermometer, die Abendsonne funkelt herüber, der See hat kupferrote und flaschengrüne Streifen, plötzlich wird er bleigrau, das Thermometer sinkt und die Wiesen beginnen zu duften und feucht zu werden - - -.« »Poet - - -«, sagte Frau E. Am nächsten Abende ruderte Frau E. allein in einem kleinen Boote - - -. Sie fuhr langsam das Ufer entlang - - -. Da kam die dunkelgrüne dicke Linie der Kastanienbäume an den grauen zyklopischen Kaimauern, dann eine kleine hölzerne Villa, in der ein sterbender Dichter lag, dann eine große aus Stein mit schmiedeeisernen Kandelabern, in der eine sterbende Ehe lag und zwei blühende Kinder, dann kam der Garten der Herzogin, die einen Sohn verloren hatte, den sie nie besessen hatte. Da hingen schwarze Haselstauden ins Wasser. Dann kamen Wiesen mit feinen Sumpfgräsern und goldenem Löwenzahn, dann kam Schilf mit hellbraunen Federbüschen, das raschelte. Der Märchendichter würde sagen: »Und es raunte sich Geschichten zu, Geschichten - - -!« Dann kamen Wiesen, die ganz still dalagen - - -. Frau v. E. saß, ein bißchen gebückt, in ihrem kleinen Boote und genoß den Abendfrieden - - -. Der Landungssteg (in "Wie ich es sehe", 4. Aufl., Berlin 1904) Ich liebe die Landungsstege an den Salzkammergut-Seen, die alten grauschwarzen und die neueren gelben. Sie riechen so gut wie von jahrelang eingezogenem Sonnenbrande. In dem Wasser um ihre dicken Pfosten herum sind immer viele ganz kleine grausilberne Fische, die so rasch hin und her huschen, sich plötzlich an einer Stelle zusammenhäufen, plötzlich sich zerstreuen und entschwinden. Das Wasser riecht so angenehm unter den Landungsstegen wie die frische Haut von Fischen. Wenn das Dampfschiff anlegt, erbeben alle Pfosten, und der Landungssteg nimmt seine ganze Kraft zusammen, den Stoß auszuhalten. Die Maschine des Dampfschiffes mit den roten Schaufelrädern kämpft einen hartnäckigen Kampf mit dem in renitenter Kraft verharrenden Landungssteg. Er gibt nicht nach, wehrt sich nur, soweit es unbedingt nötig ist, nach außen hin und erzittert vor innerem Widerstande. Endlich siegt seine ruhige, in sich verharrende Kraft, und das Schiff läßt locker, gibt nach, entfernt sich wieder. Stunden und Stunden liegt der Landungssteg für Dampfschiffe, meistens im Sonnenbrand dörrend, einsam, gemieden da. Plötzlich kommen angeregte Menschen in lichten Kleidern, sammeln sich auf dem Landungsstege. »Geht nicht zu weit vor«, sagen die Eltern und betrachten den Landungssteg als eine imminente Gefahr. Ich könnte nun mit einiger Berechtigung sagen: »Irgendwo, abseits, lehnen zwei hart nebeneinander stumm am Geländer.« Aber das ist alte Schule, und infolgedessen unterdrückt man es. Ich kann jedoch nicht leugnen, daß das beharrliche Hinabstarren am Geländer des Landungssteges in das Wasser, in der Nähe einer jungen Dame, durch längere Zeit durchgeführt, oft seine laute verständliche innere Sprache spricht. Auf den Landungsstegen werden meistens kleine unbrauchbare Fische gemartert. Man fängt sie, schleudert sie zu Boden, weidet sich an ihrem Totentanze. Freilich, zwischen den Zähnen eines Hechtleins ist es auch nicht angenehmer. Und wer stirbt ruhig in seinem Bette?! Auf den Landungsstegen befinden sich ebenfalls zuzeiten die Komitees und das Präsidium der Jachtwettfahrer. Segelregatta. Stundenlange starren sie mit Operngläsern irgendwohin, auf einen mysteriösen Punkt im See, und niemand aus dem Publikum hat eine Ahnung, was vorgeht. Trotzdem ist alles sehr aufgeregt. Hie und da fällt ein technischer Ausdruck. Plötzlich wird Hurra geschrien und einiges emsig notiert. Der Landungssteg ist da wie der Hügel eines Feldherrn. Man starrt mit Operngläsern auf den Ausgang der Schlacht. Da ist der Landungssteg mitten im Leben drin. Dann liegt er wieder in Mondnächten da wie ein dunkles Ungetüm, zieht sich, streckt sich schwarz hinaus in den silbernen See. Ich liebe die Landungsstege der Dampfschiffe an den Salzkammergut-Seen, die alten grauschwarzen und die neueren gelben. Sie sind mir so ein Wahrzeichen von Sommerfreiheit, Sommerfrieden, und sie duften wie von jahrelang eingesogenem Sonnenbrande - - - Spätsommer-Nachmittag (in "Wie ich es sehe", Berlin 1896) »Ich kann nur anziehen, nicht fesseln - - -«, sagte sie. Sie trug ein hellblaues weites Kleid mit weißen winzigen Pünktchen, einen braunen Strohhut mit weißen Nelken - - -. »Da oben ist ein schöner Waldweg - - -«, sagte er, »überall kleine Felder von Disteln und lila Blumen und Birken, man geht schnurgerade, und unten schlägt der Fluß weißen Schaum - -.« Sie sah ihn an, wie wenn man sagt: »Da möchtest du mit mir sein und den Duft meines Kleides atmen - - -!?« Aber sie gingen nicht den schnurgeraden Weg mit den kleinen Lichtungen von Disteln, lila Blumen und Birken, sondern sie tranken Kaffee en grande societé auf der feuchten Wiese an einem rotbraunen Tische und spielten dann Federball - -. Die Haare des jungen Mädchens wurden feucht, und zarte Ringellöckchen schwebten an den Schläfen - -. Sie war sehr schön - - -. Es begann zu regnen - - -. Die ungemähten Wiesen rochen stark wie Waldmeister im Mai. Die braunen Wege begannen zu glänzen wie Glaserkitt. Die Kieselhaufen an der Straße wurden reingewaschen, und die Pappeln erzitterten und tranken Regen - - -. Sie trug den schönen Strohhut mit den weißen Nelken in der Hand, und er hielt den Schirm über ihre braunen Haare wie eine gute sorgsame Mama -. Dann gingen sie in das Klavierzimmer des Casino. Ein kahler dunkler Raum, der nach Keller roch - - -. Der Bruder des Mädchens spielte Chopin, Etüde As-Dur. Es war wie See-Wellen, die singen, herangleiten und zerrinnen - - -. Es wurde ganz dunkel. Draußen an dem Fenster verneigten sich die Kastanienblätter vor den Windstößen, und der Sturm machte. sch sch sch - -. In der Ferne schimmerte eine Glaslaterne - -. Drinnen glitt die As-Dur-Etüde heran, legte sich an die Herzen und zerrann - - -. Der Herr und die Dame rauchten - -. Man sah nur die glühenden Spitzen der Zigaretten Er saß ganz nah bei ihr und bebte - - -. »Tanzen wir - - -«, sagte sie. Draußen verneigten sich die Kastanienblätter vor den Windstößen, die Zigaretten leuchteten auf dem Fensterbrett, der Bruder spielte, und die zwei tanzten im Dunkel langsam, lautlos dahin - - -. Später sagte sie: »Wie heißt diese Etüde, die du da früher gespielt hast - - -?!« »Chopin As-Dur - -«, sagte der Klavierspieler. Dann fügte er hinzu: »Robert Schumann sagt Wunderbares über dieselbe. Warum fragst du?!« »Nur so - - -.« Der junge Mann aber war wie in einer andern Welt - -. Er fühlte auch Wunderbares über die As-Dur-Etüde, aber er konnte es nicht ausdrücken wie Schumann - - -. Er sagte nur leise zu dem Mädchen: »Meine gütige Königin - - - - - -!« Absinth »Schönheit« (in "Wie ich es sehe", Berlin 1904) Spät am grauen Morgen erwachte er. Eine wunderbare Kälte war in dem kleinen Gemache. Er glitt aus diesem warmen Kanale »Leinentuch, hellblaue Steppdecke, Plümeau«, sorgsam heraus, damit Kamilla keine kalte Luft erhalte und heizte das freundliche Regulir-Füll-Öfchen mit hartem Holze vermittelst Harz-Zündern. Früher schloss er natürlich das Fenster, diese »Lunge des Zimmers«, und hängte den dreifachen Kotzen vor aus weichem Kameelhaar. Kamilla – – – jawohl, da lag sie für zehn Kronen. Heiliger Athem der Nacht – – –! Ah, könnte man das von allen Frauen sagen!? Aber Dein Athem, Kamilla, kostet blos zehn Kronen und hat den Duft von Berg-Wiesen. Kein eigentlicher Geruch. Nur von Kraft und Frische ein Hauch! Ein Stier frisst Blumen, verdaut sie, macht sie zu Mist. Und dieser Mist, den er aus Blumen machte, gab ihm sein Leben, seine Kraft. Und seine Dankbarkeit heißt: Dirne! Das Holz im Öfchen wurde durch und durch leuchtend und knackste. Dann begann ein Feuermeer und die Flammen benahmen sich wie keuchende Hunde: h-ts, h-ts, h-ts, h-ts. Das Öfchen versandte Wärme; wie der Geist eines Dichters! Alles wurde imprägnirt mit Wärme, sträubte sich und wurde dennoch imprägnirt. Sogar die weisse Kalkmauer öffnete ihre Poren und athmete ein und wurde milder. Da entfernte er sanft das Plümeau, die Decke, und betrachtete dieses »Kunstwerk Gottes«, das Bewegung in die träge Welt pumpt wie eine mysteriöse Elektrisirmaschine, diesen »Ruhe-Mörder« Frauenleib! Er sass da und begann alle diese schrecklichen Phantome zu fürchten und zu hassen, die Gespenster, die in unheimlicher Macht und unfassbar im Herzen eines Mannes aufsteigen – die »Anderen«. Den Herren mit den begeisterten Briefen, den Lieutenant-Stellvertreter mit der jugendlichen Lust, den düsteren Chef, welcher die Macht hatte, den Marqueur, welcher für sie ein Sparkassen-Buch angelegt hatte, den Besitzer der mechanischen Schiessstätte, welcher ihr für »Löcher in's Weisse« Preise gab, und Alle und sich selbst! Denn sich selbst ist man Phantom, Gespenst, wie ein Anderer, der man sonst nicht ist, in Weibes Nähe! Was hatten sie ihr geraubt, die Phantome?! Welche Spuren zurückgelassen?! Nichts, nichts. Jedes Härchen war an seinem Platze und die Haut in ihrer milden Blässe strahlte wie der Schnee Weisse aus in die Augen und machte diese glücklich und voll Licht-Kraft. Da lag sie, die »Verwüstete«. Ha ha ha ha – – – Armselige Vorurtheile geknechteter Menschheits-Seele! Wo waren denn, bitte, die Spuren des Samum, welcher über »blühende Gelände« strich?! Wie ein See, dessen Spiegel durch nichts getrübt würde, ein ewiger Schönheits-Strahler! Wirf störende Steine, senke scharfe Ruder, ziehe den eisernen Kiel durch – – – Besiegter! In Klarheit liegt er. Wie das Genie, dessen Herz Niemand verletzen könnte und welches Welten-Pulse pocht! So ist der schöne Leib des Weibes. Welche Spuren zieht ein Ruhe-Störer?! In »heiliger Elastizität des Lebens« verwischt der schöne Leib die böse Spur und wie ein Paradieses-Garten strömt er Schönheit aus und Schönheit und Schönheit und bringt Dir Frieden. Aber die Seele, die verwüstete?! Ihre Seele liegt in mir! Ich bin es selbst, nicht sie! Ihr »Geist gewordener« schöner Leib bin ich. Und ihre »Form« ist meine »Gebilde gewordene« Seele. Wie wenn Gott-Canova meine Seele ausgemeisselt hätte zu lebendigem Sein, Materie, ist ihr Leib! Ich bin ihr Wesen, sie ist meine Form. Wir beide sind das Sein der Welt im »Paare« – – – Er ging zum Öfchen, betrachtete das Holz. Fertig war es. Zusammengesunken, abgefallen, erschöpft, grau und dünn lag es, weil es zu sehr geflammt hatte und athmete schwer, erstarb nach erfüllter Mission. Im Zimmer aber befand sich seine Seele, die Wärme, und brachte Leben. Kamilla lag da, nackt, und athmete diese Holzes-Seele ein und stappelte neue Kräfte auf durch Wärme und Ruhe für den Lieutenant-Stellvertreter, diese Jugendlust, und den düsteren Chef und den Schiessbudenbesitzer und Alle, Alle. Da dachte der Herr: »Alles bist Du nun geworden, da Du nichts mehr bist als schön, Dirne! Doch noch erstrahlst Du, ach, in heidnischer Wärme! Dich kalt machen! Dich in Eis legen, einsargen zwischen Kristall-Eisblöcken aus Fabriken! Dass Du kalt werdest! Und allen zuwider wie der Hauch des Winters. Dass nichts mehr von Dir ausstrahle, Du Unglücks-Ofen »Weib« und keine Lebenswärme sich verbreite! Erlöst wären wir, Dich in Kristall-Eis-Blöcken gebettet zu sehen statt in den lauen Linnen! Und fühlen, dass die Kälte Dir hineindringe, ganz, ganz hinein, überallhin, in die Heiligthümer Deiner Hitze-Quellen und Alles auslöschen würde, Dich und die Phantome und den düsteren Chef, den Lieutenant-Stellvertreter und den Schiessbudenbesitzer; und Alle würden vor Kälte hin werden, abfallen, grau, dünn werden, ohne Mission. Ha ha ha ha – – – ich aber bliebe am Leben! Ich! Denn Dein Wesen ist abhängig von Gluthen, aber Deine Form ist ewig wie das Eis im Polarmeere! Und ich bliebe bei Dir! Denn ich liebe nicht Dein Wesen, welches nur die Form meiner Materie, sondern Deine Form, welche die Materie meines Wesens ist! Die Schönheit meiner Gedanken ist die Schönheit Deines Leibes! Die Pracht meiner Seele sind die Linien Deiner Glieder! Und die Kristall-Eis-Blöcke der Fabriken, in welche Du gebettet wärest zu Tode, könnten nicht eine einzige Deiner Linien vernichten, welche allein meine Liebe in Brand erhalten! Und das Ewige würde sich mit dem Ewigen vermählen! Das Unzerstörbare mit dem Unzerstörbaren! Die Schönheit Deiner Seele: »Leib« mit der Schönheit meines Leibes: »Seele« – – –! So aber herrscht nur das traurige Gesetz der Materie; hat sie vielleicht nicht Wärme genug für Alle, tausend Millionen Caloriferen?! Muss sie die latenten Kräfte nicht an den Weltenraum abgeben, wo kalte Leiber daran sich zu Gluthen lecken?! Ha! kalt machen! Daß nur die Kaiserin »Schönheit« herrsche! Dass Du ewig werdest, Vergängliches! Und nur dem Einen, dem Gott-Menschen bliebest, der Dich »erkannt« hat, seiest Du warm gezeugt von einem Weibe oder kalt vom Marmor des Canova, gleichviel! Ewig wärest Du sein! »Mensch gewordene« Welten-Schönheit!! Jene aber erwachte und war glühend. Und sie sagte: »Du, komm' – – –.« La Zarina (in "Was der Tag mir zuträgt", 2. Aufl. Berlin 1902) A. L. und P. A. sahen sie zum ersten Male in dem Auslagekasten für Photographien am Kohlmarkt. Sie starrten schweigend das Vollkommene an, begannen sogleich alle Frauen zu hassen, die bisher in ihren Lebensweg getreten waren, und verachteten sich selbst, daß sie es hatten so billig geben können. La Zarina! Ganz befreit von dem bisherigen entsetzlichen Lügedasein schritten sie nun dahin. Sie hatten das Vollkommene erblickt, wußten nun endlich, woran sie waren. Eines Nachts saßen sie im Café R. und starrten La Zarina an, die mit drei Adeligen Champagner trank und unbeschreiblich liebenswürdig sich gebärdete, direkt edelste Menschenfreundlichkeit überallhin ausstrahlte. Als sie wegging, blieben sie wie berauscht zurück, hinweggetragen über das Alltägliche, also in einer anderen Sphäre! Dann sahen sie sie nicht mehr wieder und lasen nur in den Zeitungen die Klischees von Reklamenotizen, da sie bei Ronacher Poses plastiques stellte. Sie gingen niemals hin. Sie fühlten: »In Kleidern, Süße, sahen wir dich bereits nackt, Vollkommene! Konzessionierte, zensurierte Nacktheit jedoch von drapfarbiger Seide Gnaden?!? Kleider sind Phantasie der Wahrheit. Doch seidenes Trikot ist Wahrheitsfälschung!« Dann sah P. A. sie einmal noch weiß in weiß in einer Proszeniumsloge in einem Theater. Dies meldete er seinem Freunde. Dieser war ganz ergriffen und bewegt. Da saßen sie denn, tief bekümmert, beim Souper, erfüllt von Träumen und Begeisterung. Sie gaben infolge aller dieser Ereignisse ihren treuen süßen Freundinnen den Laufpaß, schrieben kurzweg ab, infam, brutal: »Das Unzulängliche mordet uns...«, schrieben sie, »adieu...!« Dann kauften sie ein großes Glücksschwein aus grünem Ton mit einer Spalte, warfen ein jeder eine Krone hinein, vorläufig. Wenn La Zarina einst verarmen sollte und verkommen...! Aber La Zarina verarmte und verkam nicht. Immer jedoch sammelten die Freunde noch getrost. Drei grüne Glücksschweine aus Ton waren bereits angefüllt mit silbernen Kronenstücken. Es war der heilige Schatz für die sicher einst verlassene, enttäuschte und zerpflückte süße La Zarina. Es waren 70 Kronen vorhanden für Schicksals unberechenbare Wege! Aber La Zarina erhielt einen Millionär, wurde nicht zerpflückt, stieg höher, höher, wurde sogar geheiratet. Da feierten denn endlich eines Nachts die beiden Freunde ganz in der Stille ein Fest zu Ehren der Dame, die ihrer niemals bedurft hatte. Den ganzen silbernen Inhalt der drei Glücksschweine vertranken sie in Veuve Clicquot. Bei jeder Flasche sagten sie nur sanft und leise: »La Zarina!« und erhoben sich von ihren Sitzen. Schließlich waren sie ganz betrunken und hielten es für einen ganz passenden Abschluß dieses Liebesabenteuers, ja sogar in jeder Beziehung für den passendsten. Zum Schlusse schrieben sie natürlich eine Ansichtskarte an La Zarina, mit einem Texte, den sie bereits für die Chantant-Kaiserinnen Othérô, Cléo, Billie Burke, Elise de Vere, Minnie Ashley und Mage Lorrison-Osborne verwendet hatten. Der Text dieser Karte lautete: »Es ist nicht wahr, daß Gott die Menschen nach seinem Ebenbilde schuf! In dieser Weise schuf er einen einzigen Menschen... La Zarina!« Da sie die Adresse nicht kannten, schrieben sie in idealer Zuversicht: »An La Zarina in Europa.« »La Zarina in Europa...«, sangen sie laut durch die stillen Straßen auf dem Heimwege. Die Passanten blieben stehen und sagten: »Halt's Maul!« Die Reifen-Künstler. Variétée-Kritik (in "Märchen des Lebens", Berlin 1911) Sie waren ganz in Weiß gekleidet und hatten 1000 weiße Holzreifen. Es waren fünf wunderschöne magere Jünglinge mit scharfen Adlergesichtern und fast eingefallenen Wangen und ein 14jähriges Mädchen, ebenfalls mit einem Adlergesicht, aber viel zarter und aristokratischer und flachsblond. Sie arbeiteten wie zu ihrem eigenen ausschließlichen Vergnügen, wie auf weiten englischen Wiesen der Fürstenschlösser. Wenn etwas fehlging, erschien es allen als das Natürlichste von der Welt und niemand hatte die Empfindung, daß sie nicht überaus vortreffliche Künstler wären. Auf den Gesichtern der Reifenspieler war freudige Erregung, wie jedes mit Anmut dargebrachte Vollkommene es auf dem Antlitze widerspiegelt, ein edler Gegensatz zu »im Schweiße deines Angesichtes«! Die weißen Holzreifen wurden zu lebendigen Wesen, liefen, sprangen, flogen, tanzten, rannten über die biegsamen Leiber der Spielenden. Mit äußerster Zartheit behandelte man das Mädchen, stellte sie auf bequemere Posten, auf minder exponierte in der Reifenschlacht, wo hunderte Reifen zugleich durch die Luft sausten. Zwei Jünglinge standen auf steilen Gerüsten, um alle sausenden Reifen aufzufangen. Da sagte die wunderschöne junge Dame in der Loge zu ihren drei Kavalieren: »Wer von euch im nächsten Sommer auf unserem Schlosse auf der großen Wiese so Reifen spielen kann wie diese, erhält meine Hand!« »Zu Artisten sind wir uns zu gut«, dachten zwei der Kavaliere und verzichteten innerlich. Aber der dritte sagte: »Wenn ich nicht veranlagt wäre, diese körperliche Vollkommenheit zu erreichen, wäre ich Ihrer, Komtesse, überhaupt nicht würdig –.« Tosender Beifall belohnte die Reifenspieler für ihre schwierigsten Tricks. Aber in ihrem feurigen Eifer spielten sie dennoch wie ausschließlich zu eigenem Vergnügen, achteten nicht der Beifallsstürme, postierten das junge Mädchen, wo es leichtere Arbeit hatte, und als sie selbst hier etwas versah, ging einer hin und küßte sie beruhigend auf die Wange. Man hatte das Gefühl von edel-leichten Organisationen, wie Antilopen, Gazellen, Eidechsen. Man dachte sogar: »Die können nicht gemein sein, boshaft, heimtückisch – – –.« Und in der Tat sind solche Artisten meistens gutmütig und zufrieden mit dem Schicksal. Die Dame in der Loge sagte zu ihrem dritten Kavalier: »Sie brauchen nichts mehr zu erweisen, Sie haben bereits die Probe bestanden, indem Sie zuversichtlich es auf sich nahmen; wir gehören einander!« Yvette Guilbert (in "Neues Altes", Berlin 1911) Sie ist das Wunder des Chansons, das, an und für sich nichtig, farblos, leblos, durch sie eine Fülle von Tragik, grotesken Dingen, Lieblichkeit, Koketterie erhält. Ihre Augen bereits drücken alles aus, was es an seelischen Dingen überhaupt gibt, aber auch ihre Arme und Hände sprechen überaus eindringlich. Ihre Wirkungen grenzen an das Wunder. Und diese nur andeutende Art, diese wechselnden Nuancen, der clin d'œuil, der alles sagt, was zu sagen ist. Sie allein von allen hat die Macht, ein Lied auszuschöpfen, ja, es erst in seiner Fülle zu dichten! Ganze Schicksale bringt sie in einen sinnlosen Refrain, und man staunt über das Außerordentliche, das sich da ereignet. Aus einem Nichts ein Alles machen, darin könnten alle von ihr lernen, wenn es erlernbar wäre. Le minimum d'effort et le maximum d'effet ist auch ihre Devise. Den Höhepunkt ihrer Chansons bildet unbedingt »Les cloches de Nantes«. Wie ein düsteres Schicksal erdröhnen von allen Seiten die großen Glocken in den alten Kirchentürmen. Da gibt sie sich ganz aus, bricht los, bewirkt Enthusiasmus! Die Guilbert gehört zu den wenigen Erscheinungen, die einen als etwas nie wieder in die Welt Kommendes ergreifen. Man darf es nie versäumen, sie wieder und wieder zu sehen, zu studieren, so oft sich die Gelegenheit bietet. Für mich gehören zu solchen Erscheinungen Mitterwurzer, Girardi, Hermann Winkelmann. Es sind Menschen, die nicht ersetzt werden! Ihre Macht ist nicht zu definieren, da sie irgend etwas Rätselhaftes hat. Man befürchtet stets, daß sie einmal sterben werden, und geschieht es, ist man untröstlich, hat ein persönliches Leid erfahren. Man möchte in Trauer gehen um sie. So eine Organisation ist auch Yvette Guilbert. Diseusen, ach, lernet doch von ihr das leider Unerlernbare! Große Prater-Schaukel (in "Was der Tag mir zuträgt", Berlin 1901) Dies sind eure Absinth-Räusche des Lebens, Mädchen aus dem Volke! Alles wird zuunterst zuoberst gekehrt, gestürzt! Und beim Tal-abwärts kreischt ihr vor Angst und Erregung! Hier vergeßt ihr, daß der Zins vor der Türe ist und daß man in jedem Augenblicke schwanger werden und verlassen werden könnte! Hier erlebt ihr eure Meerfahrt-Emotionen, Seekrankheit für 10 Kreuzer! Und nachher in die Wiesen, in die dunklen weiten Wiesen! Pfeife, Schurl, wenn Polizei kommt! Bordell (in "Prodromos", Berlin 1906) „Bevor ich mit Ihrem reichen Freunde mich auf mein Zimmer zurückziehe, Herr Dichter, werde ich Ihnen noch Ihren geliebten Kake-Walk[2] vortanzen. Es ist mein Bestes, was ich zu bieten habe. Beneiden Sie Ihn nicht. Er bekommt nur den schäbigen Rest — — —.“ In einem Wiener »Puff« (in "Märchen des Lebens", Berlin 1911) »Du«, sagte die süße Anschmiegsame zu mir, »du, der da drüben ist nicht normal; er lebt auf einer Sandinsel in der Donau, läuft halbnackt herum, du siehst, er ist ganz braun von der Sonne. Der kommt nur her, um uns zu verachten! Dich auch, Peter, dich auch. Was nützt dir da dein ganzes schönes Dichten?!?« Der Herr drüben sah wirklich aus wie das Leben selbst. Oder wie ein Afrikareisender. Gegerbt von Licht und Luft, gegerbt! Seine Freunde an seinem Tische hatten sich alle bereits »verliebt«, wie der technische Ausdruck lautet. Nun forderten sie ihn auf, sich ebenfalls doch endlich zu »verlieben«. »Soll ich mich schwächen?!?« erwiderte der Braune den Bleichen. Und alle lachten. »Is dös deine Kraft, wenn du nix zum Ausgeben hast?!?« sagte die süße Anna. »Lass' ihn – – –«, sagte Hansi, »ein jeder weiß, was er zu tun hat. Wahrscheinlich nutzt ihm die Sonne auch nichts mehr – – –.« »Verachten Sie mich auch?!?« sagte der Braungebratene, und wandte sich an eine, die einen Fünfkreuzerroman las und ganz darin vertieft war. »Weshalb sollte ich Sie verachten?!? Ich kenne Sie gar nicht.« »Wie sind Sie überhaupt zu diesem Leben gekommen?!?« sagte der Naturgemäße sanft. Das ist die öde Frage aller Dilettanten des Lebens. »Das wird den Herrn wohl wenig interessieren können –.« »Doch. Sie scheinen mir zu etwas Besserem geboren!» Zweite Phrase des Dilettanten! »Ich wurde verführt – – –.« »Aha, die Liebe!« »Nein, nicht die Liebe!« »Also die Sinnenlust!« »Nein, man gab mir zu trinken, auf einer Landpartie – – –.« »Also der Alkohol! Eines der drei Gifte mußte es ja sein – – –.« Er registrierte das Ganze unter die Rubrik »Alkohol«. Anna ging vorbei und sagte: »Sie, Herr Robinson Crusoe, verführen Sie mir diese Unschuld nicht –«. Der Donauinselsandsonnenmensch ging an das geöffnete Fenster, blickte in das Dunkel des Gäßchens, das nur durch die Lampe eines Pissoirs einen grellen Fleck erhielt, roch mit Widerwillen die schlechte Luft, Dann sagte er: »Zu wenig Respekt habt ihr vor Sonne und Luft, das ist es!« Die Mädchen wurden momentan ganz verlegen bei dem Gedanken, daß sie wirklich vielleicht zu wenig Respekt hätten vor Sonne und Luft. Denn bisher hatten sie wirklich gar keinen Respekt gehabt davor. Nur Friederike, die ihren Namen nie in »Fritzerl» abgekürzt hören wollte, weil sie derjenige welcher immer so genannt hatte, sagte: «Und doch haben wir einen besseren Humor als Sie – – –.« »Bst«, sagten die anderen Mädchen, »tu' ihn net beleidigen, dös g'hört sich net – – –.« »Adieu, Verlorene«, sagte der Herr und ging. »Wir empfehlen uns, Herr Robinson Crusoe –«, rief ihm Anna nach. »Was habt's alle »bst« gerufen, wie i den faden Bimpf abg'stellt hab'?!?« sagte Friederike. »Man darf niemandem so die Wahrheit sagen; vielleicht wär' er doch noch mit einer aufs Zimmer gegangen – – –.« »Ah, der nöt, der Sonnenpritschler; dö san alle zu schwach vor lauter Kraft – – –.« Gespräch (in "Ashantee", Berlin 1897) »Es ist kalt und ganz feucht, Tíoko. Überall Wasserlachen. Ihr seid nackt. Was sind diese dünnen Leinensachen?! Kalte Hände hast du, Tíoko. Ich werde dir sie erwärmen. Baumwoll-Flanell braucht ihr wenigstens, nicht gezwirnte Waare.« »Wir dürfen Nichts anziehen, Herr, keine Schuhe, nichts, sogar ein Kopftuch müssen wir ablegen. ›Gib es weg‹ sagt der Clark, ›gib es weg. Willst du vielleicht eine Dame vorstellen?!‹ « »Warum erlaubt er es nicht?!« »Wilde müssen wir vorstellen, Herr, Afrikaner. Ganz närrisch ist es. In Afrika könnten wir so nicht sein. Alle würden lachen. Wie ›men of the bush‹, ja, diese. In solchen Hütten wohnt Niemand. Für dogs ist es bei uns, gbé. Quite foolish. Man wünscht es, dass wir iere vorstellen. Wie meinen Sie, Herr?! Der Clark sagt: ›He, Solche wie in Europa gibt es genug. Wozu braucht man Euch?! Nackt müsst Ihr sein natürlich‹.« »Ihr werdet krank werden, sterben – –.« »Oh, Sir, in der Nacht stellen wir in unseren Hütten kleine Blechgefässe hin mit glühenden Holzkohlen. Oh wie warm ist es. Und Monambô’s Leib ist warm, ich drücke mich an sie. Und Akolé ist warm und die kleine Dédé ist ganz warm in der Nacht. Vielleicht wird morgen die Sonne scheinen. Dann wird es gut sein für Tíoko.« »Tíoko – – – – –!« »Sir – – –?!« »Tíoko – – – – – – –.« »Glaubst du, Herr, dass morgen die Sonne warm scheinen wird?!« »I hope so.« Der Kuss Ich sass auf einer Gartenbank im »Tiergarten.« Auf meinem Schoosse sass bibi Akolé und zählte ihr Geld, welches in drei Portemonnaie’s wundervoll vertheilt war, in jedem Fache 25 Kreuzer, Geschenke von Bewunderern. Eine wunderschöne junge Dame kam und ihr Gatte. Akolé sah die Dame an, stand auf, ging auf sie zu, breitete die Arme aus, wollte sie auf den Mund küssen, weil sie schön war. Die Dame wich zurück. Das Kind schmiegte sich an mich an, tief beschämt. »Madame – – « sagte ich, »ich bitte Sie, ich bitte Sie – – –.« »Nicht auf den Mund – – « sagte die Dame verlegen. Ich nahm Akolé in meine Arme, küsste ihren geliebten Mund, dessen Athem wie der Hauch von Abend-Wiesen war. »Tue es doch – – – « sagte der Gatte, »il sera offensé.« »Ich kann nicht – – – « sagte die wunderschöne junge Dame. Da sagte ich: »Diese Dame ekelt sich vor dir, Akolé. Wie eine dumme stupide Mutter benehme ich mich, welche den anderen Menschen nicht begreift. Verzeihen Sie mir, Madame. Ich war wie eine stupide Mutter, das Dümmste, das Beschränkteste, was es auf der Erde gibt. Die Liebe eines Vogelgehirnes ganz einfach.« Die Dame gab dem Kinde eine Krone. Das Kind gab sie zurück, sogleich. Der Gatte dachte: »War das Ganze nothwendig?! Solche Überspanntheiten.« Die Dame sagte adieu, gab mir die Hand, blickte mich traurig an. Langsam ging das Ehepaar weg. Akolé verkroch sich in meinen Armen, welche sich in unermesslicher Liebe um sie schlossen. Ein Brief aus Akkra (Westküste, Goldküste) (in "Ashantee", Berlin 1897) Ein Brief aus Afrika. Wann ist er aufgegeben?! Am 20. Juli. Wann ist er angekommen?! Am 26. August. Die Tränen der Absender sind bereits versiegt, während die der Empfänger fließen. Monambôs Bruder ist gestorben, 14 Jahre alt. »Er war so groß wie Tíoko - - -«, sagt Monambô, »und ebenso schön.« The big Akolé sitzt bei ihrem Verkaufstische, zählt Geld. Die Tränen rinnen über ihr edles Gesicht. »Il me semble, qu'elle est encore plus noire aujourd'hui«, sagt die französische Sekretärstochter und küßt sie. »War er verwandt mit ihr?!« frage ich den Häuptling auf englisch. »Wir weinen um alle«, sagte der Häuptling, »so sind die ›Black-men‹. Wenn ich in Afrika sein werde, werde ich um dich weinen, Sir.« Akóshia sitzt auf dem Tanzplatze, macht Musik mit eisernen Kastagnetten; die Tränen rinnen über ihr edles Antlitz. Tíoko sitzt vor ihrer Hütte, singt leise vor sich hin und weint. Wie Harfenbegleitung zu Tränen. Wie Psalmen. Monambô weint nicht. »Du bist nicht traurig, Monambô?!« »Sir, ich bin in der Fremde. Ich werde weinen, bis ich in Afrika bin - - -.« »Diese allgemeine Trauer ist doch ein bißchen unverständlich«, sagt die junge Sekretärstochter zaghaft zu mir. »Glauben Sie es doch nicht, daß es dieser junge Mensch ist, um welchen sich diese edlen sanften Geschöpfe grämen. Sie weinen um Afrika, c'est le mal du pays, diese zarteste Krankheit unserer Seele, welche zum Vorschein kommt. Wie wenn ein kleines Mädchen eine neue Bonne bekäme. ›Merkwürdig‹, sagen die besorgten Eltern, ›wirklich, niemand hätte es gedacht, unser Schatz ist ganz freundlich mit ihr; wie alte Bekannte. Alles geht gut, sie vertragen sich, das Fräulein ist aber auch so lieb mit ihr, sie hat keine leichte Position.‹ Plötzlich aber ein unscheinbares Wort der Bonne, eine Gebärde. Das Kind bricht in heiße Tränen aus. Ist es das Wort, diese Gebärde?! Keineswegs. Sie schluchzt um ihre alte Kinderfrau - - -.« Neun Uhr abends. Die Tränen sind versiegt. Der Mond macht die Birken im Garten glitzern. Still sind die afrikanischen Hütten. Tíokos Hütte ist finster. Monambô ruft mich. Ich trete in die Hütte. Auf dem Boden liegen Monambô, Akolé, die Wunderbare, und Akóshia. Kein Polster, keine Decke. Die idealen Oberkörper sind nackt. Es duftet nach edlen reinen jungen Leibern. Ich berühre leise die wunderbare Akolé. »Go to Tíoko«, sagt sie sanft, »du liebst sie.« Monambô, welche die Traurigkeit für Afrika aufspart, sagt: »Sir, morgen bringst du uns einen piss-pot; es ist zu kalt, um in der Nacht aus der Hütte zu treten. Er muß außen blau und innen weiß sein. Was er kostet, werden wir drei zusammen bezahlen. Freilich, Tíoko würdest du einen schenken! Was wird er kosten?!« »Monambô, niemals habe ich noch einen piss-pot besorgt. Ich kenne die Preise nicht. Zwischen 50 Kreuzer und 500 Gulden. Königinnen benützen goldene.« »Sir, es war heute ein trauriger Tag. Gute Nacht. Du liebst Tíoko. Der piss-pot muß außen blau und innen weiß sein. Bringe ihn bestimmt, to-morrow. Man kann in diesen Nächten nicht aus der Hütte treten, verstehst du?!« Ich küßte den drei Mädchen auf ihren harten Lagern die Hände. Akolé war zu schön! Ich kniete mich nieder, küßte sie auf die Stirn, die Augen, den Mund - -. »Go to Tíoko - - -«, sagte sie sanft. Monambô, Akóshia verkrochen sich in ihren Kattunen. Als ich aus der Hütte trat, waren die Birken grau im Frühlichte und wie eins mit der nebeligen Luft, welche nach feuchter Frische duftete - - -. Akolé (in "Ashantee", Berlin 1897) »Das soll die Schönste sein« sagen die Besucher, »eine beauté ihrer Heimath. Wo liegt dieses Aschanti?! Nun, für eine Negerin – – –. Stolz ist sie, wirklich unsympathisch. Was glaubt sie eigentlich, dieses Mohrl?! Eine Ehre sollen wir uns machen, ihren Schmarren zu kaufen?! Nicht einmal ansehen möchte sie uns, während sie unser Geld nimmt für Le Ta Kotsa, Zahnkraut. Gewiss ein Schwindel. Hast du Heimweh?! Unsere Verkäuferinnen würden ein schlechtes Geschäft machen. Musst freundlich sein, Schatzerl, thut dir ja Niemand was. Frieren thut sie, der arme Hascher. No, no, no, no, nur nicht gleich aufbegehren! Was bist du zu Hause?! Eine Gnädige?! Du wirst es noch billiger geben. Ein arroganter Fratz. Adieu. Es ist nichts aus ihr herauszubekommen. Goodbye, Mohrl, thu’ dir nichts an. Es wird schon besser werden. Servus.« »Bénjo, bénjo – – – – –!« (Geh’ zum Teufel, packe dich.) Physiologisches (in "Ashantee", Berlin 1897) Können Negerinnen erröthen?! Negerinnen können erröthen. Wie kupferfarbig werden sie, gleichsam heller. Zum Beispiel wenn du ihre Hände küsst, dich wie ein Cavalier benimmst. Können Negerinnen erbleichen?! Nein, im Gegentheile. Sie – – – erdunkeln! Zum Beispiel, wenn du – – – dich nicht wie ein Cavalier benimmst. Dann – – – erdunkeln sie! Philosophisches (in "Ashantee", Berlin 1897) Besucher des Aschanti-Dorfes schlagen an die Holzwände der Hütten, zum Spass. Der Goldschmied Nôthëi: »Sir, wenn Ihr zu Uns nach Akkra kämet als Ausstellungsobjekte (exhibited), würden wir nicht des Abends an eure Hütten klopfen!« Le cœur (in "Ashantee", Berlin 1897) Ein kalter September-Abend. Gestrickte englische Handschuhe müsste man haben. Wie gut wäre ein Überzieher mit Iltisfellen austapezirt. Welche Träume, mein Lieber?! Worüber beklagst du dich?! Diese wunderbaren braunen Mädchen tragen nur einen Pagne, wie wenn bei uns eine Sechzehnjährige, ein zarter Menschenfrühling, in einem rothen oder blauen Schwimmkleide im Herbste im Prater sässe! Aber in den Zeitungen steht: »Unsere schwarzen Fremdlinge im iergarten haben Nichts von ihrer Laune eingebüsst. Die Unternehmung ist nach wie vor bemüht, dem Publikum – – –.« Der Wind erzeugt in den Eschen Schüttelfrost – – –. Brūbrū, man fröstelt. Djôjô tritt aus der Hütte der jüngeren Mädchen, sagt zu Peter A.: »Komm’!« In der Hütte sitzt am Boden Tíoko, umringt von ihren Freundinnen Djôjô, Ashüë, Kôkô, Lomlé, Ashôn. Ein Kerzchen brennt auf dem Boden. Tíoko nimmt eine schwarze Schnur, bindet Peter A. die Hände fest zusammen. Sie löscht das Kerzchen aus. Schweigen. Finsterniss. Tíoko: »Nāh-Baduh all (N. ist Alles) – – – Tíoko finish (mit T. ist es aus). Tíoko no fine, Tíoko no good, Tíoko no schön, Tíoko fui, fui, fui. Nāh-Baduh good, Nāh-Baduh fine, Nāh-Baduh schön. Nāh-Baduh ashinô (Glasperlen), Nāh-Baduh duku (Kopftuch), Nāh-Baduh all (N. bekommt Alles). Nāh-Baduh cold, Nāh-Baduh brūbrū, Nāh-Baduh Schuhe! Tíoko cold, Tíoko brubru, Tíoko no Schuhe! Féflé (Elender)!« Ashôn, Ashüë, Lomlé, Djôjô: „No Féflé! Sir Peter good, Tíoko good, Nāh-Baduh good – – –.« Tíoko: »Tíoko finish (mit T. ist es aus) – – –.« Sie zündet das Kerzchen wieder an, bindet die schwarze Schnur los von den Händen des Herrn Peter. Schweigen – – –. Tíoko: »Nāh-Baduh – – – Noë Salomon Dowoonnah!!!” Peter A. milde: »I know it (ich weiss es). Never mind (was macht es)?!« Schweigen. Tíoko sanft: »Nāh-Baduh no Salomon. Poor Salomon Afrika, poor Tíoko Afrika. Nāh-Baduh no Afrika – – –. Nāh-Baduh Sir Peter!« Die Freundinnen: »Nāh-Baduh Vienna –! Nāh-Baduh Sir Peter!« Herr Peter nimmt Tíoko’s eiskalte Hand. Sie hält sie ihm sanft an den Mund zum Kusse: »Nāh-Baduh Vienna (N. bleibt in Wien bei dir), Nāh-Baduh no Salomon – – – –. Tíoko no good – –.« Die Freundinnen: »Tíoko good, Sir Peter good, Salomon good, Nāh-Baduh good. Nāh-Baduh Vienna, Vienna, Vienna – – –!« Tíoko geht leise aus der Hütte – –. Draussen erzeugt der Wind in den Eschen Schüttelfrost – – –. »Tíoko, bāä (komme her) – – –!« Keine Antwort – – – – –. Über Schreibfedern (in "Prodromos", Berlin 1906) Jeder Kultur-Mensch müßte eine Schreibfeder haben, die irgendwie mit seiner Persönlichkeit zusammenhinge! Man müßte es sich einfach nicht recht vorstellen können, wie er mit einer anderen schreiben könnte. Jede andere müßte für ihn direkt eine Gedanken-Hemmerin, eine Empfindungs-Zurückdrängerin sein! Während die ihm zugehörige Schreibfeder gleichsam von selbst Geist und Seele zu Papier brächte, in Schrift umsetzte! Meine Feder ist die blaue Stahlfeder Kuhn 201. Wie eine Cremoneser Geige, wird sie durch Benützung immer sanfter und besser. Oft scheint sie fast dem sogenannten »Gedankenfluge« vorauszueilen. Jedesfalls überlasse ich mich ihr, als einer sicheren edlen Führerin. Ein ausländischer Psychologe schrieb mir vor zwei Jahren: »Ich brauche es für ein grundlegendes Werk – – – was wissen Sie mir über die Art Ihrer Produktion Wichtiges mitzuteilen?!?« Ich erwiderte sofort: «Blaue Stahlfeder Kuhn 201, Papier–Groß–Quart–Format, starke Pappendeckel-Unterlage, um, im Bette liegend, schreiben zu können. Seelenruhe und etwas Geld. Alles andere nebensächlich!« Wenn mir eine junge Dame sagt: »Ich schreibe alles nur mit der Feder so und so«, wird sie mir bereits dadurch innerlich nähergerückt. Wenn eine ältere Dame es sagt, halte ich es für eine Schrulle. Keine bestimmte Schreibfeder zu benützen, ist ein Zeichen von »mangelnder Individualität« würde ein Moderner dekretieren. Ich aber sage nur sanft und bescheiden: Blaue Stahlfeder Kuhn 201, sei bedankt! Ich trinke Tee (in "Prodromos", Berlin 1906) Sechs Uhr abends rückt heran. Ich spüre es heranrücken. Nicht so intensiv, wie die Kinder den Weihnachtsabend heranrücken spüren. Aber immerhin. Punkt sechs Uhr trinke ich Tee, ein feierliches Genießen ohne Enttäuschungen in diesem belasteten Dasein. Etwas, was man sicher hat, man hat seine friedevolle Glückseligkeit in seiner eigenen Macht. Es ist direkt unabhängig vom Schicksale. Schon das Eingießen des guten Hochquellwassers in mein schönes weites Halblitergefäß aus Nickel macht mir Freude. Dann warte ich das Sieden ab, den Sang des Wassers. Ich habe eine riesige halbkugelige tiefe Schale aus ziegelrotem Wedgwood. Der Tee ist aus dem »Café Central«, duftet wie Almwiese, wie Kohlröserl und Gräser im Sonnenbrande. Der Tee ist goldgelb-strohgelb, niemals bräunlich, leicht und unbedrückend. Dazu rauche ich eine Zigarette »Chelmis, Hyksos«. Ich trinke sehr, sehr langsam. Der Tee ist ein inneres anregendes Nervenbad. Man trägt die Dinge leichter dabei. Man fühlt es, eine Frau sollte eine solche Wirkung ausüben. Aber sie tut es niemals. Sie hat noch nicht die Kultur friedereicher Sanftmütigkeiten, um wie ein edler warmer goldgelber Tee zu wirken. Sie glaubt, sie verlöre dann etwa ihre Macht. Aber mein Tee sechs Uhr abends verliert niemals seine Macht über mich. Ich sehne mich ihm täglich in gleicher Weise entgegen, und liebevoll vermähle ich ihn meinem Organismus. Über das »Drahn« (in "Fechsung", Berlin 1915) Sein Wesen und seine wirkliche Bedeutung im Lichte – – – der Drahrer[3]! Die meisten verstehen den Sinn dessen, was sie aus Ungezogenheit und Stupidität tun, nicht. Der Drahrer draht stupid. Das heißt, er opfert die Nachtruhe, Zeit, Geld, und noch etwas anderes, um zu drahn, d. h. um in einem marmorgetäfelten gut erleuchteten Räume mit Klavierbegleitung Barmädeln den Hof zu machen und gesehen zu werden von denen, die nicht genug Geld haben, um den Mädeln den Hof zu machen. Denn Hof kostet eine Unmenge »Drinks«, Zigaretten, Trinkgeld für die gestohlene, geraubte Zeit, für Langweile der unglücklichen Schönen, die zu allem nett lächeln müssen oder jedenfalls nicht allzu beleidigt sein dürfen, wenn er doch zu witzig und »fesch« werden sollte infolge des Alkohols! Nein, drahn ist eine Regenerationskur, ein momentanes, wenn auch stundenlanges Ausspannen aus allem, was dich den Tag über bedrängt, gekränkt, geknebelt, gedemütigt hatte! Siehe, du wirst ein freier Mann! Kein Vorgesetzter, keine Verpflichtung, keine Familie, keine Frau, kein Kind, kein Gläubiger! Du bist dein eigener Herr, und, falls du generös bist, sogar beliebt und gern gesehen! Draußen freilich auf der dunklen Gasse, überfällt dich wieder deine eigene Nichtigkeit! Aber willst du ihr denn endgültig entrinnen?! Sei froh und dankbar, daß du auf sie vergessen durftest, konntest, von 1–4! Die Maus (in "Prodromos", Berlin 1906) Ich zog in das ruhige Zimmerchen, fünften Stock, gutes, altes Stadthotel, ein, mit zwei Paar Socken und zwei riesigen Flaschen Slibowitz für unvorhergesehene Fälle. »Bitte«, sagte der Zimmerkellner, »soll ich das Gepäck holen lassen?!?« »Ich habe keines«, sagte ich einfach. Dann sagte er: »Wünschen Sie elektrische Beleuchtung?!« »Jawohl.« »Es kostet fünfzig Heller per Nacht. Sie können aber auch bloß Kerze haben«, sagte er in Berücksichtigung der gegebenen Umstände. »Nein, ich wünsche elektrische Beleuchtung.« Um Mitternacht hörte ich Geräusche von zerrissenen und zerkratzten Papiertapeten. Dann kam eine Maus, stieg meinen Waschtisch hinan und betrat das Lavoir, machte überhaupt verschiedene artige Evolutionen, begab sich sodann wieder auf den Fußboden, da Porzellan nicht zweckentsprechend war, hatte überhaupt keine festen weitausgreifenden Pläne und hielt schließlich die Dunkelheit unter dem Kasten bei den gegebenen Umständen für ziemlich vorteilhaft. Morgens sagte ich zu dem Dienstmädchen: »Sie, eine Maus war heute nacht in meinem Zimmer. Eine schöne Wirtschaft!« »Bei uns gibt's keine Mäuse, das wäre nicht schlecht. Woher sollte denn bei uns eine Maus herkommen?! So was lassen wir uns überhaupt gar nicht nachsagen!« Ich sagte infolgedessen zu dem Zimmerkellner: »Ihr Stubenmädchen ist ein freches Geschöpf. Heute nacht war eine Maus im Zimmer.« »Bei uns gibt's keine Mäuse. Woher sollte denn bei uns eine Maus herkommen?! So was lassen wir uns überhaupt gar nicht nachsagen!« Als ich in das Hotelvorhaus trat, betrachteten mich der Herr Portier, der Herr Hausknecht, die anderen beiden Fräulein Stubenmädchen und der Herr Geschäftsführer, wie man einen betrachtet, der mit zwei Paar Socken, zwei Slibowitzflaschen einzieht und bereits Mäuse sieht, die nicht da sind. Auch lag mein Buch »Was der Tag mir zuträgt« offen auf meinem Tische, und ich überraschte einmal das Stubenmädchen bei der Lektüre desselben. Unter diesen facheusen Umständen war meine Glaubwürdigkeit in bezug auf Mäuse ziemlich untergraben. Dafür hatte ich immerhin einen gewissen Nimbus eingeheimst, und man rechtete nicht mehr mit mir, ließ mir sogar kleine Schwächen passieren, drückte ein Auge zu, benahm sich außerordentlich kulant wie mit einem Kranken oder anderweitig zu Berücksichtigenden. Die Maus jedoch erschien jede Nacht, kratzte an der Papiertapete, bestieg häufig den Waschkasten. Eines Abends kaufte ich eine Mausefalle samt Speck, ging mit dem Instrument ostentativ an dem Portier, dem Hausknecht, dem Geschäftsführer, dem Zimmerkellner und den drei Stubenmädchen vorbei, stellte die Falle im Zimmer auf. Am nächsten Morgen war die Maus drin. Ich gedachte nun, ganz nonchalant die Mausefalle hinabzutragen. Die Sache sollte für sich selber sprechen! Aber auf der Stiege fiel es mir ein, wie erbittert die Menschen werden, wenn man sie einer Sache überführt, zumal eine Maus sich nicht in einem Passagierzimmer eines Hotels befinden sollte, in dem es Mäuse einfach »gar nicht gibt«! Auch wäre mein Nimbus eines Menschen ohne Gepäck, mit zwei Paar Socken, zwei Flaschen Slibowitz, einem Buche »Was der Tag mir zuträgt« und der nachts bereits Mäuse sieht, dadurch beträchtlich erschüttert worden, und ich wäre sofort in die peinliche Kategorie eines sekkanten und höchst ordinären Passagiers herabgesunken. Infolge dieser Bedenken ließ ich die Maus in einem für diese Zwecke ziemlich geeigneten Orte verschwinden und stellte meine Mausefalle auf dem Fußboden meines Zimmerchens wieder leer auf. Von nun an wurde ich mit noch zärtlicherer Rücksicht behandelt, man wünschte mich unter keinen Umständen zu erregen, gab nach wie einem kranken Kindchen. Als ich endlich abreiste, war bei allen freundschaftliches Mitgefühl und Attachement vorhanden, obzwar ich als Gepäck nur zwei Paar Socken, zwei leere Slibowitzflaschen und eine Mausefalle mitnahm! Lift (in "Prodromos", Berlin 1906) Mir ist der Lift noch immer ein »Mysterium«. Ich bin nicht so blöde, durch leichte Gewöhnung an die Segnungen moderner Kultur mir den Reiz derselben zu zerstören! Ich fühle dieses geheimnisvolle Stiegenüberwinden, diese Kraftersparnis meiner Kniegelenke, meines Herzens, meiner ach! keineswegs kostbaren Zeit noch immer als etwas Wunderbares. Die Türe meines Lifts schiebt sich von selbst langsam zu, was für Leute mit Paketen oder Körben direkt störend, für einen Schriftsteller jedoch ziemlich angenehm sich gestaltet. Ich weiß nicht, an welcher Art von Maschinerie mein Lift hängt. Ich erfahre nur hie und da durch den Hausmeister, daß heute etwas nicht ganz in Ordnung sei oder daß der Installateur da sei. Ich verstehe jedoch weder, was für eine Katastrophe im Entstehen war, noch was ein Installateur ist. Beides jedoch scheint mit eventuellen Lebensgefahren vereinbarlich zu sein. Gräßlich ist es, mit einem fremden Menschen hinaufzufahren. Man glaubt die Verpflichtung zu haben, ein Gespräch zu entrieren, und überlegt es sich krampfhaft von einem Stockwerke zum anderen. Es ist eine verlegene Spannung wie bei der Maturitätsprüfung. Das Gesicht nimmt einen starren glotzenden Ausdruck an. Endlich sagt man: »Ich empfehle mich!«, mit einer Betonung, wie wenn man eine Freundschaft fürs Leben geschlossen hätte. Deshalb, um allen diesen Unannehmlichkeiten auszuweichen, komme ich immer erst um 6 Uhr morgens nach Hause. Da darf der Lift noch nicht funktionieren. Das Hotelzimmer (in "Märchen des Lebens", Berlin 1911) Um 3 Uhr morgens begannen die Vögel leise zu piepsen, andeutungsweise. Meine Sorgen wuchsen und wuchsen. Es begann im Gehirn wie mit einem rollenden Steinchen, riß alle Hoffnungsfreudigkeiten mit, die Lebensleichtigkeiten, wurde zu zerstörender Lawine, begrub die Fähigkeit, dem Tage zu genügen und der unerbittlichen gebieterischen Stunde! Den Zufällen! Ein lauer Sturm brauste in den Baumwipfeln vor meinem Fenster. Ich hatte also wegen nichts und wieder nichts das Leben der süßen Frau J. belastet und gestört. Auch refüsierte mir einer meiner Gönner von nächstem Monat an die kleine Monatsrente. Er hatte irgend etwas über mich gehört und meine Ansichten. Sie waren ihm zu radikal und unsympathisch. Mein ästhetisches Ideal, Frau W, gehört seit langem denen, die sie bezahlen können. Ich, der den »mystischen Kultus der Schönheit« mit ihr trieb, war ihr stets zu unelegant angezogen, unverständlich und überhaupt verrückt. Wenn ich auf die Kniee niedersank, von ihrer adeligsten körperlichen Vollkommenheit tief, tief gerührt, sagte sie, ich sei pervers veranlagt, ich solle sie nicht blamieren! Mein Hotelzimmer erhellt sich, meine Seele verdunkelt sich. Es wird Morgen. Das Singen der Vögel in den Baumkronen wird deutlicher, Ansätze zu Melodien sind vorhanden. Laue Stürme bringen Wiesengeruch. Es wäre die schicklichste Stunde, sich am Fensterkreuze aufzuhängen – – –. Kaffeehaus (in "Vita ipsa", Berlin 1918) Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene – – – ins Kaffeehaus! Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen – – – ins Kaffeehaus! Du hast zerrissene Stiefel – – – Kaffeehaus! Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus – – – Kaffeehaus! Du bist korrekt sparsam und gönnst Dir nichts – – – Kaffeehaus! Du bist Beamter und wärest gern Arzt geworden – – – Kaffeehaus! Du findest Keine, die Dir paßt– – – Kaffeehaus! Du stehst innerlich vor dem Selbstmord – – – Kaffeehaus! Du haßt und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen – – – Kaffeehaus! Man kreditiert Dir nirgends mehr– – – Kaffeehaus! ------------------------------- [1] (veraltet): Arbeiter, der harte körperliche Arbeit verrichten muss. [2] ein Gesellschaftstanz, der um 1850 entstand und zunächst Chalk Line Walk (englisch für „Kreideliniengang“) genannt wurde. Von 1895 bis 1905 wurde der Tanz dann als Cakewalk zum bekannten Modetanz; 1915 hatte er eine zweite Blütezeit. Die Bezeichnung geht darauf zurück, dass Plantagenbesitzer ihre Sklaven sonntags Wettbewerbe in dieser Tanzform austragen ließen und der Gewinner als Preis einen Kuchen erhielt. Eventuell geht auch die folgende englischsprachige Redensart auf den Cakewalk zurück: that's a piece of cake - „das ist ein Kinderspiel“, „das ist einfach“, „das ist leicht“ [4] Die Tänzer, walker genannt (englisch für „Geher“ oder „Spaziergänger“), schritten eine gerade Linie ab und balancierten dabei einen mit Wasser gefüllten Eimer auf dem Kopf. Im Laufe der Zeit verschwand der Wassereimer und die Tänzer gingen stattdessen dazu über, das Verhalten ihrer weißen Herrschaften zu parodieren. Sie imitierten das stolze Schreiten der weißen Gesellschaftstänzer, spielten überspitzt das Schäkern mit den Damen nach, verbeugten sich übertrieben tief, schwangen imaginäre Spazierstöcke und grüßten mit meist nicht vorhandenen Hüten. Viele Plantagenbesitzer amüsierten sich über diese Vorstellungen ihrer Sklaven und organisierten Darbietungen für sich und ihre Besucher. [3] Nachtschwärmer. Lebemann, Zecher