Lassen Sie sich durch die Welt führen (über „Die Reise nach Trulala“ von Wladimir Kaminer) Gabriela Cacková (MA Studium Germanistik, 2. Semester) Seine Geschwätzigkeit ist bewunderungswert. Sein gesprochenes Deutsch mit dem russischen Akzent wirkt total witzig. Er spricht so, als ob er von Umlauten noch nie was gehört hat. Wenn seine phlegmatische Erzählungsweise mit der russischen Aussprache auf den Leser zusammen wirken, auf wen wirkt das nicht komisch? Wie kann der nach Ostdeutschland gekommene ausgebildete Toningenieur und Dramatiker aus Russland die Verhältnisse des Gastlandes richtig kennen und beschreiben? In der Frankfurter Rundschau wurde einmal im Bezug auf die Werke von Wladimir Kaminer geschrieben: „Es gibt drei Arten, die Welt zu sehen: die optimistische, die pessimistische und die von Wladimir Kaminer.“ Er strotzt von einer gewissen Art Humor und anstatt wichtiger Erlebnisse, schildert er lieber die Nebensächlichkeiten. Wenn sich der Leser schon einmal in England einen typischen trockenen Witz hat erzählen lassen, wird er durch diese seltsamen Reiseberichte überhaupt nicht überrascht. Der Autor kann ein guter Partner für lange kurzweilige Abende des Erzählens oder für eine Reise sein. Eine können sie mit ihm unternehmen, wenn sie seine Reise nach Trulala lesen. Wo sich eigentlich dieses Trulala befindet, erfährt jeder während der Lektüre. In diesem Buch geht es um fünf Ausflüge, die entweder Wladimir Kaminer selbst oder seine Freunde oder Verwandten unternommen haben. Sein Onkel Boris hat das verfehlte Paris besucht und dort sich eine Schande gemacht. Wladimir hat mit seinem besten Freund Katzman (der verhaftet wurde, weil er im Sommer 1984 in Russland aus der amerikanischen Fahne ein Hemd und eine Mütze genäht und getragen hat) Amerika entdeckt, wo sie nicht nur die Stripteascontainer bewundert haben. In Verdorben in Sibirien strampelt ein Politiker mit dem Fahrrad durch die Tundra und erobert wider Erwarten die Herzen der rauen Landbevölkerung. Bei den zwei anderen Reisen nach Dänemark und auf die Krim kann man sich die Laune auch nicht verderben. Entweder verschwindet der Leser mit dem Onkel Oleg auf der Krim, oder er fährt mit Wladimir und seinem Freund Andrej per Anhalter nach Kopenhagen, wo die Russen auf dem Hauptplatz im Zelt einen Hungerstreik halten. Trauer, Lust, Schande, Liebe, Pech, alles kann er so beschreiben, dass man lacht, anstatt zu weinen und weint anstatt zu lachen. Man weiß nicht, ob der Autor sich selbst einen Spiegel vorhält und seine wirklichen Erlebnisse schildert, oder ob er nur die durch ein magisches Fenster gesehenen Geschichten nacherzählt. Er kann die deutsche und nicht nur deutsche Situation kritisieren, loben oder sich über sie lustig machen. Er kann uns an der Nase herumführen. Lassen Sie sich also durch die Welt führen mit Wladimir Kaminer! Literaturkritik : Zwischen zwei Welten Sudabeh Mohafez – Wüstenhimmel Sternenland Miroslava Ludlová (MA Studium Germanistik, 4. Semester) In einer nicht allzu günstigen Zeit wird der westlichen Gesellschaft ein Band voller Erzählungen aus dem arabischen Hintergrund vorgelegt. Auf eine einzigartige Weise verbindet die Autorin in ihren Kurzgeschichten aus dem arabischen Milieu die rhythmische, ausdrucksstarke Sprechweise mit den ergreifenden, realistischen Bildern des alltäglichen Lebens. Es bleibt kein einziges Wort übrig, jedes spielt eine unersetzliche Rolle: „Alle beobachten, wie ein Mann mit einem riesigen Messer, fast einem Säbel, präzise und routiniert, rhythmisch, kräftig, dem Kamel, das in der Sonne auf dem Hügel thront, den langen Hals vom Körper trennt, bis die Schlagader geöffnet ist.“ Durch den Einsatz poetischer Stilmittel (Wiederholung) in der Erzählung schafft die Autorin eine neue Art – ihre eigene, originelle, eindringliche Sprache. Vor Allahs Thron – eine berührende Erzählung über die Not einer persischen Frau, die sich endlos um ihre Familie kümmert. Ihre eigene Kinder wissen es jedoch nicht zu schätzen. So kämpft sie mit sich selbst und versucht sich zu ermutigen, um die allgemeinen Konventionen zu brechen, die der Frau eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft vorschreiben. Trotz ihrer Beschränktheit und obwohl sie der Situation nicht gewachsen ist, gibt sie ihr letztes Geld aus und wendet sämtliche Energie dafür auf, um das Kind ihrer europäischen Arbeitgeberin zu entführen, um es vor dem Missbrauch ihres gewalttätigen Vaters zu schützen. Die Peripetie dieser Frau Nâhid ist so detailliert und realistisch beschrieben, dass man keine einzige Minute zögert, es für wahrhaftig zu halten. Dabei gerade so ausgewogen geschrieben, dass von keinen Klischees die Rede sein kann. Darüber hinaus sind ihre Geschichten mit dem eigenartigen Humor der Araber durchdrungen: „Du bist dumm Madschid, das warst du schon immer. Nur Allah weiß, warum er dich so geschaffen hat. Möge er dir noch ein langes Leben schenken und deiner Familie große Geduld.“ „Der kleine Engelhardt hat was an den Augen? Was hat er denn, ‘ne Beule oder so? Ich hab auch eine, nur woanders. Mal ist sie da, mal nicht, ganz nach Lust und Laune.“ Obwohl die Autorin versucht den Leser geschickt mit den Spezifika der arabischen Welt vertraut zu machen, bleibt einem, der keine eigene Erfahrung hat, noch manches aus der tatsächlichen Atmosphäre verborgen. Die Andeutungen sind dezent und fein im Vergleich zu Rafik Schami, der auf die Eigentümlichkeit der Araber manchmal leider zu auffällig hinweist. Wüstenhimmel Sternenland behandelt einen Ausschnitt aus der Reise eines kleinen Mädchens mit seinen Eltern und Geschwister durch die Wüste. Die Andeutungen des Geschehens und die davon abgeleiteten Gefühle lassen uns die Stimmung der Gestalten am eigenen Leibe fühlen. Dieses Hineinfühlen hinterlässt ein Erlebnis. Man fühlt sich erschöpft, als ob es man selbst durchgemacht hätte. Es fällt einem ein, diese Situation kann nur derjenige so wirklich beschreiben, der schon manches überstanden und selbst psychisch gelitten hat. Die langjährige Mitarbeit der Autorin in verschiedenen Selbsthilfeorganisationen der Bereiche Migration und Gewaltprävention mag wohl auch da spürbar sein. Niemand hat bis dahin das bloße Auf-der-Bank-Sitzen und Träumen so passend wiedergegeben. Diese Frau verfügt über die Fähigkeit sich die Details zu merken und dann treffend zu einer Handlung auszubauen. Schließ deine Augen und hör zu, ein Stern ist zur Erde gefallen - der Roman von Emine Sevgi Özdamar Seltsame Sterne starren zur Erde Tereza Cudlmanová (BA Studium Germanistik/Slowenisch 8. Semester) Zwischen zwei Welten, zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei Sprachen, zwischen zwei Teilen einer gleichnamigen Stadt, zwischen zwei Wohnvierteln pendelnd. Zwischen vier Jahreszeiten der zweiten Hälfte 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und Berlin, eine geteilte Stadt, in die die schöne und geheimnisvolle Emine kommt. Der autobiographische Roman spielt in den Jahren 1976/77 in Berlin. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der zweite Teil des Romans wird in der Form von Tagebuchnotizen aufgezeichnet. Der Traum von Emine ist es das Brechttheater kennen zu lernen. Sie träumt vom Berliner Ensemble. Weg von ihrem Heimatort Istanbul treibt sie auch die beendete Beziehung mit ihrem Mann und die politische Situation, sie kann ihre Liebe zum Theater nicht mehr weiterentwickeln. Die ersten Eindrücke von Berlin, Ost und West, und vor allem die Möglichkeit das Berliner Ensemble kennen zu lernen und da auch arbeiten zu können, all die interessanten Personen wie Benno Besson, Heiner Müller, Fritz Marquardt, Karge, Langhoff und die Schauspieler. Das ganze passiert mit der Hilfe von alten Bekannten und neuen Freunden, durch welche sie die beiden Seiten der Stadt mit der langen und weinenden Narbe in der Mitte beobachten und erleben kann. Sehr schön sind die Augenblicke, wo Emine an die Großmutter denkt und über sie den anderen interessante Geschichten erzählt. Alles mit großer Würde und mit dem Gefühl die türkischen Wurzeln nie vergessen zu wollen und eine große Stütze in der Familie zu sehen, obwohl sie tausend Kilometer entfernt ist. Eine gar nicht so auffällige Gestalt in dem Roman ist die Person Josefs, eines schweizerischen Physikers, der auf eine bestimmte Art und Weise eine Rolle „versteckten Begleiters“ für Emine einnimmt. Durch das hervorragende Beobachtungstalent werden alle Augenblicke, Erlebnisse wie mit Kinderaugen gesehen und beschrieben. Sie freut sich, weint, geht durch die Straßen, beobachtet die Leute, umarmt die Bäume, liebt die Männer, beschreibt die Ereignisse und das alles mit einer Federleichtigkeit. Doch man spürt auch die schwere Zeit aus einem Kapitel der deutschen Geschichte. Sie konnte in ihrem Buch von den beiden Welten Berlins berichten. Sie beurteilt nicht, konzentriert sich auf die Geschehnisse, aber lässt, ohne aufdringlich zu sein, die Zeit der Berliner Mauer auf den Leser dokumentarisch wirken. Ihre interessanten Notizen und Zeichnungen zu den einzelnen Stücken und Theaterproben, an denen sie als Hospitantin gearbeitet hatte, wechseln sich an manchen Stellen mit dem spannenden Text des Romans ab. Manche Personen, denen sie begegnet, verändern sich in Gemälden der bekannten Maler, Momente werden von ihren Lieblingsgedichten bereichert, und das alles stets mit dem Rauch der Zigaretten Gauloises. Saša Stanišić - Der Chefgenosse des Unfertigen Eva Dobrovolná (BA Studium Germanistik/Anglistik 4. Semester) Saša Stanišić schrieb keinen Roman. Er schrieb eine riesige Menge von Geschichten, die manchmal so aussehen, als sie eben nur die Geschichten sind, die jemand zusammengelegt hat, doch hängen sie gar nicht zusammen. Alle hängen jedoch mit dem Leben eines Jungen zusammen, sie bilden ein Buch, sie bilden ein Leben und sie bestimmen es. Sie können beides sein: einfaches Gerede und das ganze Leben eines Menschen - Aleksandars Leben, und vielleicht auch Sašas. Es ist schwer zu sagen, wie viel der Autor über sein einziges Leben schreibt. Man kann nachdenken. Als ob der Autor schreibt, und das Nachdenken wurde den Lesern überlassen. Man kann nachdenken. Man kann. Ein anderes Mal ist man sogar gezwungen nachzudenken. Kindheit, Träume, Familienverhältnisse, Krieg, Flucht aus Bosnien nach Deutschland, Heimkehr nach zehn Jahren und Geschichten. Und der Opa, Opa Slavko, den der kleine Aleksandar liebte, den auch der erwachsene Aleksandar liebt, obwohl der Opa schon im ersten Kapitel starb. Das alles gibt es in diesem Buch (das vielleicht eigentlich wirklich ein Roman ist). Doch gibt es keine chronologische Geschichte: es gibt Verhältnisse, die nicht immer plausibel sind, es gibt keine einfache Resultate, es gibt auch viele Aufzählungen von den Dingen und Leuten, die irgendwo sind oder waren oder Vorkommnisse, die irgendwo vorkommen oder vorkamen - doch ist die Geschichte lebendig. Oder die Geschichten sind lebendig. Wie Sie wollen. Nach dem Tod seines Opas entschied sich Aleksandar immer weiter zu erzählen. Eine riesige Menge von Geschichten. Er erzählt von Menschen und Orten, vom Krieg und den Flüchtlingen, vom Tod und den Toten, von dem Fluss Drina – auch von der Liebe zu seinem Land und seinen Eltern. Das Buch ist voller Liebe, vielleicht ist es deswegen auch so traurig. Er erzählt und sucht. Er erzählt von der Zeit „als-alles-gut-war“ und von der anderen Zeit, er erzählt, weil er es versprach - sich selbst oder seinem Opa, schwer zu sagen. Und er erzählt auf seine eigene Weise. Man kann sie mögen, man kann sie ablehnen, diese Aleksandars (oder Sašas) Erzählweise, diese Aufzählungen, Geschichten, Überlegungen, diese Rede ohne Anführungszeichen - diese seine ganz eigene Weise. Der kleine Aleksandar liebt das Wort Chefgenosse. Er wird der „Chefgenosseangler“ genannt und ist stolz darauf. Vor allem ist er aber der Chefgenosse des Unfertigen. Als sein geliebter Opa starb, behauptete Aleksandar, er wäre gegen das Beenden, er behauptete, das Fertige müsste aufgehalten werden, er behauptete, er wäre der Chefgenosse für das „Immerweitergehen“. Danach malte er seine unfertigen Bilder. Er malte den Friedhof in Veletovo ohne Opa Slavkos Grabstein, er malte Mamas Gesicht, lächelnd, heiter, sorglos, er malte Jugoslawien mit Slowenien und Kroatien, sowie zehn waffenlose Soldaten. Er hatte neunundneunzig sehr unfertige und sehr einfach vorzustellende Bilder gemalt, bevor er nach Deutschland entkam. Dann kommt der erwachsene Aleksandar zurück, vielleicht nur um die Oma zu besuchen, um die Leute und die Heimat wieder zu sehen, um seine schöne, lange Jahre erfolglos gesuchte Kindheitsfreundin zu finden. Oder vielleicht mindestens um sich selbst zu finden. Das weiß man nicht, man kann nachdenken, muss aber nicht. Es kann auch keinen Grund haben. Er ist zurückgekommen. Der Chefgenosse des Unfertigen kommt zurück nach Bosnien - um die neunundneunzig unfertigen Bilder fertig zu malen. Was heißt der Krieg für ein Kind, was heißt entkommen und heimkehren, was findet das Kind, das kein mehr Kind ist, zu Hause, das kein Zuhause mehr ist, was bedeuten die Geschichten, die ein Buch und vielleicht auch ein Leben bilden, was malt er eigentlich fertig, das ist nicht so deutlich. Saša Stanišić produziert keine einfachen und klaren Resultate. Vielleicht können die Leser darüber selbst nachdenken, was mit diesem Aleksandar geschehen ist, was mit der Familie, was mit der Liebe und mit der Kindheitsfreundin, die er so eindringlich suchte, wegen der er dreihundertdreißig ausgedachte Telefonnummern wählte. Hat er sie gefunden, hat er eigentlich etwas gelernt, etwas endlich verstanden? Und hat der zurückgekommene Chefgenosse der Unfertigen alle neunundneunzig unfertigen Geschichten fertig gemalt? Das alles ist eigentlich, ja wahrscheinlich egal. Doch kann man nachdenken. Vielleicht will man nachdenken, wenn man das Buch und das Leben liest, oder überhaupt nicht, die Vorstellungen können genug sein. Und die Geschichten können genauso Bilder sein. Vielleicht soll man beim Lesen nachdenken. Veilleicht ist das alles. Und vielleicht ist es genug. Viel mehr als neunundneunzig unfertige Bilder zum Nachdenken. Abschaum – „Fäkalliteratur“ für Anspruchsvolle…? Eine Buchkritik zu Feridun Zaimoglus Roman Abschaum Ivana Hrůzová (MA Studium Germanistik, Anglistik 4. Semester) „Die Geschichte eines Kanaken, eines Drogenabhängigen, eines Gangster“ - so bezeichnet ein deutsch – türkischer Autor Feridun Zaimoglu seinen zweiten Roman Abschaum (1997). Man sollte jedoch auf keine ‘brave Gastarbeiterliteratur‘ hoffen. Frei und frank, in einer eigenartigen Sprechweise, wird die wahre Geschichte von Ertan Ongun geschildert. Auch sollte man keinen biographischen Roman erwarten. Abschaum erzählt nämlich fünfunddreißig Geschichten, die miteinander nur locker durch den Haupthelden verbunden sind. Dann könnte man also das Buch irgendwo zufällig aufschlagen und mit der Lektüre beginnen, oder? – Sicher könnte man so verfahren, wenn man der Hauptlinie nicht verfolgen will; jedoch auf eigene Gefahr. Wenn man so direkt – ohne Aufwärmrunde – hineintritt, muss man damit rechnen, dass man von allen Seiten mit Ficken, Kiffen, Scheißen, Huren, Kohle, Schlägereien, Arschlöchern – kurz mit Abschaum umschlossen wird. Trotzdem ist es kein ´lesergefährliches´ Buch - vorausgesetzt, dass man es mit einer Gebrauchsanweisung liest. Eine stelle ich Ihnen zur Verfügung: Erstens, abgesehen davon, was oben angeführt wurde, von Anfang an lesen….mit einem Wörterbuch der deutschen Umgangssprache bei der Hand (als zweiter Punkt). Drittens, ein Türkisch – “eine verständliche Sprache “- Wörterbuch ist auch äußerst empfehlenswert (obwohl ein achtsamer Leser sicher imstande ist, die Bedeutung einiger Sprüche wenigstens insoweit abzuschätzen, dass er sie nicht als Höflichkeitsformel benutzen würde; „amina koyum“ – „verdammt“ beispielsweise). Letztendlich, bis zu Ende lesen. Es lohnt sich! Am Ende stellt man nämlich fest, dass man in die Welt des Buches – in Ertans Welt hineingezogen wurde. In die Welt eines „Kanaken“, die von der unsrigen sich stark unterscheidet. Man will nicht glauben, dass es auf der Straße wirklich so funktioniert; man muss aber dem Autor glauben, dass er sich auskennt – wenn nicht, dann kann er es mindestens überzeugend und mitreißend schildern. Mit der Anforderung an sprachliche und stilistische Qualität wurde Zaimoglu schließlich von seinem Helden beauftragt: „Ich geb dir reinen Stoff. Du bist mein Dealer und verkauf das Zeug!“ Das war seine Aufgabe und die hat er meisterhaft erfüllt. Abschaum ist ein „story-artiger“ Roman, den man auf zwei Ebenen lesen kann. Entweder als eine echte „Underground-Lektüre“, die für einen ordentlichen, steuerzahlenden „Normalleser“ immer ihren Reiz hat. Oder als eine Aussage der (deutschen) Straße mit allem, was dazu (zu der deutschen Gesellschaft) gehört: Gewalt, Vorurteile, Misshandlung, Sucht und Sehnsucht. Auf jeden Fall ist es ein lesbares Buch. Solche Geschichte(n) werden nämlich lieber gelesen als gelebt. Wie viel Glück (über „Zwölf Gramm Glück“ von Feridun Zaimoglu) Jana Rousová (MA Studium Germanistik/Anglistik 4. Semester) Was ist eigentlich Glück? Was bedeutet es für die Leute? Wie viel Glück haben die Protagonisten in Feridun Zaimoglus Buch „Zwölf Gramm Glück“? Ist es eigentlich möglich das Glück zu wiegen? Man kann eine Frage stellen, was der Autor mit Zwölf Gramm gemeint hat. Mit „Zwölf Gramm Glück“ präsentiert Zaimoglu eine Sammlung von 12 Erzählungen, die er in „Diesseits“ ( sieben Geschichten), die in Deutschland spielen und „Jenseits“(fünf Geschichten), die Türkei darstellen. Feridun Zaimoglu, geboren 1964 in Bolu, Türkei, kam mit seinem Eltern nach Deutschland, und obwohl er dort seit mehr als 30 Jahren lebt, fährt er in sein Heimatland zurück und Zaimoglus Welt ist deshalb in seinen Werken zweigeteilt. Während die Geschichten in „Diesseits“ moderner sind, in großen Städten (Berlin, Hamburg) spielen, sind die Geschichten in „Jenseits“ abenteuerlicher und spannender. Man kann in ihnen die Atmosphäre eines fernen Landes, ihre strengen Regeln, komplizierte Beziehungen, Religion und verschiedene Rituale erleben. Trotz der geographischen Trennung sind die Texte durch Leitmotive und gemeinsame Themen und Probleme verbunden. Zaimoglu hat sich immer mit der Problematik der verschiedenen Kulturen und des Multikulturalismus befasst. Deshalb sind die Themen Sex und Gewalt, Liebe, Kriminalität, Alkoholismus, Mystik. Sehr oft es geht um Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht der Migranten nach einer eigenen Identität. Sie sind verloren zwischen Tradition und Moderne. Sie träumten von der Annerkennung, von einer richtigen Liebe und von einem besseren Leben. Gemeinsam für die Geschichten sind die Ich- Erzähler. Sehr oft sind sie arm und obwohl sie lang im Westen leben, ist ihre Herkunft im Osten, sie fühlen die Bindungen zu ihrem Heimatland. Die Sprache ist bunt und vielfältig, der Autor verwendet Slang, Archaismen, Neologismen, Vergleiche, Ironie, es ist ganz oft provokativ. Aber nicht so bezeichnend und experimentell wie sein erstes Buch „Kanak Sprak“ (1995), mit dem er bekannt geworden ist. Es bleibt zu diskutieren, wie viel Glück die Protagonisten haben. Zwölf Geschichten und Zwölf Gramm. Ein Gramm Glück für jeweils eine Geschichte scheint nicht viel zu sein. Für manche Leute wäre es nicht genug, die anderen wären dafür dankbar. Es ist ganz schwer, wo man dieses Quäntchen suchen soll, wie zum Beispiel in der Geschichte „Feindes Zahn“, wo die Frau vergewaltigt wurde und nicht vergessen kann, und ihr Mann ist machtlos und er weiß nicht, wie er die Vorwürfe zerstreuen und ihr helfen soll. Oder in die „Häute“, in der ein Mädchen wie eine Ware behandelt wird und die Verlobung deshalb nicht möglich ist und der Fremde entfliehen muss. Die Geschichten sind provokativ, intensiv und sehr interessant. Der Autor hat in einem Interview gesagt, dass er schreibt, worauf er Lust hat. Und er hat Lust, über Menschen, Liebe und Beziehungen zu schreiben. Er äußert Sehnsucht, Hoffnung und er hat eine optimistische Haltung. Vor allem gelingt es dem Autor die Leser zu fesseln. Wobei die Leser angestrengt nachdenken müssen, was für eine Art von Glück sich in Zaimoglus Geschichten versteckt. Sehr oft kann man nichts finden und man muss wieder und wieder lesen, aber vielleicht das ist wie im wirklichen Leben: Man muss wieder und wieder lesen, so dass man versteht und ein Gramm Glück findet, das doch viel bedeuten kann.