Walther Killy: Gottfried Benn Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die anderen lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten /^45 Schöne Jugend? offenbar das Gegenteil. Die merkwürdigen und kunstvoll bezogenen Rhythmen stammen aus einem Zyklus, der nach der berühmten Pariser Leichenhalle Morgue genannt ist. Makaber ist also der Obertitel, harmlos und geläufig dagegen ist die eigentliche Überschrift. Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und bis heute wird auf eine leiernde Melodie das folgende »Volkslied« gesungen: Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr! Drum sag ichs noch einmal: Schön sind die Jugendjahr; schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. Vergangne Zeiten komm'n niemals wieder, verschwunden ist das junge Blut. Drum sag ich … etc. Es blühen Rosen, es blühen Nelken, es blühen Rosen, sie welken ab. Drum sag ich … etc. Man liebt die Mädchen bei frohen Zeiten, man liebt die Mädchen zum Zeitvertreib. Drum sag ich… etc.^46 Ein uraltes Thema wird hier klischiert: die schöne Jugend. Eine sentimentale Betrachtung der Vergänglichkeit, welche vorgegebene Bilder als selbstverständliche Bestandteile des Klischees verwertet. Was einmal große Kunst war, wie die Figur der blühend verwelkenden Rose, bei Alain von Lille und Andreas Gryphius, ist zum dauerhaften Gassenhauer geworden, der auf ein edleres Gesellschaftslied zurückgeht. Er verwertet die zwangsläufigen Bildchen, die auch Geibel für dieses Thema heranzieht: O Jugendzeit, du grüner Wald, Darin der Liebe Röslein blüht... Der helle Blick, der kecke Sinn, Das rasche, rote Dichterblut, O sprich, o sprich, wo sind sie hin /^47 oder: .... Doch das ist's, was mich traurig macht, Daß auch das Herz verblüht; Daß, wie der Jugend Ruf verhallt Und wie der Blick sich trübt, Die Brust, die einst so heiß gewallt, Vergißt, wie sie geliebt etc.^48 Jede Strophe des »Volkslieds« braucht die Wendung von der schönen Jugend nicht weniger als dreimal. Dazu kommen, wie bei Geibel, die Röslein und die Liebe, die frohe Zeit und das junge Blut. Die Mädchen gehören dazu, die heiße Brust und das Herz. Einen guten Teil dieser Bilder findet man bei Benn wieder. Aber was der Sentimentalität die süßliche Konsistenz gibt, wird hier fortschreitend als nichtig enthüllt. Mund eines Mädchens — das ist der Gegenstand zahlloser Liebeslieder, soweit man zurückdenken kann; mit ihm wurden Schönheit und Liebe gepriesen, und selbst Jahrhunderte poetischer Überlieferung vermögen die Assoziationen nicht zu zerstören, die eine solche Wendung hervorruft. Das gilt ebenfalls für Worte wie Blut, Jugend, Nest, Laube, die alle in uns das Bewußtsein von Geborgenheit erwecken wollen. Aber sie alle sind hier auf eine bloß physische Grundbedeutung reduziert, ihre Bildwirkung ist bewußt verhindert. Dieser einstmals süße, rosenfarbene Mund sieht, wie Benn sich auszudrücken beliebt, so angeknabbert aus. Der Jargon des Arztes, dem ein toter Mensch nichts Ungewöhnliches ist, stellt einen verwunderten Abstand her. Der Ton des Sektionsberichts klingt an in dem neutral distanzierenden man. Als man die Brust aufbricht, erklärt sich das verwunderliche Angeknabbertsein: ein Nest junger Ratten verbirgt sich als das schlechthin Ekelhafte hinter dieser Brust, die wir als Bild des schlechthin Schönen zu sehen gewohnt sind. Die Ratten haben die schöne Jugend gehabt, nicht, wie wir zunächst erwarten wollten, das Mädchen. Mit dieser Feststellung tritt unausweichlich die Relativierung des Wortes »schön« in den Blick, das nicht nur den Refrain jenes Volkslieds, sondern für lange Zeit den Grundstein der gesamten ästhetischen Anschauung gebildet hat. Auch ist es in Jahrzehnten gedankenlosen Gebrauchs klischiert worden, genau so, wie sich der geläufige Satz schön und schnell kam auch der Tod als entsetzliches Klischee enthüllt. Als ob der Tod schön, als ob er schnell genug sein könnte. Zweimal gibt es ein affektives Gefühl in diesem sonst so objektiven Gedicht: wenn von dem Schwesterchen die Rede ist und in dem herzigen Satz Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! Aber dieses Gefühl wird dem widerwärtigen Tier zuteil, während der Mensch in der Distanz bleibt, ein Gegenstand naturwissenschaftlichen Berichtes. Die entsetzliche Umkehrung zeichnet sich ab, welche später Tierschutzgesetze ermöglichte, während man Menschen vergaste. Alles das, was wir von dem Gedicht erwarten, trifft nicht ein. Die Worte, die wir gewöhnt sind, erweisen sich als nichtig. Kunstvoll sind schöne Jugend und schöner Tod in Entsprechung gesetzt — aber in Wahrheit ist von nichts weniger die Rede. Keines der überkommenen Gefühle, die man so gern empfindet und die die Gedichte so gern erregen, ist mehr anzutreffen. Wo sie als Worte noch vorhanden sind — Mädchen (man liebt die Mädchen bei frohen Zeiten), Brust (die Brust, die einst so heiß gewallt), schöne Jugend (schön ist die Jugend bei frohen Zeiten) — erweisen sie sich als in grotesker Weise unpassend (Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten !); oder sie haben ihren ästhetischen Wert gegen einen abstoßenden eingetauscht. Auch viele Figuren Trakls können so in das Makabre umschlagen. Der Mund des Mädchens ist zerfressen. Nest und Laube (komm in meine Liebeslaube.. .) sind Wohnung der Ratten; das heiße Blut (das rasche, rote Dicherblut) ist kalt geworden und ernährt die Parasiten. Was einmal wert und schön war, ist es nicht mehr, die Werte haben sich verkehrt. Was ist hier geschehen? Mit Terminologien wie »unästhetisch«, »destruktiv«, »Negation«, »heillose Welt« ist nicht viel getan; auch das sind bloße Worte, die den geschichtlichen Vorgang so wenig treffen, wie das moralische Urteil dazu imstande ist. Würde“ man Muschg folgen, so verkündete Trakl wie Cassandra die Allgegenwart des Verfalls... ;^49 Benn aber, dem Trakl gewiß an lyrischem Rang überlegen war, ist ein intellektueller Narkotiker, leugnet jeden Zusammenhang mit der Vergangenheit, mit der Gesellschaft, mit der Moral; bei ihm entblößt sich schamlos der Hungertod einer ganzen Zeit und findet sich sehenswürdig.^ Es ist noch nie recht gewesen, der Hungernden zu spotten, und der Hunger nach dem gültigen Wort ist nicht der geringste. Überall wohin ich sehe, bedarf es eines Wortes, um zu leben,^51 schrieb der junge Arzt Benn im Jahre 1914, und es war eine echte Wahrheitsliebe, die ihn gegen den Herrn einnahm, der das Hauptwort handhabt wie ein Messer, mit dem er Fische frißt. Benn spricht in jenem Gedicht und sonst so negativ, er spricht in der Umkehrung, um überhaupt sprechen zu können. Inmitten von Dürer-Bund und billigen Klassikerausgaben hatte die Generation von 1886/87 die Wahrheit der Keats'schen Worte erfahren: Every thing is spoilt by use: Where's the cheek that doth not fade, Too much gazed at? Where's the maid Whose lip mature is ever new ? Where's the eye, however blue, Doth not weary ? Where's the face One would meet in every place ? Where's the voice, however soff, One would hear so very oft? At a touch sweet Pleasure melteth Like to bubbles when rain pelteth.^63 Nichts anderes meinte Goethe mit dem Vorgang, da sich der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich. Die geschichtlich gewachsenen Ausdrücke standen auch für das mäßige Talent als verfügbare Phrasen bereit.^54 Die Sprachnot des sogenannten Expressionismus erwächst aus der langen Geschichte der Bilder, die sich verbraucht haben und all der Gefühle, für die sich seit der Romantik gar zu leicht ein Ausdruck darbietet. Das Positive erweist sich als hohl, es überredet und gilt nicht mehr, und der »Ausweg« Heines ist nicht mehr gangbar. Der Name des Zyklus Morgue hat nicht nur, vordergründig, mit dem Sektionstisch als dem Schauplatz der Verse von der schönen Jugend zu tun; auch ist nicht nur von einem aus dem Wasser gezogenen Mädchen die Rede. In dem makabren Bild ist die ganze Fragwürdigkeit einer erschütterten Kultur enthalten, die das Auge des Dichters erkennt, kurz bevor der Gang der Geschichte sie als solche enthüllt. Schmunzel heißt das Vieh, gekalbt von Mutter Behaglichkeit, geborenen Bildungsgut.^55 Eben die Bilder und Mythen waren Bildungsgut geworden: … wohin man blickte, alles ein öffentlicher Mißstand, Faust wurde Nebbich, Don Juan Condomfabrikant, Ahasver lernte Rhönflüge, die Mythe des Menschen schrie nach Exekution.^86 Man hat sich inzwischen, mit Angst und Zerfall halb notgedrungen kokettierend, an eine solche Ausdrucksweise gewöhnt. Sie ist zu einer Mode geworden, die den Blick auf die Tatsachen verstellt, welche sich in der Schönen Jugend ausgedrückt finden. Damals, in der Sicherheit des wilhelminischen Deutschland, bedurfte es vor allen historischen Katastrophen eines wachen Sinns und vielleicht der Kenntnis von Nietzsche und Burckhardt, um das Unheil des Geistes zu empfinden und zu enthüllen. Für den Dichter ist dieses Unheil vor allem Unheil von Wort und Bild. Vor dem Nachdenken über die Möglichkeiten einer Kulturkatastrophe stand die bedrohliche Entdeckung, daß das Wort entgleiten wolle. Nur wenn ich sagen kann, wer ich bin und wo, bin ich eigentlich Mensch. Nur wenn ich Mensch bin, habe ich die Sicherheit zu sagen. So entstehen beim jungen Benn Formulierungen wie Wer bist du — alle Mythen zerrinnen.^57 Die alten Bilder entgleiten, und mit ihnen eine besondere Form des Weltverständnisses, das die Dichtung uns zu geben imstande ist. Wort ungesund; ^58und das trifft die Dinge der Welt mit: Dich öffnet nun nichts mehr, dir gibt nichts mehr die Dinge heim so weichen Fells, kaninchensüß … O Rosen-Letztes und Levkojen-Welle, und Holz und Erde, alles ist vertilgt, es schweigt um dich, wie nie es schwieg: die Menschen, Götter und die Sterne … . ^59 Es ist eben der Zusammenhang mit der Vergangenheit und der Moral, der einen jungen Dichter zu solchen Worten greifen läßt. Die alten Bilder erscheinen ihm nur noch als abgegriffene Chiffren, welche entweder für nichtige Gefühle stehen oder ohne den Zusammenhang wahrhaft erfahrener Wirklichkeit gebraucht werden. Alles dient dazu, so elementaren Worten wie Nest, Laube, schöne Jugend die eigentliche Meinung zu nehmen. Indem sie nichts mehr oder nur noch bloßgelegte Natur meinen, ist die Deckung von Wort und Wahrheit in Frage gestellt. Wo wir auch bei dem jungen Benn hinsehen, klingen die Gründe an, die zu diesem Sachverhalt geführt haben. Er sei keinem Ding mehr gegenüber … äußerte er einmal; lag fast ununterbrochen und rührte sich kaum^60…. wer ist so geknechtet von den Dingen nach Zusammenhang als ich ….^61 Oder er wandelt Geibels — von Heine entlehnten —Vers Das Lied, das Lied hat Flügel ab: … das Lied, das Lied hat Flügel, wies durch den Garten zieht, wo man vom Flaggenhügel die Handelskammer sieht.,^62 Als Lieblingsbeispiel der zum reproduzierbaren Bildungsgut gewordenen Poesie benutzt er einen gewissen Firnenschnee und das bekannte große Leuchten.^63 Dem allen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß sich etwas Wesentliches im Verhältnis von Wort und Sache geändert hat. 1916 setzt Benn der Erzählung Querschnitt ein Motto voraus, das im Text noch einmal gesperrt gedruckt wiederkehrt; die ihm so wichtige Stelle heißt: weil alles kürzer ist als das Wort und die Lippe, die es will sagen, weil alles über seinen Rand ^erbricht, ZU tief geschwellt von der Vermischung.^61 Das Gefäß der Sprache ist zerbrochen, das Wort nimmt das Ding nicht mehr auf, und es ist schwer geworden, das zu Sagende zu sagen. Der Mangel an Unterscheidung trifft die Bilder, in denen vordem Wort, Ding und der Mensch, der es will sagen, zur Übereinstimmung kamen. Es ist eine Frage der Redlichkeit, ob man sich der alten Mittel weiter bedient: Dann wollte er sich etwas Bildhaftes zurufen, aber es mißlang. Dies wieder fand er bedeutungsvoll und zukunftsträchtig: vielleicht sei schon die Metapher ein Fluchtversuch, eine Art Vision und ein Mangel an Treue.^65 Im Grunde haben Georg Trakl und Gottfried Benn nur zwei Möglichkeiten verwirklicht, die seit dem Schwinden des klassischen Bildes schon vorgezeichnet waren. Trakl war der unmittelbarere Dichter; er hatte in sich ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern,^66 die er verabsolutierte. Die Bilder bleiben bestehen, ) aber das Spiel mit ihnen geschieht nicht mehr im Hinblick auf die \ Wirklichkeit. Der Optimismus des romantischen Mythologieentwurfs, der Hölderlin zur Chiffrierung führte, ist ferne. Mehr! hallt von der sinnlichen Musik Brentanos nach, von der Vereinzelung seiner Chiffren, die zusammen ein geheimnisvolles Ganzes bewirken; aber es schiffen nicht mehr goldene Kähne im ; himmlischen See, und das Individuum findet sich nicht mehr in .'; warmer Fühlung mit dem Unendlichen: ... und da ich mit silbernen ^: Fingern mich über die schweigenden Wasser bog, sah ich, daß mich mein A.ntlitzverlassen.^67 Benn geht den anderen möglichen Weg, den der Zurücknahme. Er verschweigt das historische Bild und die überlieferte Spräche. Er öffnet die verdorbenen Ohren mit einem Schock und reduziert die Wirklichkeit auf sich selber. Er will gar nicht mehr »aussagen«, oder er behauptet, es nicht mehr zu wollen. Er erinnert sich des Spieles, das Trakl aus Instinkt betreibt, und aus der Poesie wird Operation: Er wandte sich wieder dem Kranken zu, und über seine Hände strömte es, Schnitt für Schnitt. Nahm er die Schere, griff er das Glied, es war ein Mischen und Sichtrennen, es war ein Stellen von Gebärden und ein Spiel im Schatten, wo die Glücke stehn.^68 …Ein Stellen von Gebärden und ein Spiel im Schatten ... Es ist gewiß besser, sich die naheliegenden Parallelen zur bildenden Kunst zu versagen. Allzu leicht würde der Eindruck einer historischen Gesetzlichkeit entstehen, die der Unergründlichkeit der Geschichte widerspricht. Benn selbst drang damals zuweilen zu allgemeineren Erwägungen vor: was war geschehen ? Welches war der Weg der Menschheit gewesen bis hierher? Sie hatte Ordnung herstellen wollen in etwas, das hätte Spiel bleiben sollen. Aber schließlich war es doch Spiel geblieben, denn nichts war wirklich. War er wirklich? Nein ; nur alles möglich, das war er.^69 Man kann diesen Gedanken der vollkommenen Potentialität erweitern; er ist ein ständiger Zug geschichtlichen Lebens, und er tritt nirgendwo so hervor, wie in den Künsten. Niemand weiß, was sich morgen zu verwirklichen anschickt. Die wenigen zusammenhängenden Kapitel aus der Geschichte des lyrischen Bildes sind erst richtig zu lesen, wenn man sich der fehlenden erinnert: es wäre schlecht bestellt um eine historische These, wenn sie ganz aufginge. Zu der Zeit, da Heine nach Worten ringt, blüht fern von aller Sprachnot in der Fülle der Bilder Mörikes Poesie. Ohne die Erinnerung an das schöne Wort Carl Justis verginge der Mut zu aller Darstellung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge: Wie die Materie und die Kraft kein Werden und Vergehen kennt, so ist in der Geschichte, wissenschaftlich betrachtet, nichts von Blüte und Verfall, auch Perioden und Begriffe existieren nicht in ihr, was wir Blüte nennen, ist oft der Anfang des Endes, was wir Verfall nennen, der Keim neuen Lebens, und der Strom des Geschehens und der Kausalität steht nie stille.^70 Trakl sagt es dichterischer: ... unter alten Zypressen Sind der Tränen nächtige Bilder zum Quell versammelt; Goldenes Auge des Anbeginns, dunkle Geduld des Endes.^71 DIE TEXTE SIND ZITIERT NACH: G. Benn, Frühe Lyrik und Dramen, Wiesbaden 1952 („Frühe Lyrik“). — Frühe Prosa und Reden, Wiesbaden 1950 („Frühe Prosa“). C. Brentano, Gesammelte Werke, hg. von H. Amelung und K. Vietor, Frankfurt 1923 („Brentano“). J. v. Eichendorff, Werke, hg. von W. Kosch, Regensburg o. J. („Eichendorff Werke“). — Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, hg. von W. Kosch, Kempten und München 1906 („Eichendorff“). Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder, Leipzig 1893f. („Erk-Böhme“). J. W. v. Goethe, Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar i88yff. („W.A.“; Bände ohne voraufgehende römische Ziffer gehören in die erste Abteilung). — Maximen und Reflexionen, hg. von Max Hecker, Weimar 1907 („Hecker“). — Gespräche, hg. von F. v. Biedermann, Leipzig 1905 ff. („Gespr.“). (F. v. Hardenberg) Novalis' Schriften, hg. von P. Kluckhohn und : R. Samuel, Leipzig 1929 („Novalis“). J. G. v. Herder, Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, Berlin 1877ff. („Herder“). H. Heine, Sämtliche Werke, hg. von E. Elster, Leipzig und Wien o. J. („Heine“). H. v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von H. Steiner, Stockholm i94Öff. („Hofmannsthal“). F. Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. von N. v. Hellingrath u.a., Berlin 1923 („Hellingrath“). —• Sämtliche Werke, Größe Stuttgarter Ausgabe, hg. von F. Beißner, Stuttgart 1943 ff. („Hölderlin“). G. Trakl, Dichtungen, hg. von K. Horwitz, Zürich 1946 („Trakl“). — Aus goldenem Kelch, Die Jugenddichtungen, Salzburg 1949 („Jugenddichtungen“). — Nachlaß, Salzburg 1949 („Nachlaß“). M. Kommereil, Gedanken über Gedichte, Frankfurt 1943. W. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, Bern 1953 („Muschg“). E. Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1951 („Grundbegriffe“). F. Th. Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, hg. von R. Vischer, München 1923 („Vischer“). ^42 Trakl, S. 146. . ^45 Benn, Frühe Lyrik, S. 16. ^46 Erk-Böhme 2, 367. ^47 Geibel, Gedichte, S. 131. ^48 Geibel, Gedichte, S. 123. ^49 Muschg, S. 166. ^50 Muschg, S. 295. ^51 Benn, Frühe Prosa, S. 80. ^52 Benn, Frühe Prosa, S. 150. ^53 J. Keats, Poems, London, J. M. Dent, 1947, S. 195. ^54 Vgl. S. 78. ^55 Benn, Frühe Prosa, S. 136. ^ 56 Benn, Frühe Prosa, S. 97. ^57 Benn, Frühe Lyrik, S. 95 ^58 Benn, Frühe Prosa, S. 107. ^59 Benn, Frühe Prosa, S. 138. ^60 Benn, Frühe Prosa, S. 83. ^ 61 Benn, Frühe Prosa, S. 57. ^62 Benn, Frühe Lyrik, S. 91. ^63 Benn, Frühe Lyrik, S. 125; 109; Frühe Prosa, S. 128, u.a. ^64 Benn, Frühe Prosa, S. 124. ^65 Benn, Frühe Prosa, S. 63. ^68 Nachlaß, S. 23. . ^68 Benn, Frühe Prosa, S. 129f. ^69 Benn, Frühe Prosa, S. 70 f. ^70 C. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 4. Aufl., Leipzig 1943, Bd. 1, S. XXXf. ^71 Trakl, S. 164. Walther Killy: WANDLUNGEN DES LYRISCHEN BILDES. GÖTTINGEN: VANDENHOECK & RUPRECHT, 1956. S. 108-114. Dieter Breuer: Gottfried Benn Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! [… ] Am Anfang steht [… ] hier, in einem prosaischen Einsatz (Z. 1-2), ein fast schmerzhaft genauer, provokant sachlicher Beobachtungsversuch (,,so angeknabbert“, ,,so löcherig“). Drei Anläufe zu einer Rhythmisierung im Beschreiben sind zu beobachten: Z. 1—2, Z.3, Z.4-5. Erst im dritten Anlauf (im dritten Satz) gelingt die Rhythmisierung, wird ein rhythmisches Gleichmaß erreicht, wieder in Anlehnung an antike daktylische Metren der alkäischen Odenstrophe. Indiz für diesen Formungsprozeß ist wieder das Enjambement zwischen Z.4 und 5 (,,Zwerchfell / fand“). Die folgenden Verse führen die fortschreitende Formung vor: der Rhythmus wird immer gleichmäßiger, die Verse ausgewogener, ihre Abfolge durch rhythmische Wiederholungen gegliedert. So wird Z.5 in Z.8 rhythmisch wiederholt, beide Verse dazu noch euphonisch durch Endreim aufeinander bezogen, und dieser Rhythmus kehrt dann ein drittes Mal im Schlußvers wieder (Z. 12): Ách, wie die kléinen Schnáuzen quíetschten! Metrisch gesehen, ist dies eine Anspielung auf den alkäischen Vers (10-silbiger alcaicus) zusammen mit dem vorletzten Vers sogar eine Anspielung auf den Schluß der alkäischen Odenstrophe, die seit Klopstock und Hölderlin als Inbegriff von Formschönheit in der deutschen Versdichtung gilt. Um Schönheit geht es auch hier („schöne Jugend“, schöner Tod). Aber die fortschreitende Formung ist hier zugleich fortschreitende Ironierung, Destruierung der traditionellen Schönheitsvorstellungen. Sie wird erreicht durch die in kaltem, unbeteiligten Beobachten gefundene Erkenntnis von der Einheit des Lebens („die andern lebten von Leber und Niere“) und der Gleichgültigkeit des Einzellebens im Lebenszusammenhang (Tod des Mädchens, Tod der jungen Ratten). Auch in diesem Gedicht wird die formgebende Erkenntnis erst möglich durch einen Perspektivenwechsel (Z.4: „Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell“). „Laube“ ist eine Metapher; von nun an wird aus der Perspektive der kleinen Lebewesen beobachtet, wiewohl ebenfalls distanziert. Erst dadurch ist die Formgebung, die fortschreitend gleichmäßige Rhythmisierung möglich, das „Funkeln“ der Form. Die schöne Form wird also zugleich parodistisch destruiert und auf einer neuen, „artistischen“ Ebene konstituiert. Breuer, Dieter. Deutsche Metrik und Versgeschichte. München: Wilhelm Fink 1991^2. S. 322-335. Karl Eibl: Klage In einem Gedicht Georg Trakls heißt es: „O Schmerz, du flammendes Anschaun / Der großen Seele!“^28 Wenn die überkommenen Denk- und Sprachschemata vor der Wahrheitsfrage versagen und nur in die Irre leiten, dann steht das Individuum plötzlich schutzlos einer - scheinbar oder tatsächlich - chaotischen Welt gegenüber. Das“neue Sehen“ verläßt die Gehäuse der bergenden Routinen. Aber die neuen Erfahrungen, die da gemacht werden, sind keineswegs alle so amüsant wie die in Lichtensteins Dämmerung formulierten. Hier sind zum Beispiel die, wie es in der Zeit heißt,“medi-zynischen“ Gedichte des frühen Gottfried Benn zu nennen. Immer wieder spricht Benn in seinen Selbstdeutungen von „Wirklichkeitszertrümmerung“ und „Zusammenhangdurchstoßung“. Die“Morgue“-Gedichte von 1912 wählen als repräsentativen Ort des“neuen Sehens“ das Leichenschauhaus, und schon dies ist ja eine Perspektive, die dem bürgerlichen Leben wie der bürgerlichen Lyrik fremd ist. Die Welt des häßlichen Todes und die Wert- und Glücksvorstellungen“draußen“ treten in ein fast unerträgliches Spannungsverhältnis. Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!^29 Das ist kein subjektiver Zynismus, sondern der objektive Zynismus der Dinge. Kaum ein Autor der Generation hat mit solcher geradezu barocker Schärfe und Manie die Polarität von Glückssehnsucht und Verwesung formuliert. Dabei wird nicht etwa jene durch diese denunziert, die Spannung bleibt voll erhalten: Auch unsere Glückssehnsucht ist authentisch, ein Teil der Qual, welche die Evolution uns auferlegt hat. Es kommt unter dem Druck dieser Qual immer wieder zu Ausbruchsversuchen ins Vegetative, in erotische, ästhetische Räusche; Benn kommt später vorübergehend sogar zu einem Pakt mit dem“Neuen Staat“, dann zur Proklamation des rein Artistischen. Zwar ist es ruhig geworden um Benns Gedichte; die Faszination, die sie nach dem letzten Krieg noch einmal ausübten, hat sich gelegt. Trotzdem ist der Fall Benn wohl noch nicht ausgestanden; denn die Problemspannung, aus der sich seine Gedichte wie seine Existenz speisten, macht ihn weiterhin zum Prototyp einer Epoche. Was Benn formuliert, sind immer die persönlichen Reflexe; wenn es nicht in heillose Begriffsverwirrung führte, könnte man sogar von“Impressionismus“ sprechen. Jedenfalls ist es kein Zufall, daß er hinsichtlich der Wirkung von Gedichten immer wieder von „Faszination“ spricht. Er will psychisch-intellektuelle Zustände ausdrücken und hervorrufen, das Wort als „Phallus des Geistes“ gebrauchen. Die Situation“nach dem Nihilismus“ läßt ihm keine andere Möglichkeit. Denn es ist nicht mehr möglich, sinnvoll die Frage nach der Wahrheit zu stellen. Und doch gibt es den Versuch einer Alternative. Georg Trakl wurde von der Situation“nach dem Nihilismus“ gewiß nicht minder ergriffen. Er schreibt den lapidaren Satz: „Es ist ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht“ - ein so namenloses Unglück, daß er es nur in periodischen Alkohol- und Kokainexzessen ertragen konnte und schließlich daran zerbrach. Aber er schreibt auch: „Du magst mir glauben, daß es mir nicht leicht fällt und niemals leicht fallen wird, mich bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen, und ich werde mich immer und immer wieder berichtigen müssen, um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist.“ ^30 Von Wahrheit ist also die Rede, und zwar nicht von der Wahrhaftigkeit der Expression, sondern von einer Art Darstellungs-Wahrheit, die ja ein einigermaßen kompaktes Weltbild voraussetzt. Von naivem Realismus ist das allerdings weit entfernt. Denn Trakls Wort von der „Unterordnung“ will ernstgenommen werden. Da steht nicht ein erkennendes Subjekt einer objektiven erkennbaren Wirklichkeit gegenüber, sondern das Subjekt ist das Medium, durch das die Wahrheit in die Erscheinung tritt. Es handelt sich um eine beinahe spiritistische Selbst- und Dichtungsdeutung, verwandt mit dem Geniegedanken des späten 18. Jahrhunderts, aber unter den Bedingungen einer heillosen Welt. Es ist unter diesen Voraussetzungen nicht verwunderlich, daß neben Rimbaud vor allem Hölderlin zum Vorbild Trakls wurde. Der Seher-Dichter, dessen individuelle Existenz unter dem Ansturm der Gesichte allmählich aufgezehrt wird, schafft sich ein poetisches Idiom an den Rändern der Sprache, in dem jedes Wort zum Bersten angefüllt ist mit Bedeutung und sich doch zugleich jeder Übertragung in Alltagssprache entzieht. Daß diese Gedichte gleichwohl nicht bloß atmosphärisch oder musikalisch wahrgenommen zu werden brauchen, sondern auf eigenwillige Weise eine geistige Bewegung vollziehen, sei an dem Gedicht Klage verdeutlicht: Schlaf und Tod, die düstern Adler Umrauschen nachtlang dieses Haupt: Des Menschen goldnes Bildnis Verschlänge die eisige Woge Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen Zerschellt der purpurne Leib. Und es klagt die dunkle Stimme Über dem Meer. Schwester stürmischer Schwermut Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt Unter Sternen, Dem schweigenden Antlitz der Nacht.^31 Schlaf und Tod als Formen der Bewußtlosigkeit sind Boten einer Drohung („umrauschen“ ist hier als Verbum dicendi zu deuten, „verschlänge“ als Konjunktiv der indirekten Rede): „Des Menschen goldnes Bildnis verschlänge die eisige Woge der Ewigkeit“. Das ist ein Gedanke, der in dieser Form recht genau festgemacht werden kann. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nämlich, der in dieser Zeit geradezu populär war, besagt, daß jedes Energiegefälle zum Ausgleich, zur“Entropie“ sich entwickelt. Bezogen aufs Universum bedeutet das, daß am Ende aller Tage das All den“Kältetod“ stirbt, d. h. in gleichmäßiger Kälte erstarrt. Der individuelle Tod wird also zur Drohung eines viel umfassenderen, der „des Menschen goldnes Bildnis“, Bewußtsein, Sein überhaupt in Frage stellt. Nicht um individuelle Todesangst geht es, sondern „dieses Haupt“ (also das Medium der Wahrnehmung von Gesichten) wird von der viel umfassenderen Angst vor dem Tod überhaupt, vor dem Tod des Alls gemartert. Auch dies ist also ein Gedicht vom“Weitendes nicht freilich vom Ende der bürgerlichen Welt, sondern vom Ende des Universums. Das Bild der „Woge“ wird nun zum Anknüpfungspunkt für eine Erweiterung der Meeres-Bildlichkeit. Der „purpurne Leib“ zerschellt an den Riffen, die dunkle Stimme aber klagt über dem Meer. Durch das „Und“ sind beide Aussagen eng aufeinander bezogen, beide Bewegungen, die der Vernichtung und die der Erhebung zur Klage, sind untrennbar miteinander verbunden, ja, das Zerschellen der leiblichen Existenz treibt erst die Klage hervor. Das Gedicht enthält eine ekstatisch-kathartisch motivierte Poetologie: Die Vernichtung des Individuell-Leiblichen, der empirischen Existenz in ihrer Partikularität, setzt das spirituelle Moment der Klage frei. Diese, vielleicht, vermag als Geistiges den Tod alles Seienden zu überdauern. Inhalt der Klage aber ist die Anrufung der Schwester. Von Hinweisen auf die Biographie sei hier abgesehen. Denn die Schwester, in früheren Gedichten gewiß noch der empirischen Schwester Trakls nahestehend, wird mehr und mehr zur Chiffre eines Objektiven, einzig noch möglicher Ausdruck für ein Gegenüber und damit zum Partner des Ich schlechthin. Dieses Objektive also wird angerufen als Zeuge des Untergangs des Ich, das als „Kahn“ versinkt und deshalb keine andere Möglichkeit der“Überfahrt“, der Kommunikation mehr hat als solchen Anruf: Dichtung als Gebet unter den Voraussetzungen einer götterlosen Welt. Ein Blick auf Trakls Prosadichtungen kann das Gesagte ergänzen. In der Verwandlung des Bösen^32 heißt es: „Du auf verfallenen Stufen: Baum, Stern, Stein.“ Der Doppelpunkt ist ein Gleichheitszeichen. Das Du ist Baum, vegetative Welt, Stern, Kosmos und Stein. Es ist „ein blaues Tier, das leise zittert“. Es wird hier, durchaus noch in der romantischen Tradition, eine Identität angesprochen, die als Basis für die Überwindung der Weltlosigkeit dienen kann. Offenbarung und Untergang^33 führt zur nächsten Stufe: „[...] sah ich, daß mich mein Antlitz verlassen“. Das Spiegelbild im Wasser zeigt die Wesenlosigkeit des persönlichen Ich. Die Konsequenz: „Und die weiße Stimme sprach zu mir: Töte dich!“ Zwei gegenläufige Bewegungen vollziehen sich, da sich das persönliche Ich abtötet: „Seufzend erhob sich eines Knaben Schatten in mir und sah mich strahlend aus kristallnen Augen an, daß ich weinend unter den Bäumen hinsank, dem gewaltigen Sternengewölbe.“ Das „in mir“ ist dabei besonders wichtig. Der Schatten des Knaben ist Teil des Ich; sein Erheben bedeutet den Tod des anderen Teils. Dieser andere Teil aber ist sprachlos, anschauend: „und da ich anschauend hinstarb, starben Angst und der Schmerzen tiefster in mir“. Hier wird die Gegenläufigkeit von Hinsterben und Erhebung noch deutlicher: „und es hob sich der blaue Schatten des Knaben strahlend im Dunkel, sanfter Gesang; hob sich auf mondenen Flügeln über die grünenden Wipfel, kristallene Klippen das Antlitz der Schwester.“ An die Stelle des persönlichen Antlitzes, das verlorenging, tritt das Antlitz der Schwester. Dieses Antlitz ist „sanfter Gesang“ wie der“blaue Knabe“. Es ist Synonym für Gesang. „[...] nur allzu getreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts“,^34 so sieht sich Trakl. Er wird sich selbst zum Gleichnis der Welt. Nur so kann Grodek, als Gegebenheit ein Erlebnis, das ihn zutiefst erschüttert hat, zur völlig unpersönlichen Metapher werden: Trakl hat sein persönliches Ich nach langem Kampf hinter sich gelassen; der andere Teil seines Selbst, die eigne Person nicht als erkennendes Subjekt, sondern als Medium der Welt, kann die Welt aussprechen. Die Einheit von Wort und Welt ist wiederhergestellt auf der Basis des Leidens, eines unindividuellen, deprivatisierten Sympathein. Der Kahn steht nicht mehr im Dienste der Überfahrt vom Subjekt zum Objekt, er „versinkt unter Sternen, dem schweigenden Antlitz der Nacht“. Nur so kann Trakl sich bedingungslos dem Darzustellenden unterordnen als „blinder Zeiger“ (Untergang), um den Preis der Vernichtung seiner empirischen Person. Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart / hrsg. von Walter Hinderer. -Stuttgart: Reclam, 1983. ISBN 3-15-010321-3. S. 431-434. Barthold Hinrich Brockes Gedanken bey der Section eines Körpers. K.aum warf ich meinen Blick auf das zerstückte Weib, Kaum sah ich den zum Theil von Haut entblößten Leib, Ich kunnte kaum so bald die blutgen Muskeln schauen, Als mich ein widriges und ekelhaftes Grauen Den Augenblick befiel. Allein es hatte kaum Der kluge Carpser angefangen; Er ließ uns kaum so bald die weisen Wunder sehn, Die von der bildenden Natur daran geschehn: So macht die Regung gleich weit süßrer Regung Raum. Furcht, Grauen, Ekel war den Augenblick vergangen; Mich nahm Bewundrung erst, darauf Erstaunen ein, Dem folgt Erniedrigung und Ehrfurcht allgemach, Und diesem auf den Fuß Lob, Brunst und Andacht nach. Es fing ein helles Feur von einer heiigen Lust In meiner, Gott zum Ruhm, mit Dank erfüllten Brust, Zur Ehre des, der hier so wunderbar Des Körpers Wunderbau gefüget, an zu brennen. Ich wußte selber nicht, wie mir zu Muthe war. Den Menschen giebet sich der Schöpfer hell und klar Am allerdeutlichsten am Menschen zu erkennen. Es scheint, ob könne man in diesen Wunderwerken, In diesem Meisterstück der bildenden Natur, Von unserm Schöpfer selbst hier eine helle Spur, Ganz überzeuglich klar und gleichsam sichtbar merken. Ach! rief ich, laßt denn hier an diesem Schauplatz schreiben: Hier kann kein Atheist ein Atheiste bleiben. Texte u. Zeugnisse / im Verein mit Helmut de Boor ... hrsg. von Walther Killy. -München: Beck: Killy, Walther [Hrsg.]Bd. 4. 18. Jahrhundert: Texte u. Zeugnisse/in Verbindung mit Christoph Pereis hrsg. von Walther Killy. Teilbd. 1 (1983). München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), 1983. ISBN 3 406 01952 8. S. 374-375. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen Das Ekelhafte Das Abgeschmackte ist die ideelle Seite des Scheußlichen, die Negation des Verstandes. Das Ekelhafte ist die reelle Seite, die Negation der schönen Form der Erscheinung durch eine Unform, die aus der physischen oder moralischen Verwesung entspringt. Nach der alten Regel, a potiori fit denominatio, nennen wir auch niedrigere Stufen des Widrigen und Gemeinen ekelhaft, weil alles das uns Ekel einflößt, was durch die Auflösung der Form unser ästhetisches Gefühl verletzt. Für den Begriff des Ekelhaften im engern Sinn aber müssen wir die Bestimmung des Verwesens hinzufügen, weil dasselbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht sowohl ein Welken und Sterben als vielmehr das Entwerden des schon Toten ist. Der Schein des Lebens im an sich Toten ist das unendlich Widrige im Ekelhaften. Das Absurde in seiner alogischen Verworrenheit erregt auch Abscheu, sofern es nicht ins Komische gewendet wird, allein wegen seines intellektuellen Elementes ist seine Wirkung nicht so heftig als die des Ekelhaften, das unsern Sinnen den Genuß eines für sie feindlichen Daseins zumutet und das man auch das sinnlich Absurde nennen könnte. Am Absurden, auch wenn es ein Scherbenhaufen der Intelligenz, kann man noch ein Interesse der Kritik nehmen, während das Ekelhafte unsere Sinne empört und uns schlechthin von sich abstößt. Das Ekelhafte als ein Produkt der Natur, Schweiß, Schleim, Kot, Geschwüre u. dgl., ist ein Totes, was der Organismus von sich ausscheidet und damit der Verwesung übergibt. Auch die unorganische Natur kann relativ ekelhaft werden, aber nur relativ, nämlich in Analogie oder in Verbindung mit der organischen. An sich selbst aber läßt sich der Begriff der Verwesung auf sie nicht anwenden, und aus diesem Grunde kann man Steine, Metalle, Erden, Salze, Wasser, Wolken, Gase, Farben durchaus nicht ekelhaft nennen. Nur relativ, in Beziehung auf unsere Geruchs- und Geschmacksorgane, kann man sie so nennen. Ein Schlammvulkan, das gerade Gegenteil des majestätischen Schauspiels eines feuerspeienden Berges, wird für uns widrig, weil das Ausströmen trüber Effluvien analogisch uns an das Wasser erinnert und hier statt seiner eine flüssige, undurchsichtige, etwa noch mit toten, verwesenden Fischen untermischte Erdauflösung, eine gleichsam verwesende Erde sich darbietet. Man sehe die Darstellung eines solchen Schlammausbruches in A. v. Humboldts Vues des Cordilleres. So ist auch das Sumpfwasser in Stadtgräben, worin sich die Immunditien aus den Rinnsteinen sammeln, worin Pflanzen- und Tierreste aller Art mit Lumpen und sonstigen Kulturverwesungsabschnitzeln zu einem scheußlichen Amalgam sich zusammenfinden, höchst ekelhaft. Könnte man eine große Stadt, wie Paris, einmal umkehren, so daß das Unterste zuoberst käme und nun nicht bloß die Jauche der Kloaken, sondern auch die lichtscheuen Tiere zum Vorschein gebracht würden, die Mäuse, Ratten, Kröten, Würmer, die von der Verwesung leben, so würde dies ein entsetzlich ekelhaftes Bild sein. Daß der Geruch in dieser Hinsicht eine vorzügliche Empfindlichkeit besitzt, ist gewiß. Der üble Geruch der Exkremente läßt sie in ihrer puren Natürlichkeit noch widriger als in ihrer bloßen Gestalt erscheinen. Ein Koprolith z. B., der versteinerte Kot vorsündflutlicher Tiere, hat nichts Ekelhaftes mehr an sich, und wir haben ihn in unsern mineralogischen Sammlungen ruhig neben andern Petrefakten liegen. Unter den herrlichen Bildern des Campo Santo Pisano sehen wir auch eine stolze Jagdgesellschaft, die bei einem offenen, den Leichnam zeigenden Grabe vorüberschreitet und sich die Nase mit der Hand zuhält; wir sehen dies wohl, aber wir riechen es nicht. Der Schweiß der Arbeit, der von der Stirne rinnt, von der Brust perlet, ist zwar sehr ehrenwert, allein ästhetisch ist er nicht. Wird nun der Schweiß gar in das Vergnügen hineingemischt, so ist das schlechthin ekelhaft, wie wenn Heine z. B. einem jungen Ehepaar zur Vermählung zusingt: Schütz' euch Gott vor Überhitzung, Allzu starke Herzensklopfung, Allzu riechbarliche Schwitzung, Und vor Magenüberstopfung. Dreck und Kot sind ästhetisch ekelhaft. Wenn der Kaiser Claudius sterbend ausrief: Vae! puto concacavi me!, so ist hiermit all seine kaiserliche Majestät vernichtet. Wenn Jordan in seinem Demiurgos, 1852, S. 237, die Trennung Heinrichs von Helenen dadurch motiviert, daß er seine Frau einmal auf dem Abtritt angetroffen, so ist das so grenzenlos ekelhaft, gemein, schamlos, daß man kaum begreift, wie ein unstreitig höchst vielseitig gebildeter Dichter so geschmacklos werden kann, wenn er auch den Luzifer über diese überfeine Delikatesse hell auflachen läßt. Dies Mysterium ist überhaupt mit zynischen Manifestationen der grellsten Art bedacht; wir wollen jedoch der Versuchung, weitere Beispiele des Ekelhaften aus ihm zu entnehmen, Widerstand leisten. Die Derbheit der Sprache des Volkes liebt den Kot freilich als ultima ratio im Schimpfen, die absolute Nullität von etwas auszudrücken und das Maximum seines Abscheues zu bezeichnen, in der Weise etwa, wie auch Goethe das Ignorieren seiner Gegner in den Xenien entschuldigt: Sage mir von deinen Gegnern, warum willst du gar nichts wissen? - Sage mir, ob du dahin triffst, wo man in den Weg g– – –? Die Poesie aber kann nur für die groteske Komik einen Gebrauch davon machen, wie wir schon früher den Blepyros in den Ekklesiazusen des Aristophanes als ein solches Beispiel zitiert haben oder wie Hr. Hoffmann in einer aristophanisierenden Komödie Die Mondzügler, 1843, der Dialektik der modernen Philosophie damit spottet, daß den streitenden Philosophen die Aufgabe gestellt wird, den Urbegriff des Drecks zu definieren. Der eine will nun z. B. beweisen, daß man den Sinn des Drecks nie verstanden habe, weil man nicht einmal sein Genus richtig gefaßt: Subjekt und Objekt, absolut identisch sind die beiden, Es ist das A egal dem B und nicht zu unterscheiden. Das B, das Objekt, ist der Dreck. Das ist doch reine Wahrheit? Daß ich das A, das Subjekt bin, ist evidente Klarheit; Und mithin bin ich selbst der Dreck, ich selbst, identisch bin ich. Es ist bewiesne Wahrheit dies und wenn auch widersinnig! Wenn einer nun gesetzten Falls den Dreck euch produziert hat, So folgt daraus, daß dieser Mann sich eben selbst kreiert hat. Nun nenn' ich solche Zeugung doch wahrhaftig ungeschlechtlich, Und sag' ich: der, und sag' ich: die, so ist es widerrechtlich. Vielmehr um diesen ganzen Schluß in einem Wort zu fassen, So kann fortan als richtig nur: das Dreck ich gelten lassen. Man könnte von der Verwesung sagen, daß sie durch die christliche Religion doch :zu einem positiven Gegenstande der Kunst geworden, indem die Malerei sich an die Auferstehung des Lazarus gewagt habe, von welchem ja die Schrift selber sage, daß er schon rieche. Vor allen Dingen vergesse man nur nicht, daß die Malerei diesen Geruch nicht darstellt, und sodann, daß man doch eben nur an einen oberflächlichen Beginn der Verwesung zu denken hat. Das eigentlich Positive in diesem Vorwurf bleibt doch immer die Anschauung, wie der Tod durch das von Christus ausgehende göttliche Leben überwunden wird. Der ins Leichentuch gehüllte, aus dem geöffneten Grab kommende Lazarus kontrastiert höchst malerisch mit der Gruppe der Lebendigen, die das Grab umstehen. Lazarus muß an seiner etwas schemenhaften Gestalt und in seinen bleichen Zügen allerdings verraten, daß er schon eine Beute des Todes gewesen, zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den Tod in ihm auch schon wieder aufgehoben hat. Von der Krankheit ist schon in der Einleitung gehandelt worden. Sie an sich ist nicht notwendig widrig oder gar ekelhaft. Dies wird sie erst, wenn sie den Organismus in der Form der Verwesung zerstört und wenn wohl gar das Laster die Ursache der Krankheit ist. In einem Atlas der Anatomie und Pathologie zu wissenschaftlichen Zwecken ist natürlich auch das Scheußlichste gerechtfertigt, für die Kunst hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der Bedingung darstellbar, daß ein Gegengewicht ethischer oder religiöser Ideen mitgesetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter Hiob tritt unter die Réverbere der göttlichen Theodizee. Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue ist freilich ein fast brutaler Gegenstand, der es schwer begreifen läßt, weshalb die Deutschen ihn am häufigsten abgedruckt und der Jugend tausendfach, im Original wie in den verschiedensten Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indessen ist doch bei ihm, wenngleich in sehr widrigen Nebenumständen, die Idee des freien Opfers noch festgehalten. Le lepreux de la ville d' Aosta („Der Aussätzige von Aosta") von Xavier de Maistre, ein höchst ergreifendes Gemälde menschlicher Vereinsamung, basiert sich auf der Idee der absoluten Resignation. Der antike Philoktetes leidet am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jason auf Chryse bei Lemnos errichteten Altar darum gebissen hatte, daß er ihn den Griechen zeigte usw. Ekelhafte Krankheiten, die auf einem unsittlichen Grunde beruhen, muß die Kunst von sich ausschließen. Die Poesie prostituiert sich selbst, wenn sie dergleichen schildert, wie Sue in seine Pariser Mysterien eine ärztliche genaue Beschreibung von St. Lazare, eine deutsche Schriftstellerin, Julie Burow, in einen Roman Frauenlos die exakte Beschreibung der syphilitischen Station eines Lazaretts aufgenommen hat. Das sind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft pathologischen Interesse an der Korruption das Elend der Demoralisation für poetisch hält. Krankheiten, die zwar nicht infam sind, sondern mehr nur den Charakter der Kuriosität haben, der sich in seltsamen Deformitäten und Auswüchsen kundgibt, sind auch nicht ästhetische Objekte, wie z. B. die Elephantiasis, die einen Fuß oder Arm schlauchartig anschwellen läßt, so daß seine eigentliche Form ganz verlorengeht. Wohl aber darf die Kunst Krankheiten darstellen, die als eine elementarische Macht Tausende dahinraffen, indem dieselben teils als das Schicksal einer bloßen Naturgewalt, teils als ein göttliches Strafgericht erscheinen können. In diesem Fall nimmt die Krankheit, selbst wenn sie ekelhafte Formen in sich schließt, sogar einen schauerlich erhabenen Charakter an. Die Massen der Kranken geben sofort die Anschauung des Außerordentlichen, und es entstehen malerische Kontraste der Geschlechter, Altersstufen und Stände. Ästhetisch genommen wird aber für alle solche Szenen die Auferweckung des Lazarus den kanonischen Typus abgeben und das Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben siegreich gegenübertreten müssen. Der Anblick des massenhaften Sterbens allein, wie es Raffet in seinem Bilde vom Typhus der französischrepublikanischen Armee in Mainz geschehen ist, würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der von der göttlichen Freiheit des Geistes ausgeht, läßt Siechtum und Todesqual überwinden. So haben die Maler die Juden in der Wüste gemalt, wie sie, von Krankheit ergriffen, zur ehernen Schlange aufschauen, die Moses auf Jehovas Geheiß zu ihrer Genesung aufgestellt hat. Hier ist die Krankheit Strafe ihres Murrens wider Gott und Moses, so wie die Heilung vom Biß der feurigen Schlangen der Lohn für ihre Reue. In dem Bilde von Rubens, Wie der heilige Rochus die Pestkranken heilt, ist der Übergang vom Tode zum Leben die Poesie, welche die Schrecken der scheußlichen Krankheit ästhetisch vom Ekel befreiet. Ein treffliches Bild aus dieser Sphäre ist auch das von Gros, Napoleon unter den Pestkranken zu Jaffa. Wie gräßlich sind diese Kranken mit ihren Beulen, mit ihrer lividen Farbe, mit den graubläulichen und violetten Tinten der Haut, mit dem trockenbrennenden Blicke, mit den verzerrten Zügen der Verzweiflung! Aber es sind Männer, Krieger, Franzosen, es sind Soldaten Bonapartes. Er, ihre Seele, erscheint unter ihnen, scheuet nicht die Gefahr des tückischen, scheußlichsten Todes; er teilt sie, wie er mit ihnen in der Schlacht den Kugelregen geteilt hat. Dieser Gedanke entzückt die Braven. Die matten, dumpfen Köpfe richten sich empor; die halberlöschenden oder fieberhaft funkelnden Blicke wenden sich zu ihm, die schlaffen Arme strecken sich begeistert nach ihm aus, ein seliges Lächeln umspielt nach diesem Genuß die Lippen der Sterbenden -und mitten unter diesen Grauengestalten steht der Riesenmensch Bonaparte voll Mitgefühl aufrecht und legt seine Hand auf die Beule eines Kranken, der halbnackt sich vor ihm erhoben hat. Und wie schön hat Gros gemalt, daß man aus den Gewölbbogen des Lazaretts in das Freie blickt, daß man auf Stadt und Berg und Himmel die von der Schwüle des Krankenlagers entlastende Aussicht hat. Ähnlich wie Shakespeare am Schluß des Hamlet, als die vergifteten Leichen eines in Fäulnis geratenen Geschlechts gekrümmt umherliegen, den kräftigen Trompetenschall erschmettern und den jugendheitern, reinen Fortinbras als Beginn eines neuen Lebens auftreten läßt. Lazarette, in denen nur Verwundete liegen, haben nicht das Ekelhafte solcher Szenen und sind daher häufig ohne Anstoß gemalt. Auch das Erbrechen ist früher schon erwähnt worden. Mag es eine unschuldig krankhafte Affektion, mag es Folge der Völlerei sein, immer ist es höchst ekelhaft. Dennoch haben Poesie wie Malerei es dargestellt. Die Malerei kann es durch die bloße Stellung andeuten, obwohl Holbein im Totentanz sich nicht geniert hat, den Schlemmer ganz im Vordergrunde den genossenen Fraß wieder ausspeien zu lassen. In ihren Jahrmarkt- und Wirtshausszenen sind auch die Niederländer nicht blöde damit gewesen. Über die Zulässigkeit solcher widrigen Züge wird es sehr auf die übrigen Seiten der Komposition und auf den Stil ankommen, in welchem sie gehalten ist, denn selbst eine komische Wendung ist möglich, wie in Hogarths Punschgesellschaft oder in jenem Gemälde einer griechischen Vase, wo Homer, auf ein Polsterbett hingestreckt, sich in ein am Boden stehendes Gefäß erbricht. Eine weibliche Gestalt, die Poesie, hält ihm das göttliche Haupt. Um das Gefäß herum stehen eine Menge Zwergfiguren, die eifrig das Ausgebrochene wieder zum Munde führen. Es sind die spätem griechischen Dichter, die von dem zynisch weggeworfenen Überfluß des großen Poeten sich ernähren. Auch eine Apotheose Homers!^68 Geht die Poesie aber so weit, daß sie vom Erbrechen nicht bloß erzählt, vielmehr es auf die Bühne bringt, so ist das ein Überschreiten des ästhetischen Maßes, das auch komisch nicht wirken kann. Hiermit hat es Hebbel in seinem Diamanten versehen. Der Jude, der ihn verschluckt hat, bricht ihn auf der Bühne wieder aus, und nicht nur bricht er ihn aus, sondern er steckt sogar deshalb den Finger in den Mund. Das ist zu widrig! Die Geburt hat als ein notwendiger Naturakt nicht dies Abstoßende, selbst wenn sie nicht, wie in Hans Sachs' Narrenschneiden und in Prutz' Politischer Wochenstube, komisch gewendet wird. Das Ekelhafte wird auch dadurch ästhetisch unmöglich gemacht, wenn es mit dem Unnatürlichen sich vermischt. Blasierte Epochen der Völker wie der Individuen kitzeln die erschlafften Nerven mit den heftigsten und daher nicht selten auch ekelhaftesten Reizmitteln auf. Wie scheußlich ist nicht das neueste fashionable Vergnügen der Londoner Müßiggänger, der Rattenkampf! Kann man sich etwas Ekelhafteres ersinnen als einen Rattenhaufen, der sich in Todesangst gegen einen bestialischen Hund wehrt? Doch, könnte mancher sagen, die Wettenden, die, mit der Uhr in der Hand, um die ausgemauerte Grube herumstehen. Allein Pückler-Muskau in seinen ersten, unsterblichen Briefen eines Verstorbenen erzählt doch noch von etwas Ekelhafterem, daß er nämlich zu Paris auf dem Boulevard Mont Parnasse gesehen, wie die Spießbürger nach einer Ratte schössen, die sie auf einem schrägen Brett angebunden hatten, so daß sie auf dem engen Raum in Verzweiflung hin und her lief. Zum Vergnügen nach einer Ratte schießen! Infernalisch ekelhaft. Petronius hat eine gewisse grandiose Nacktheit, eine gewisse, der Juvenalischen verwandte Herbheit, die seinen Darstellungen der blasierten Verworfenheit einen düstern Reiz erteilt. Eine Szene in seinem Gastmahl des Trimalchio schildert gewissermaßen symbolisch den innersten Ungeist einer solchen Welt. Es wird ein Schwein, das den Gästen erst lebend vorgeführt worden, nach kurzer Zeit aufgetragen. Es ist nicht ausgeweidet. Wütend läßt der Herr den Koch kommen, ihm für solche Vergessenheit, für solche Beleidigung seiner Gäste den Kopf vor die Füße legen zu lassen. Auf einen Wink des Herrn macht sich der Koch furchtsam ans Ausweiden, und was sind diese ekelsten Gedärme? Man entdeckt in ihnen die trefflichsten Würste, denen aber die Form der natürlichen Eingeweide belassen worden. Alles ist enthusiasmiert. Man macht dem Herrn seine Komplimente, einen solchen Koch zu besitzen, und der Koch behält nicht nur sein Leben, sondern wird sogar mit einer Silberkrone gekrönt und mit einem Becken von korinthischem Erz beschenkt. Mache die Eingeweide des Schweins zu Leckerbissen, und du wirst solch ekelhaftelender Zeit ein großer Mann sein. Einen Pätus wird sie hinrichten, aber dich wird sie mit Lorbeern kränzen!^69 - Der Zynismus der geschlechtlichen Verhältnisse gestattet zwischen der Natur und der entschiedenen Unnatur noch einen Spielraum ekler Lüstelei, auf den wir hier nicht eingehen wollen.^70 Die Komik selber, wenn sie dergleichen durch die Zote auch ins Burleske treibt, kann doch das Häßliche nicht daraus eliminieren. Wir rechnen hieher z. B. aus des Aristophanes Lysistrata die an sich höchst komische Szene, wo Myrrhine die Begierden des Kinesias aufs äußerste steigert und ihn dann stehenläßt.^71 Kommt zu solchen Situationen und Empfindungen noch das Alter hinzu, so wächst die Widrigkeit. Horaz hat sie in der achten Ode der Epoden geschildert.^72 Die Unnatur als die Verkennung des Naturgesetzes durch die Freiheit oder richtiger Frechheit des menschlichen Willens ist durchaus ekelhaft. Die Sodo-miterei, die Päderastie, die lüstern raffinierten Arten des Beischlafs (bei den Alten z. Β. άρμα, φιλότης) usw. sind scheußlich. Die Pornographen stellten auch solche erotische Szenen dar, die man libidines oder spintria nannte und worüber man die gelehrteleganten Erläuterungen von Raoul-Rochette zum Musée secret von Herculanum und Pompeji von Aine und Barre, Paris 1840, nachlesen möge. Nach des Plinius Bericht kaufte z. B. Tiberius zu einem ungeheuren Preise ein Gemälde des Parrhasius, es in seinem Schlafzimmer aufzuhängen. Dies Bild stellt die Atalanta dar, wie sie dem Meleager auf ekelhaft obszöne Weise mit dem Munde zu Willen war. Mit Panofka^73 eine Parodie darin zu sehen, scheint uns zu mißlich. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Kliche. LEIPZIG: RECLAM, 1996^2. ISBN 3-379-01555-5. S. 252-260. II. Schöne Jugend Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! Gottfried Benn. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch, 1997. S. 22. Krásné mládí Ústa dívky, jež dlouho ležela v rákosu, vypadala tak nahlodaně. Když rozevřeli hruď, jícen byl plný děr. Nakonec v loubí pod bránicí našli hnízdo mladých krys. Jedna malá sestřička ležela už mrtvá. Ostatní žily z jater a ledviny, pily studenou krev a prožily tady krásné mládí. A krásně a rychle přišla také smrt: všechny je najednou hodili do vody. Ach, jak zakničely čumáčky. Hejda, Zbyněk. Překlady: Emily Dickinsonová, Georg Trakl, Gottfried Benn. Praha: Aula, 1998. S. 75. Krásné mládí Ústa dívky, jež dlouho ležela v rákosí, vypadala tak nahryzle. Při otevření hrudníku byl jícen tak děravý. Konečně jsme v loubí pod bránicí nalezli hnízdo mladých krys. íedna sestřička byla mrtvá. Ostatní žily z jater a z ledvin, pily studenou krev a strávily tu krásné mládí. A pěkně a rychle jim nadešla i smrt: hodili jsme je všechny do vody. Ach, jak kvičely ty čumáčky! Benn, Gottfried: Básně. Přel. Ludvík Kundera. Praha: ERM, 1995. Str. 10.