Dietrich Bonhoeffer: Im Tegeler Gefängnishof 1944 (der dritte von links) Dietrich Bonhoeffer Von guten Mächten Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr. Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last, ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen das Heil, für das Du uns bereitet hast. Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand. Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann wolln wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört Dir unser Leben ganz. Laß warm und still die Kerzen heute flammen, die Du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen. Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so laß uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder hohen Lobgesang. Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag. Dietrich Bonhoeffers letztes Gedicht auf dem Weg in das Gesangbuch I. „Gleichwohl trösten seine Gedichte eine weit zerstreute Gemeinde“ - so beginnt der Schlußsatz von Gerhard Krauses Bonhoeffer-Artikel in der Theologischen Realenzyklopädie. Der Zusammenhang zeigt, welch hoher Rang Bonhoeffers Versen damit für die „Nachwirkung“ seines Lebens und Schaffens zuerkannt wird. „Gleichwohl“ - die so eröffnete Feststellung hat eine polemische Spitze. Droht „die Verabsolutierung des Bonhoeffer der Briefe und Fragmente..., den viel eindeutigeren Bonhoeffer der Bibelauslegung und des Kirchenkampfes auf eine (ergänze: vorgeblich) überwundene Vorstufe zu degradieren“, so ist der Hinweis auf die Nachwirkung gerade der Gedichte im Sinne Krauses ein Gegenargument. Denn die Gedichte haben nach seiner Auffassung teil an Bonhoeffers biblischer Spiritualität. Die aber halte sich durch die gesamte Zeit seines Wirkens durch, präge sich freilich am Ende im Sinne einer schon früher angelegten Tendenz zu einer „prophetisch-apokalyptischen Schau der neuen Erde“ aus. „Begleitet von Bibelmeditationen und gebetsartigen Gedichten“ herrsche im zweiten Haftjahr „eine Art Fernsicht“ vor, eine „alles Historische überstrahlende Schau endgeschichtlicher Erneuerung“. Hier liege die Originalität des Briefwerkes, nicht in den durch die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schon vorgeprägten „neuen Formeln“, die eine so umfangreiche Diskussion unter den Bonhoeffer interpretierenden Fachwissenschaftlern ausgelöst haben.^1 Bonhoeffers Gedichte unter diesem Urteil zu prüfen wäre eine ebenso wichtige wie reizvolle Aufgabe. Doch wird man schon vorweg vermuten dürfen, daß es dabei nicht ohne deutliche Differenzierungen abginge. Die zehn erhaltenen poetischen Texte aus den Monaten Mai oder Juni bis Dezember 1944 sind ja keineswegs alle so zugänglich und so tröstlich, daß eine (wenn auch „weit zerstreute“) Gemeinde mit ihnen insgesamt umginge. Und auch im Blick auf die Teilhabe dieser Texte am Thema „renovatio mundi et ecclesiae“ gibt es erhebliche Unterschiede. Im folgenden gehen wir nur einem der Gedichte nach, dem letzten: „Von guten Mächten treu und still umgeben“. Es lag einem Brief bei, den Bonhoeffer am 28. 12. 1944 aus dem Gestapo-Gefängnis der Berliner Prinz-Albrecht-Straße zum 70. Geburtstag seiner Mutter (am 30. 12.) geschrieben hat. Dieses Gedicht steht seiner Gattung nach, verglichen mit den übrigen, dem herkömmlichen Gemeindelied noch am nächsten. Von jenen übrigen muß uns vor allem das mit der Überschrift „Christen und Heiden“ interessieren („Menschen gehen zu Gott in ihrer Not“). Es ist deutlicher als alle anderen Summe der theologischen Reflexionen aus der Haftzeit. Das Verhältnis beider zueinander ließe sich zunächst von ihren unterschiedlichen Adressaten her bestimmen: Mutter, Vater, Braut, Geschwister - also die laienchristliche Familie - im ersten, der als Theologe mitdenkende Freund im andern Falle. Aber auch von der Situation des Autors her fällt Licht auf dieses Verhältnis. Dafür stehe eine Briefpassage vom 21. 7. 44 (wir werden auf diesen Brief noch zurückkommen): „Zwar beschäftigen mich die theologischen Gedanken unablässig, aber es kommen dann doch auch Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen läßt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages... und man kehrt zu den schönen Paul-Gerhardt-Liedern zurück und ist froh über diesen Besitz.“^2 Allerdings -die bloße Feststellung eines schiedlich-friedlichen Nebeneinanders von laienchristlicher und theologischer Perspektive, von unreflektiertem und reflektiertem Glauben kann schwerlich schon das letzte Wort in dieser Sache sein. Eben hier ist genauere Nachfrage nötig. II. „Das letzte theologische und gestaltete Zeugnis aus Bonhoeffers Hand ist das Gedicht „Von guten Mächten“. Es ist ein Gebet Gedanklich steht es dem Geist von „Christen und Heiden“ nahe. Aber es hat dessen lehrhafte Konstruktion hinter sich gelassen. Seiner Mutter und Braut hat er es zugedacht.“^3 „Von guten Mächten“ an erster Stelle als ein theologisches Zeugnis bezeichnet zu sehen ist überraschend. Müßte man nicht zunächst von der privaten Art dieser Äußerung reden, dann von der erbaulichen, um erst am Schluß eine allenfalls theologische Qualität des Textes herauszustellen? Das wäre gerade die Umkehrung der hier von Eberhard Bethge gewählten Reihenfolge. Wie ein Bonhoeffer-Gedicht Privates einbeziehen kann, läßt sich an „Der Freund“ wahrnehmen. Über drei Seiten hin ethische Reflexionen über die Freundschaft im erhabenen Stil des freien Maßes, der erkennen läßt, daß der Autor Hölderlin im Ohr hat -aber dann, ohne Nötigung durch Gedankliches, ein persönlicher Abschluß: Als die Sirenen heulten um Mitternacht, habe ich still und lange an dich gedacht, wie es dir gehen mag und wie es einst war, und daß ich dir Heimkehr wünsche im neuen Jahr. Nach langem Schweigen höre ich um halb zwei die Signale, daß die Gefahr vorüber sei. Ich habe darin ein freundliches Zeichen gesehn, daß alle Gefahren leise an dir vorübergehn. Das ist ein zum Gedichtanhang geratener Zueignungstext, ganz bestimmt durch situationsgeleitetes Hindenken, Wünschen und Gewißwerden des Ich im Verhältnis zu seinem Du, dem Freund. Ähnlich hätte es auch in der Prosa des Geburtstagsbriefes^4 gesagt werden können. Freilich doch nur ähnlich. Die Dichte der Vergegenwärtigung im Seelischen drängt zur dichterischen Gestaltung im Sprachlichen. Nur daß jetzt nicht mehr die Freundschaftsode das Maß geben kann. Sondern wir lesen zwei vierzeilige gereimte Strophen, gefügt aus Fünfhebern mit freien, der lebendigen Rede entsprechenden Füllungen. Der Eingang des Gedichts „Von guten Mächten“ ist mit der im persönlichen Ton ausgesprochenen Ich-Ihr-Beziehung, die keinerlei Überhöhung ins Allgemeine braucht, der privaten Art des Anhangs an das Freundes-Gedicht verwandt: Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr. Wieder ist es die Strophe aus vier fünfhebigen Versen. Aber die Fügung ist jetzt strenger und anspruchsvoller: gekreuzter Reim statt des Paarreims, korrekte Jamben statt freier Füllungen, Alternieren von unbetonten und betonten Schlußsilben. Dieses Strophenmuster, vom italienischen Elfsilber ausgehend, der auch der Grundbaustein der klassischen deutschen Sonett-, Terzinen- und Stanzendichtung geworden ist, hat nichts Auffälliges. Man meint, es aus vielen Gedichten zu kennen, und tatsächlich ist es leicht bei Goethe, Bürger, Lenau, Storm, George und Rilke aufzufinden. Aber: In der deutschen Kirchenlieddichtung spielt es keine Rolle! Unter den 124 Strophenmustern des Evangelischen Kirchengesangbuches ist es nicht vorhanden, und schwerlich dürfte Bonhoeffer eine Melodie dazu vertraut gewesen sein.^5 Damit stehen wir aber vor einer wichtigen Einsicht: Anders als Jochen Klepper, der Kirchenlieddichter sein wollte und häufig auf bekannte Gesangbuchmelodien hin schrieb, lag Bonhoeffer der Gedanke, ein Gemeindelied zu dichten, völlig fern. Ja, man darf annehmen, daß es ihm lieb war, mit der gewählten Strophe im Rahmen gehobener Gesellschaftsdichtung des Bildungsbürgertums zu bleiben und sich nicht den Anschein zu geben, daß er schon durch die Übernahme einer traditionellen Liedform erbaulich wirken wolle. Seine Hemmung, sich poetisch mitzuteilen, war ohnehin groß genug^6 und nur unter dem Druck der erzwungenen Isolierung überwindbar. Das Gedicht nimmt den Familienton auf („so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr“) und verbleibt als sprachlich gestalteter Ausdruck von Frömmigkeit innerhalb des Stil- und Bildungskonsensus dieser Familie.^7 Die Einstellung aufs Private ist hier also gerade nicht der Rückzug in die religiöse Sonderwelt. Das läßt sich schon aus der Form erheben. Aber die Form will nicht losgelöst vom Inhalt gewertet werden, wie umgekehrt der Inhalt sich einer ganz bestimmten Form anvertraut und die durch sie nahegelegten Modifikationen nicht als Beeinträchtigung, sondern als Vollendung erleben läßt. Formal wie inhaltlich ist schon mit der Eingangswendung von den „guten Mächten“ Wesentliches über das Gedicht vorentschieden. Sie eröffnet die Selbstaussprache zu Mutter und Braut hin,^8 indem sie deren besorgte Nachfragen auf den zweiten Platz verweist, in das mit der zweiten Strophe beginnende Gebet. Nach fünf Gebetsstrophen kehrt die Wendung „von guten Mächten“ aber noch einmal wieder: jetzt an der Stirn eines Vertrauensbekenntnisses, das die familiäre Situation weit übergreift, weil es im Credo wurzelt: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag. Entscheidender theologischer Kontext für diese Schlußstrophe -und von ihr aus gesehen auch für den Gedichtanfang - ist der Abschnitt „Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte“^9. Von bösen Mächten und ihrer Allgegenwart zu reden wäre näherliegend gewesen. Bonhoeffer hat über sie durchaus nicht geschwiegen. Es sei ihm erst in der Haft wirklich deutlich geworden, schreibt er einmal an die Eltern, „was die Bibel und Luther unter „Anfechtung“ verstehen. Ganz ohne jeden erkennbaren physischen und psychischen Grund rüttelt es plötzlich an dem Frieden und der Gelassenheit, die einen trug... man empfindet das wirklich als einen Einbruch von außen, als böse Mächte, die einem das Entscheidende rauben wollen.“^10 Über die politischen Manifestationen des Bösen und welcher Art die ethische Herausforderung ist, die an die Christen daraus ergeht, reflektierte er im Aufsatz „Nach zehn Jahren“, etwa im Abschnitt „Wer hält stand?“: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“ Ethischer Fanatismus muß hier scheitern. „Mit der Reinheit eines Prinzips meint der Fanatiker der Macht des Bösen entgegentreten zu können. Aber wie der Stier stößt er auf das rote Tuch statt auf dessen Träger, ermüdet und unterliegt.“ ^11 Und die Haftdokumente verschweigen auch nicht, was den Gefangenen täglich umgibt: das Schreien der schikanösen Schließer^12, das Heulen der Sirenen, das Toben der bei Fliegerangriffen in ihren Zellen belassenen Mithäftlinge^13. Luthers Morgen- wie Abendgebet, das Bonhoeffer wohl auch in der Haft gebraucht hat - jedenfalls fing er dort an, sich nach Luthers Gebetsanweisung mit dem Kreuzeszeichen zu segnen^14 -, schließt mit dem Satz: „Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde.“ Von der Macht des bösen Feindes ist erst die Rede, nachdem Gottes heiliger Engel genannt ist. So haben auch in Bonhoeffers Gedicht die guten Mächte den Vortritt vor den bösen Tagen (Strophe 2). Und tatsächlich meint er mit ihnen das, was in der kirchlichen Tradition die Engel sind. So betrachtet, ist „Von guten Mächten“ ein Engellied! Die aufschlußreichste Passage für Bonhoeffers Engelvorstellung, soweit sie in sein Gedicht eingegangen ist, findet sich im Brief vom 19. 12. 1944 an seine Braut: „Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und meine Studenten an der Front, sie alle sind für mich stets gegenwärtig. Deine Gebete, gute Gedanken, Worte aus der Bibel, längst vergangene Gespräche, Musikstücke und Bücher - das alles gewinnt Leben und Realität wie nie zuvor. Es ist eine große unsichtbare Welt, in der man lebt. An ihrer Realität gibt es keinen Zweifel. Wenn es in dem alten Kirchenlied von den Engeln heißt: zwei, um mich zu decken; zwei, um mich zu wecken - so ist diese Bewahrung durch gute unsichtbare Mächte am Morgen und in der Nacht etwas, das Erwachsene heute genau so brauchen wie die Kinder. Darum sollst du nicht denken, ich wäre unglücklich.“^15 Daß Bonhoeffer das Wort „Engel“ im Gedicht nicht verwendet, wird niemanden wundern; auch nicht, daß er keine der biblischen Bezeichnungen wählt, die noch deutlicher als „Engel“ ins Mythologische verweisen - man denke an Philipp Hillers im Anschluß an Eph 1,21 gedichtete Strophe: „Fürstentümer und Gewalten, / Mächte(!), die die Thronwacht halten, / geben ihm die Herrlichkeit; / alle Herrschaft dort im Himmel, / hier im irdischen Getümmel / ist zu seinem Dienst bereit.“ Verwunderlicher ist eher, daß er überhaupt, statt unmittelbar von Gott, von solchen Größen spricht, die das Walten Gottes erst vermitteln. Bei den Gebeten für Mitgefangene, die er ein Jahr zuvor, Weihnachten 1943, schrieb,^16 hat er diese Redeweise jedenfalls vermieden. Aber die Verbreitung seines Gedichts, das eben in den Worten „von guten Mächten“ seine affektive Signatur hat, hat ihm Recht gegeben. Das Poetische dieser Fügung ebenso wie ihre Kraft, den Glauben in die Sphäre geschichtlicher Erfahrung — und Gegenerfahrung! — einzuweisen, sprechen für sich selbst. Die beiden Rahmenstrophen leben von ihr, theologisch wie dichterisch. Insbesondere die Schlußstrophe, die ja im übrigen ganz konventionell anmutet,^17 wäre ohne ihren Eingang wohl schon längst abgenutzt. Mit Strophe 2 schließt der Autor sich mit den Seinen, die er in Strophe 1 angeredet hatte, zum Wir zusammen, das sich nun bittend an Gott wendet: Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last, ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen das Heil, für das Du uns bereitet hast. Das Gedicht bleibt bis zu Strophe 6 Bittgebet. Aber seine erste Bitte ist die umfassendste. Durch keine weitere kann sie überboten werden. Dabei beachte man, daß es vom Heil nicht heißt: das du für uns bereitet hast. Vielmehr sind wir für das Heil bereitet worden, das uns übergreift. Unsere geschichtliche Existenz, unser ganzes Dasein hat die Bestimmung, in Gottes Heil einzugehen, und eben dieses Heil als Ziel dieses unzerteilten Lebens ist Gegenstand der Bitte. Der Beter sieht Gott zugleich aus der Vergangenheit und aus der Zukunft her wirken - in beiden Bewegungen, der herkünftigen und der zukünftigen, auf die Verwirklichung seines Heiles bedacht. So betrachtet, gewinnt die Eingangszeile „Von guten Mächten treu und still umgeben“ neue Tiefe. Die Bitte um das Heil entfaltet sich nun so, daß die Strophen 3 und 4 auf zwei Weisen möglicher Zukunft hinblicken, während die Strophen 5 und 6 das Jetzt (5,1: heute; 6,1: nun) betreffen, allerdings so, daß auch hier noch einmal eine Zukunftszeile Platz hat: „führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen“ (5,3). „Wenn es sein kann“ - das ist ein Nachklang des „Mein Vater, ist's möglich ...“ aus der Gethsemane-Geschichte (Mt 26,39). Aber im Motivkreis von Gethsemane bewegt sich der Beter ja schon längst! Nach Lk 22,43 stärkt „ein Engel“ den bittenden Christus,^18 einer aus der Schar der „guten Mächte“ also. Nach Mk 14,34; Mt 26,38 nimmt Christus in Gethsemane den Kehrvers von Ps 42/43 auf („Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?“) und klagt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“ - hier hat die Wendung von den „aufgescheuchten Seelen“ ihren biblischen Haftpunkt.^19 Und vollends deutlich vergegenwärtigt Strophe 3 mit dem „Kelch ... des Leids“ das Gethsemane-Gebet Jesu: Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand. Nach der besonderen Nuance, die die Bitte um das Heil am Ende von Strophe 2 erkennen ließ, kann Strophe 3 nicht mit „Doch“ beginnen, so naheliegend ein solches Doch für manche Erbauungsdichtung auch sein mag. Geht es um das Heil, „für das du uns bereitet hast“, so wird es durch die gegenwärtige Unheilserfahrung nicht widerrufen. Fast beängstigend ist es zu sehen, mit welcher Gewißheit Bonhoeffer in diesem Vertrauensgebet das Leiden nicht etwa als unvermeidliche, jedenfalls rätselhafte Schickung ins Auge faßt, sondern als das selbstverständlich Gute aus der „guten und geliebten Hand“, die auch die „guten Mächte“ zur Stelle sein läßt. „Dankbar“ nehmen wir es an? „Ohne Zittern“? Hat denn nicht Christus selbst angesichts dieses Kelches angefangen „zu zittern und zu zagen“? (Mk 14,33) Wie soll man sich also zu einer solchen Aussage stellen? Nun, zunächst darf man mit dichterischer Hyperbolik rechnen.^20 Verse dieser Art geben kein Protokoll meßbarer psychischer Befindlichkeiten. Sprache greift über das Vorgefundene hinaus, zumal dichterische, und die Sprache des Glaubens hat wesenhaft teil an den Grenzverletzungen, deren sich die Dichtung fortwährend schuldig macht. Sodann: Bonhoeffers Gebet nimmt den Psalter auf. Ps 42,6 endet ja: „Harre auf Gott! denn ich werde ihm noch danken, daß er mir hilft mit seinem Angesicht.“ In Ps 62,2 ist diese Hilfe schon Gegenwart: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“ ^21 In einer Auslegung von Ps 119,1 hatte Bonhoeffer schon 1939/40 geschrieben: „Sollte aber Gott einem der Seinen wirklich den Kelch des Leidens um Christi willen bis zum bitteren Ende in Kreuz und Tod zu trinken geben („daß das Gericht anfange am Hause Gottes“ - 1 Petr. 4,17) - wessen er doch zu allen Zeiten immer nur wenige gewürdigt hat -, so hat er gewiß ihr Herz vorher so bereitet, daß gerade sie es sind, die es mit starkem Glauben in ganz neuer und vollmächtiger Weise bezeugen: „Wohl denen, die im Gesetz des Herrn wandeln.“)^22 Schließlich und vor allem: Die Gethsemane-Geschichte hatte ein halbes Jahr vor dem letzten Gedicht einen zentralen Platz in Bonhoeffers Versuch, seine Idee einer weltlichen bzw. nicht-religiösen Interpretation der biblischen Botschaft zu klären. „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“, das unterscheidet Christen von Heiden. „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen ?“ fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden ... Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. Das ist die metanoia, nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Ängste denken, sondern sich in den Weg Jesu Christi mithin einreißen lassen, in das messianische Ereignis, daß Jes 53 nun erfüllt wird!“^23 So ist es die Einsicht in die Präsenz des messianischen Leidens Christi und in den Charakter der metanoia als Teilnahme an diesem Leiden in der Selbstverständlichkeit des ungeteilten Lebensvollzugs, die den Beter im Blick auf den Leidenskelch sprechen läßt:“– so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern“. Im Eingang der zuletzt angeführten Briefpassage zitiert Bonhoeffer sich selbst. Er bezieht sich auf das zuvor übersandte Gedicht „Christen und Heiden“^24, das er nunmehr im Blick auf einen darin ausgedrückten „Gedanken“, der zum „theologischen Thema“ der Freunde gehört, in Erinnerung bringt.^25 „Christen und Heiden“ lag dem Brief vom 8. 7. 44 bei.^26 Was die entscheidende Zeile „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“ im Gegenzug zur „Religion“, wie Bonhoeffer sie in seinen Gefängnisbriefen verstand, aber zu besagen hat, ergibt sich erst aus dem eben zitierten Brief vom 18. 7. und dem nächsten vom 21.7., der durch den Fehlschlag des Attentats auf Hitler veranlaßt ist: „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann..., einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeit leben -, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ... Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet? ... Ich bin dankbar, daß ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, daß ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin. Darum denke ich dankbar und friedlich an Vergangenes und Gegenwärtiges–Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich.“^27 „Vielleicht wunderst Du Dich über einen so persönlichen Brief“, fährt Bonhoeffer fort. Und schon im Briefeingang hatte er, fast im Ton einer Entschuldigung, formuliert: „Ich denke, Du wirst in Gedanken so oft und viel hier bei uns sein, daß Du Dich über jedes Lebenszeichen freust, auch wenn das theologische Gespräch einmal ruht.“ Er beschäftige sich zwar unablässig mit den theologischen Gedanken, aber dann seien doch auch Stunden da, „in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen läßt“. Der Brief nach dem Attentat wurde so ausführlich zitiert, weil er genau an den Punkt führt, von dem aus es einen bruchlosen Übergang in die Jahresschlußstrophen „Von guten Mächten“ hinein gibt. Dort wie hier das bedeutungsschwere Gethsemane-Motiv, dort wie hier die im Scheitern erfahrene Getrostheit des Glaubens, dort wie hier der Zusammenklang des Theologischen und Persönlichen. Ruht das theologische Gespräch in dem „so persönlichen“ Brief vom 21. 7. wirklich? Man kann davon im Brief ebensowenig absehen wie im Jahresschlußgedicht. E. Bethge hat „Von guten Mächten“ ein theologisches Zeugnis genannt (s. o.) - mit dem gleichen guten Recht, mit dem man „Christen und Heiden“ ein persönliches nennen kann. Tatsächlich sind beide Gedichte beides, nur daß sich einmal das theologisch Belangreiche in der persönlichen Aussage verbirgt, das andere Mal das persönlich Belangreiche in der theologischen. Die von Bonhoeffer attackierte Religiosität hat ihre Domäne nicht schon „in dem Bereich des Persönlichen), „Innerlichen“, „Privaten“„ überhaupt, sondern nur unter der Voraussetzung, daß dieser Bereich gegen die übrige Wirklichkeit abgeschirmt und als Sphäre individueller Erfahrung eines weltlosen Gottes und entsprechender überführender Seelsorgemaßnahmen angesehen wird.^28 Wäre es anders, so ließen sich bestimmte Töne in Bonhoeffers letztem Gedicht nur als Rückfall in eine von ihm selbst bekämpfte Position verstehen. Und in der Tat, die Geschichte der Rezeption des Gedichtes als Gemeindelied zeigt, wie unsicher man an diesem Punkte war.^29 Nicht Strophe 3 wird durch die adversative Konjunktion „doch“ eröffnet, sondern Strophe 4: Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann wolln wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört Dir unser Leben ganz. Mitten im Gedicht, nachdem die letzte Konsequenz des Jüngerseins, Leid und Tod, schon bedacht ist, gibt es also einen neuen Einsatz. Das Gebet bricht um. „Noch einmal Freude... an dieser Welt“! Das Letzte hat das Vorletzte nicht bedeutungslos gemacht. Ergebung ist die (mit ihr unter dem gleichen Vorzeichen der dritten Vaterunser-Bitte stehende) Quelle des Widerstands. Mag das ganze Gedicht beim oberflächlichen Lesen herkömmlicher Frömmigkeit verpflichtet sein - durch das „doch“ der 4. Strophe sprengt es die unzählig oft variierte Struktur traditioneller Gesangbuchdichtung. Auch wenn wir Bonhoeffers bezeichnende Gethsemane-Deutung aus den Kontexten nicht kennten, wenn seine Briefe verlorengegangen wären, so wäre allein durch dieses „doch“ an dieser Stelle die Besonderheit des Gedichtes „Von guten Mächten“ sichergestellt. Daneben darf aber nicht überlesen werden, worauf die Strophe hinausläuft, welcher Art die Fülle des irdischen Lebens ist, die sich hier auf tut. Der Doppel-Hauptsatz lautet: „... dann wolln wir des Vergangenen gedenken, / und dann gehört Dir unser Leben ganz.“ Im Gedenken wird das Vergangene nicht einfach konserviert, sondern in das Leben eingeholt, das nur auf diese Weise ganz und als Gottes Eigentum gelebt werden kann. „Für mich ist diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Versuch sie festzuhalten und wiederzugewinnen, vor allem die Furcht, sie zu verlieren, fast die tägliche Begleitmusik meines hiesigen Lebens“, schreibt Bonhoeffer am 5. 6. 44 und bereitet so den Freund auf die Lektüre des ersten aus der Haft übersandten Gedichtes vor.^30 Es trägt die Überschrift „Vergangenheit“ und ist erst in der Neuausgabe von „Widerstand und Ergebung“ veröffentlicht worden, offenbar wegen seiner sehr persönlichen Veranlassung, eines Abschieds nach der Sprecherlaubnis für die Verlobte. Befremdlich genug wird darin die Vergangenheit wie eine Person angeredet, und passagenweise ist der Leser unsicher, ob der Autor wirklich die Vergangenheit anspricht oder nicht eher die Geliebte selbst. In der Erscheinung der Geliebten im Gefängnis versammelt sich das ganze bisher gelebte Leben, von dem der Häftling abgeschnitten und nun einer tötenden Geschichtslosigkeit ausgesetzt ist. Zurückgewonnen wird die Vergangenheit erst ganz am Ende, im nächtlichen Gebet: Ich strecke die Hände aus und bete – – und ich erfahre das Neue: Vergangenes kehrt dir zurück als deines Lebens lebendigstes Stück durch Dank und durch Reue. Faß' im Vergangenen Gottes Vergebung und Güte, bete, daß Gott dich heut und morgen behüte. „In dem vorliegenden Versuch kommt alles auf die letzten paar Verse an. Ich glaube, sie gerieten zu kurz; was meinst Du? Seltsamerweise wurden sie von selbst zu Reimen.“^31 Die erhoffte irdische Zukunft ist eine solche, die im Durchgang „durch Dank und durch Reue“ auch die Vergangenheit wiedergewinnen läßt. Wenn G. Krause als das Besondere des zweiten Haftjahres „eine Art Fernsicht“ herausstellt, eine „alles Historische überstrahlende Schau endgeschichtlicher Erneuerung“^32, dann könnte er sich also auch auf die 4. Strophe des letzten Gedichtes berufen, vorausgesetzt allerdings, daß die Überstrahlung des Historischen nicht bedeutet, daß es im Glanz verschwimmt. Strophe 5 führt noch einmal in die private Beziehung zurück, von der das Gedicht ausging. Laß warm und still die Kerzen heute flammen, die Du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen. Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht. Es sind weihnachtliche Verse, die mit den flammenden Kerzen die Atmosphäre des häuslichen Festes vergegenwärtigen, das sich mit dem Licht und der Stille seiner Botschaft gegen die Dunkelheit und den Lärm der sichtbaren Welt behauptet. Man mag einen Anflug von Sentimentalität darin finden - aber doch wohl nur dann, wenn man die Verse aus ihrem Zusammenhang löst und die Absicht des Autors vergißt, in einer einmaligen Situation persönliche Nähe zu ganz bestimmten Menschen zu bekunden und ihnen in einer vertrauten, unmittelbar zu Herzen gehenden Sprache Worte des tröstenden Gebetes zu geben. Hier bedarf es keiner Interpretation mehr. Im „Evangelischen Gesangbuch für Brandenburg und Pommern“ (1931), dessen erster Teil mit dem „Deutschen Evangelischen Gesangbuch“ (DEG) übereinstimmt, stand unter Nr. 128 Rudolf Kögels „Zions Stille soll sich breiten / um mein Sorgen, meine Pein: / denn die Stimmen Gottes läuten / Frieden, ewgen Frieden ein“ - seinerzeit ein sehr beliebtes Lied. Daran erinnert auffällig Strophe 6: Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so laß uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder hohen Lobgesang. Bonhoeffer nimmt die weihnachtliche Stimmung von Strophe 5 noch einmal auf, die Stille, die es doch in dieser Situation des Landes und der Familie gar nicht mehr geben dürfte. Und indem er um das Gehör bittet, in dieser Stille „den vollen Klang der Welt“ wahrnehmen zu können, „die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder hohen Lobgesang“, ist wieder die Brücke geschlagen zu der Wirklichkeit, die die Vorväter die „obere Schar“ nannten und die Bonhoeffer als die „guten Mächte“ erfährt.^33 Der Kreis zwischen Strophe i und Strophe 7 ist geschlossen, und das Geborgenheitsbekenntnis des Anfangs, dort noch auf eine konkrete Beziehung hin gesprochen, kann nun, am Ende, zu schlichtester Allgemeinheit variiert werden. III. „Von guten Mächten“ ist ein Gedicht. Aber es gehört zur Geschichte seiner Wirkung, daß es zum Lied wurde, genauer: zu Liedern. Denn es halten sich bis heute zahlreiche Vertonungen nebeneinander. Der Weg des Gedichtes in seine Liedfassungen und der Liedfassungen in die Liederhefte und Gesangbücher ist durch die Qualität des Textes ebenso gefördert worden wie durch die Autorität seines Autors. Aber es gab und gibt auf diesem Weg auch einen komplizierenden Faktor, und das ist die Spezialität der Situation, die gerade diesen Autor zu diesem Text herausforderte. K. C. Thust hat 1976 die Quellen von fünf Vertonungen des Bonhoeffer-Gedichtes dokumentiert.^34 Schon damals gab es aber weit mehr. Die folgende Liste von 17 Komponisten ist zweifellos ebenfalls unvollständig.^35 Vertonungen zu „Von guten Mächten“ haben veröffentlicht O. Abel (1959), H. Breuer (1963), C. Albrecht (1966), J. Petzold (1967), A. Schoof, H. Weber (beide 1968), J. Gelineau (1971), S. Fietz (1972), A. C. Schuurman, M. Schlenker, H. Barbe, H. R. Simoneit (alle 1973), H. Gadsch (1979), O. Kaufmann (1980), J. Schwarz (1983).^36 Dazu kommen ein bis dahin nur mündlich überlieferter Kanon (1963)^37 und die Melodie eines nicht genannten Komponisten zur tschechischen Nachdichtung (1963/64)^38. Otto Abels Weise ist, wiewohl erst 15 Jahre später als ihr Text entstanden, wahrscheinlich die früheste und jedenfalls bis heute die verbreitetste. Theophil Rothenberg berichtet mündlich, wie es zu dieser Vertonung kam: Er habe bei den Treffen der Jungen Gemeinden immer wieder erlebt, daß ein Junge oder ein Mädchen für das Abendgebet verantwortlich gewesen sei, und sehr oft sei da Bonhoeffers Schlußstrophe gebetet worden - auswendig. Die Existenz anderer Strophen sei gar nicht bekannt gewesen. Im Blick auf diesen Brauch habe er Otto Abel um eine Vertonung der Strophe gebeten, um sie in sein „Liederbuch für junge Christen“ aufzunehmen. Der Vorgang ist bezeichnend. Bonhoeffers Text war als Gebet in Gebrauch, noch bevor er eine Weise hatte, und es waren Laien, die mit ihm umgingen! Es kann nicht verwundern, daß sich dieser Umgang auf die verallgemeinernde Schlußstrophe beschränkte. Sie war von der einmaligen Gedichtsituation ablösbar, blieb aber transparent für die Situation von Furcht und Besorgnis überhaupt, wie sie in den fünfziger Jahren gerade jungen Christen nicht unbekannt war. Fügen wir noch hinzu, daß auch der genannte Kanon aus der kirchlichen Jugendarbeit der DDR zu stammen scheint und wie Abels Weise in Gebrauch war, schon bevor das Tutzinger Preisausschreiben die nächste Vertonung veranlaßte.^39 Daß Abel wirklich nur die eine Strophe im Sinn hatte, sieht man auch daran, daß er für die zweite Hälfte eine Wiederholung vorsah. Mit Beginn der Wiederholung kommt es zu einem Septimsprung vom d hinauf zum c: Diese Wiederholung hat zur Popularität der Melodie gewiß viel beigetragen. Will man Abels Weise auf alle sieben Strophen singen, so muß sie fortfallen,^40 obwohl sie doch gewiß kein beliebiges Element der Komposition ist. Das Lied würde zu lang, und der siebenmalige Septimsprung wäre allzu penetrant. So deutet sich schon mit der ersten musikalischen Lösung ein Problem der weiteren Vertonungen und Bearbeitungen an, ob nämlich Bonhoeffers Gedicht auch als Ganzheit gesangbuchfähig ist oder nicht. Auch J. Petzold und H. Weber haben bei ihrer Melodie nur die 7. Strophe vor Augen. Aber beide treffen andere Maßnahmen. Petzold unterlegt seiner pentatonischen Weise nicht nur den Bonhoefferschen Text, sondern auch noch einen akkordierten Bibelspruch: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ So ist ein theologisches Gegengewicht gegen die Verflachung geschaffen, die der isolierten Schlußstrophe droht. Weber dagegen sucht ihren seelsorgerlichen Zuspruch dadurch zu intensivieren, daß er das dem Glauben vorgehaltene „ganz gewiß“ melodisch und textlich verdoppelt: Sollten diese Melodien auch für andere Strophen verwendet werden, so mußten diese Besonderheiten fallen.^41 Auch H. R. Simoneit scheint damit zu rechnen, daß im Regelfall nur die Schlußstrophe gesungen wird. Bei ihr steht seine Melodie, die Strophen 1-6 gehen notenlos voran. Eine neue Lösung hat S. Fietz gefunden. Er geht offenbar davon aus, daß die vertraute 7. Strophe ihren Vorrang behalten muß. So macht er sie zum Refrain, in den nach jeder Strophe, die der Vorsänger singt, alle übrigen einfallen können. Das Problem dabei ist aber, daß es so zu recht langen Einheiten kommt. Es handelt sich ja jedesmal um einen Durchgang durch acht fünf hebige Verse. Kann die eingängige weiche Melodie im Sechs-Achtel-Takt leisten, was ihr hier zugemutet wird? Auch wenn sie durch ein Instrumental-Arrangement gestützt wird, muß sie sich wohl rasch abnutzen. Schwerlich gibt es unter den neuen Gemeindeliedern ein weiteres, bei dem die Frage, ob eine Strophenauswahl zu treffen sei und welche, so viele verschiedene Antworten gefunden hat. In den bisher genannten Liederheften und -büchern (s. die Anmerkungen 36 bis 41) trifft man auf folgende Entscheidungen bzw. Empfehlungen: Strophe 7 (fünfmal) - Strophe 1 und 7 - Strophe 1, 5 und 7 -Strophe 1, 3, 6 und 7 - Strophe 7, 2, 3, 4 und 6 - Strophe 7, 6, 3 und 4 - Strophe 1-7 (fünfmal). Wo überhaupt ausgewählt wird, statt alle Strophen abzudrucken, erscheinen die Strophen 2 („Noch will das alte unsre Herzen quälen“) und 5 („Laß warm und still die Kerzen heute flammen“) also nur je einmal. Bei Strophe 5 erklärt sich das wohl aus ihrem starken weihnachtlichen Stimmungsgehalt. Ist das für die meisten Herausgeber ein Grund, die Strophe auszuscheiden, so folgt für H. Gadsch daraus gerade das Gegenteil. Denn er hat aus Bonhoeffers Gedicht ein schlichtes Sololied gemacht, was im Blick auf das Ich von Strophe 1 ganz folgerichtig ist, und es der Rubrik Neujahr eingeordnet. Sehr schön läßt er sich durch die erste Zeile leiten, indem er die betonte Silbe von „umgeben“ durch eine Phrase auszeichnet, in der das Umgeben musikalisch abgebildet ist: Die bis auf diese Figur und ihr Gegenstück am Ende der 4. Zeile in ruhigen Vierteln voranschreitende innige Melodie braucht gerade die Subjektivität der 5. Strophe nicht zu fürchten. Im übrigen könnten die fehlenden Strophen leicht eingefügt werden. Die Melodie ist dicht genug, um auch ihnen gerecht zu werden. Bei der Strophenauswahl 7, 2, 3,4 und 6 handelt es sich um die Fassung von „Cantate Domino“. Da Strophe 1 fehlt, hat Strophe 2 keinen logischen Anschluß. Die Schwierigkeit wird durch einen winzigen Eingriff in den Text behoben: „Noch will das Alte (Großschreibung!) unsre Herzen quälen“. Aber der Eingriff hat Folgen: Die Nachdichtung von F. Pratt Green lehnt sich an den so veränderten Text an, so daß Strophe 2 der englischen Fassung beginnt: „Yet is this heart by its old foe tormented“ (Noch wird dieses Herz durch seinen alten Feind gequält). So haben die „guten Mächte“ zwar theologisch durchaus sinnvoll ihre Position gegenüber dem „alten Feind“, aber der Bezug zu Weihnachten und zum Jahreswechsel ist endgültig dahin.^42 Inzwischen hat Fred Pratt Green seine Nachdichtung durch Strophe 1 ergänzt und im Anfang von Strophe 2 verändert - mit der Maßgabe, daß diese Fassung in Zukunft als seine authentische zu gelten habe: „1. By gracious powers so faithfully protected, /So quieitly, so wonderfully near, / l'll live each day in hope, with you beside me, / And go with you into the coming year. 2. Yet is this heart by the old year tormented …“^43 Ein schlimmer Mißgriff ist die Strophenauswahl 7, 6, 3 und 4 in „Gott erwartet euch“. Strophe 6, im Original aus Strophe 5 hervorwachsend und Strophe 7 vorbereitend, gerät in eine unmögliche Stellung. Das Gedicht ist, um es von seiner Ursprungssituation freizubekommen und allgemein verwendbar zu machen, zertrümmert worden. Das hätte selbst dann nicht geschehen dürfen, wenn es nicht von Bonhoeffer stammte! In den kirchenoffiziellen Beiheften zum Evangelischen Kirchengesangbuch für Württemberg (1971), Westfalen (1973), Berlin-West (1974) und die DDR (1978) - von weiteren landeskirchlichen Beiheften jetzt abgesehen - hat man auf eine Strophenauswahl verzichtet.^44 Zu Recht! Ebenso muß natürlich in einem künftigen evangelischen Kirchengesangbuch^45 das ganze Lied stehen. Die Frage kann hier nicht heißen: Wie werden die Hemmnisse für unmittelbaren Mitvollzug und vielfältige Verwendung aus dem Wege geräumt? Sondern: Wie kann durch die Begegnung mit dem ganzen Lied Aufmerksamkeit geweckt werden für den Weg und die Stimme eines der unentbehrlichsten Christuszeugen des 20. Jahrhunderts? Ein Gesangbuch hat, gerade auch um der Laien willen, auch die Aufgabe zu dokumentieren - und das nicht nur in den Prosabeigaben des Anhangs. Freilich ist zu erwarten, daß die Einigung über die Melodie weit schwieriger sein wird als die über den Text. Spricht aus der erstaunlichen Energie der bisherigen Melodisten nur persönlicher (vielleicht auch landeskirchlicher) Ehrgeiz? Oder nur mangelnde Kenntnis der schon vorhandenen Bearbeitungen? Vielleicht doch auch ein Ungenügen darüber, daß der große Wurf noch nicht gelungen ist. Eine Melodie zu „Von guten Mächten“ muß, wie ich meine, drei Maßstäben gerecht werden: 1. der tiefen Stille dieses Sprachgebildes (weshalb stark rhythmisierte oder am Gitarrenschlag orientierte Lösungen wohl ausfallen); 2. dem Bau seiner Strophe aus relativ langen, und zwar gleich langen Versen (die Spannung der Weise muß ebenso wirksam sein wie ihre Stille); 3. der inneren und äußeren Weite seiner zum Kreis geschlossenen Strophenfolge (die Weise muß wiederholungsresistent sein und kraft ihrer musikalischen Qualität affektive Beteiligung von Strophe zu Strophe ebenso erlauben wie reflektive Distanz). IV. Abschließend noch ein Blick auf zwei fremdsprachliche Fassungen. Sie stehen hier als Beispiel für die beiden Typen Bearbeitung durch Strophenauswahl und Übernahme des vollen Textes. Im schwedischen Supplementgesangbuch^46 ist Bonhoeffers Gedicht zu einem dreistrophigen Abendlied geworden (7, 5 und 6), das nach der aus „Cantate Domino“ übernommenen Melodie von J. Gelineau gesungen werden soll. Gewiß sind auch hier Vorbehalte gegen die Strophenauswahl am Platz. Davon abgesehen handelt es sich aber um eine zwar relativ freie, doch besonnene Nachdichtung. Sie stammt von Per Olof Nisser. Das Ich der fortgelassenen Strophe 1 äst interessanterweise in die Strophe 7 versetzt worden, die in Rückübersetzung so lautet: „Von guten Mächten wunderbar bewahrt / erwarte ich das Fremde und Neue. / Gottes Gnade ist neu, jeden Abend und jeden Morgen. / Er erwartet uns an jedem neuerweckten Tag.“ In der 5. Strophe (für dieses Lied ist es die 2.) ist das private Moment ins Menschheitliche erweitert, und eine Anspielung auf 2Mose 13,21 (die Bibelstelle ist über dem Lied eigens angegeben) läßt an den Weg des Gottesvolkes denken: „Am Abend laß das warme und stille Licht brennen. / Wie du im Finstern das Licht der Welt entzündest, / so führe du hier (im Finstern?) deine Menschheit zusammen / und sei auf dem Wege Wolke und Feuer und Gott.“ Und Strophe 6(3): „Wenn nun alles um uns her in die Stille hinabsinkt / laß du neue Klänge daraus hervorwachsen. / Wir hören den Gesang, den alle Welten singen, / in Hoffnung und Zuversicht rufen sie deinen Namen.“ Für die niederländische Fassung im „Liedboek voor de kerken“ nimmt J. W. Schulte Nordholt die Freiheiten des Nachdichters erstaunlich wenig in Anspruch. Die holländischen Christen verdanken ihm neben zahlreichen anderen Übertragungen und einer Reihe von eigenen Liedern auch eine ausgezeichnete Nachdichtung des ganzen Bonhoeffertextes.^47 Es wiegt nicht schwer, daß er, vielleicht geleitet durch Bonhoeffers Zellenexistenz, die Stille in Strophe 6 negativ versteht: „Valt om ons heen steeds meer het diepe zwingen, / de eenzamheid, die nergens uitkomst ziet...“ Vorbildlich ist, wie er in Strophe 1 die Anrede an die Angehörigen statt zu verdecken noch verdeutlicht: „ ... zo wil ik graag met u, mijn liefsten, leven“! Daß es zwanglos auch ganz wörtlich geht, zeigt die Fassung, die auf der einführenden Schallplattenausgabe zu hören ist, die zusammen mit dem „Liedboek“ herauskam^48: „... zo mag ik met u deze dagen leven“. Aber die ausdrückliche Anrede „mijn liefsten“ stellt gleich eingangs klar, wie persönlich das Lied ist, und läßt so nach seiner Entstehungssituation fragen. Die Bereitschaft, es gerade in dieser Situationsgebundenheit, als Liedvermächtnis des Märtyrers, zu begrüßen und in gemeindlichen Gebrauch zu nehmen, kann für Holland kaum bezweifelt werden. A. C. Schuurmans schöne (äolische) Melodie wird das Ihre dazu tun. Sie sollte auch in Deutschland bekannt werden: ^3 DB, 1018; vgl. den Brief an die Mutter vom 28. 12. 1944. ^4 WEN, 419-421, 425-427. ^5 Das Strophenmuster erscheint allerdings in einer Reihe von englischen Kirchenliedern. Im Genfer Liedpsalter liegt es den Bereimungen von Ps 12 zugrunde. ^6 WEN, 349L Vgl. auch 420: „Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, daß man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten … Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte.“ ^7 E. Bethge charakterisiert das Elternhaus Bonhoeffers als christlich, aber gemeindefern (DB, 59). Die Mutter, wiewohl nicht unberührt von Herrnhut, habe „niemals eine pietistisch-drängerische Atmosphäre um sich geduldet“ (ebd.), der Bruder Karl-Friedrich habe vom Vater den „vorsichtigen Agnostizismus“ übernommen (40). „So war das christliche Wesen in diesem Hause mehr hinter- und untergründig zu spüren. Bestimmend war die bürgerlich-empiristische Atmosphäre“ (.60). ^8 Zur seelsorgerlichen Intention der Ich-Aussage vgl. den entsprechenden Abschnitt o. S. 2Öff. Das tröstende Bekenntnis zur eigenen Geborgenheit spielt mit der Bestimmung „umgeben“ auf Ps 139,5 an: „Von allen Seiten umgibst du mich.“ ^9 WEN, 20f. ^10 WEN, 50. ^11 WEN, 63. Vgl. Bonhoeffers Äußerungen über die „dämonischen Mächte“ im Zusammenhang mit der Fanö-Konferenz GS I, 212-214. Auch im Tegeler Romanversuch spielen die halbgöttlichen Geschichtsmächte eine Rolle (FT, 155fr. = GSm, 5O4ff.). ^12 Haftbericht, WEN, 278-285. ^13 WEN, 169I. ^14 WEN, 154. ^15 So nach dem Abdruck bei Hampe, 77. Erstveröffentlichung dieses Auszugs in englischer Übersetzung durch v. Wedemeyer-Weller, 29. Von der Übersetzung aus gelesen, muß es im zitierten Text „Kinderlied“ heißen, nicht „Kirchenlied“. - Daß diese Engelvorstellung bei Bonhoeffer in seiner Lehre vom Gebot Gottes verwurzelt ist, erweist sich in einem Satz aus der „Ethik“: Der Mensch darf sich „von Geboten wie von einem guten Engel leiten, begleiten und bewahren lassen, und Gottes Gebot selbst kann nur in der Gestalt alltäglicher, scheinbar kleiner, bedeutungsloser Worte, Sätze, Winke, Hilfe(n) dem Leben die einheitliche Richtung, die persönliche Führung geben“ (EN, 301, nach einem mündlichen Hinweis von W. Krötke). ^18 WEN, 15 8-L-f. ^17 Der Reim Tag I mag ist im EKG mindestens fünfmal zu finden, vorrangig in Morgenliedern: 80,1; 336,1; 337,3; 338,6; 342,3. Einem mündlichen Hinweis von K. Matthiae verdanke ich die Kenntnis der folgenden Verse von Emil Frommel: „Ja, an Seinen Händen geh ich weiter / Und fürchte nicht, was kommen mag, / Wo Sonnen glänzen, ist es heiter, / Und wo Du weilest, ist es Tag. / Er ist mit mir an jedem Morgen, / Wie er schon gestern mit mir war, / Ihm ist mein Elend nicht verborgen, / Mir sein Erbarmen offenbar.“ Das Gedicht stammt aus dem Brief an eine ^18 Vgl. auch die Bezugnahme auf diese Stelle in D. Bonhoeffer, Versuchung, bearb. und hrsg. von E. Bethge, 1953“ ^25- Freundin. Es ist - für unseren Zusammenhang besonders interessant - mit „Berlin, Sylvesternacht, 11 Uhr, 1878“ datiert (Das Frommel-Gedenk-werk HI, Berlin 1901, 69). ^19 Im Haftbrief vom 16. 6. 1944, der für das Problem der nicht-religiösen Interpretation der biblischen Botschaft von besonderem Belang ist, schlägt Bonhoeffer, bevor er auf dies Thema kommt, dem Freunde einige Predigttexte vor, darunter Ps 42,6 („Was betrübst du dich, meine Seele... „) und Ps 6z“2 („Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“)! ^20 Wie es einmal dichterisch angemessen sein kann zu sagen, jemand nehme den Kelch des Leides ohne Zittern, so ein andermal, daß die Liebenden ihren Becher zitternd verschütten: „Jedoch, wenn er aus ihrer Hand / Den leichten Becher nehmen sollte, / So war es beiden allzu schwer: / Denn beide bebten sie so sehr, / Daß keine Hand die andre fand / Und dunkler Wein am Boden rollte“ (H. von Hofmannsthal, Die Beiden). - Über den „Becher Nichts“ in Gottfried Benns Dichtung „Das Unaufhörliche“ sprach Bonhoeffer in der Berliner Predigt vom 12. 6. 1932 (PAM I, GS IV, 64K.). ^21 Zu beiden Psalmstellen vgl. Anm. 19. ^22 GS IV, 513. Vgl. auch N, 67. ^23 WEN, 395. Zuvor schon ebd., 217. ^24 WEN, 382. ^25 WEN, 395. ^26 WEN, 380. ^27 WEN, 40*. ^28 WEN, 377. ^29 S.u. Teil III. ^30WEN, 349- ^31WEN, 350. Bethges Antwort ebd. 36i-L-. Darauf Bonhoeffer: „Für Deine Beurteilung und Kritik des Gedichtes bin ich Dir sehr dankbar. Ich stehe diesen neugeborenen Kindern von mir selbst ziemlich ratlos und maßstablos gegenüber. Im Kritischen hast Du, glaube ich, überall recht. Aber es bringt mich etwas zur Verzweiflung, für den Vers „Ich erfahre das Neu“ etwas anderes zu finden, was nicht den ganzen Bau der letzten Verse stört. Aber vielleicht fällt mir noch etwas ein“ (365). ^32Krause, 62. ^33 Aus dem oben schon zitierten Brief an die Braut, jetzt in der englischen Übersetzung der authentischen Erstveröffentlichung: „It is a great invisible sphere in which one lives and in whose reality there is no doubt“ (v. Wedemeyer-Weller, 29). - Im nicaenischen Glaubensbekenntnis heißt es von Gott, dem allmächtigen Vater, daß er der Schöpfer sei „visibilium et invisibilium“ (deutsche ökumenische Fassung: „...der alles geschaffen hat..., die sichtbare und die unsichtbare Welt“). ^34 K. C. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart. Kritische Bestandsaufnahme, Würdigung und Situationsbestimmung, Göttingen 1976. ^35 Die Jahreszahlen beziehen sich entweder auf die Entstehung oder den Erstdruck. In einigen Fällen werden Korrekturen nötig sein. ^36 Im folgenden nach dem Namen des Melodisten die Quelle des mutmaßlichen Erstdruckes oder eines späteren Druckes. Abel: Die singende Schar. Ein Liederbuch für junge Christen, hrsg. von Th. Rothenberg, Bd. III, Berlin 1959. Breuer: Nachweis Thust, 838. Albrecht: 25. Kantate-Chorheft, hrsg. vom Kirchenchorwerk der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (E. Anger), Leipzig 1965. Petzold: Gott liebt diese Welt I, Berlin 1967. Schoof: Nachweis Thust, 858. Weber: Nachweis Thust, S38. Gelineau: Cantate Domino. Ein ökumenisches Gesangbuch. Neue Ausgabe, veröffentlicht im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen, Kassel 1974. Schuurman: Liedboek voor de kerken, 's Gravenhage 1973. Schlenker: Neue Gemeindelieder II, zusammengestellt von M. Schlenker, Berlin 1973. Barbe: Neue Lieder. Als Ergänzung zum EKG hrsg. im Auftrag der Synode der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin-West), Neuhausen-Stuttgart 1974. Simoneit: Geistliche Lieder für unsere Zeit, hrsg. im Auftrag der Leitung der Evang. Kirche von Westfalen vom Kirchenmusikalischen Ausschuß, Witten und Gütersloh 1973. Fietz: Unser Lied, Greifenstein-Allendorf, 1976. Gadsch: Geistliche Lieder für eine Solostimme oder einstimmigen Chor und Tasteninstrument, hrsg. von H. Gadsch, Berlin 1979. Kaufmann: ders., Neue Kirchenlieder, Wolfenbüttel und Zürich 1980. Schwarz: Umkehr zum Leben. Kirchentagsliederheft 83, Neuhausen-Stuttgart 1983. ^37 Singt und klingt. Liederbuch für die evangelische Jugend, hrsg. vom Burckhardthaus in der DDR und vom Ev. Jungmännerwerk, Berlin 1963. ^38 In der buchförmigen Vervielfältigung: Nové písně I. Náboženské cvičení po konfirmaci, květen 1964 - leden 1965. ^39 S. die Quellenangabe zu H. Breuer bei Thust, 838. ^40 So in: Neue Lieder. Beiheft Zum EKG, Berlin 1978 (Nr. 10); Gemeinschaftsliederbuch, hrsg. vom Ev.-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerk, Berlin ^6i98o (Nr. 641). ^41 So für Petzolds Melodie in: Gott erwartet euch, hrsg. vom Ev.-Lutherischen Landeskirchenamt Sachsen, Berlin 1973 (Nr. 39); für Webers Melodie in: Neue Lieder. Ein Angebot für die Gemeinde, hrsg. von einem Arbeitskreis für die Ev. Landeskirche in Württemberg, Neuhausen-Stuttgart 1971 (Nr. 56). ^42 Die Chorausgabe von „Cantate Domino“, Oxford 1980, bringt eine klärende Anmerkung, aus der die Strophenumstellung und -auslassung ebenso wie der. Fundort des Originaltextes hervorgehen. ^43 News of Hymnody (Published by Grove Books, Editor: Robin A. Leaver) Nr. 4, October 1982, 5, und Nr. 6, April 1983, 7. ^44 Anders in: Beiheft 72 zum EKG, Ausgabe Niedersachsen. Strophenauswahl: 7 und 1! ^45 Das künftige Evangelische Kirchengesangbuch, hrsg. von der Luth. Liturgischen Konferenz, 1980. S. dort vor allem den Beitrag von E. Schmidt unter dem gleichen Titel (12-57). ^46 Psalmer och visor 76. Tilläg till den svenska psalmboken, del 1, Lund 1976 (Nr. 687). ^47 Nr. 398: Door goede machten. ^48 Zwölf Langspielplatten zum „Liedboek voor de kerken“, hrsg. von der Prof. Dr. G. van der Leeuw-Stichting, Amsterdam. Jürgen Henkys. Dietrich Bonhoeffers Gefängnisgedichte. Beiträge zu ihrer Interpretation. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1986. S. 66-90. Strophenform - Horst Joachim Frank: Die in der Lyrik des 20. Jahrhunderts häufigste Strophenform ist dieser Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern mit weiblich/männlich wechselnden Kadenzen im Kreuzreim. Sie ermöglicht, faßt man die ersten beiden und letzten beiden Verse jeweils zusammen, zwei weitschwingende, durch eine Doppelsenkung halbierte Sprachbögen, die in ihrer Mitte und am Ende jeweils durch den Gleichklang der Reime verbunden sind. So ist der Vierzeiler eine anpassungsfähige, geräumige und dennoch gut zu fassende Form für Empfindungen, Bilder und Gedanken. Die frühesten Belege der Strophe finden sich schon im Kirchenlied des 16. Jahrhunderts, und zwar in Übersetzungen des 12. Psalms mit der Melodie aus dem Genfer Hugenottenpsalter durch Melissus Schede „Tu Hilf, o Herr“ (1572) und Lobwasser „Bewahr mich, Herr, tu mir zur Rettung kommen“ (1573). Opitz übernahm diese in französischen „vers communs“geformte Psalmstrophe 1624 nicht nur für seine Episteln „Am H.Ostertage“ („Fegt ab von euch den Sauerteig der Erden“) und „Am Sonntage Exaudi“ („Ihr müsset Gott euch rein und nüchtern bringen“), sondern auch für sein galantes Carmen „An eine Jungfrau“ („Und du wirst auch bei meiner Buhlschaft stehen“). Sonderlichen Anklang fand er mit dieser Form nicht. Zesen verwendete sie für sein Glückwunschlied „Als Erdmuth ihren Namenstag beging“, Abschatz wiederum galant „Mein allein oder laß es gar sein“. Auch in der Lyrik der Aufklärungszeit spielte der Vierzeiler nur eine geringe Rolle. Er begegnet vereinzelt im anakreontischen Lied und Dialog: Fr.v. Hagedorn „Die Heldin“ und „Zemes und Zulima“, im Nachruf: A.G.Kästner „Dem Andenken Christlob Mylius“, eine Zeit lang im Stimmungshaften Abendgedicht: Creuz „An den Schlaf“, Huber „Nachtempfindungen eines Gefangenen“, Bürger „Auch ein Lied an den lieben Mond“ und noch Goethe „Im Abendrot liegt See und Himmel still“. In den 1780er Jahren wurde die Form allmählich bekannter. Schon als Karlsschüler hatte Schiller 1778 diese Strophe benutzt, um erwartete „Empfindungen der Dankbarkeit“ gegenüber der Favoritin Karl Eugens enkomiastisch zum Ausdruck zu bringen. In seiner satirischen „Vergleichung“ und in seiner „Freigeisterei der Leidenschaft“ (1786) kam der junge Schiller nochmals auf die Form zurück, nun aber mit der Freiheit, die Verse um ein, zwei Takte bald zu verlängern, bald zu verkürzen, wie es auch Schubart in seiner Huldigung „An Prinz Ferdinand von Württemberg“ tat, während schon zur selben Zeit der junge Hölderlin in „Die Demut“ (1788) wieder das Gleichmaß der Verse beachtete. Der Vierzeiler schien tauglich zu mancherlei betrachtenden und beschaulichen, gar wohl auch unterhaltenden Gedichten wie etwa (im „Wiener Musenalmanach“ 1784/85) von Grotzhammer „Lob des Rauchtabaks“ und Retzer „Stufen des weiblichen Alters“ oder von Brun „Ton der Leier“, enthusiastisch Arndt „Liebeskraft“ und empfindsam A.W.Schlegel „Die Stunde vor dem Abschied“. Dem Gebrauch der Form für das Widmungsgedicht und zumal den Nachruf folgten Novalis „An Herrn Brachmann“, „Auf den Tod meines Onkels“ und Z.Werner „Auf Petzolds Tod“. Hier zeigt sich eine Tradition, die bis ins 20. Jahrhundert reichte: Grün „Goethes Heimgang“ (1832), Grillparzer „Lope de Vega“, Vischer „An das Bild Peter Vischers am Sebaldusgrab in Nürnberg“, Flex „Fliegerbegräbnis. Auf Hauptmann Boelckes Tod“, Huch „Die jungen Gefallenen“, Scholz „Auf den Tod meiner Mutter“, Werfel „Der tote Jugendgefährte“, Becher „Matthias Grünewald“, Schröder „Für Georg von der Vring“. Durchweg wurden der Form im 19.Jahrhundert aber neue, eigentümliche Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen. An erster Stelle sind hier Goethes schmeichelnd bewegte Strophen aus dem „Buch Suleika“ des „Divan“ zu nennen: „Komm, Liebchen, komm! umwinde mir die Mütze!“, „Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden“ und zum Schluß des Buches das große Preisgedicht „In tausend Formen magst du dich verstecken“. Noch einmal hat der späte Goethe in dem Rollengedicht „Der Bräutigam“ diese Strophe verwendet. Sie wurde zur Form auch mancher späteren Liebesgedichte: W.Müller „Vor ihrem Fenster“, Freiligrath „Du hast genannt mich einen Vogelsteller“, Keller „Du willst dich freventlich emanzipieren“, Storm „Junges Leid“, Bodenstedt „Wenn dermaleinst des Paradieses Pforten“ (in „Die Lieder des Mirza-Schaffy“), Simrock „Soll ich dich einem Frühlingstag vergleichen“, Liliencron „Der Maibaum“. Geläufiger wurde im 19. Jahrhundert jedoch die Verwendung der Strophenform für elegische Gedichte, in denen das lyrische Ich im Rückblick auf das eigene Lebensschicksal oder im Blick auf etwas Gegenwärtiges sich wehmütigen Empfindungen überläßt, Betrachtungen anstellt, assoziierenden Gedanken folgt, Einsichten formuliert oder der Klage Ausdruck gibt: Platen „Vergebt, daß alle meine Lieder klagen“, Lenau „Erinnerung“ („Erinnrungsvoller Baum, du stehst in Trauer“), Grillparzer „Klage“, Grün „Archipelagus der Liebe“, Hahn-Hahn „In unruhiger Erwartung“, Hoffmann v. Fallersieben „Heimweh in Frankreich 1839“, Heine „Böses Geträume“, Hebbel „Auf dem Meer“, Keller (in den „Gedanken eines lebendig Begrabnen“) „Da lieg ich nun, ohnmachtiger Geselle“ und „Ich muß ein Weilchen wohl geschlafen haben“, Storm „Im Zeichen des Todes“ und „Abschied“, Liliencron „Entsagung“, Kurz „Deutsche Gespenster“. Hinzu kommen solche Gedichte, in denen gewonnene Einsichten und Lebensweisheiten didaktisch formuliert werden: Lenau „Die Jugendtraume“, Grillparzer „Entsagung“ und „Wie viel weißt du, o Mensch“, Gerok „Wetterregel“, Allmers „Vom Beten 3“. Dagegen hat das an Erzählgedichten so reiche 19. Jahrhundert die elegisch geprägte Strophenform episch kaum verwendet. Brentanos „Legende von der heiligen Marina“ bildet insofern ebenso eine Ausnahme wie die Balladen „Eine Begegnung“ von Grün und „Denker und Henker“ von Lingg. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe volkstümlicher Lieder in dieser Strophenform umgingen: zum Beispiel das bänkelsängerische Lied von „Ludwig und Lola“ („Ich sing mein Lied jetzt, und wie Uhlands Sänger“), das auf einem gegen König Ludwig I. von Bayern gerichteten Flugblatt 1848 verbreitet wurde, oder die Moritat „Der Tod der drei ungarischen Drahtbinder in der Nacht vom 27728.Februar 1862 im Krug zu Rixdorf“ („Nun hört, was Schreckliches sich hat begeben“), die Bänkellieder „Vergiß mein nicht“ („Sie naht, sie naht, die fürchterliche Stunde“) und „Die ungleichen Brüder“ („Es wollt ein Mann in seine Heimat reisen“, „Wir liebten uns, wie sich zwei Herzen lieben“ und „Ich lebte einst im deutschen Vaterlande“, nach dessen volkstümlicher Melodie später das nationalsozialistische Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen“ gesungen wurde. Zur häufigsten Strophenform in der Lyrik des 20. Jahrhunderts wurde der Vierzeiler unter dem Einfluß des französischen Symbolismus durch George und die von seiner Formensprache ausgegangene vorbildliche Wirkung. Die Strophenform, in Georges Nachdichtungen von Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ dem Original nachgebildet, durchzieht sein gesamtes lyrisches Werk, so zum Beispiel „Mir ist es wie Titanien ergangen“ (in „Die Fibel“), „Ein Hingang“ (in „Hymnen“), „Ihr alten bilder schlummert mit den toten“ (in „Pilgerfahrten“), „Daneben war der räum der blassen helle“ (in „Algabal“), „Der Einsiedel“ (in „Das Buch der Sagen und Sänge“), „Kindliches Königtum“ (in „Das Buch der hängenden Gärten“), „Gemahnt dich noch das schöne bildnis“ (in „Das Jahr der Seele“), „In meinem leben rannen schlimme tage“ (im „Vorspiel“), „Rom-Fahrer“ (in „Der Teppich des Lebens“), „Den Brüdern“ (in „Die Lieder von Traum und Tod“), „Südlicher Strand: See“ (in „Der Siebente Ring“) und „Das Licht“ (in „Das neue Reich“). Hinsichtlich der vorbildlichen Wirkung für den Formengebrauch der Lyrik des 20. Jahrhunderts muß auch hier an zweiter Stelle Rilke genannt werden. Die Strophe erscheint bei ihm in allen drei Teilen der frühen Sammlung „Das Stundenbuch“: „Ich finde dich in allen diesen Dingen“, „Auch du wirst groß sein“, „Denn sieh: sie werden leben“, dann im „Buch der Bilder“: „Abend“, in der Sammlung „Neue Gedichte“: „Josuas Landtag“ und „Der Panther“ sowie noch in den späten Gedichten „Schon kehrt der Saft“ und „Imaginärer Lebenslauf“. Ohne Zweifel hat die Abkehr der modernen Lyrik von den aus der Romantik und Nachromantik allzu vertrauten drei- und vierhebigen Vierzeilerstrophen die Rezeption der außerhalb jener romantischen Tradition stehenden und sprachlich geräumigeren fünftaktigen Vierzeiler vom Typ [55 55] allgemein begünstigt. Verfolgt man den Aufstieg der hier betrachteten Strophe bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, so zeigt sich gleichfalls der hohe Anteil in der Lyrik der Expressionisten. Däubler begann nicht nur sein monumentales lyrisches Epos „Das Nordlicht“ mit dieser Strophe, er verwendete die Form auch in vielen Gedichten wie zum Beispiel „Ode an Florenz“, „Geheimnis“, „Schnee“, „Einfall“. Heym bei seiner Vorliebe für Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern benutzte oft auch diese in den Kadenzen wechselnde Form wie etwa in „Herbst“, „Schwarze Visionen“, „Columbus“ (in der Sammlung „Der ewige Tag“), „Die blinden Frauen“ (in „Umbra vitae“) und „Die Wanderer“ (in „Der Himmel Trauerspiel“). Die Strophe findet sich ebenso bereits bei Trakl „Allerseelen“, „Ermatten“ und „Vor Sonnenaufgang“. Sie durchzieht auch das spätere Werk mancher Dichter des expressionistischen Aufbruchs: so Werfels Lyrik von „Vision 1917“ (in „Der Gerichtstag“) bis „Ich staune“ und „Der Kranke“ (in „Kunde vom irdischen Leben“), Becher von „Melodien aus Utopia“ bis „Gericht“ und „Ihr Mütter Deutschlands“ (1947). Bei Benn erscheint die Strophe schon in seiner ersten Sammlung „Morgue“ (1912): „Requiem“, „Eine Leiche singt“. Sie blieb auch die Form vieler seiner erst in den 1950er Jahren entstandenen Gedichte wie „Auferlegt“, „Nike“, „Abschluß“ und „Tristesse“. Wie schon im 19. Jahrhundert hat der Vierzeiler auch im 20. Jahrhundert als Balladenstrophe nur wenig Anklang gefunden: Münchhausen „Jenseits“, Scholz „Casanovas Tod“, Arendt „Der Dorfteich“. So erinnert Brechts Verwendung der Strophe auch weit mehr an den oben erwähnten Bänkelsang: „Ballade von der alten Frau“, „Die Ballade vom Liebestod“, „Ballade von der Billigung der Welt“. Benachbart sind Klabunds Chansons „Ballade vom Bolschewik“ und „Der Seiltänzer“. Zumal für die 1920er Jahre zeichnet sich indessen ein Gebrauch der Strophe ab, dessen Wegbereiter Holz in seinem „Buch der Zeit“ (1885) war, nämlich für das zeitkritische, satirische Gedicht: „An die „obern Zehntausend“, „An die Konventionellen“, „Verschiedene Kollegen“. Als Meister dieser Gattung bedienten sich der Strophe Kraus: „Prestige“ und „Alles, nur nicht die Gobelins“, Tucholsky: „Deutscher Abend“ und „Namensänderung“, besonders zahlreich E.Kästner: „Zeitgenossen, haufenweise“, „Ballade vom Defraudanten“, „Lob der Volksvertreter“ sowie (in der „Lyrischen Hausapotheke“) „Elegie, ohne große Worte“, „In der Seitenstraße“, „Hotelsolo für eine Männerstimme“. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte in derselben Strophe eine politische Lyrik und Lieddichtung eigener Art zur Geltung. Erwähnt seien etwa Anacker „Jungvolk des Dritten Reiches“, Menzel „Führer und Volk“ und vor allem, wie schon gesagt, das zur zweiten Nationalhymne erklärte, von Horst Wessel verfaßte und nach ihm benannte Lied „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen“. In derselben Strophe konnte Lommer 1945 endlich rufen „Der Spuk ist aus“. Überblickt man den weiten Gebrauch dieses Vierzeilers in der übrigen Lyrik etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, so findet man zunächst auch weiterhin jene elegischen Gedichte des erinnernden Rückblicks und der nachdenklichen Betrachtung, für die diese Form schon im 19. Jahrhundert mit Vorliebe gewählt worden war, so nun etwa bei Loerke „Überwältigung“, Weinheber „Wir kommen aus der Nacht 1“, Kaschnitz „Kindheit“ und Kahlau „Nach seinem Tode“. Daneben stehen wiederum solche Gedichte, in denen Erkenntnisse und Weisheiten belehrend, tröstend und ermunternd spruchhaft formuliert werden: Loerke „Ararat“, Kaschnitz „Die fremde Erde“, Hausmann „Verzweifelt und getrost“, Usinger „Anfang“ und „Ende“, Peters „Ewig“, Weinheber „Das gibt Dir Trost“. Neu ist dagegen, zumal seit Rilke, die bevorzugte Verwendung der Form für Dinggedichte, für Bilder von Gegenständen, Bauten, Wesen, Gestalten, Landschaften: Carossa „Der alte Brunnen“, Loerke „Der Leuchter“, Bröger „Kathedrale von Rouen“, Kaschnitz „Amalfi“, Peters „L´Inconnue de la Seine“, Piontek „Das Mahl der Straßenwärter“, Hausmann „Birke im Nebel“, Blunck „Dämmernde Marsch“, Goes „Die Ebene“. Die in solchen Gedichten zuweilen auftretende rühmende Anrede verweist schließlich auf das geistliche Gedicht in derselben metrischen Form: Strauß u. Torney „Das goldene Angesicht“, Langgässer „Fest der Beschneidung des Herrn“, Weinheber „An Gott“, Schröder „Tarda necessitas“, in zahlreichen Gedichten Kaiser „Anruf“, „Der Stab“, „Die Saite“, „Er“, dann Bonhoeffer „Von guten Mächten“ und Busta „Gebet einer Sünderin“. Die Form ist auch nach der Jahrhundertmitte noch die häufigste Strophe der modernen Lyrik. Als Beispiele seien genannt: Celan „So schlafe, und mein Aug wird offen bleiben“, Bachmann „Nach vielen Jahren“, „Nord und Süd“, Holthusen „Hamlets Tod“, Habetin „Späte Begegnung“, „Gang in den Morgen“, Meckel „Reise durch die Dämmerung“, Wolken „Wir lachen wohl“, Hermlin „Die Terrassen von Albin“, Reimers „Der Faulenzer“. Rang: 8 Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen—Basel: Francke, 1993^2. ISBN 3-8252-1732-9 (UTB). S 321–327.