Jakob Lehmann: GEORG BRITTINGS GEDICHTE „RAUBRITTER"-„DER MORGEN"- „DIE GOLDENE FORELLE" Didaktische Vorüberlegungen Spezielle Lernziele für die Betrachtung von Lyrik sind in den Rahmen des allgemeinen Lernzieles einzupassen, nämlich den Jugendlichen in seiner Suche nach einem hinreichenden Selbst- und Weltverständnis mit Hilfe der Literatur zu unterstützen. Die damit geforderte Rückkoppelung des Literaturunterrichts am Bedürfnis des jungen Menschen, also an einem Gebrauchswert, bedeutet keinesfalls den Verzicht auf die sogenannte schöne, hohe Literatur oder Dichtung etwa zugunsten bloßer Gebrauchsliteratur in der politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Sie verlangt aber die immer wieder neu zu bedenkende Motivation der Schüler durch eine klare und einsehbare Zielsetzung. Diese könnte die Arbeit am Gedicht unter drei Aspekten angehen; das Gedicht als ästhetisches, als historisches und als gesellschaftliches Gebilde. Gerade weil wir heute in Gedichten nicht mehr autonome, selig in sich selber ruhende, „besonders edle oder schonungsbedürftige Gegenstände" sehen, die „unter Glasstürze und Vitrinen"^1 gehören, sind wir gehalten, den uns vorliegenden Text in seinen spezifischen Qualitäten aufgrund sorgfältiger Analyse zu erschließen und seine ästhetischen und – eng damit verbunden – seine semantischen Informationen in von uns zu organisierenden Kommunikationsprozessen den Schülern zugänglich zu machen. In die Reichweite dieses Prozesses, der Ernst macht mit dem Appell des Dichters an den Leser, dieser „möge der Enthüllung, die" er (der Schriftsteller) „durch das Mittel der Sprache vorgenommen" hat, „zu objektiver Existenz verhelfen"^2, fallen auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge, der gesellschaftliche Kontext des Dichters und seines Werkes. Nur so kann der Schüler erkennen, daß der Schriftsteller die Dinge mit anderen Augen sieht, als man es gewohnt ist, daß er Herkömmliches in Frage stellt und den Leser verunsichern möchte, so daß dieser aufgerufen ist, über die Frage: Wie sind die Dinge nun wirklich? zu einem selbständigen, neuen Bewußtsein zu kommen. Dabei wird der Schüler feststellen, daß der Schriftsteller mit seinen Mitteln arbeitet, also mit sprachlichen und formalen Qualitäten, deren Analyse den Leser in seiner Kommunikationsfähigkeit bereichert. In gleicher Weise wird ihm verständlich, daß das Gedicht etwas Historisches darstellt, und zwar als zeitlich fixierbare Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen und mittels zur Verfügung stehender oder vom Autor neu geschaffener Mittel. Solche Einsicht erst ermöglicht, von einer oft nur suggerierten bzw. geheuchelten museal-statischen Bewunderung weg zu einer dynamischen, nie zu Ende kommenden geistigen Auseinandersetzung zu gelangen, die in den tradierten Werken interessante Modelle versuchter Weltbewältigung erkennt und Gewinn daraus zieht für die zeitgenössische Aufgabe gegenüber ähnlichen Mächten und Wirklichkeiten. Solche Kenntnis schafft Distanz, indem sie Gewordenes auf seine Ursprünge, Bedingungen und Voraussetzungen zurückführt, und läßt die Gegenwart als ein bloß Vorläufiges, keineswegs Abgeschlossenes und somit als Herausforderung zu möglicher Umgestaltung auf Kommendes hin erkennen. Den Sinn dafür zu entwickeln, daß Dichtung jeweils das geschichtlich Mögliche realisiert, hat Adorno den geschichtsphilosophischen Takt genannt. Daß ein literarisches Werk dabei als „freies ästhetisches Gebilde die Realität hinter sich"^3 lassen kann, unterstreicht seine Eignung für die uns aufgetragene emanzipatorische Erziehung der Jugend. In diesem Sinne erscheint die Beschäftigung mit zwei bzw. drei in ihrer Entstehung zeitlich auseinander liegenden Britting-Gedichten gerechtfertigt. Sie bieten – auch für schwächere Schüler – keine besonderen Schwierigkeiten, sind – bei viel Gemeinsamem – in ihren formalen und inhaltlichen Unterschieden besonders signifikant, machen damit die Entwicklung des Dichters deutlich und erhellen in Anlaß und Intention seine Beziehungen und seine Stellung zur Zeit, in der sie geschrieben wurden. Brittings Naturauffassung ist Teil seines Weltbildes; das Zurücktreten dieses Themas im modernen Gedicht widerlegt nicht die alte Erkenntnis, daß Wesentliches über sich selbst erfahren kann, wer sich der Natur zuwendet, und sei es unter dem Aspekt der Umweltverschmutzung. Ausgaben und Auflageziffern von Britting-Gedichten, die Nachfrage nach ihnen in Bücherreihen und Buchhandlungen, ihre Verbreitung in Zeitungen und Zeitschriften, Anthologien und Lesebüchern, der Umfang der mit ihnen befaßten Sekundärliteratur und die Zugehörigkeit der Leser zu bestimmten Schichten, Lebensaltern, Berufen usw. könnten – in Gruppenaufträgen erarbeitet – die Frage nach der Geltung und Wirkung Brittings in unserer Zeit beantworten helfen und in der Konfrontation mit der Entstehungszeit ein Urteil erleichtern. Hierbei würde der Schüler den öffentlichkeits- oder politischen Charakter von Dichtung erfahren. Raubritter 1,1 Zwischen Kraut und grünen Stangen 2 Jungen Schilfes steht der Hecht, 3 Mit Unholdsaugen im Kopf, dem langen, 4 Der Herr der Fische und Wasserschlangen, 5 Mit Kiefern, gewaltig wie Eisenzangen, 6 Gestachelt die Flossen: Raubtiergeschlecht. II, 1 Unbeweglich, uralt, aus Metall, 2 Grünspanig von tausend Jahren. 3 Ein Steinwurf! Wasserspritzen und Schwall: 4 Er ist blitzend davongefahren. III, 1 Butterblume, Sumpfdotterblume, feurig, gelblich rot, 2 Schaukelt auf den Wässerungen wie ein Seeräuberboot. Neben Sonne und Mond, Gewitter und Regen, den Jahres- und Tageszeiten gehören Korn und Mohn, Weiher und Bach, Vogel und Fisch zu den bevorzugten Bestandteilen der Dingwelt in Brittings Naturlyrik. Darauf verweisen auch seine Titel für Gedichtbände, wie Rabe, Roß und Hahn (1939), Unter hohen Bäumen (1951), Der unverstörte Kalender (1965) sowie Regenlieder und Gedichte vom Strom als Unterabteilungen der Gedichtsammlung Der irdische Tag (1935), der unser Gedicht entnommen ist. Lassen wir die Schüler – bei auffallenden äußeren Merkmalen einsetzend – zusammentragen, was sie an bemerkenswerten Bau- und Bestandteilen dieses Gedichtes finden, dann kann eine Erörterung und Ergänzung des Gefundenen an Hand einer genaueren Analyse der sechs, vier bzw. zwei Verszeilen umfassenden drei Strophen beginnen. Die erste Strophe gibt eine eindrucksvolle Beschreibung des Hechtes in seiner Umgebung. Steht als einziges Verbum für den über die sechs ersten Verszeilen sich hinziehenden Satz bezeichnet das Fehlen jeder Bewegung in dieser Strophe, wobei der vierfache weibliche Reimausgang mit der a-Lautung und die gleichmäßige trochäische Taktfüllung in den vierhebigen ersten beiden Verszeilen den Eindruck des Statisch-Unbewegten unterstreichen. Erst mit der genaueren Beschreibung des Tieres, die im wesentlichen eine durch Metaphern und Vergleiche vermittelte Wiedergabe der Eindrücke von dem Tier leistet, wird der Rhythmus unruhiger. In Verszeile 3 und 4 wird die trochäische Taktfüllung einmal, in 5 und 6 zweimal daktylisch unterbrochen, und in denselben vier Verszeilen treten einsilbige Auftakte hinzu. Die Gefährlichkeit und das Unberechenbare des stehenden Tieres beunruhigen den Leser gleichsam auch vom Metrum und Rhythmus her. Die Lautung (Zischlaute in I, 2, 4; die Folge u – o – au – o in I, 3 und die harten Konsonanten, alliterierend kr – gr in I, 1, dann k – z – st in I, 5/6) unterstützt diesen Eindruck von einem Nicht-Geheueren. Auch die Syntax trägt dazu bei: vier Zeilen lang affektiv nachgestellte Attribute, in der Häufung und Wiederholung {mit... in I, 3 und 5) die Ebene der gegenständlichen Beschreibung (langer Kopf, Kiefer, stachlige Flosse) übersteigend und damit unverkennbar übertreibend, Angst einjagend. In betonter Endstellung dieser Strophe nach der Zäsur des Doppelpunktes ein „summa summarum", das (zumindest assoziativ) zur Überschrift zurücklenkt und im männlichen konsonantisch harten Versausgang an Verszeile 2 anknüpft: Raubtiergeschlecht. In der zweiten Strophe gelten die beiden ersten Zeilen mit pointiert hingestellten Wortzusammensetzungen, verblos aneinander gereiht, nochmals der Charakteristik des Untieres, wobei jetzt das Bild sich weitet bzw. an Tiefe gewinnt durch seine Einbettung in eine zeitliche Dimension: Das uralt assoziiert grünspanig, tausend Jahre, und auch Metall gehört hierher: mehr im Sinne der Abstrahierungstendenz etwa beim Märchen, weniger in Zusammenhang mit Eisenzangen in einem schwerlich zu stützenden menschlichen Bezug, den der Titel nahelegt, zu interpretieren. Das Bild, das von der Natur entsteht, bleibt ohne Dämonisierung und Sinnbildlichkeit, es wahrt seine Eigenständigkeit, indem es in solch kleinem Ausschnitt „das Außerordentliche und Großartige in der Natur"^4 erfahrbar macht. Im Elementaren – die Dinge in ihrem Bereich belassend – sucht Britting einen Weltzusammenhang zu fassen, der ohne solchen Tiefgang nicht zu erreichen wäre. Die dritte Zeile bringt die einzige Handlung in dem Gedicht; aber ein zusammengesetztes Substantiv (mit unbestimmtem Artikel und Ausrufezeichen) genügt dafür. Die Wirkung wird ebenfalls substantivisch angedeutet, dann folgt (hinter einem Doppelpunkt) das Ergebnis im Tempus der Vollendung: Er ist blitzend davongefahren. Es ging so schnell, daß man nur den Vollzug registrieren kann. Wieder helfen Lautung, Unruhe in Versmaß und Rhythmus, Stauungen und Synkopen sowie syntaktische Mittel zusammen, diesen plötzlichen Einbruch in das Statisch-Monumentale dieses Naturausschnitts sinnlich mitempfinden zu lassen. Aber Britting geht es nicht um suggestive Beschwörung von verzauberten Eindrücken, die den Leser gefangen nehmen und in ein Gefühlspathos verstricken möchten. Das Motiv des Steinwurfs (übrigens in Steht ein Fischer in der Flut aus Rabe, Roß und Hahn wieder aufgenommen) knüpft an die kindliche Naivität der Übertreibungen in I an. Der Kontrast zu den vorangehenden Verszeilen II, 1 und 2 ist groß; die hier erzeugte Stimmung wird – so als sei dem Dichter selbst nicht geheuer – restlos zerstört, und der Verdacht verfestigt sich, daß Britting auch das in Strophe I Gestaltete nicht ernst nimmt. Anders formuliert: Britting entzieht sich der dialektischen Spannung zwischen realistischer, naturkundlicher Schilderung und symbolverhafteter Transzendierung ins Menschliche durch das gleichsam augenzwinkernde Mittel der grotesken Verfremdung. Ein Blick auf die letzte, nur zwei Zeilen umfassende, aber auf je sieben Hebungen verlängerte Strophe vermittelt zunächst den Eindruck von einem Idyll der äußeren Ruhe: Das (im Gedicht dritte und letzte) Verb wieder im Präsens; die Nachwirkungen des Steinwurfs und Wegschnellens des Hechtes in den Wasserringen; die Farbangaben als Nachzittern des Gefährlich-Lauernden (vgl. dazu die blitzend-hellen Vokale i – i – i – ie zwischen den dunklen) und Seeräuberboot für die auf dem Wasser schaukelnde, erst mit dem volkstümlichen, dann mit dem botanischen Namen genannte Blume als abschließende Rückverbindung an den Titel des Gedichts. Man fühlt sich an eine magische Pan-Stimmung erinnert; aber die Assoziation Seeräuberboot – Raubritter ist wenig zwingend; sie entstammt der naiven Optik mit ihren Übertreibungen der ersten Strophe und bestätigt unsere Vermutung, daß Britting hier mit dem Mittel der grotesken Verformung gearbeitet hat. Bei aller Sinnlichkeit der Brittingschen Naturbilder gibt es öfter auch das „Metallische", „allem Gefühlig-Verwandten entgegengerichtet"^5, wie es auch das Märchen als Stilmittel kennt. In dem Gedicht Neben einer Weide liegend heißt es: Es flimmert die silberne Weide, I Darunter der Raubknecht steht, I Von seinem Schuppenkleide / Glanz durch die Wellen weht.^9 In Steht ein Fischer in der Flut lesen wir: Als sei er aus Perlmutt, I Blitzend, wie Silber tut, I Zieht er dahin, I Der mohrenschwarz schien.^1 Und wie in einer Reihe anderer Gedichte der Hecht als Raubfisch angesprochen wird, heißt es in dem Gedicht Auf dem Fischmarkt: Das Raubzeug, wüst und gestachelt . . . und vom Hecht: Das schreckliche Haupt^8. Auch hier also immer wieder das Bemühen um Distanz, ein Umbiegen ins Harte, Kühle und dadurch ein betonter Verzicht auf vermenschlichende Bilder. Dieses gleichsam Achtung zollende und gebietende Abrücken von den Dingen der Natur beläßt sie in ihrem dem Menschen unzugänglichen Bereich und damit für den Betrachter in Gleichgültigkeit oder auch in undurchdringlicher Rätselhaftigkeit. „Der magische Glanz der Naturdinge tritt durch die untertreibende Groteske um so rätselhafter", aber eben nicht im Wechselspiel von Verlockung und Schauder, sondern einfach in ihrer Undurchdringlichkeit hervor. „Das Magische ist gebrochen, um die schillernde Unzulänglichkeit der Natur hervorzutreiben."^9 Vgl. dazu in dem Gedicht Gras die Strophe: Wie sich die Eisenringe wetzen! Gelbes Gold das Schuppenhemd. Die gestielten Augen widersetzen Sich den Menschenaugen fremd^10 Das ist wohl deutlich genug, obwohl auch hier – wie es einmal Piontek formuliert hat – alles eingewoben bleibt in die Bilder und Reflexion nicht herausgelöst wird. Mit scharfem Blick versucht Britting die Wirklichkeit der natürlichen Dingwelt zu durchdringen, um die dahinter sich verbergende andere (eigentliche?) Wirklichkeit zu erforschen. Dazu geht er hier den Weg über die groteske Verformung. Daß es daneben noch andere, ebenfalls über den Expressionismus hinausführende Wege gibt, mag vor der eingehenden Betrachtung des Gedichtes Die goldene Forelle ein kleiner Exkurs verdeutlichen. Der Morgen 1,1 Der Morgen graut über die Dächer 2 Stumm herauf. 3 Er reißt den silbernen Fächer 4 Des Himmels auf. II, 1 Kühl durch die Windgemächer 2 Rinnt grün das junge Licht 3 In den Tag, der mit Schlag und Gelächter 4 Anbricht. Drei Sätze auf zwei vierzeilige Strophen verteilt: zwei auf die erste, einer auf die zweite Strophe, und drei Reime, davon einer viermal und damit die beiden Strophen zusammenknüpfend, die beiden anderen zweimal zur Endreimbindung eingesetzt, – vermitteln ein übersichtlich gegliedertes, sehr eingängiges und in sich abgerundetes Ganzes. Im ersten Satz steht gleich am Anfang der ersten Verszeile das Thema-Wort, als Subjekt syntaktisch hervorgehoben und betont. Während das Wort Dächer als einzige Ortsangabe (für Dorf oder Stadt) fungiert, erleben wir den Tagesanbruch ohne sonstige landschaftliche Kulisse in einem bewegten dynamischen Vorgang. Britting gestaltet ihn durch die vokalisch-lautlich kräftigen Folgen von der Tiefenlage o – au – ä – u – au (I, 1,2) zur folgenden helleren Lage ei – i – ä – i sowie durch die, eine starke Bewegung ausdrückenden, Richtungs-Komposita graut . . . herauf und reißt . . . auf. Schließlich stellen sich auch die metrische Füllung der Takte (immer wieder daktylisch durchsetzt) und der steigende Rhythmus in den Dienst der Sprachwerdung dieser auf Bewegung und Geschehen abzielenden Motive. Eine weitere Versinnlichung oder Konkretisierung bleibt aber aus. Die nicht alltäglichen Bilder des stürmisch vom jungen Morgen aufgerissenen silbernen Fächers und der Windgemächer deuten auf die Absicht des Dichters, nicht zu schildern oder zu beschreiben, sondern zu stilisieren.^11 Zwar bleiben die Sinneswahrnehmungen der Temperatur und Farbe sowie des Akustischen, das von stumm in I, 2 bis zu Schlag und Gelächter in II, 3 (fanfarenbetont durch den Schlagreim Tag .. . Schlag) anwächst, in echt Brittingscher Weise in gelungenen Metaphern eingefangen und tut auch der in den Sog der Aufwärtsbewegung zwingende Rhythmus das Seine (vgl. dazu das Urteil Walter Höllerers: „Viel schafft der Rhythmus. Mehr noch erreicht das Bild.")^12 In immer neuen, das Ich ausklammernden Ansätzen versucht Britting, die unausschöpfbare Fülle des Naturgeschehens in den Griff der bildenden Dichtersprache zu bekommen. Aber sie stehen im größeren Rahmen des Versuchs, das Eigentliche, das Wesen, das von Umgebung und Subjekt Unabhängige des gewählten Ereignisses herauszuschälen und darzustellen. Dietrich Bode nennt es einen „großartigen Abstraktionsprozeß", der im Bild „eine Essenz des Vorgangs"^13 zu gewinnen bemüht ist. Wilhelm Worringer spricht in seinem Werk, das den, gerade diese damalige Umbruchssituation kennzeichnenden, Titel „Abstraktion und Einfühlung"^14 trägt, von einem „Kampf zwischen dem Menschen und dem Naturobjekt". Diesem Kampf gilt neben der grotesken Verfremdung des Raubritter-Gedichts in den vorliegenden Morgen-Versen Brittings Bemühen um Abstraktion; es ist gleichsam die andere Waffe des Dichters im eben gekennzeichneten Gefecht. Auch der Zwang zu objektivieren, den sich der Dichter auferlegt, klammert jede Beziehung zum Menschen, jede emotionale oder gefühlsmäßig-mitempfindende Begleitung aus und überwindet damit die expressionistische Tendenz hin zum Menschen und zu seiner Verschmelzung mit der Natur. Dies als Einblick in einen Stil- und Epochenwandel und in die Vorbereitungen einer neuen Naturlyrik unseren Schülern zu gewähren, gehört mit zu den Lernzielen unserer Gedichtsbetrachtung. Vergleiche mit anderen Morgen-Gedichten, wie etwa Hofmannsthals „Vor Tag", Dehmels „Die stille Stadt", Carossas „Alter Baum im Sonnenaufgang" oder auch Weiss' „Morgen-Leis" können in Gruppenarbeit das Gesagte noch verdeutlichen und die „Kraft des Formens und Verformens... an der Realität"^15 nachweisen und aufspüren lassen. Die goldene Forelle /, 1 Da schießts heran – die goldene Forelle 2 Hängt an dem Haken, schüttelt wütend dran 3 Und wirft sich hoch und peitscht im Sturz die Welle, 4 Und reißt sich tiefer nur den Eisenzahn. II, 1 Der Fischer zieht sie an der Schnur heran, 2 Und aus dem Dunklen hebt er sie ans Helle. 3 (Dort sprang sie manchmal hin, nach der Libelle, 4 Und fand noch stets, daß man nicht atmen kann III, 1 In dem vom Licht durchblitzten Ungewässer, 2 Fiel gern zurück in die vertraute Flut 3 Und atmete und fand es da viel besser.) IV, 1 Uns wird – wohin? ins Licht? ein Angler heben. 2 Und ob wir dann zu atmen und zu leben 3 Vermögen in der ungewohnten Glut? Wie der Hecht gehört auch die Forelle zu den immer wieder gewählten Motiven der Brittingschen Gedichte, und zwar von der Sammlung Der irdische Tag (1935) über Lob des Weins (1944) und Unter hohen Bäumen (1951) bis zu seinen nachgelassenen Gedichten in der Ausgabe Der unverstörte Kalender (1965). Dabei übernimmt sie – freilich in ganz friedlicher Weise – das eine Mal die Rolle des Hechts: Im Bach .../.../ Ohne Regung die Forelle steht, I Wie aus Glas und rötlich bemalt^16; zum andern ist es ihr Springen und ihr Dahinflitzen, das den Dichter immer wieder beeindruckt: Ellritze und Forelle blitzt I Wie Feuer in der Glut^17; In dem Bache die Forellen I Springen wie der Heuschreck schier^18, oder: Was macht jetzt die Forelle, I Die Sommers wie ein Pfeil hinschoß?^19. Schließlich ist es die Jagd auf sie, ihr Fang mit der Hand: O hätt ich die geschickte Fängerhand – I Ich holte mir die goldene Forelle …^20 Damit ist bereits unser Thema angeschlagen, das in dem vorliegenden Gedicht freilich eine Behandlung erfährt, die sich schon durch die Sonettform von dem Raubritter-Gedicht unterscheidet. Wir erwarten entsprechend der strengen Form und ihrer strophisch-metrischen Gliederung mit symmetrischem Bauwillen ein gedanklich beherrschtes Sprechen mit – dem Einschnitt zwischen Quartetten und Terzetten gemäßen – antithetischen Aussagen, die im mächtigen Schlußklang einer Lösung zugeführt werden. Und was finden wir bei Britting? Die erste Strophe kennzeichnet der unmittelbare Einsatz mit einer alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden, heftigen Bewegung. Der deiktische Einstieg mit dem deutenden Da und einem balladesken (vor Aufregung auch noch ellitierten) Es erhöht die Spannung; der Gedankenstrich setzt eine Fermate, gleichsam zum Atem-Anhalten; dann aber suggerieren fünf Verba (schießt, schüttelt, wirft, peitscht, reißt) den dramatischen Vorgang und werden dabei noch unterstützt durch die Partizipialform wütend und das Bewegungssubstantiv Sturz. Auch der zwischen hoch und tiefer aufgerissene Gegensatz, die Alliteration bei hängt und Haken, schießt und schüttelt (mit lautmalerischem Nachklang in peitscht) und die spitzen Vokalklänge ü – ü (I, 2), ei – ei – i– ei (I, 3/4) stehen zusammen mit dem über vier Verszeilen durch Enjambement und dreimaliger und-Fügung ausgreifenden einen Satz im Dienste der unmittelbaren Gestaltung der unaufhaltsamen Bewegung. Aufregung verrät auch der Rhythmus, der neben der Zäsur in 1 auch noch durch den Stau in 2: Synkopenwirkung bei Hängt an . . . gekennzeichnet ist. In instinktiver Abwehr einer Gefahr, die durch das Versetztwerden in ein Ganz-Anderes (in dem man erfahrungsgemäß geblendet wird und den Atem verliert) sowie den unaufhaltsamen Riß des Eisenzahns wahrgenommen wird, bäumt sich die Kreatur, die eben noch in vollendetem Einklang mit ihrem Element beim Heranschießen stand, mit allen Kräften des Lebens auf. Im Gegensatz dazu beruhigt sich in der II. Strophe die Bewegung im Satzbau (jeweils eine Verszeile trägt eine Satzhälfte), im gleichmäßig gewahrten Metrum und gleichförmigen Rhythmus: in gelassener, unbeirrter Bewegung geht der Fischer seinem Handwerk nach. Nur in der Angabe der Richtung, die die Schnur nimmt, taucht nochmals der Gegensatz aus dem Dunklen – ans Helle auf. An ihm knüpft assoziativ – in einer Art Rückblende – die Erinnerung des Fisches an und erstreckt sich wiederum mit Enjambement in das erste Terzett hinein. Wie bei gelegentlichen Jagdausflügen (nach der Libelle) beunruhigt ihn der Kontrast zwischen dem ungewohnten Element (Ungewässer, vom Licht durchblitzt), in das man sprang und in dem man nicht atmen konnte, und dem vertrauten der Flut, wo man atmet und es viel besser fand, so daß man gern dorthin zurückfiel. Die Einrückung in Klammern weist auf den Exkurs, der, in dichter Einfühlung gestaltet und in seiner Wirkung dem inneren Monolog angenähert, den Berichten von Menschen in Todesgefahr entspricht, wonach ihnen besonders eindrucksvolle Teile ihres Lebens blitzartig durchs Gedächtnis schössen. Zum Menschen wendet sich das zweite Terzett. Das Uns bezeichnet den (eigentlich schon beim ersten Terzett von der Sonettform geforderten) Neueinsatz. Der fragende Blick in unsere verhüllte Zukunft knüpft in seiner rhythmisch-metrischen Gestaltung (mit Zäsur, Gedankenstrich und parenthetischen Fragen) an die Dramatik der ersten Strophe an. Der Angler entpuppt sich als ein Bild des Todes (neben vielen anderen Figuren, die diesen Totentanz, aus dem unser Sonett genommen ist, bestreiten). Die Schlußfrage knüpft an das Erleben der Forelle und ihre instinktmäßige Abkehr von dem Ungewohnten und seiner Helle – jetzt wieder aufgenommen durch das steigernde Wort Glut in betonter Endstellung – an. Noch einmal bricht der schon erwähnte Gegensatz auf: vertraute Flut – ungewohnte Glut (III, 2 und IV, 3); auch die Wiederholung des Verbums atmen (in III, 3 und IV, 2) und die Variante von fand es da viel besser durch zu leben vermögen bringen die zwei Pole in Erinnerung, um die das Gedicht kreist und mit ihm der große Zyklus, in dem es steht. Der Tod wird zur anderen Seite des Lebens: Hier die Fülle und strahlende Helle, die sich tausendstimmig bemerkbar macht und mit ihren Farben, Klängen, Düften und Bewegungen in einen sinnlichen Rausch versetzt, der zur Gestaltung, zur Aussage im Gedicht drängt; dort das Dunkle, die Ungewißheit, gleichsam als Kontrapunkt, ebenfalls allezeit gegenwärtig und mit dem Hinweis auf Endlichkeit und Vergänglichkeit mahnend und drohend. Dort das Bemühen seiner Gedichtsammlung Der irdische Tag, hier das Nichtausweichen in der Folge Die Begegnung. Brittings Dichtung geht beide Wege und ringt sich durch zur Liebe zum Leben, mag es auch noch so vergänglich sein. Aus Brittings Biographie wissen wir, daß die meisten dieser Totentanz-Sonette mit häufig populären Motiven und gerade ob ihrer Naivität wirksamen Bildern in den vierziger Jahren entstanden, wo einmal der Zweite Weltkrieg mit seinem Massensterben und -morden den Tod – nach Brittings eigenen Worten – zu einem unerschöpflichen Thema machte, andererseits sehr viele Dichter zum Sonett ihre Zuflucht nahmen vor der stilistischen „Unsicherheit alles Schöpferischen in totalitärem Staat"^21. Das NS-Kulturdiktat entpuppte sich angesichts der tödlichen Realität, in die seine Ideologie geführt hatte, als leere, gedankenfeindliche Macht, so daß – und das reichte bis in die Wirren der ersten Nachkriegszeit – die meisten Autoren, vor allem die im Lande gebliebenen, Halt an der festen Gefügtheit des Sonetts und antiker Strophenformen suchten und fanden. Andres, Bergengruen, Hagelstange, Haushofer, Holthusen, Kaschnitz, Niebelschütz, Pentzoldt, Schnack, Reinhold Schneider und andere gehören hierher.^22 Britting freilich erlaubt sich einen freien Umgang mit den Formzwängen des Sonetts. Er rauht gleichsam seine Glätte und Eleganz auf und macht es seiner zupackenden, urwüchsigen Sprache zugänglich durch die Mischung von weiblichen und männlichen Versausgängen, durch Unreinheiten der Reime, die meist auf fünf beschränkt bleiben, und durch ein individuell variiertes Reimschema. Der Rhythmus verläuft nicht in einem glatten Fluß, sondern weist affektive Hervorhebungen, Stauungen, Zäsuren und Synkopen auf. Die Opposition setzt nicht beim ersten, sondern beim zweiten Terzett ein, wodurch das antithetische Bauprinzip zwar gewahrt wird, nicht aber die strenge Symmetrie. Vielleicht liegt auch darin mit ein Grund für die Tatsache, daß Brittings Lyrik neben der modernen bislang noch immer ihren Platz behauptet hat im Sinne des Wortes von Heinz Piontek, das er in seinem Nachruf auf Britting geprägt hat: „Diese toten Dichter sind nicht zum Verstummen zu bringen."^23 Gleiches gilt von seinem großen Thema: Der Mensch und die Natur. Die immer neuen Versuche, diesen gewaltigen Partner Natur sprachlich zu bewältigen, könnten zur kümmerlichen Kulissentechnik der heutigen Trivialliteratur mit requisitenähnlichem Einsatz von Himmel und Wolken, Tier und Baum oder zu den stereotypen Landschaftsbildern mit künstlichen Versatzstücken in Film und Fernsehen ein wirksames Gegengewicht abgeben, das auch unsere Schüler zur Auseinandersetzung provoziert. Sie stieße dann sicher auch auf die Problematik, ja die Frage nach der Existenzberechtigung der sogenannten Naturlyrik in chaotischer Zeit, die Bert Brecht mit seinen Versen aus dem Gedicht „An die Nachgeborenen" angesprochen hat: „Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!"^24 Seit wir aus Brechts oben zitiertem „Arbeitsjournal" wissen, wieviel ihm an solchen „Gesprächen über Bäume" lag und seit wir eine wachsende Anzahl von Neuerscheinungen von Gedichtbänden erleben, und dies obwohl man den Tod der Lyrik mit Unfehlbarkeitsanspruch verkündet hatte, sollten wir mit apodiktischen Urteilen vorsichtiger sein und unsere Arbeit, beim Schüler für das Gedicht Interesse zu wecken, entschieden und beharrlich fortsetzen. Die drei Britting-Gedichte wurden der Georg Britting Gesamtausgabe in Einzelbänden entnommen, und zwar Raubritter: Gedichte 1919 bis 1939. München 1957, S. 43; Der Morgen: ebd. S. 8; Die goldene Forelle: Gedichte 1940–1951. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1957, S. 68. ^1 H. M. Enzensberger, zit. nach H. Kügler: Literatur und Kommunikation. Ein Beitrag zur didaktischen Theorie und methodischen Praxis. Stuttgart 1971, S. 110 f. ^2 J. P. Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Rowohlt Verlag, Hamburg 1958, S. 30. ^s U. Karthaus: Die geschichtsphilosophische Sonnenuhr. In: Der Deutschunterricht H. 6/1972, S. 101. ^4 C. Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Bagel Verlag, Düsseldorf 1961, S. 351. ^5 D. Bode: Georg Britting. Geschichte seines Werkes, a. a. O., S. 62. ^0 G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a. O„ S. 29. ^7 ebd. S. 142 ^8 G. Britting Gesamtausgabe. Der unverstörte Kalender. Nachgelassene Gedichte. München 1965, S. 29. ^9 C. Heselhaus: a. a. O., S. 353. ^10 G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a. O., S. 28. ^11 Vgl. dazu die Untersuchung von D. Bode: a. a. O., S. 58 f. ^12 W. Höllerer: Georg Britting. In: Weltstimmen. 1952, S. 100. ^18 a. a. O., S. 58. ^13W. Worringer: Abstraktion und Einfühlung. 12. Aufl. 1921, S. 49. ^15 D. Bode: a. a. O., S. 59 ^16 G. Britting Gesamtausgabe. Gedichte 1919-1939. a. a. O., S. 95. ^17 ebd. Gedichte 1940-1951, S. 163. ^18 ebd. S. 174. ^19 ebd. S. 222. ^20 ebd. S. 212. ^21 D. Bode: a.a.O., S. 91. ^22 Übrigens weiß man auch seit dem Erscheinen seines „Arbeitsjournals 1938–1955, daß selbst Bert Brecht während des Balkanfeldzugs an den holprigen Jamben seines „Arturo Ui" gefeilt und geschliffen und über diese Tätigkeit vermerkt hat: „es sind gute exerzitien". (Nach R. Baumart: Leben in der dritten Person. In: Süd. Ztg. v. 17./18. 2. 1973). ^23 H. Piontek: Georg Brittings lyrischer Nachlaß. In: Süddt. Ztg. v. 17.1 18./19. 4. 1965. ^24B; Brecht: Gesammelte Werke Bd. 9, Werksausgabe edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1967, S. 723. Interpretationen zu Georg Britting. Beiträge eines Arbeitskreises. München: R. Oldenbourg, 1974. ISBN 3-486-02151-6. Dieter Hoffmann: Georg Britting Raubritter Zwischen Kraut und grünen Stangen Jungen Schilfes steht der Hecht, Mit Unholdsaugen im Kopf, dem langen, Der Herr der Fische und Wasserschlangen, Mit Kiefern, gewaltig wie Eisenzangen, Gestachelt die Flossen: Raubtiergeschlecht. Unbeweglich, uralt, aus Metall, Grünspanig von tausend Jahren. Ein Steinwurf! Wasserspritzen und Schwall: Er ist blitzend davongefahren. Butterblume, Sumpfdotterblume, feurig, gelblich rot, Schaukelt auf den Wasserringen wie ein Seeräuberboot. (e 1930) 1. Untersuchen Sie die einzelnen Bilder des Gedichts und zeigen Sie, wie sie untereinander zusammenhängen. Versuchen Sie, die Bilderwelt des Gedichts zu charakterisieren, und überlegen Sie, in welchem Verhältnis sie zu dem ihr zu Grunde liegenden realen Geschehen steht. 2. Analysieren Sie die in dem Gedicht ausgedrückte Bewegung. Markieren Sie hierfür die Verben und untersuchen Sie, inwiefern deren Ausdruckswert durch Rhythmus, Syntax und onomatopoetische Elemente unterstützt wird. 3. Welcher Aspekt des 'Grünen Gottes' wird durch den Hecht zum Ausdruck gebracht? Lassen sich Gemeinsamkeiten zu Lehmanns Altjahrsabend feststellen? 4. Äußern Sie sich abschließend noch einmal zu einer möglichen Beschreibung des Gedichts als 'böse Idylle'. Berücksichtigen Sie dafür auch folgenden Ausschnitt aus Brittings Gedicht Gras, in dem ein „Panzerkäfer“ beschrieben wird: Wie sich die Eisenringe wetzen! Gelbes Gold das Schuppenhemd. Die gestielten Augen widersetzen Sich den Menschenaugen fremd.^30 Ihr Bestreben nach einer verfeinerten Wahrnehmung machte die naturmagischen Dichter auch misstrauisch gegenüber dem schon damals modischen Gerede von einem raschen Zusammenrücken der einzelnen Länder und Regionen aufgrund der modernen Verkehrsmittel und der beschleunigten Informationsübertragung. Raschke führte dagegen ins Feld, dass Entfernungen zwar "etwas Meßbares, zunächst aber eine innere Tatsache" seien. Wer meine, die Menschen hätten ihren Planeten nun zur Genüge kennen gelernt und es sei "an der Zeit, den ersehnten Vorstoß in den Weltenraum endlich zu wagen", betrüge sich deshalb nur selbst. Es gehe ihm - wie auch vielen Kunsttouristen - nur um die äußere Attraktion, nicht aber um die wesenhafte Erfassung des Wahrgenommenen: So lange man sich nur mit den schnellsten Verbindungsmitteln von einem bekannten Kunstwerk zum anderen bringen läßt und die Erde als ein Architekturmuseum mit mehr oder minder exotischen Staffagefiguren betrachtet, reist man weder noch sieht man. Für solche Menschen wird auch einmal das Weltall zu klein sein und das Raketenflugzeug zu langsam.^31 Raschke zufolge führen die vermehrten Reisemöglichkeiten somit letztendlich nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Verarmung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit: Zum Sehen gehört der Glaube, daß es überall des Sehens wertes gibt. Hinter dem Reisefimmel unserer Zeit aber verbirgt sich zum großen Teil nur Oberflächlichkeit des Erlebens. Man sucht sich mit Fremdem zu betäuben, man sucht immer grellere Kontraste, weil man für die feineren Unterschiede oft schon tot ist. Es mag viele Menschen geben, heute wie immer, die in der Enge ihres Zimmers mehr zu sehen und zu erleben verstehen, als viele Weitgereiste auf der großen Erde, denn Sehen ist ihnen nicht nur ein Spiegeln im Auge.^32 Dass sie schon Anfang der 30er Jahre das heute unter dem Stichwort 'Reizüberflutung' diskutierte Problem klar erkannten und auch die Normierung der Reiseerlebnisse im Zuge des Massentourismus deutlich vorhersahen, zeigt, dass die Dichter des Kolonne-Kreises sich tatsächlich "den Aufgaben des Tages verpflichtet" fühlten. Diese haben sie auch im Auge, wenn sie für ein geruhsameres, aufmerksameres Schauen eintreten, wie es Raschke unter Hinweis auf die Wahrnehmungsgewohnheiten des Kindes erläutert: Jedes Ding wird dem Auge zu einem Zugang zur Welt. Wer nicht die Schönheit eines Baumes liebend begreift, nicht mit wachen Augen die dunklere oder hellere Tönung der Ansatzstellen von Blütenblättern, wer nicht gespannt das Wässrigwerden und langsame Umsinken einer Hyazinthe verfolgen kann, wer nicht bisweilen noch am Fenster steht wie damals als Kind, darauf nur achtend, wie es Abend wird, die Schatten verlöschen und alle Gerüche plötzlich stärker werden, wer diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Kleinen nicht besitzt, wird auch im Großen nicht zu erleben vermögen.^33 Georg Britting Raubritter In drei Strophen gibt das Gedicht die Eindrücke und Assoziationen eines - in dem Gedicht nicht explizit in Erscheinung tretenden - lyrischen Ichs wieder, das einen zunächst unter der Wasseroberfläche 'stehenden' (V. 2), dann jedoch durch einen "Steinwurf' (V. 9) aufgeschreckten Hecht beobachtet. Die Anzahl der Verse pro Strophe nimmt sukzessive ab (von sechs über vier Verse in der zweiten Strophe auf zwei Verse in Strophe 3), was allerdings teilweise dadurch ausgeglichen wird, dass die beiden - über sieben bzw. sechs Hebungen verfügenden - Schlussverse deutlich länger ausfallen als die Verse der beiden ersten Strophen (die vier bzw. drei oder fünf Hebungen aufweisen). In der zweiten Strophe liegt ein Kreuz-, in der dritten ein Paarreim vor; die erste Strophe folgt dem Reimschema 'a-b-a-a-a-b'. Formaler und inhaltlicher Aufbau des Gedichts hängen damit eng zusammen. So korrespondiert dem 'Stehen' des Hechtes in der ersten Strophe der identische Reim in Vers 3 bis 5 sowie die gleichbleibende Hebungszahl pro Vers. Die Syntax erweckt durch die Aneinanderreihung von (nachgestellten) Attributen ebenfalls den Eindruck von Stillstand, auf den darüber hinaus auch der Wechsel von den trochäischen Kola in Vers 1/2 - die man mit dem plötzlichen 'Auftauchen' des Hechtes im Gesichtskreis des Betrachters assoziieren könnte - zu den freien Rhythmen der folgenden vier Verse verweist. In ihrer (in den metrisch übereinstimmenden Versen 3 und 4 besonders augenfälligen) regelmäßigen Aufeinanderfolge von jambischen und daktylischen Kola bringen diese die gehemmte Bewegung des unter Wasser 'stehenden' Hechtes ebenso zum Ausdruck, wie sie andererseits auch der gebrochen-asyndetischen Syntax entsprechen. Diese korrespondiert wiederum mit dem Denken des Betrachters, das ebenfalls die Erscheinung des Hechtes assoziativ 'umkreist' bzw. sich auf diese 'konzentriert' und sich in seiner Bewegung damit ebenso selbst aufzuheben scheint wie der scheinbar 'unbewegliche' (in Wirklichkeit die Strömung mit seinen Wasserflossen neutralisierende) Hecht (vgl. V. 7). In den ersten beiden Versen der zweiten Strophe setzt sich zunächst die Aneinanderreihung von Attributen für die Beschreibung des Hechtes (und mit ihr auch die Meditation des Betrachters über diesen, als deren Resultat sie erscheint) fort. Dabei deutet das nun wieder durchgängig trochäische Metrum - zumal in Verbindung mit der Erhöhung der Hebungszahl in Vers 7 - auf eine Zuspitzung des gedanklichen Klärungsprozesses hin, dessen Unabgeschlossenheit gleichwohl durch die elliptische Syntax betont wird. Der "Steinwurf' ließe sich dann auch im übertragenen Sinne deuten - nämlich als Versuch, die Erscheinung des Hechtes vollständig mit Begriffen zu 'treffen'. Dadurch würde dieser aber vertrieben, d.h. seine 'Unfassbarkeit' käme gerade dadurch zum Bewusstsein, dass der Betrachter versuchen würde, sich seiner realen Erscheinung zu nähern, ihn also nicht einfach als das hinzunehmen, was der unter dem begrifflichen Konstrukt 'Hecht' subsumierte konventionelle Vorstellungskomplex mit ihm verbindet. Das 'blitzartige' (vgl. V. 10) Verschwinden des Hechtes (dem das Erwachen des Betrachters aus seiner kontemplativen Haltung entspricht) wird dabei durch den elliptischen Ausruf am Anfang von Vers 9 ebenso zum Ausdruck gebracht wie durch die verkürzte Hebungszahl in Vers 10 und den perfektiven Charakter des in diesem enthaltenen Satzes. Hier spiegelt sich die Vergeblichkeit der Bemühungen, den Hecht zu 'be-greifen', besonders eindrücklich wider: Der Hecht ist stets schon weg ("davongefahren"), ehe man ihn gedanklich erreicht, bzw. seine Erscheinung löst sich auf, sobald man sie 'fest-zustellen' versucht. Der Betrachter hat also im Wortsinne 'das Nachsehen': Es bleibt ihm nur der Widerhall des Eindrucks, den der Hecht bei ihm hinterlassen hat (auf der klanglichen Ebene drückt sich dieser Prozess in der Häufung der 'u'-Laute in Vers 11 aus, denen das gehäufte Auftreten der - ebenso dunklen - 'a'-Laute in den ersten beiden Strophen insbesondere in den Reimen> entspricht). Diesen versucht er nun - in der letzten Strophe - ebenso zu umkreisen wie zuvor dessen reale Erscheinung (was auch in der erneuten, das Bemühen um Präzisierung widerspiegelnden Nachstellung von Attributen zum Ausdruck kommt). Dem 'Schwanken' bzw. der Unsicherheit in der Wahrnehmung, die anklingt, entspricht das 'Schaukeln' der "Sumpfdotterblume" (V. 11/12), deren Erfassung dem Betrachter gleich in doppelter Hinsicht Schwierigkeiten bereitet. Denn einerseits ist ihre Wahrnehmung von der vorangegangenen Erscheinung des 'räuberischen" Hechtes beeinflusst, andererseits besteht - wie das zweimalige Ansetzen zu ihrer Bezeichnung zeigt - offenbar auch Unsicherheit über ihre eigene Gestalt. Dem erneut schwankenden Charakter der Wahrnehmung entspricht dabei auch der erneute Übergang zu freieren Rhythmen. Anders als in der ersten Strophe, werden nun nicht jambische, sondern trochäische Kola mit daktylischen kombiniert. Dies führt dazu, dass im Schlussvers drei unbetonte Silben unmittelbar aufeinander folgen ("auf den Wässerringen wie ein Seeräuberbbot"), was den abschließenden Vergleich als Resultat eines längeren Nachdenkens und somit als eine Art Zusammenfassung der gewonnenen Eindrücke erscheinen lässt. So verstanden, wäre das Gedicht - in impressionistischer Tradition -eine Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung bzw. über den Kontrast zwischen der Komplexität, die den realen Erscheinungen sowohl in sich selbst als auch in ihrer Interdependenz mit anderen Erscheinungen zukommt, und der Eindimensionalität, zu der sie durch ihre sprachliche Wiedergabe (die aufgrund ihrer zentralen Funktion für das menschliche Denken auch die Bemühungen um eine adäquate gedankliche Erfassung der Realität entsprechend beschränkt) verkürzt werden. Diese Problematik setzt das Gedicht voraus und überwindet sie zugleich, indem es die reale Erscheinung des einzelnen Hechtes von Anfang an auf 'den'Hecht im Allgemeinen bezieht (vgl. V. 2). Dadurch wird gar nicht erst versucht, den in der konkreten Situation wahrgenommenen Fisch als solchen zu beschreiben; vielmehr wird dessen äußere Erscheinung von vornherein als Chiffre verstanden, durch die die Natur dem Betrachter bestimmte Aspekte ihres dem Menschen zugekehrten Wesens offenbart. Auffallend ist dabei vor allem der abweisende Charakter, der dem Hecht in dem Gedicht zugeschrieben wird. Mit seinen Kiefern, die "gewaltig wie Eisenzangen" (V. 5) sind, und den 'gestachelten' Flossen (V. 6) weckt er - über das Zwischenglied "Raubtiergeschlecht" (V. 6) - Assoziationen an einen kriegerisch gestimmten Ritter, was sich auch auf die Wahrnehmung seiner Augen - die in dem Gedicht als "Unholdsaugen" (V. 3) gekennzeichnet werden - auswirkt. Auch seine eigens betonte Herrschaft über "Fische und Wasserschlangen " (V. 4) stützt den impliziten Vergleich mit einem ebenso mächtigen wie skrupellosen "Raubritter". Die zweite Strophe scheint den Vergleich der Schuppen des Hechtes mit einer Ritterrüstung zunächst noch weiterzutreiben, indem sie ihn als "aus Metall" bestehend und als "unbeweglich" beschreibt, als würde er in einer solchen stecken. Dass er "uralt" erscheint, könnte man dann so verstehen, dass seine Erscheinung aus einer vergangenen Epoche in die Gegenwart hinüberragt bzw. an diese erinnert. Allerdings heißt es in dem unmittelbar darauffolgenden Vers 8 nicht, der Hecht sei "grünspanig" 'wie vor' "tausend Jahren", sondern "grünspanig von tausend Jahren". Dies ließe sich zwar real mit einer vor Jahrhunderten im Wasser versunkenen Ritterrüstung assoziieren (die dann allerdings eher verrostet als "grünspanig" wäre), ist jedoch semantisch eindeutig auf den Hecht selbst bezogen. Dadurch knüpft der Vers an dem verallgemeinernden Verweis auf 'den' Hecht am Anfang des Gedichts an: Er betont, dass "der" Hecht - als eine bestimmte Art von Fisch, der in einer bestimmten Art und Weise in sein Ökosystem eingepasst ist - sich über Jahrhunderte nicht verändert hat und heute in derselben Weise wie vor tausend Jahren auf einen Eindringling reagiert, der ihn aus seinem in sich ruhenden Leben aufzuschrecken versucht. Damit lässt sich der Hecht auch als Erscheinungsbild des 'Grünen Gottes' (vgl. Darstellungsteil) bzw. der Natur ansehen, die er dann unter dem Aspekt ihrer Unnahbarkeit für den Menschen vor Augen führen würde. Dass der Hecht von dem Steinewerfer nicht 'getroffen' wird, würde dann ebenso auf die Unzerstörbarkeit wie auf die letztendliche 'Unfassbarkeit' des Wesens der Natur - die sich (wie es in Brittings Gedicht Gras heißt) den "Menschenaugen fremd" 'widersetzt' (siehe Aufgabenteil) - hindeuten. Wie schon in Lehmanns Altjahrsabend, erscheint der Mensch auch hier als Fremder, den die Natur - wie das abweisende Äußere des Hechtes anzeigt - von sich 'abstößt', der ausgeschlossen ist aus dem in sich geschlossenen Kreislauf des Werdens und Vergehens, in dem die Natur sich ewig fortpflanzt. Als einziger Ausweg aus dieser existenziellen Vereinsamung erscheint die Annahme eben jener Existenz aus dem Geiste, die überhaupt erst zu der Abspaltung des Menschen aus dem Ganzen der Natur geführt hat. Dies impliziert zugleich eine Annäherung an die Natur, die diese nicht in ihrer - für den Menschen unzugänglichen - Realität zu erfassen sucht, sondern in ihr von vornherein nur einen Spiegel (auf den auch das Motiv des Blicks ins Wasser verweist) erblickt, der es dem Menschen erlaubt, sich selbst bzw. die Bedingungen seiner Existenz per Analogiebildung besser zu verstehen. Dies führt das Gedicht in sich vor; denn dadurch, dass der Betrachter die reale Erscheinung des Hechtes eingehend betrachtet, emanzipiert er sich zugleich von dieser und transzendiert sie auf eine Realität hin, für deren Wahrnehmung der konkrete Hecht nur der äußere Anlass ist (die aber nichtsdestotrotz ihn selbst und den Betrachter in einer gemeinsamen Wahrheit umschließt). Dementsprechend greift das Gedicht den Vergleich des Hechtes mit einem 'Unhold' am Ende - im Bild des 'Seeräuberbootes', als die die Sumpfdotterblume dem Betrachter erscheint (vgl. V. 12) - noch einmal auf und insistiert so auf der Verwandlungskraft der dichterischen Phantasie. Indern diese nämlich unterschiedlichste Bereiche miteinander verbindet, ermöglicht sie es dem Menschen, sich in seiner komplexen Bezogenheit auf das Welt-Ganze zu erfahren und gleicht so das Gefühl der Ausgeschlossenheit aus der Totalität der Natur aus, das die bewusste Auseinandersetzung mit seinen Daseinsbedingungen ihm vermittelt. Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik 1916-1945 : vom Dadaismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Tübingen ; Basel: Francke, 2001 ISBN 3-7720-2975-2 (Francke), ISBN 3-8252-22200-4 (UTB). S. 40–42, 267-274.