Herbert Schmidt: Georg Britting: Der Fasan Wo an den Bäumen die Äpfel saßen, Sitzen nun Krähen: bittere Frucht! Ja, bei des Nordwindes wildem Blasen Hat uns sogar der Fasan besucht, Würdevoll schreitend in adliger Zucht. Streuen wir Futter vor Tür und Schwelle, Stürzen die Krähen rauschend vom Ast Wie eine dunkelnde Meereswelle, Kommen die Spatzen in Hungerschnelle, Wird der Fasan selbst ein eiliger Gast. Wer kann wie Krähen so gierig fressen, Listige Räuber, neidisch geborn? Kriegerisch sind sie und schrein besessen, Wagt sich ein Kleinerer an ein Korn — Nur der Fasan fürchtet nicht ihren Zorn. Einmal ein Ende hat jedes Fest. Trüb steht der Abend über dem Dach. Suchen die Krähen ihr Schlafgeäst — Leer ist die Tafel vom letzten Rest — Sieht der Fasan ihnen hochmütig nach. Rings auf der Felderflur liegen Brocken Giftigen Fleisches, hämisch gemeint. Die auf den Bäumen und träumend hocken Mag solch aasiges Zeug verlocken, Doch der Fasan ist dem Unräte feind. Nicht anzuraten ist jeder Schmaus Denen, die träumen. Schwer ist der Tod. Schon sinkt die Sonne. Der Schnee wird rot. Einsame Winde, was soll der Braus? Nur der Fasan geht noch langsam ums Haus. Ein erster flüchtiger Blick auf die graphische Form des vorliegenden Gedichts will den Eindruck erwecken, als hätten wir es mit einem Gebilde in durchgehend festgefügter Form zu tun. Aber schon bei einmaligem Lesen verwischt sich dieser Eindruck wieder. Vor allem fällt uns jetzt auf, daß die sechs Strophen, obwohl durchwegs fünf zeilig, doch nicht alle in gleicher Weise gebaut sind. Wir haben in dem Gedicht zwei verschiedene Reimschemen: einmal ababb (Strophe I, III, VI) und zum anderen abaab (Strophe II, IV, V). Auch rhythmische Verschiedenheiten hören wir heraus. Zwar bleibt das Metrum durchgehend ein vierhebiger Daktylus. Darin können wir einen Hinweis auf ein Grundmotiv des Gedichtes sehen: auf den kurzen, unregelmäßigen Vogelschritt, das unruhige Hin- und Herhüpfen der hungrigen Vögel. Doch finden sich innerhalb dieses metrischen Schemas eine Reihe rhythmischer Modulationen: lang über den ganzen Strophenbau gezogene Perioden stehen neben kurzen Ausrufen oder lapidaren Feststellungen. Wie sollen uns diese Eindrücke zum Verständnis des Gedichts helfen? Was haben sie mit dem Inhalt zu tun? Das Gedicht beginnt mit der Feststellung: „Wo an den Bäumen die Äpfel saßen, sitzen nun Krähen.“ Es ist also Winter, die Früchte sind lange schon geerntet oder abgefallen, ihr Platz bleibt den totenfarbe-nen Vögeln, der „bitteren Frucht“. In diesem Ausruf „bittere Frucht!“ liegt „bittere“ Ironie, zugleich Klage über die „bittere“ Vergänglichkeit, über die „bittere“ Verkehrung aller irdischen, lebendigen Fülle zu einer Chriffre des Todes. Dieser aussichtslose Kampf gegen Kälte, Not, Zerstörung, die im nächsten Vers unter dem Bild des tobenden Nordwinds beschworen werden, demütigt auch das Edle, Stolze, Aufrechte. Das erscheint zunächst kaum glaublich, daher das überraschte „Ja ...“ am Zeilenbeginn. Aber es ist so: auch der Fasan muß sich unter die Krähen mischen, mit ihnen die Nähe des Menschen und sein Futter suchen. Nur in der Wahl des Wortes „besucht“ für sein Kommen findet sich eine — freilich leise spöttische — Anspielung auf einen Rest von adeliger Zurückhaltung. Auch die Nebeneinanderstellung zweier auf der Endsilbe betonter Wörter in „sogar der Fasan“ wirkt ungewöhnlich, unterstützt den Wortsinn des „sogar“ und die Anklänge von ritterlicher Jagd und Noblesse, die sich mit dem Bild des Fasans verbinden. Der Fasan bleibt ein Edelmann, auch wenn er als Bettler kommt. In der letzten Zeile der Strophe wird es ausdrücklich festgestellt: er kommt „würdevoll schreitend in adliger Zucht“. Dieser Vers, unter Wiederholung des letzten Reims einem an und für sich vollständigen und sinnvollen Vierzeiler angehängt, in sich ohne Zäsur durchlaufend, verlangsamt den Sprachrhythmus, wirkt schwer, lastend, prunkend. Er ist eine Art höfischer Schleppe, von der Strophe nachgezogen wie ein prächtiger Fasanenschweif. Zugleich aber hinterläßt er in etwas den Eindruck unbeholfener, wirklichkeitsfremder Grandezza, so wie dem Edlen ja leicht ein Anflug von Lächerlichkeit eignet, wo es unter ungemäßen, unwürdigen Bedingungen auftreten muß. In der zweiten Strophe kommt Bewegung in das Bild: Futter wird gestreut, es entsteht ein Rauschen und Flügelschlagen. Optische und akustische Eindrücke und Bezüge überschneiden sich, die stürzende Vogelwolke wird zur rauschenden Meereswelle, „dunkelnd“ unter unfreundlichem, stürmischem Himmel. Durch die Partizipia „rauschend“, „dunkelnd“ entsteht der Eindruck massiver Bewegung. Die Spatzen „in Hungerschnelle“ sind wie die spritzende Gischt dieser Flut. Das Reimschema ändert sich. Die zweimalige Wiederholung des ersten Reims im Stropheninneren untermalt das Bild der wieder und wieder heranwogenden Menge. Der Rhythmus wird noch rascher durch den gedrängten, kohärenten Satzbau der Strophe. Drei Nebensätze, sprachlich durch die Voranstellung des jeweiligen Verbs aufs äußerste geballt und verknappt, einer von ihnen durch Enjambement über das Zeilenende hinweggerissen, gehen dem Hauptsatz voran, der erst in der letzten Zeile steht. Auch dadurch wird das Gefühl einer gewaltsamen, gefährlichen Bewegung verstärkt. Diese Woge, diese Gefahr, hat ihre Wirkung: sie reißt auch den Fasan mit sich. Auch er kommt mit, auch er wird, was ihm ungemäß ist, „eilig“ im Kampf um das Futter. Und nur in dem einschränkenden „selbst“ und in seiner Bezeichnung als „Gast“ zeichnet sich wieder ein Rest von nobler Reserve ab. Er ist in der Menge, aber er gehört nicht zu ihr. Von ihm aus gesehen wirkt das Gedränge der Krähen befremdend, kaum glaublich in seiner Widerlichkeit. Daher die ungehaltene Frage zu Beginn der dritten Strophe, mit ihrer abschätzigen Qualifikation der Krähen, die sozusagen nach ritterlichen Wertbegriffen vorgenommen wird: „Listige Räuber, neidisch geborn.“ Diese Charakteristik wird untermalt durch die Häufung von gepreßten Vokalen und Zischlauten in Wörtern wie „gierig fressen“, „listig“, „neidisch“. Die Krähen bieten das Bild einer ursprünglichen, angeborenen Gemeinheit, die dreist und „kriegerisch“ auftritt, das Bild einer Masse, eines Pöbelhaufens, der hektisch „besessen“ schreit, unduldsam besonders gegen Schwächere. Der Kleinere muß sich unter Gefahr an sein Korn „wagen“. Wieder wird das Reimschema der ersten Strophe angewandt, mit dem schwer nachgezogenen Schlußreim. Diesmal dient es dazu, die Würde des Fasans gegen das Gewühl und Gezänk zu kontrastieren: „Nur der Fasan fürchtet nicht ihren Zorn.“ Hier ist also eine Grenze erreicht, die nicht mehr hinausgegangen wird. Den Edlen kann die Not wohl demütigen, aber sie kann ihn nicht erniedrigen. Er läßt sich nicht einschüchtern und schrecken. Hier gibt es kein „sogar der Fasan“ mehr, kein „selbst der Fasan“. Er steht in einem ausdrücklichen Gegensatz zur Menge: „Nur der Fasan“. Zugleich, da diese Situation ihm gemäß ist, fällt auch jener Anhauch des Lächerlichen, die Armseligkeit des hochgeborenen Bettlers von ihm ab, die ihm bis jetzt angehaftet haben mögen. Er ist jetzt nur mehr achtunggebietend und bewunderungswert in seiner Vereinzelung. Die vierte Strophe bringt das Ende dieses „Festes“. Alles bricht auseinander, auch die rhythmische Struktur. Zwei kurze, nur zeilenlange Sätze stehen zu Beginn der Strophe, und der dritte, über drei Zeilen hinweggezogene, wird durch eine Parenthese gespalten. Über der ganzen Strophe liegt diese Atmosphäre des Auseinanderbrechens, des im wörtlichen Sinne verflogenen Rausches, lautlich ausgedrückt durch die Folge von gepreßtem E, bangem A und -ach, trübem Ü und dunklem U. Die Tafel ist geleert „vom letzten Rest“, es ist nichts mehr da, was die Menge aneinanderbindet, der „trübe“ Abend kündigt die Nacht an, alles geht auseinander, die Krähen suchen ihr „Schlafgeäst“. Dieses Wort, oder vielmehr Bild „Schlafgeäst“ ist ein Schlüssel zur ganzen Seinsweise der Krähen: „Schlaf“, das Zurücksinken ins Unbewußte, Dumpfe, Blinde; zugleich das Bild des „Geäst“, eine Chiffre der Verworrenheit, der Brüchigkeit, Unsicherheit und Ungeborgenheit, die jeder Einzelexistenz in der Masse eignen. Nur der Fasan bleibt zurück. Er, für das Dasein als Einzelner geschaffen, immer schon allein, fällt nicht in Dumpfheit, sobald sich die Menge zerstreut. Er blickt den Krähen nach: wach, sehend, „hochmütig“, als Sieger fast, nicht durch seine größere Kraft, sondern durch seine höhere Art. Es ist, als werde er selbst sich des wesentlichen Gegensatzes zwischen ihm und den Krähen bewußt. Jetzt, da sich die Menge verzogen hat, wird der Raum frei für einen weiteren Blick. Auch er findet zunächst nur Unerfreuliches, Unedles: „Brocken giftigen Fleisches, hämisch gemeint“, Zeugnisse einer tük-kischen Berechnung auf die pöbelhafte Gier der Krähen. „Aasiges Zeug“, das Zu jenen paßt, die ausgesetzt und unwissend „auf den Bäumen und träumend hocken“. Das Dialektwort „hocken“ für „sitzen“ ist als Ausdruck ihrer Niedrigkeit ganz angemessen, ein Gegensatz zu der vornehmen Konservativität des Fasans, wie sie sich in dem altvaterischen Dativ „dem Unräte“ und der gehobenen Wendung „ist . . . feind“ für „nicht mögen“ manifestiert. Auch durch das „Doch“ am Anfang der letzten Zeile wird der Fasan noch einmal in ausdrücklichen Gegensatz zu den Krähen gesetzt. Zugleich aber wird jetzt, in dieser Einsamkeit, schon eine gewisse Distanz zu dem Geschehenen, Gesehenen erreicht. Es ist nicht mehr der empörte Ton wie in der Frage zu Beginn der dritten Strophe, in dem jetzt über die Krähen gesprochen wird. Es wird gelassener über sie geredet, einfach feststellend: so sind sie, und der Fasan ist anders. Diese Gedanken schwingen in der letzten Strophe weiter. Es ist nicht das Amt des Edlen, zu hassen oder zu verachten; ihm ist aufgegeben, für die anderen, die Dumpfen, zu wachen und zu sehen. Vor dem Bild des einsam zurückgebliebenen Fasans wird das klar. Die Erwägungen gehen jetzt ins Allgemeine, werden zu Erkenntnissen: „Nicht anzuraten ist jeder Schmaus Denen, die träumen.“ Die Krähen werden gar nicht mehr ausdrücklich erwähnt, nur angedeutet als eine Chiffre, hinter der sich alle verbergen, für die der Wache da sein muß, die er warnen, denen er raten müßte, wenn ihnen denn zu raten wäre. Zorn oder Verachtung sind nicht die rechte Haltung gegen sie; auch sie, mögen sie es selbst nicht wissen, sind ja betroffen von dem unbarmherzigen Gesetz, der lapidaren Tatsache, die plötzlich und unvermittelt in der zweiten Zeile steht: „Schwer ist der Tod.“ Das ist eine Gewißheit, die alle angeht. Zeichen dafür sind überall: die sinkende Sonne, die Blutfarbe des Schnees, die „einsamen Winde“, die geräuschvoll etwas ankündigen, dessen Bedeutung und Ziel ungewiß ist. Eine Ahnung von Verderben ist überall in der Luft, in der Landschaft, die plötzlich tot daliegt, von allem Lebenden verlassen, ein Schauplatz nur mehr für Gedanken voll harter Schwermut. „Nur der Fasan geht noch langsam ums Haus.“ Der letzte Vers wirkt wie ein Echo, eine verlegene Antwort auf die verschreckte Frage: „Einsame Winde, was soll der Braus?“ Es ist „nur“ der edle Fasan, der um das Haus geht. Er ist kein Wächter, er kann und will keinen Schutz gewähren vor allem, was droht, kaum einen Trost; er selbst ist vom Elend und der Gefahr angefallen und gedemütigt worden. Und doch ist in dem Bild, das er bietet, ein Rest von Gewißheit und Siegeshoffnung. Er geht „langsam“, im tiefsten unberührt, trotz aller Anfechtung edel und stolz. Herbert Schmidt Hirschenauer, Rupert Weber, Albrecht (Hg.) . Wege zum Gedicht. München Zürich: Schnell und Steiner, 1965. S. 354–359.