Walter Hinck: Heilende Welt Hans Carossa (1878-1956): Der alte Brunnen In den Volksliedern, so heißt es in Heines Schrift Die Romantische Schule zur Sammlung Des Knaben Wunderhorn, fühle man den Herzschlag des deutschen Volkes. Das Lied Der Lindenbaum in der von Franz Schubert vertonten Winterreise stammt vom Dichter Wilhelm Müller, aber wohl nur in wenigen Liedern glaubte man diesen Pulsschlag so sehr zu spüren wie in den Versen »Am Brunnen vor dem Tore ...«. In Thomas Manns Roman Der Zauberberg stürmt Hans Castorp unter den jungen Freiwilligen des Ersten Weltkriegs mit diesem Lied auf den Lippen gegen die feindlichen Linien und in den Tod. Es gibt unter den bekannten deutschen Brunnen-Liedern auch eine andere Linie, die Gedichte über die grandiose Fontana di Trevi in Rom. Sieht man von Friedrich von Schacks Fontana Trevi ab, so setzten das Maß vor allem Conrad Ferdinand Meyers Der Römische Brunnen (»Aufsteigt der Strahl und fallend gießt / Er voll der Marmorschale Rund ...«) und eines von Rainer Maria Rilkes Sonetten an Orpheus (»O Brunnen-Mund, du gebender, du Mund, / der unerschöpflich Eines, Reines, spricht...«). Hans Carossas Der alte Brunnen schließt sich eher an die volksliedhaften Verse Wilhelm Müllers, an deren heimelige Atmosphäre an: Der alte Brunnen Lösch aus dein Licht und schlaf! Das immer wache Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt. Wer aber Gast war unter meinem Dache, Hat sich stets bald an diesen Ton gewöhnt. Zwar kann es einmal sein, wenn du schon mitten Im Traume bist, daß Unruh geht ums Haus, Der Kies beim Brunnen knirscht von harten Tritten, Das helle Plätschern setzt auf einmal aus. Und du erwachst, — dann mußt du nicht erschrecken! Die Sterne stehn vollzählig überm Land, Und nur ein Wandrer trat ans Marmorbecken, Der schöpft vom Brunnen mit der hohlen Hand. Er geht gleich weiter, und es rauscht wie immer. O freue dich, du bleibst nicht einsam hier. Viel Wandrer gehen fern im Sternenschimmer, Und mancher noch ist auf dem Weg zu dir. Die Entstehungsgeschichte des Gedichts überspannt zehn Jahre (1923-1933), erstmals gedruckt wurde es 1924. Der Keim des Gedichts findet sich auch in der ersten Fassung (1913) von Carossas Lebenslied und über die zugrunde liegenden Eindrücke im Ort seiner damaligen Arztpraxis, Seestetten an der Donau, schreibt er in einem Tagebucheintrag vom 25.8.1913: »... Murmeln des Brunnens vor dem Hause. Wenn es für einige Augenblicke verstummt, so weiß man, daß jetzt jemand trinkt...« Das Gedicht beginnt im Ton des Schlaflieds. Aber weder wiegt das Geplätscher des Brunnens — was ja denkbar wäre — den Hausbewohner in den Schlaf, noch hindert es den, der mit dem Geräusch vertraut geworden ist, am Einschlafen. Eine Störung wird erst empfunden, sobald das Plätschern einmal aussetzt. Diese nächtliche Störung jedoch kündigt keine Gefahr an; im Gegenteil, sie ist das akustische Signal einer geradezu idyllischen Szene: Ein Wanderer löscht am Marmorbecken seinen Durst und zieht friedlich weiter. Unbeirrbar bleibt in diesem Gedicht ein Gefühl der Geborgenheit. Drei Momente sind es, die solche Sicherheit begründen: das über alle Tages- und Jahreszeiten hinausreichende Dauerhafte, die Unerschöpflichkeit der wasserspendenden Natur; die Unwandelbarkeit des Sternenhimmels, unter dessen Dach sich der Mensch behütet weiß; und das Vertrauen in die Verbundenheit der Menschen, die alle Einsamkeit aufhebt. Solche Geborgenheit versteht sich nicht von selbst, bedenkt man die Zeitgeschichte des Jahrzehnts, während dessen der Autor an dem Gedicht feilte. Carossa nahm zwischen 1916 und 1918 als Militärarzt am Ersten Weltkrieg teil. In den Jahren danach rieb ihn seine Münchner Kassenpraxis so sehr auf, dass sich, wie er gestand, seine »innere Struktur nahezu aufzulösen drohte«. Carossa war also inzwischen aus jener Geborgenheit herausgefallen, in der er sich noch in der Seestettner Idylle aufgehoben fühlen konnte. Aber der Widerhall neuer Erfahrungen hätte das Gedicht wohl brüchig werden lassen. Und an seiner dichterischen Grundhaltung hielt Carossa trotz zeitgeschichtlicher Turbulenzen fest. Sein Dichtungsverständnis teilt dem Arzt und dem Dichter die gemeinsame Aufgabe zu, es den heilenden Kräften der Natur gleichzutun. Das gibt dem anrüchig gewordenen Begriff der »heilen Welt« bei Carossa die genauere Bedeutung der angstbannenden, »heilenden Welt« und nimmt ihm den Beigeschmack des Erlogenen, der »erpressten Idylle«. Doch nur in wenigen Gedichten Carossas scheint der versteckte therapeutische Nebensinn so sehr durch eine konkrete eigene Erlebnissituation gedeckt wie hier. Hinck, Walter: Stationen der deutschen Lyrik: von Luther bis in die Gegenwart: 100 Gedichte mit Interpretationen. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2000. ISBN 3-525-20810-3. S. 149–150. Strophenform - Horst Joachim Frank: Die in der Lyrik des 20. Jahrhunderts häufigste Strophenform ist dieser Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern mit weiblich/männlich wechselnden Kadenzen im Kreuzreim. Sie ermöglicht, faßt man die ersten beiden und letzten beiden Verse jeweils zusammen, zwei weitschwingende, durch eine Doppelsenkung halbierte Sprachbögen, die in ihrer Mitte und am Ende jeweils durch den Gleichklang der Reime verbunden sind. So ist der Vierzeiler eine anpassungsfähige, geräumige und dennoch gut zu fassende Form für Empfindungen, Bilder und Gedanken. Die frühesten Belege der Strophe finden sich schon im Kirchenlied des 16. Jahrhunderts, und zwar in Übersetzungen des 12. Psalms mit der Melodie aus dem Genfer Hugenottenpsalter durch Melissus Schede „Tu Hilf, o Herr“ (1572) und Lobwasser „Bewahr mich, Herr, tu mir zur Rettung kommen“ (1573). Opitz übernahm diese in französischen „vers communs“geformte Psalmstrophe 1624 nicht nur für seine Episteln „Am H.Ostertage“ („Fegt ab von euch den Sauerteig der Erden“) und „Am Sonntage Exaudi“ („Ihr müsset Gott euch rein und nüchtern bringen“), sondern auch für sein galantes Carmen „An eine Jungfrau“ („Und du wirst auch bei meiner Buhlschaft stehen“). Sonderlichen Anklang fand er mit dieser Form nicht. Zesen verwendete sie für sein Glückwunschlied „Als Erdmuth ihren Namenstag beging“, Abschatz wiederum galant „Mein allein oder laß es gar sein“. Auch in der Lyrik der Aufklärungszeit spielte der Vierzeiler nur eine geringe Rolle. Er begegnet vereinzelt im anakreontischen Lied und Dialog: Fr.v. Hagedorn „Die Heldin“ und „Zemes und Zulima“, im Nachruf: A.G.Kästner „Dem Andenken Christlob Mylius“, eine Zeit lang im Stimmungshaften Abendgedicht: Creuz „An den Schlaf“, Huber „Nachtempfindungen eines Gefangenen“, Bürger „Auch ein Lied an den lieben Mond“ und noch Goethe „Im Abendrot liegt See und Himmel still“. In den 1780er Jahren wurde die Form allmählich bekannter. Schon als Karlsschüler hatte Schiller 1778 diese Strophe benutzt, um erwartete „Empfindungen der Dankbarkeit“ gegenüber der Favoritin Karl Eugens enkomiastisch zum Ausdruck zu bringen. In seiner satirischen „Vergleichung“ und in seiner „Freigeisterei der Leidenschaft“ (1786) kam der junge Schiller nochmals auf die Form zurück, nun aber mit der Freiheit, die Verse um ein, zwei Takte bald zu verlängern, bald zu verkürzen, wie es auch Schubart in seiner Huldigung „An Prinz Ferdinand von Württemberg“ tat, während schon zur selben Zeit der junge Hölderlin in „Die Demut“ (1788) wieder das Gleichmaß der Verse beachtete. Der Vierzeiler schien tauglich zu mancherlei betrachtenden und beschaulichen, gar wohl auch unterhaltenden Gedichten wie etwa (im „Wiener Musenalmanach“ 1784/85) von Grotzhammer „Lob des Rauchtabaks“ und Retzer „Stufen des weiblichen Alters“ oder von Brun „Ton der Leier“, enthusiastisch Arndt „Liebeskraft“ und empfindsam A.W.Schlegel „Die Stunde vor dem Abschied“. Dem Gebrauch der Form für das Widmungsgedicht und zumal den Nachruf folgten Novalis „An Herrn Brachmann“, „Auf den Tod meines Onkels“ und Z.Werner „Auf Petzolds Tod“. Hier zeigt sich eine Tradition, die bis ins 20. Jahrhundert reichte: Grün „Goethes Heimgang“ (1832), Grillparzer „Lope de Vega“, Vischer „An das Bild Peter Vischers am Sebaldusgrab in Nürnberg“, Flex „Fliegerbegräbnis. Auf Hauptmann Boelckes Tod“, Huch „Die jungen Gefallenen“, Scholz „Auf den Tod meiner Mutter“, Werfel „Der tote Jugendgefährte“, Becher „Matthias Grünewald“, Schröder „Für Georg von der Vring“. Durchweg wurden der Form im 19.Jahrhundert aber neue, eigentümliche Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen. An erster Stelle sind hier Goethes schmeichelnd bewegte Strophen aus dem „Buch Suleika“ des „Divan“ zu nennen: „Komm, Liebchen, komm! umwinde mir die Mütze!“, „Behramgur, sagt man, hat den Reim erfunden“ und zum Schluß des Buches das große Preisgedicht „In tausend Formen magst du dich verstecken“. Noch einmal hat der späte Goethe in dem Rollengedicht „Der Bräutigam“ diese Strophe verwendet. Sie wurde zur Form auch mancher späteren Liebesgedichte: W.Müller „Vor ihrem Fenster“, Freiligrath „Du hast genannt mich einen Vogelsteller“, Keller „Du willst dich freventlich emanzipieren“, Storm „Junges Leid“, Bodenstedt „Wenn dermaleinst des Paradieses Pforten“ (in „Die Lieder des Mirza-Schaffy“), Simrock „Soll ich dich einem Frühlingstag vergleichen“, Liliencron „Der Maibaum“. Geläufiger wurde im 19. Jahrhundert jedoch die Verwendung der Strophenform für elegische Gedichte, in denen das lyrische Ich im Rückblick auf das eigene Lebensschicksal oder im Blick auf etwas Gegenwärtiges sich wehmütigen Empfindungen überläßt, Betrachtungen anstellt, assoziierenden Gedanken folgt, Einsichten formuliert oder der Klage Ausdruck gibt: Platen „Vergebt, daß alle meine Lieder klagen“, Lenau „Erinnerung“ („Erinnrungsvoller Baum, du stehst in Trauer“), Grillparzer „Klage“, Grün „Archipelagus der Liebe“, Hahn-Hahn „In unruhiger Erwartung“, Hoffmann v. Fallersieben „Heimweh in Frankreich 1839“, Heine „Böses Geträume“, Hebbel „Auf dem Meer“, Keller (in den „Gedanken eines lebendig Begrabnen“) „Da lieg ich nun, ohnmachtiger Geselle“ und „Ich muß ein Weilchen wohl geschlafen haben“, Storm „Im Zeichen des Todes“ und „Abschied“, Liliencron „Entsagung“, Kurz „Deutsche Gespenster“. Hinzu kommen solche Gedichte, in denen gewonnene Einsichten und Lebensweisheiten didaktisch formuliert werden: Lenau „Die Jugendtraume“, Grillparzer „Entsagung“ und „Wie viel weißt du, o Mensch“, Gerok „Wetterregel“, Allmers „Vom Beten 3“. Dagegen hat das an Erzählgedichten so reiche 19. Jahrhundert die elegisch geprägte Strophenform episch kaum verwendet. Brentanos „Legende von der heiligen Marina“ bildet insofern ebenso eine Ausnahme wie die Balladen „Eine Begegnung“ von Grün und „Denker und Henker“ von Lingg. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe volkstümlicher Lieder in dieser Strophenform umgingen: zum Beispiel das bänkelsängerische Lied von „Ludwig und Lola“ („Ich sing mein Lied jetzt, und wie Uhlands Sänger“), das auf einem gegen König Ludwig I. von Bayern gerichteten Flugblatt 1848 verbreitet wurde, oder die Moritat „Der Tod der drei ungarischen Drahtbinder in der Nacht vom 27728.Februar 1862 im Krug zu Rixdorf“ („Nun hört, was Schreckliches sich hat begeben“), die Bänkellieder „Vergiß mein nicht“ („Sie naht, sie naht, die fürchterliche Stunde“) und „Die ungleichen Brüder“ („Es wollt ein Mann in seine Heimat reisen“, „Wir liebten uns, wie sich zwei Herzen lieben“ und „Ich lebte einst im deutschen Vaterlande“, nach dessen volkstümlicher Melodie später das nationalsozialistische Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen“ gesungen wurde. Zur häufigsten Strophenform in der Lyrik des 20. Jahrhunderts wurde der Vierzeiler unter dem Einfluß des französischen Symbolismus durch George und die von seiner Formensprache ausgegangene vorbildliche Wirkung. Die Strophenform, in Georges Nachdichtungen von Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ dem Original nachgebildet, durchzieht sein gesamtes lyrisches Werk, so zum Beispiel „Mir ist es wie Titanien ergangen“ (in „Die Fibel“), „Ein Hingang“ (in „Hymnen“), „Ihr alten bilder schlummert mit den toten“ (in „Pilgerfahrten“), „Daneben war der räum der blassen helle“ (in „Algabal“), „Der Einsiedel“ (in „Das Buch der Sagen und Sänge“), „Kindliches Königtum“ (in „Das Buch der hängenden Gärten“), „Gemahnt dich noch das schöne bildnis“ (in „Das Jahr der Seele“), „In meinem leben rannen schlimme tage“ (im „Vorspiel“), „Rom-Fahrer“ (in „Der Teppich des Lebens“), „Den Brüdern“ (in „Die Lieder von Traum und Tod“), „Südlicher Strand: See“ (in „Der Siebente Ring“) und „Das Licht“ (in „Das neue Reich“). Hinsichtlich der vorbildlichen Wirkung für den Formengebrauch der Lyrik des 20. Jahrhunderts muß auch hier an zweiter Stelle Rilke genannt werden. Die Strophe erscheint bei ihm in allen drei Teilen der frühen Sammlung „Das Stundenbuch“: „Ich finde dich in allen diesen Dingen“, „Auch du wirst groß sein“, „Denn sieh: sie werden leben“, dann im „Buch der Bilder“: „Abend“, in der Sammlung „Neue Gedichte“: „Josuas Landtag“ und „Der Panther“ sowie noch in den späten Gedichten „Schon kehrt der Saft“ und „Imaginärer Lebenslauf“. Ohne Zweifel hat die Abkehr der modernen Lyrik von den aus der Romantik und Nachromantik allzu vertrauten drei- und vierhebigen Vierzeilerstrophen die Rezeption der außerhalb jener romantischen Tradition stehenden und sprachlich geräumigeren fünftaktigen Vierzeiler vom Typ [55 55] allgemein begünstigt. Verfolgt man den Aufstieg der hier betrachteten Strophe bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, so zeigt sich gleichfalls der hohe Anteil in der Lyrik der Expressionisten. Däubler begann nicht nur sein monumentales lyrisches Epos „Das Nordlicht“ mit dieser Strophe, er verwendete die Form auch in vielen Gedichten wie zum Beispiel „Ode an Florenz“, „Geheimnis“, „Schnee“, „Einfall“. Heym bei seiner Vorliebe für Vierzeiler aus jambischen Fünfhebern benutzte oft auch diese in den Kadenzen wechselnde Form wie etwa in „Herbst“, „Schwarze Visionen“, „Columbus“ (in der Sammlung „Der ewige Tag“), „Die blinden Frauen“ (in „Umbra vitae“) und „Die Wanderer“ (in „Der Himmel Trauerspiel“). Die Strophe findet sich ebenso bereits bei Trakl „Allerseelen“, „Ermatten“ und „Vor Sonnenaufgang“. Sie durchzieht auch das spätere Werk mancher Dichter des expressionistischen Aufbruchs: so Werfels Lyrik von „Vision 1917“ (in „Der Gerichtstag“) bis „Ich staune“ und „Der Kranke“ (in „Kunde vom irdischen Leben“), Becher von „Melodien aus Utopia“ bis „Gericht“ und „Ihr Mütter Deutschlands“ (1947). Bei Benn erscheint die Strophe schon in seiner ersten Sammlung „Morgue“ (1912): „Requiem“, „Eine Leiche singt“. Sie blieb auch die Form vieler seiner erst in den 1950er Jahren entstandenen Gedichte wie „Auferlegt“, „Nike“, „Abschluß“ und „Tristesse“. Wie schon im 19. Jahrhundert hat der Vierzeiler auch im 20. Jahrhundert als Balladenstrophe nur wenig Anklang gefunden: Münchhausen „Jenseits“, Scholz „Casanovas Tod“, Arendt „Der Dorfteich“. So erinnert Brechts Verwendung der Strophe auch weit mehr an den oben erwähnten Bänkelsang: „Ballade von der alten Frau“, „Die Ballade vom Liebestod“, „Ballade von der Billigung der Welt“. Benachbart sind Klabunds Chansons „Ballade vom Bolschewik“ und „Der Seiltänzer“. Zumal für die 1920er Jahre zeichnet sich indessen ein Gebrauch der Strophe ab, dessen Wegbereiter Holz in seinem „Buch der Zeit“ (1885) war, nämlich für das zeitkritische, satirische Gedicht: „An die „obern Zehntausend“, „An die Konventionellen“, „Verschiedene Kollegen“. Als Meister dieser Gattung bedienten sich der Strophe Kraus: „Prestige“ und „Alles, nur nicht die Gobelins“, Tucholsky: „Deutscher Abend“ und „Namensänderung“, besonders zahlreich E.Kästner: „Zeitgenossen, haufenweise“, „Ballade vom Defraudanten“, „Lob der Volksvertreter“ sowie (in der „Lyrischen Hausapotheke“) „Elegie, ohne große Worte“, „In der Seitenstraße“, „Hotelsolo für eine Männerstimme“. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte in derselben Strophe eine politische Lyrik und Lieddichtung eigener Art zur Geltung. Erwähnt seien etwa Anacker „Jungvolk des Dritten Reiches“, Menzel „Führer und Volk“ und vor allem, wie schon gesagt, das zur zweiten Nationalhymne erklärte, von Horst Wessel verfaßte und nach ihm benannte Lied „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen“. In derselben Strophe konnte Lommer 1945 endlich rufen „Der Spuk ist aus“. Überblickt man den weiten Gebrauch dieses Vierzeilers in der übrigen Lyrik etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, so findet man zunächst auch weiterhin jene elegischen Gedichte des erinnernden Rückblicks und der nachdenklichen Betrachtung, für die diese Form schon im 19. Jahrhundert mit Vorliebe gewählt worden war, so nun etwa bei Loerke „Überwältigung“, Weinheber „Wir kommen aus der Nacht 1“, Kaschnitz „Kindheit“ und Kahlau „Nach seinem Tode“. Daneben stehen wiederum solche Gedichte, in denen Erkenntnisse und Weisheiten belehrend, tröstend und ermunternd spruchhaft formuliert werden: Loerke „Ararat“, Kaschnitz „Die fremde Erde“, Hausmann „Verzweifelt und getrost“, Usinger „Anfang“ und „Ende“, Peters „Ewig“, Weinheber „Das gibt Dir Trost“. Neu ist dagegen, zumal seit Rilke, die bevorzugte Verwendung der Form für Dinggedichte, für Bilder von Gegenständen, Bauten, Wesen, Gestalten, Landschaften: Carossa „Der alte Brunnen“, Loerke „Der Leuchter“, Bröger „Kathedrale von Rouen“, Kaschnitz „Amalfi“, Peters „L´Inconnue de la Seine“, Piontek „Das Mahl der Straßenwärter“, Hausmann „Birke im Nebel“, Blunck „Dämmernde Marsch“, Goes „Die Ebene“. Die in solchen Gedichten zuweilen auftretende rühmende Anrede verweist schließlich auf das geistliche Gedicht in derselben metrischen Form: Strauß u. Torney „Das goldene Angesicht“, Langgässer „Fest der Beschneidung des Herrn“, Weinheber „An Gott“, Schröder „Tarda necessitas“, in zahlreichen Gedichten Kaiser „Anruf“, „Der Stab“, „Die Saite“, „Er“, dann Bonhoeffer „Von guten Mächten“ und Busta „Gebet einer Sünderin“. Die Form ist auch nach der Jahrhundertmitte noch die häufigste Strophe der modernen Lyrik. Als Beispiele seien genannt: Celan „So schlafe, und mein Aug wird offen bleiben“, Bachmann „Nach vielen Jahren“, „Nord und Süd“, Holthusen „Hamlets Tod“, Habetin „Späte Begegnung“, „Gang in den Morgen“, Meckel „Reise durch die Dämmerung“, Wolken „Wir lachen wohl“, Hermlin „Die Terrassen von Albin“, Reimers „Der Faulenzer“. Rang: 8 Frank, Horst Joachim: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen—Basel: Francke, 1993^2. ISBN 3-8252-1732-9 (UTB). S 321–327.