EDGAR LOHNER: DIE LYRIK DES EXPRESSIONISMUS Was läßt sich über eine Epoche oder literarische Bewegung, vor allem über ihre Lyrik, sagen, die als Epoche oder Bewegung in der Literaturgeschichte, in Nachschlagewerken, kritischen Abhandlungen und Äußerungen so vieldeutig und auch widersprüchlich bestimmt wird wie die expressionistische? Wo sind die Kriterien zu suchen, um eine solche Periode in ihrer lyrischen Signifikanz in den Griff zu bekommen, wenn für ihr Verständnis, wie Paul Raabe mit Recht schreibt, «die unentbehrlichen bibliographischen und weitgehend auch die editorischen Vorarbeiten fehlen»? Immer wieder wird eine Fülle von Programmen, Manifesten, Dokumenten, die von revolutionären, antibürgerlichen, antikonventionellen Kräften Zeugnis ablegen, von Forschung und Kritik im Bemühen um eine Bestimmung dieser Epoche herangezogen, aber unkritischer ist wohl, das läßt sich vorwegnehmend sagen, noch keine literarische Bewegung analysiert worden. Was ist der Expressionismus? War er, wie Gottfried Benn 1962 rückblickend und ironisch bemerkt, «ein Konglomerat, eine Seeschlange, das Ungeheuer von Loch Ness, eine Art Ku-Klux-Klan» oder, wie Kasimir Edschmid 1920 meint, ein überzeitlicher Stiltyp, die Wiederkehr des Kunstwollens von Gotik, Barock und Romantik? Ist der Expressionismus ein zeitloses Phänomen echter Kunst, das «Assyrern, Persern, Griechen, der Gotik, Ägypten, den Primitiven, altdeutschen Malern» ebenso eignete wie Hölderlin und Novalis, wie Däubler oder Schickele in der Gegenwart, «das steilste Recken der deutschen Seele» seit Beginn der ersten, ursprünglichen Kunstäußerung? Der von Edschmid zum Ausdruck gebrachte enthusiastische Glaube, diese «geistige Wesensschau», welche die Möglichkeit formaler Charakterisierung der neuen Dichtung sehr beschränkt, bestimmt auch die Perspektive Max Deris. In einem Aufsatz über «Idealismus und Expressionismus» (1918) behauptet er, daß heute wieder so geschaffen werde wie in der hellenistischen Spätantike, wie in einem Teil der deutschen Renaissance um 1500, wie im Barock, Sturm und Drang, in der Romantik. Die «innerseelische Einstellung» beim schöpferischen Vorgang sei die gleiche. Expressionismus als Ausdruck eines bestimmten deutschen Seelentyps, der periodisch wiederkehrt, findet sich auch bei einem anderen repräsentativen Wortführer dieser Epoche, bei Kurt Pinthus. Auch er sieht, sich mehr auf die unmittelbare Gegenwart konzentrierend, schon 1914 in der programmatischen Ankündigung von Hasendevers Sohn den Expressionismus als die ausdruckgesteigerte Entladung seelischer Hochspannung. «Der Ausdruck der evolutionierten Seele springt, schreit, singt unmittelbar, nackt, direkt hervor», so heißt es im «Versuch eines zukünftigen Dramas»; er sei «eindringlichste Formung der Expression einer tragisch geschwollenen Seele». Die neue Dichtung soll, nach Pinthus, die äußere Wirklichkeit im intensivsten Ausdruck der inneren Vorstellung zur Realität des Geistes überhöhen. «Geist», «Seele», «deutsches Wesen» sind die bevorzugten Worte solcher Programmatik. Es haben sich darin ohne Zweifel Worringers,Wölfflins und Strichs Auffassungen von gotischer und barocker Kunst als Ausdruck nordisch-germanischen Kunstwollens niedergeschlagen. «Geist» oder «Wesen» finden angeblich ihren adäquaten Ausdruck in einer Kunst des «Transzendenzdranges» (Worringer), in einer «unendlichen Tendenz» (Strich). Die Frage, was denn dieser Geist oder das Wesen vor allem im Hinblick auf die künstlerischen Gebilde bedeute, wird von niemandem aufgeworfen. Zweifellos versteht Edschmid etwas anderes unter Geist als Pinthus, der diesen Begriff in seiner «Rede an junge Dichter» (1918) als «Bewegung des Bewußtseins zum Zwecke der Vervollkommnung» charakterisiert. Und wenn Paul Kornfeld vom Wesen des beseelten Menschen redet, dann meint er damit nicht das «voluntarisch Wesenhafte» des Aktivisten Hiller, der künstlerisches Wollen im Sinne eines neuen moralischen Verantwortungsbewußtseins des geistigen Menschen deutet. Die von emotionalen Impulsen, utopischen Hoffnungen und verschwommenem idealistischen Pathos heraufbeschworene Einheitlichkeit der Sicht unterscheidet sich von der Auffassung jener Dichter und Kritiker, die, gegen Ende des zweiten Jahrzehnts schon beträchtlich ernüchtert, diese Einheitlichkeit und Verbindlichkeit des Expressionismus leugnen. «Der Expressionismus stirbt», stellt 1921 Iwan Goll in einem Nekrolog auf die gescheiterte Reformbewegung des geistigen Lebens fest. Der gesamte Expressionismus sei keine künstlerische Form, sondern Name einer Gesinnung gewesen. Im gleichen Jahr schlägt Rudolf Kayser im «Prolog» zu seiner Anthologie junger Lyrik die Abschaffung des strittigen Begriffs vor. Er habe eine programmatische Gemeinschaft vorgetäuscht, die nicht vorhanden sei. «Im letzten Grunde gewannen wir ja keine neue Formidee, sondern im Zertrümmern der alten morsch gewordenen nur die menschlich-religiösen Voraussetzungen zurück, die das Zivilisationsjahrhundert uns geraubt hatte.» Für Heinrich E.Jacob ist die expressionistische Dichtung, vornehmlich die Lyrik seit 1910, ein Chaos, aus dem man keinen lügnerischen Kosmos bilden kann. Jacob hält das Wort Expressionismus für eine törichte Bezeichnung, da die einzelnen Dichter weder eine stilistische noch eine seelische Gemeinsamkeit besessen hätten. In fast allen Versuchen der Selbstdeutung innerhalb der expressionistischen Bewegung wird der Zugang zu den dichterischen Elementen dieser < Literaturrevolution > durch ethische, metaphysische und vage philosophische Vorstellungen verstellt. Eine wohltuende Ausnahme bildet die Kunstlehre des «Sturms», vornehmlich die Gedanken seines Herausgebers Herwarth Waiden. Ihm kommt ebenso wie Arno Schirokauers Aufsatz «Expressionismus in der Lyrik» das Verdienst zu, die künstlerisch-formalen Kräfte, die sich in der Bewegung bemerkbar machten, artikuliert zu haben. Freilich ist die Wortkunsttheorie Waldens, für die Kandinsky die Hauptquelle war, nicht neu. Im Grunde handelt es sich bei den poetologischen Prinzipien wie «Gestaltung», «Organismus», «Ganzheit» um Kunstanschauungen, die bereits der deutschen Klassik und Romantik vertraut waren. Hinsichtlich der zentralen Stellung des Rhythmus im Gedicht ist Waiden Arno Holz, in bezug auf die suggestive musikalische Wirkung des Wortes George und Mallarmé verpflichtet. Die von Waiden verkündete Funktion des sprachlichen Bildes als autonomen Ausdrucksträgers der dichterischen Einbildungskraft findet sich schon bei Baudelaire. Noch nicht untersucht ist die Übereinstimmung der Lehren des Initiators der angloamerikanischen Literaturrevolution, Ezra Pound, der sie 1912 unter Berufung auf die französischen Symbolisten und Kandinsky verkündete, mit den Prinzipien des Sturmkreises. Gleichviel, Waldens Versuch, eine dichterische Kunstwende herbeizuführen, scheiterte an der Trennung von Theorie und Praxis, die seine Zeitschrift in den späteren Jahrgängen kennzeichnete. Außerdem kann die Selbstdeutung einer historischen Epoche nicht als bindend für ihr Verständnis erachtet werden. Zeitgenössische Dokumente, Äußerungen und Programme sind bloße Hilfsmittel. Sie können uns Hinweise geben, Anregungen verschaffen, jedoch uns keinesfalls unsere eigene Methode vorschreiben. Es gilt aber zunächst noch zu untersuchen, wie die Forschung den historisch gewordenen literarischen < Expressionismus >, insbesondere die Lyrik, gesehen hat. Bei der Durchsicht der repräsentativen Literaturgeschichten, angefangen mit Albert Soergel, über Werner Mahrholz, Hans Naumann bis hin zu Oskar Walzel, fällt auf, daß diese Literaturhistoriker fast durchweg von der Vorstellung einer kontinuierlichen Abfolge einander polar entgegengesetzter Perioden der deutschen Literatur ausgehen. Trotz gelegentlicher Vorbehalte fassen sie alle das mit dem Begriff Expressionismus gekennzeichnete Phänomen unter geistesgeschichtlichen und stiltypologischen Kategorien als Einheit auf, rechnen es entweder einem romantisch-irrationalen Stiltyp zu oder betrachten es, wie zum Beispiel Naumann, als gesteigerte Neuromantik. Soergel mißt die neue Dichtung an ihrer Dynamik, «an dem Kraftstrom, der aus dunklen Urgründen fremd und leidenschaftlich hervorbricht, der ins Ziellose auszuschweifen, aus dem Chaos zu kommen, in ein Chaos zu münden scheint». Das Suchen nach neuen tragenden Grundkräften des seelischen, sittlichen, gesellschaftlichen Daseins finde, so schreibt Mahrholz, seinen Ausdruck im Expressionismus. Er sei die Offenbarung der Weltkrise auf allen Gebieten des Lebens. Mit einem an Kasimir Edschmid erinnernden Pathos preist Naumann den Expressionismus. Er sieht ihn als den Umschlag des naturalistischen Geistes in «das Innerliche, Geistige, Gütige, in die Ekstase des hingerissen mitschwingenden und lebendig gewordenen Herzens ... aus dem logisch Rationalen in das Irrationale und Alogische, aus dem Milieu in die Vision». Oskar Walzel meint, das «Mitleidsevangelium bleibe das Beste und Höchste expressionistischer Absichten», und legt damit, wie alle anderen, einen Maßstab an, der wenig geeignet ist, an die künstlerischen Erscheinungen dieser Dichtung heranzuführen. Nicht viel besser steht es mit der Mehrzahl der Spezialuntersuchungen. Der von Worringer und Coellen beeinflußte Ferdinand Josef Schneider möge als Beispiel genannt werden. Er geht von einem expressionistischen Menschentypus aus, der Nietzsches dionysischem Menschentypus verwandt ist. Expressionistische Lyrik wird als Niederschlag einer rauschhaft ekstatischen Erlebnisweise gekennzeichnet. «Wir wissen, daß sich im Schrei der expressive Mensch wie in der Ekstase und in der Brunst ein Ventil sucht für den bis zum Zerspringen überhitzten Dampfkessel seines Inneren.» Der kritische Ertrag all dieser Darstellungen ist gering. Der Begriffsapparat, mit dem die expressionistische Dichtung zu charakterisieren versucht wird, richtet sich nach der psychischen Befindlichkeit des Menschen, nach der Echtheit des Gefühls und der Aufrichtigkeit der Gesinnung, Begriffe, die völlig sinnlos sind, da zwischen der Echtheit des Gefühls und dem Kunstwerk keine Beziehung besteht. An solchen Kriterien gemessen, müßte die lyrische Dichtung Franz Werfels (1890-1945), dessen «genrehaften Wirklichkeitsbilder» in den Gedichtbänden Weltfreund und Wir sind heute längst ihre einstmalige Fas2ination verloren haben, als die vollkommene Erfüllung dessen gelten, was expressionistische Dichtung sein will. So ist es auch keineswegs erstaunlich, ja geradezu typisch, daß Werfel im Mittelpunkt der geschichtlichen Darstellungen dieser Zeit steht. In der Naumannschen Literaturgeschichte Vom Naturalismus zum Expressionismus (4. Auflage 1930) kommen zwölf Seiten auf Werfel, eine auf Heym, ein Absatz auf Trakl, ein Satz auf Stramm; Beim und andere werden beiläufig erwähnt. Die menschheitspsychologische und typologische Methode der Geisteswissenschaften feiert auch bei der Charakterisierung dieser Epoche Triumphe. «Transzendenzdrang», «Ekstase», «Bewegtheit» und «Überbewegtheit», «Übersteigerung des Ausdrucks», «strudelnde Inbrunst» und «Stimmungsgewalt», «endzeitliche Bedrängungen und Hoffnungen» sollen die psychische Befindlichkeit des «expressiven» Menschen oder Künstlers kennzeichnen, dem oft Verwandschaft zum «gotischen» oder «barocken» Menschen nachgesagt wird. In diesen Zusammenhang gehört auch die geistesgeschichtliche Konstruktion von der Ähnlichkeit des lyrischen Stils im 17. und im 20.Jahrhundert, so daß wiederholt von «barocker Ausdruckslyrik» gesprochen wird. Die Problematik dieser Beziehung und ihre Unhaltbarkeit hat kürzlich Gisela Luther in ihrer Arbeit über Expressionistische und barocke Bildlichkeit (1967) nachgewiesen. Es ist offensichtlich, daß mit solchen Kriterien und auf diesem Wege nur unbedeutende Einsichten in die künstlerische Eigenart der neuen Dichtung gewonnen werden konnten. So ist denn auch eine weitaus kritischere Einstellung gegenüber dem ganzen Phänomen des Expressionismus bezeichnend für die Forschung der letzten zwanzig Jahre. Werner Milch sieht den Expressionismus «in seiner eigentlichen und sichtbaren Form mit ästhetischen Kategorien gemessen [als] eine Erscheinung zweiter Ordnung». Die Mehrzahl der Dichter der expressionistischen Periode sind für ihn «unmusikalisch, humorlos, fanatisch» und «monomanisch auf ein paar Gedanken gerichtet». In einem Vergleich mit der Dichtung der romanischen Länder kommt Milch zu dem heute allerdings fraglichen Schluß, daß die Lyrik des Expressionismus mit jener nichts gemein habe. Die Dichtung der romanischen Länder, vornehmlich die futuristische und surrealistische, nehme die Idee der Form in vollem Ernst auf, «während die deutsche Entwicklung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus Gründen der gefühlsmäßig empfundenen Wahrheit sich zur Formlosigkeit hinentwickelt» habe. Auch Fritz Martini ist 1956 der Ansicht, daß der Begriff Expressionismus nicht mehr ausreiche, «um das Eigene und Besondere zu fassen, das sich in dieser Dichtung dieser Jahre auszeichnet». Er sieht sie nicht mehr isoliert als nationales Phänomen, sondern stellt sie in den Zusammenhang europäischer und außereuropäischer Literaturen. Immer öfter wird nun auf Grund stilkritischer und philologischer Kleinarbeit die Lyrik dieser Zeit aus der isolierten Periodenauffassung herausgelöst und ihr ein sinnvoller Ort innerhalb der modernen künstlerischen Entwicklung zugewiesen. Die Dichtung selber, das einzelne Gedicht tritt in den Mittelpunkt literarischen Interesses. Das Schwergewicht der neuen Forschung liegt nun, und mit Recht, auf dem Gebiet der Einzeluntersuchungen, auf der Erforschung von Bild und Metapher (Karl Ludwig Schneider) und im Bereich der Komparatistik. Schon 1954 stellte Walter Höllerer in einem Aufsatz in den «Akzenten» die in der Menschheitsdämmerung versammelten Lyriker in den größeren Zusammenhang der modernen lyrischen Entwicklung, die für ihn mit Whitmans Leaves of Grass (1855) und Baudelaires Fleurs du Mal (1857) einsetzt. Der Schwerpunkt liegt aber auch auf der Grundlagenforschung, auf textkritischen Editionen, wie sie K. L. Schneider, Dieter Wellershoff und andere unternahmen, und auf Erschließung des gesamten Materials, worum sich Paul Raabe seit Jahren bemüht hat. Dadurch wurden erst Voraussetzungen für das Verständnis dieser Lyrik geschaffen. Die geistes- und nationalgeschichtliche Betrachtung sowie das höchst fragwürdige Prinzip der «wechselseitigen Erhellung der Künste» tritt mehr und mehr zurück. Die früheren Deutungsversuche werden, da sie selten bei literarischen Phänomenen selbst ansetzten, als methodisch fragwürdig erkannt, da sie die Sachverhalte dilettantisch vernebeln. Eine Folge dieser neuen Betrachtungsweise ist, daß die Versuche einer Bestimmung des Epochenbegriffs vorerst notwendigerweise in der Resignation enden. Der Epochenbegriff des Expressionismus kann nur noch, wie bei Richard Brinkmann, in seiner pragmatischen Funktion synthetisch, als literarhistorischer Ordnungsbegriff in all seiner Fragwürdigkeit beibehalten werden. Man müsse sich entschließen, so schreibt Hugo Friedrich 1956 in seinem für die deutsche literarische Kritik entscheidenden Buch Die Struktur der modernen Lyrik, die üblichen Klassifikationen beiseite zu lassen, mit deren Hilfe Kritik und Literaturwissenschaft die europäische Lyrik der letzten hundert Jahre unterteilten. Erst dann werde die Sicht frei für die Struktureinheit der modernen europäischen Lyrik. Auf wie wenig fruchtbaren Boden die Ansätze dieses Buches bei einigen Ewiggestrigen fielen, zeigt der jüngst erschienene, methodisch unausgewogene 5. Band von Bruno Marquardts Geschichte der deutschen Poetik. Eine streng poetologische Fragestellung wird dort vermieden. Man sucht vergebens nach einer gründlichen Analyse theoretischer Schriften. Die deutsche Lyrik des 2o.Jahrhunderts, die expressionistische einbegriffen, existiert und entwickelt sich hier ohne Bezug nach außen isoliert im nationalen Raum. Baudelaire und Mallarmé sind nur einmal bei der Erörterung sekundären Schrifttums, Rimbaud und Valéry überhaupt nicht erwähnt. Hinweise auf die Theorien der Futuristen und Surrealisten fehlen völlig. Einsichten in die spezielle Problematik der lyrischen Dichtung unseres Jahrhunderts, in die Gemeinsamkeit des sprachlichen Verhaltens, der Bildlichkeit, der Struktur werden nicht vermittelt. Im Grunde handelt es sich hier um die nicht mehr überzeugende Wiederanwendung alter Klischeevorstellungen, so daß dieses Werk schon bei seinem Erscheinen überholt und unbrauchbar ist. Hugo Friedrich öffnete, so möchte man sagen, den Blick für eine angemessene, vergleichende Bewertung auch dieser Lyrik. Sein Verdienst bleibt, die schöpferischen und poetologischen Bemühungen der modernen Lyriker aus den isolierten Periodenfassungen, den Klassifizierungen und stilistischen Richtungen herausgelöst und die Dichter, trotz der jeweiligen individuellen Unterschiede, auf das Phänomen der Sprache zurückgeführt zu haben. Von hier aus scheint eine Beurteilung und Neubewertung überhaupt erst sinnvoll. Das Künstlertum des modernen Dichters, so schreibt Friedrich, «kommt in der gegenständlichen, gegenwärtigen, geschichtlichen Wirklichkeit so wenig mehr zur Ruhe wie in der echten Transzendenz. Darum ist sein dichterisches Reich die von ihm selbst erschaffene irreale Welt, die nur kraft des Wortes existiert.» Der moderne Dichter sei allein mit der Sprache, aber die Sprache allein rette ihn auch. Es scheint angemessen, aus dieser Perspektive und unter den gleichen Voraussetzungen, nämlich aus der in der lyrischen Sprache sich offenbarenden Dissonanz zwischen Wirklichkeit und Idealität, zwischen Wollen und Können des dichterischen Ausdrucks auch die sogenannte expressionistische Lyrik aufzufassen. Das heißt, diese vorwiegend auf das Phänomen der Sprache reduzierte Lyrik, die sich jeder scheinbaren anderen Ordnung und jedes anderen Zusammenhanges begibt, gleichsam als einen deutschen Kristallisationspunkt jener seit der Romantik auftretenden Sprachproblematik zu sehen. Jenseits der heute nicht mehr überzeugenden reinlichen Differenzierung von Bewegung und Gegenbewegung werden sich wohl in der Sprache selber, in Rhythmus, Klang und Bildhaftigkeit die wesentlichen semantischen und strukturellen Phänomene, auch ihre Einheitlichkeit feststellen lassen. Dies gilt besonders für jene Dichter der Zeit, die gleichberechtigt neben den europäischen und außereuropäischen Dichtern stehen. So wird also im folgenden weder von malerischer oder sachlicher expressionistischer Lyrik gesprochen, noch von barocker, romantischer, surrealistischer, kubistischer, politischer und aktivistischer Lyrik, noch von einer Phase des Früh-, Hoch- oder Spätexpressionismus die Rede sein. Die Simplizität solcher Bezeichnungen wirkt verführerisch und gibt fälschlicherweise dieser Dichtung den Anschein der Einheit in Theorie und Praxis. Der Einfluß, den Politik und gesellschaftliches Geschehen auf diese Lyriker ausübten, ist zwar wichtig; doch es ist andrerseits sehr fraglich, ob diese Zeit als völlig auf politischen Strömungen begründet gesehen werden kann. Das bedeutet aber - und dies muß einmal gegen alle erneuten, aber vergeblichen Aufwertungsversuche deutlich gesagt werden -, jene Züge auszuschalten, die sich nicht in erster Linie auf den künstlerischen Gestaltungsprozeß, auf die Sprache und ihre Struktur auswirken, also das Programmatische, das Pathos der Weltverbesserung, jene Züge, die sich im «Sturz», «Schrei», in der «Empörung» äußern. Kurz all das, was schon Höllerer als «Relikte des Pathos hohen Stils oder im Thema als zeitgebunden» bezeichnete. Ich denke beispielsweise an Gedichte von Ludwig Rubiner (1881-1920), Paul Zech (1881-1946), Karl Otten (1889-1963), Ernst Toller (1893-1939) oder Walter Hasenclever (1890-1940). Diese Lyriker, die gewiß ihre Verdienste als Übersetzer, Herausgeber oder auch vielleicht, wie Hasenclever, in anderen Gattungen haben mögen, sind kaum mehr von Interesse, und zwar nicht, weil sie sich als politische Stürmer und Dränger, als belanglose Revolutionäre erwiesen, sondern weil ihnen das gemeinsame, in pathetischer Unklarheit formulierte Streben und Wirken, das sich auf die vage Erkenntnis der gesellschaftlich-politischen Struktur des Lebens und der Menschheit richtete, in ihrer Lyrik immer ins plakativ Politische, ins Phrasenhafte und Triviale abgleitet. Man lese die folgenden Verse aus Rubiners Gedicht «Die Stimme»: ... O Münder, daraus die Stimme des Menschen brennt! O trockene Lippen, sechzigjährig, trauernd schlaff umstoppelt, die sich flach öffnen, weil vor dem Tod Einer bekennt. O irre rote Zungenglut hinter weißen Negerzähnen, die Stimme gurgelt im Glücksgesang. O Mund, rundes schallendes Tor, Hall und Lust, Volkschoral, daß der Saal mitschwang. O bitterer Nähmädchenmund, der nach Gerechtigkeit klagt und schrill Groschen und Wiegpfunde zählt. O faltiger Rednermund, der auf und nieder wie Eulenaug geht, und Effekte wählt. O Mann im blauen Hemd, der in Fabrikpausen hastig Propaganda treibt. O sorgfältiger Beamter, der nach allen Poststationen Briefe und Werbelisten schreibt. O Demütiger, verlegenes Herz, der nur einmal einem Guten die Hand drücken mocht. O Stummer, der zum erstenmal spricht, und in einem Satz sich prasselnd verkocht. Eine Stimme flammt über Europas gehetzten Menschen über krummen schweigsamen Kulis im Australischen Strauch. O Münder, wie viele warten auf Euch, Ihr schallt, und sie öffnen sich auch! oder diese aus Karl Ottens Gedicht «Für Martinet»: ... Zwei drei Jahre - aber das wird nicht gehen - man läßt alles laufen. Ich krieche mit allen anderen, so muß es sein, daß wir alle kriechen Wir können nicht mehr viel sagen, Bruder. Auf allen Plätzen, Gassen lungern Tote, In allen Häusern Barrikaden von Toten, Alle Flüsse verstopft von Toten, Am Himmel wie Wandervogelschwärme dahinsegelnd Unter den Blutwolken - Tote. O daß es nie Abend würde oder Morgen! Vielfältige Menge blasser Skelette aus den Schaufenstern und Trambahnen, Den Kaffeehausgärten, den Parks und Kirchen, die überfüllt sind von Trostlosen. Aus Kellerluken, Kanalgittern gattern magere Arme, entern nach deinen Beinen. Du trittst in die leere Kammer: Da sitzen drei oder sechs oder zwanzig (aufeinander) und wühlen in deinen Büchern Sie verachten dich und zeigen mit Schwärenfingern auf dich: du! du! Wie solche Zeilen zu ihrer Zeit aufgenommen wurden, dafür möge stellvertretend als kritische Stimme die von Max Herrmann stehen, der beim Erscheinen von Rubiners Gedichtband Das himmlische Licht (1916) zum Ausdruck brachte: «Die zehn Psalmen Ludwig Rubiners, Rhapsoden einer Ilias aufstürmenden Endschlacht zum bleibenden Glück, wehen vom Winde Walt Whitmans umarmt, schleudern mit der Schwungkraft des eigenen Umwälzungswillen die Fahne verpflichtender Ewigkeitsforderung in jener universumsweiten Sphäre, die ihrer wesenswürdigen Gewandung gebührenden Anteil an der Unauslöschlichkeit für Äonen verbürgt, dies ist ein vulkanischer Aufruf, Aufschrei, unersticklich, unverschweigbar, Herold und heldischer Helfer zu sein dem Gotte, der sich zu uns herniedergräbt...» An der Kunst, am Gedicht, war diesen Dichtern wenig gelegen. Der Begriff des Künstlers ist nach Rubiner «ein hochmütiger Vergangenheitsirrtum des individualistischen Schlafrockkünstlertums». So wird die in Verse gefaßte Sprache zum Vehikel von Themen und Ideologien degradiert. Der beschwörende Aufruf zum Handeln, das sentenzenhafte Pathos, das naiv-politische Sendungsbewußtsein, das Deklamatorische in den ermüdenden Langzeilen oder in den trivialen Kurzformen, der ekstatisch-hymnische oder sentimentale Ton, der fast aus jeder Strophe, jedem Gedicht dieser Autoren spricht, entgeht der Gefahr der bloß rhetorischen Themenbehandlung selten. All das mag für historische und soziologische Studien, die das literarische Leben der Epoche untersuchen, interessant sein. Betrachtet man diese Lyrik aber vom Gesichtspunkt des Dichterischen, so geht man mit leeren Händen davon, da sie bewußte Gestaltung, Ökonomie der Sprache oder neue Kompositionsmittel vermissen läßt. Welche Wirkung sich jedoch mittels der Langzeile erreichen läßt, in differenzierterer Weise und in überzeugenderer sprachlicher Form als bei Rubiner, Otten oder Werfel, das zeigen manche Gedichte Ernst Stadlers (1883-1914). Auch er erlebte intensiv das Chaotische der Epoche. In einer Besprechung von Sternheims Dramen spricht er vom «Zusammenstürzen noch eben gültiger Überlieferungen», vom «Anarchismus aller Werte», vom «Ziellosen, Untergeordneten, durch keine Gemeinsamkeit mehr Geregelten» und von Worten, die zur Leblosigkeit entarten, weil keine Realität mehr hinter ihnen stehe. Das Gedicht «Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht» (1913) ist bekannt und wiederholt gedeutet worden. Seinen nahezu klassischen Bau hat Werner Kohlschmidt überzeugend und aufschlußreich nachgewiesen. Es gibt andere, in denen Bescheidung, Erschütterung oder Aufgeschlossenheit gegenüber dem Leben, jenseits von Pathos, Sensation und programmatischen Parolen sprachlich heute noch nachhaltiger wirken als irgendein Gedicht der politischen Aktivisten. Ich denke zum Beispiel an das Gedicht«Ende» (1913), auf dessen Bedeutung K.L.Schneider aufmerksam machte; dann «Gang in der Nacht» (1913)) «Irrenhaus» (1914) oder das hier angeführte Gedicht «Heimkehr» (1913): Die Letzten, die am Weg die Lust verschmäht, entleert aus allen Gassen der Stadt. In Not und Frost gepaart, Da die Laternen schon in schmutzigem Licht verdämmern, Geht stumm ihr Zug zum Norden, wo aus lichtdurchsungenen Hallen Die Schienenstränge Welt und Schicksal über Winkelqueren hämmern. Tag läßt die scharfen Morgenwinde los. Auffröstelnd raffen Sie ihre Röcke enger. Regen fällt in Fäden, kaltes graues Licht Entblößt den Trug der Nacht. Geschminkte Wangen klaffen Wie giftige Wunden über eingesunkenem Gesicht. Kein Wort. Die Masken brechen. Lust und Gier sind tot. Nun schleppen Sie ihren Leib wie eine ekle Last in arme Schenken Und kauern regungslos im Kaffeedunst, der über Kellertreppen Aufsteigt - wie Geister, die das Taglicht angefallen - auf den Bänken. Auf Grund welcher Kriterien läßt sich nun die lyrische Dichtung dieser Zeit bestimmen? Sie läßt sich zwar, wie das des öfteren geschehen ist, thematisch in Arbeiter- und Kriegsdichtung, in revolutionäre und religiöse Lyrik einteilen, oder wie bei Kurt Pinthus in seiner Menschheitsdämmerung in «Sturz und Schrei», «Erweckung des Herzens», «Aufruf und Empörung» und «Liebe den Menschen»; doch was ist damit für ihre Bestimmung gewonnen? Diese Thematik gab es in früheren Epochen ebenso wie bei zeitgenössischen Dichtern, die, wie beispielsweise Dehmel, Mombert, Rilke, Brecht, nicht dem Expressionismus zugerechnet werden. Auch scheint es in diesem Zusammennhang angemessen zu fragen, ob nicht bei der Bewertung der Lyrik dieser Jahrzehnte die aufregenden Leistungen der bildenden Künste, des Theaters und der radikale Lärm politischer Programme den urteilenden Blick der Kritiker trübten, sie veranlaßten, die Akzente zu verschieben. Denn es ist doch auffallend, daß Dichter wie Heym, Trakl, Benn, Stramm, Lichtenstein und Else Lasker-Schüler nicht zu «Kameraden der Menschheit» wurden, sich merkwürdig lautlos gaben und von dem auf der Agora sich abspielenden Getriebe kaum berührt wurden. Aus den spärlichen theoretischen Äußerungen dieser Dichter lassen sich wenig Erkenntnisse gewinnen, die eine Gemeinsamkeit des Stils, die Einheitlichkeit des poetischen Denkens in dieser stilpluralistischen Periode verbürgten. Gestehen wir es uns ruhig ein: Die wenigsten unter ihnen dachten poetologisch, wollten oder konnten es auch nicht. Verglichen mit den selbst in fragmentarischen Poetologien enthaltenen Gedanken europäischer Dichter wie Pound, Eliot, Yeats, Valéry, um nur einige zu nennen, fallen die Überlegungen dieser Dichter kaum ins Gewicht. In seinem Artikel «Substantiv und Verbum, Notizen zu einer Poetik» («Die Aktion», 6Januar 1917) lehnt Franz Werfel, der gefeierte Dichter der Menschheitsverkündung, den Vorrang des Substantivs ab und meint, das Verbum sei in der Poesie der Träger der Betonung, der Träger der Leidenschaft und der Tat. Vier Jahre später plädiert Gottfried Benn (1886-1956) in seinem Epilog zu den Gesammelten Schriften für das Substantiv; die 1951 so sehr beachteten Sätze Benns über die für das lyrische Ich von der Sprache ausgehende Faszination werden hier bereits ausgesprochen. Diese Faszination «gilt dem Wort, ganz besonders dem Substantiv, weniger dem Adjektiv, kaum der verbalen Figur ...Worte, Worte - Substantive! Sie brauchen nur ihre Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug». Johannes R. Becher verkündet seine «Neue Syntax» in Versen, in denen es heißt: «Die Adjektiv-bengalischen Schmetterlinge / Sie kreisen tönend um des Substantivs erhabenen Quaderbau ...» Theodor Däubler fordert im Neuen Standpunkt ein «im Rhythmus festgesetztes Hauptwort ohne Attribut». Edschmid dagegen spricht von der zentralen Stellung des ausdruckshaften Adjektivs. Weitere Aussagen ließen sich anfügen. Mit diesen Hinweisen sei nur deutlich gemacht, daß es nicht möglich ist, die sogenannte expressionistische Dichtung auf einen einheitlichen stilistischen Nenner zu bringen. In der dichterischen Praxis sieht es nicht anders aus. Was hat ein von Sentimentalität getränktes Gedicht von Franz Werfel mit den sprachzertrümmernden Versen August Stramms gemein? Wo liegt die Beziehung zwischen Johannes R. Becher und Georg Trakl, zwischen Gottfried Benn und Lichtenstein oder zwischen Georg Heym und Else Lasker-Schüler? Die Diskrepanz und Unvergleichbarkeit, die zwischen den Werken des einen und anderen Dichters herrscht, ist mehrfach auch zwischen den einzelnen Schöpfungen desselben Dichters, ja innerhalb ein und desselben Gedichts zu beobachten, so daß zum Beispiel Gottfried Benn in seiner Einleitung zur Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts bei einigen seiner Gedichte fragen kann: «Wieso expressionistisch?» Wo sind also die hermeneutischen Begriffe zu suchen, die zur Bestimmung dieser Dichtung als einheitlich expressionistischer Dichtung dienen könnten? Wie aus dem Gesagten hervorgeht, suchen wir sie in den bisherigen Darstellungen dieser Lyrik vergeblich. In einem vor mehr als zehn Jahren geschriebenen Aufsatz über expressionistische Lyrik versuchte ich etwas naiv das Besondere dieses Phänomens vom Wort und vom Ausdruck her zu deuten. Mit solchen keineswegs klar bestimmten Begriffen, mit Bezeichnungen wie «expressives Wollen» oder «Autonomie des Wortes» bemühte ich mich darum, das künstlerische Bemühen einiger der hier zur Diskussion stehenden Dichter zu kennzeichnen. In diesem Zusammenhang zitierte ich fragmentarische Äußerungen Bechers, Benns und Barlachs, behauptete, daß asyntaktische Wortkunst, die Beschäftigung mit assoziativen Verdichtungen, die ins Wort eingehen und von ihm auf den Leser ausgestrahlt werden, in das Eigentümliche der Ausdruckskunst führten. Die damals von mir vertretenen Ansichten erscheinen mir heute nur bedingt richtig. Denn auch vom Wort oder Ausdruck her ist diese Lyrik als expressionistisch nicht zu fassen. Was heißt überhaupt Ausdruck? Dient er der Kommunikation, der Mitteilung an andere, oder dem Verstehen des eigenen Selbst? Bedeutet er Entfaltung des Selbst oder Verwirklichung der Welt oder gar beides zusammen? Und was ist das Verhältnis des Ausdrucks zum Wort, Begriff, zum Realen schlechthin? Über diesen Begriff herrschte damals noch weniger Klarheit als heute. Gebraucht man ihn aber so, wie ich ihn früher unkritisch anwandte, nämlich als ein das künstlerische Streben dieser Dichter kennzeichnendes Phänomen, dann drängt sich einem doch der Gedanke auf, ob es je Dichter gegeben habe, denen ein solches Streben nicht innewohnte. Auch eine auf die ausschließliche Funktion des Wortes gegründete Dichtungstheorie genügt nicht zur Bestimmung der expressionistischen Lyrik. Die Bildfunktion des Wortes, sein Klang und Rhythmus, das Minimum an sprachlichem Aufwand, die poetischen Merkmale der Synästhesie und Simultaneität, der vielzitierte monologische Charakter des Gedichts - diese Merkmale finden sich auch bei Dichtern, die nicht dem Expressionismus zugerechnet werden, bei Rilke und Hofmannsthal zum Beispiel oder bei Thomas Hardy und Eliot, Jiménez und Guillén, bei Valéry und Eluard. Der Versuch, die expressionistische Lyrik auf Grund theoretischer, stilistischer Kriterien zu erklären, auf Grund von Begriffen wie Ausdruck oder Autonomie des Wortes, erweist sich als undurchführbar. Wir wissen heute, daß fast jedes Stilmittel in fast jeder Epoche vorkommen kann und daß einige, die für die Expressionisten als typisch gelten, sich zur gleichen Zeit bei nicht-expressionistischen Dichtern finden. Ich möchte daher behaupten, daß die Bestimmungsmerkmale jenseits nationaler Eigentümlichkeiten als gesamteuropäische Erscheinungen in einem übernationalen Raum zu suchen sind. Ich meine jenen von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé begründeten Bereich des (modernen) Lyrischen, in dem bis zum Expressionismus und über ihn hinaus bis in die unmittelbare Gegenwart eine Kontinuität sich abzuzeichnen beginnt, die über den einzelnen Dichter hinweg, ihn aber auch - ob ihm bewußt oder nicht -miteinbegreifend, weiterwirkt. Es ist jener Bereich, den Hugo Friedrich mit Kategorien wie didaktische Phantasie, Dissonanz, Inkohärenz, Entpersönlichung, Obskuritas und so weiter zu beschreiben versucht, - Begriffe, die in Ermangelung besserer das Gesamtgefüge dieser Dichtung vorerst am einleuchtendsten charakterisieren. Was diese moderne Lyrik, zu der auch die qualifizierten Dichter der < expressionistischen > Periode gehören, vor allem auszeichnet, ist die allein auf die Sprache angewiesene Funktion der Einbildungskraft. Vom Prinzip der alles dominierenden Einbildungskraft aus müßte es möglich sein, das Neuartige dieser Lyrik in den Griff zu bekommen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge jedoch, der die nötigen detaillierten Vorarbeiten vermissen läßt, darf man nicht erwarten, daß im Rahmen eines Aufsatzes, gleichsam im Vorbeigehen, auch nur der Versuch einer Systematik gemacht werden kann. Eine Analyse der dichterischen Einbildungskraft, die in der modernen Lyrik die Herrschaft anzutreten scheint über alle sinnlichen und geistigen Vermögen des Dichters, eine Untersuchung der Voraussetzungen dieser Herrschaft und ihrer sich im Sprachlichen offenbarenden Folgen, müßte Antwort geben auf das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit, auf all die neuen Aspekte der modernen Lyrik, die mit Kategorien wie Deformation, Groteskem, Absurdität, autarker Symbolik, Alogischem und so weiter bisher beschrieben wurde. Ein solches Vorgehen müßte auch Auskunft geben über die Merkmale, die die klassische Lyrik von der modernen unterscheidet. Die vielfältigen und disparaten Elemente, die sich aus dem singulären und solitären Verhalten des modernen Dichters ergeben, nämlich den Verlust des Glaubens an eine in der Transzendenz gesicherte Ordnung, die Bodenlosigkeit, die Leere und den immer wieder zitierten Verlust der Wirklichkeit, würde man bei der Analyse des bedeutungsvollen Begriffs der Einbildungskraft erfassen können. Innerhalb eines nicht mehr gegebenen allgemeinverständlichen und allgemeinverbindlichen Sinngefüges, das wissen wir heute, ist der moderne Dichter vorwiegend auf die Sprache angewiesen. Sie steht ihm als Alltagssprache, als wissenschaftliche und als literarische, mit Tradition befrachtete Sprache zur Verfügung. Diese Sprache ist das Material, mit und an dem der Dichter arbeiten muß. Sein Verhältnis zu ihr ist zwiefach: advers und heuristisch. Advers deshalb, weil die im Gebrauchscharakter der Sprache enthaltene Interpretation der wirklichen Dinge und Begebenheiten der geschärften Sensibilität des modernen Dichters den Zugang zur Welt verstellt; denn die Deutung der Welt ist bereits durch das Wort, durch «die schwarze Letter», also durch etwas schon vom Geist Geprägtes vorfiltriert. «Diese meine Sprache», so schreibt Gottfried Benn, «meine deutsche Sprache steht mir zur Verfügung. Diese Sprache mit ihrer Jahrhunderte alten Tradition, ihren von lyrischen Vorgängern geprägten sinn- und stimmungsgeschwängerten seltsam beladenen Worten. Aber auch die Slang-Ausdrücke, Argots, Rotwelsch, von zwei Weltkriegen in das Sprachbewußtsein hineingehämmert, ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen sind in meinem Besitz.» Heuristisch aber ist des Dichters Verhältnis zur Sprache, weil neben der Filtrierung überkommener Vorstellungen und Urteile, neben dem Festgehaltenen und Benannten die Sprache als Sprache eine «energische», also eine im ursprünglichen Sinne dieses Wortes tatkräftige und fruchtbringende Qualität besitzt. Diese ermöglicht es der schöpferischen Einbildungskraft, sie als exploratives Instrument zu benutzen, aber nicht zur Erfassung einer Transzendenz, sondern, in leichtem oder ernsthaft-gewichtigem Spiel, um des Faszinierenden und Wunderbaren der Sprache selber willen. Durch die heuristisch-tätige, sich erinnernde und erfindende Kraft der Einbildung werden der Sprache Welten entlockt, traumhafte, irreale, in äußerster Subjektivität erfahrene Welten, die ihr bisher noch nicht innewohnten. Sie können der Entsprechung zu einer objektiv gegebenen Wirklichkeit entraten und existieren als solche nur im Gedicht. Die Zeilen eines Gedichts von Gottfried Benn sagen es: Die Dinge dringen kalt in die Gesichte und reißen sich der alten Bindung fort, es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte die Dinge mystisch bannen durch das Wort. Der moderne, also auch der gibt die von ihm gemeinte Begebenheit in einer perspektivischen Verzerrung wieder, welche die Kluft verdeutlicht, die zwischen und Begebenheit besteht. Dadurch, daß Lichtenstein seinen optischen Eindruck nicht mit seinen Erinnerungsbildern in Einklang bringt, sondern den Verlauf eines normal-organischen Gesetzes verkehrt, erzielt er die groteske Wirkung, die in dem bekannten Gedicht «Die Dämmerung» (1913) noch auffälliger ist. Der Dichter will also nicht eine als real deutbare Sphäre der Wirklichkeit wiedergeben, sondern die räumlichen Trennungen zugunsten einer «ideelichen» Wirklichkeit des Gedichts beseitigen. Seine Absicht ist, in Lichtensteins eigener Formulierung, «die Reflexe der Dinge unmittelbar ohne überflüssige Reflexion aufzunehmen». Lichtenstein weiß, daß der Leichenwagen nicht weich wie ein Wurm ist oder, wie im Gedicht «Die Dämmerung», daß der Mann nicht am Fenster klebt. Für seine Art des Sehens aber wäre es lyrisch unwahr, wenn er schriebe: ein Mann steht hinter einem Fenster. So werden die Bilder zur Funktion nicht eines Gegenstandes, sondern einer höchst subjektiven Einbildungskraft. Lichtensteins Kompromißlosigkeit des Sehens - « zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen» lernt - führt zur Kompromißlosigkeit des lyrischen Gedichts. In diesem Sinn übertrifft dieser Dichter trotz des geringen Umfanges seiner lyrischen Produktion formal und sprachlich sein Vorbild Jakob van Hoddis. Er steht auch über jenen anderen Dichtern seiner Generation wie Wilhelm Klemm (1881-1968), dem naturverbundenen, oft an Hans Carossa anklingenden Gottfried Kölwel (1889-1958) und dem verbitterten, sarkastischen, an Hölderlin geschulten Albert Ehrenstein (1886-1950), die ähnliches versuchten, deren artistische Begabung aber für diese Versuche meist nicht ausreichte. Alfred Lichtenstein fiel im September 1914. Ein Jahr später fiel August Stramm (1874-1915), der Freund Herwarth Waldens und die konsequenteste Begabung, wohl auch die einzige dichterische, die vom Sturmkreis als solche gefeiert wurde. Seine Wortexperimente, der Verzicht auf Interpunktion, die grammatischen Neuerungen erinnern vielfach an die Neuerungen von E.E. Cummings (1894-1962), dessen Gedichte allerdings, indem sie den Wert des individuellen Wortes und der Zeile betonen, anmutiger, eleganter und gekonnter wirken. Die theoretischen Äußerungen Waldens, Kandinskys und Marinettis sind bei Stramm in die Praxis umgesetzt. Wenn Herwarth Walden schreibt, es sei Kunst, das sichtbare Wort sichtbar oder wieder sichtbar zu machen, das Wort habe weder mit der Stimmung noch mit der Persönlichkeit etwas zu tun, das Wort beherrsche die Dichter, so scheint das auf die grotesken und pantomimischen Gedichte Stramms ebenso zuzutreffen wie Kandinskys Behauptung, das Wort sei das Material der Dichtung. In manchen Gedichten Stramms sind grammatische Formen zerstört, und die herkömmliche Syntax ist aufgelöst. Das einzelne Wort scheint Ausgangspunkt des Gedichts zu sein: Freudenhaus Lichte dirnen aus den Fenstern die Seuche spreitet an der Tür und bietet Weiberstöhnen aus! Frauenseelen schämen grelle Lache! Mutterschöße gähnen Kindestod! Ungeborenes geistet dünstelnd durch die Räume! Scheu im Winkel schamzerpört verkriecht sich das Geschlecht! In diesem Gedicht, aber auch in anderen wie «Schwermut», «Abendgang», «Patrouille», «Verzweifelt» wird die Tendenz deutlich, daß der Dichter nicht mehr beschreibend Aussagen über Gegenstände und Erlebnisse macht, nicht mehr die Dinge benennt, sondern unmittelbar in und durch die Sprache und ohne Rücksicht auf überkommene Sprachformen eine neue Wirklichkeit schafft. Dies zeigt sich im Ignorieren der traditionellen Deklinations- und Flexionsformen ebenso wie in der Neuprägung von Worten. Mit dem einzelnen Wort in seiner bildhaften rhythmischen und klanglichen Gestalt wird von Stramm lyrische Kunst gemacht. Das Hauptwort «Dirnen» wird zum flektierten Zeitwort, durch das Zusammenschmelzen zweier Zeitwörter (spreizen und schreiten) entsteht «spreiten», «schämen» scheint stilistisch ausdrucksvoller und konzentrierter als sich schämen. Das gleiche gilt von «geistet», das mehr sagt als geistert. «Schamzerpört» scheint dem Dichter ausdrucksmächtiger als schamzerstört, um «das Zerwühlende der Erregung auszudrücken». «Scham und Empörung ringen miteinander, und die Scham zerdrückt», sagt Stramm in einem Brief an Waiden, und fährt fort: «Außerdem liegt das Wesen des Wortes < empören > meinem Gefühl nach nicht in dem , das höchstens für die Wortlehre Bedeutung hat, für das Gefühl liegt der Begriff des aber lediglich in dem oder vielmehr einfach vollständig in der einen Lautverbindung . Laß übrigens die beiden Striche darüber fort und der ganze Begriff stürzt zusammen! Deshalb halte ich schamzerpört hier für das einzige alles-sagende Wort.» Der Konzentration dienen ferner Komposita, präfixlose Zeitwörter, die Umformung von Präsenspartizipien in zweisilbige attributive Adjektive (wie zum Beispiel« die schlafe Erde» im Gedicht« Abendgang» oder «der keuche Tod» im Gedicht «Sturmangriff»). So versucht Stramm das Volumen des Wortes durch Neubildung zu vergrößern, mit neuen Bedeutungen anzufüllen, die oft die Grenze des Fassungsvermögens erreichen. Das Wort, sein Bildgehalt, seine Bildfunktion, Klang und Rhythmus sind aus den vorgegebenen grammatischen und syntaktischen Sprachzusammenhängen herausgelöst, beruhen nur in sich selber und sind zum Affektzentrum des jeweiligen Gedichts in Beziehung gesetzt. Mit einem Minimum an sprachlichen Aufwand und Dingbezogenheit wird diese nicht immer überzeugende Methode angewandt, um ein Maximum an Bedeutung zu erzielen. Diese poetae minores der Epoche, zu denen auch Alfred Wolfenstein (1881-1945), der vernachlässigte, in der Nachfolge Heyms stehende Armin T. Wegner (1886), Ernst Wilhelm Lotz (1890-1914) und Ernst Blass (1890-1939) gehören, wurden deshalb ausführlicher behandelt, weil sich in ihren Gedichten, allerdings in geringerem Maße, jene künstlerischen Phänomene zeigen, welche im Werk der bedeutenden Dichter dieser Zeit formal und sprachlich in solcher Vollendung vorhanden sind, daß ihre Lyrik heute zum Bestand der deutschen, wenn nicht der europäischen Dichtung gehört. Dies gilt wohl weniger für die nicht vom Formalen, sondern vorwiegend vom Gefühl her konzipierten, improvisatorisch geschaffenen Gedichte der Else Lasker-Schüler. Es gilt jedoch für die Lyrik Golls, Heyms, Trakls und Benns. Neben Nietzsche, Rilke, George und Hofmannsthal haben bei ihnen Mühsal und Glanz moderner Dichtung in deutscher Sprache eine überzeugende Verwirklichung erfahren. Das kritische Urteil über den Wert ihrer Dichtungen, wie verschieden sie auch sprachlich und thematisch angelegt sind, hat sich in den letzten Jahren gefestigt. Um ihnen jedoch gerecht zu werden, brauchte es mehr Raum, als ihnen im Rahmen dieses Überblicks gewährt werden kann. Die Literatur über die verschiedenen Aspekte ihres Werks ist Legion. So verweise ich auf diese wie auf die im vorliegenden Buch enthaltenen Einzeldarstellungen und beschränke mich abschließend nur auf Hinweise. Was sich Goll und auch Benn an sprachlichen und formalen Ausdrucksmöglichkeiten später erarbeiteten, war bei Georg Heym (1887-1912) und Georg Trakl (1887-1914) schon vorbereitet. Allen gemeinsam und auffallend ist, daß sie mit ihren poetischen Bekenntnissen, Ahnungen und Zweifeln nicht -auf den Markt gingen. Sie sind keine , keine Revolutionäre, Erwecker, Warner, Schreier. Dichterlesungen waren ihnen peinlich, Begegnungen, persönliche Bekanntschaften, meist wenigstens, eine Qual. Das Unbehagen an bestehenden Verhältnissen, ihrer Trivialität und Banalität bekundeten sie alle. Als bedrohend, gespenstisch, als nicht mehr verläßlich empfanden sie die sie umgebende Welt. Eine transzendente Ordnung war für sie nicht mehr vorhanden. Statt dessen arbeiteten sie wie ihre europäischen Vorfahren und Zeitgenossen in einem hermetischen Bereich; doch stets voller Zweifel und Ungenügen an ihren poetischen Möglichkeiten, ihre Erzeugnisse mißtrauisch betrachtend, sie ständig korrigierend, trotzdem aber konsequent um eine optimale Leistung bemüht. Auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, auf ihr dichterisches Schaffen trifft zu, was Baudelaire im «Salon» von 1859 über die Einbildungskraft schrieb: «Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des regles dont on ne peut trouver l'origine que dans le plus profond de l'âme, eile crée un monde noveaux, eile produit la Sensation du neuf.» In Heyms Spätdichtung, ausgeprägter noch in der Trakls und Benns, sind die Gesetze der normalen Dinglichkeit und die Dinge selber vernichtet. Alles scheint in die Allmacht der Einbildungskraft hineingenommen und von dieser in Zeichen, Chiffren und Visionen sprachlich eingeschmolzen. Die Sprache dieser Gedichte ist nur noch selten auf das Benennen empirisch existierender Dinge oder Vorgänge angelegt. Die ihres außerliterarischen Aussagewertes entkleideten Worte oder Bilder sind, besonders bei Trakl, in ihrer Funktion so ins Extrem getrieben, oft, wie bei Beim, Mischung so disparater "Wirklichkeitsfetzen, daß die dadurch gegründete, nur noch in der Sprache existierende Welt eine Realität von Figurationen, Bewegungen, Tönen, Farben, ein Spiel mit Perspektiven entfaltet, intensiv gegenwärtig und wirksam auf Grund der Bedeutung des Wortes und doch wirklichkeitsenthoben; sie ähnelt oft der Musik, denn sie ist nahezu ohne Stoff und nur als Form wahrnehmbar. In dem Vermögen, durch die Macht der Sprache, ihren Klang, Rhythmus und die ihr innewohnende Struktur eine Realität zu schaffen, liegt das Verdienst dieser deutschen Dichter. Es ist ihr Beitrag zur Tradition und Komplexität moderner lyrischer Dichtung. Überblickt man abschließend noch einmal diese Epoche, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das poetische Bemühen «im Vergleich zum öffentlichen Getöse dieses Jahrzehnts» aufs Ganze gesehen eine Rarität blieb und daß dieses Bemühen wohl schwerlich mit dem Wort zu fassen ist. Wie immer man diese Epoche bezeichnen mag, als Gegenbewegung zum Impressionismus, als Bruch mit der Tradition, als radikalen Desillusionierungsprozeß, als «kosmische Entgrenzung», Schrei oder politisches Programm, so macht dieser Überblick wohl deutlich, daß wir für diese wie für die moderne Lyrik ganz allgemein noch keine ihr gemäße Systematik besitzen. Es fehlt dafür an einer auf dem Sprachlichen und Literarischen fußenden methodischen Grundlegung. Hilfskonstruktionen, vorerst noch nicht eindeutig bestimmte, oft aus anderen Disziplinen entlehnte Begriffe dienen nur als Surrogat für die zu fordernden Kategorien. In den kritischen Darstellungen von Hugo Friedrich, Hans Robert Jauss, Carl Otto Conrady, Harald Weinrich, M.H. Abrams, Wolfgang Iser und anderen haben wir Ansätze. Die Diskussion, zu der auch dieser Überblick beitragen möchte, steht noch am Anfang. In: Rothe, Wolfgang. Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern—München: Francke, 1969. S. 105-126.