VICTOR LANGE: JAKOB VAN HODDIS Jakob van Hoddis (ein anagrammatisches Pseudonym aus seinem Familiennamen Hans Davidson) wurde am 10. Mai 1887 in Berlin geboren. Zu seinem Vater, einem angesehenen, äußerst berufsgebundenen und skeptischen Mediziner, stand er in einem kritisch-distanzierten, zu seiner Mutter, einer Nichte des < Schlesischen Schwans >, Friederike Kempner, in einem nahen und dankbaren Verhältnis. Bis zum Abitur (1906) besuchte er das Berliner Städtische Friedrichsgymnasium, begann das Architekturstudium in München, arbeitete in Berlin ein halbes Jahr praktisch auf dem Bau und studierte zuerst in Jena, dann in Berlin Altphilologie und (bei Simmel) Philosophie. Um 1907 begegnete er in der «FreienWissenschaftlichen Vereinigung», einer Studentenverbindung der Berliner Universität, dem etwas älteren Schriftsteller Kurt Hiller, der in den nächsten fünf Jahren zu seinen engsten Freunden zählte. Zusammen mit ihm gründete van Hoddis im März 1909, als Sezession der «intellektuellen Fraktion» der «Vereinigung», den «Neuen Club», der ein Jahr später als «Neopathetisches Cabaret» allwöchentlich öffentliche Lesungen veranstaltete. Diesem kleinen, energischen und zeitgeschichtlich höchst symptomatischen Kreis gehörten Erwin Loewenson (schon seit 1903 mit van Hoddis befreundet), Erich Unger, David Baumgardt, Ernst Blass, Erwin Wassermann und W.S.Ghuttmann an. «Der Neue Club (Dichter und Denker jüngster Generation)», heißt es 1910 in einer Notiz der Zeitschrift «Der Demokrat», «veranstaltet allmonatlich sein < Cabaret). In dem dichtgedrängten Saale irgendeines Cafés, bald hell, bald verdunkelt, sitzen etwa 250 Personen, Studenten, Bohemiens, Schauspieler, Maler, Schriftsteller (darunter manch bekanntes, interessantes Gesicht), Männlein und Weiblein, grotesk, farbig, lachen, lauschen, klatschen, zischen, werden hinausbefördert, freuen sich und wollen etwas. Die Kerle haben Mut. Man muß wissen, es ist kein Cabaret im gewöhnlichen Sinne, nicht für jeden. Statt des obligaten Klaviergeklimpers zu schleimigen Zoten kann man plötzlich eine kritisch psychologische Lustbarkeit hören, oder eine Anfrage an das Schicksal, oder die ungenierte Ermordung einer Berühmtheit...» In seiner Eröffnungsrede umschreibt Kurt Hiller im Juni 1910 Gesinnung und Ziele der Gründer des« Neopathetischen Cabarets»:«... Dies ist das Kennzeichen einer höher gestimmten Lebendigkeit und des neuen Pathos: das alleweil lodernde Erfülltsein von unserem geliebten Ideelichen, vom Willen zur Erkenntnis und zur Kunst und zu den sehr wundersamen Köstlichkeiten dazwischen. Das neue Pathos ist weiter nichts als: erhöhte psychische Temperatur ..., Pathos: nicht, als gemessener Gebärdengang leidender Prophetensöhne, sondern als universale Heiterkeit, als panisches Lachen. So versteht es sich auch, daß wir es keineswegs für unwürdig und unvornehm halten, seriöseste Philosopheme zwischen Chansons und (zerebrale) Ulkigkeit zu streun ...» In dieser lebendigen Gruppe («an geistiger Weite und künstlerischem Enthusiasmus übertraf sie wenn möglich noch den Kreis der Frühromantiker», so Carl Seelig) sprach van Hoddis über kunstpolitische Fragen («Haben wir einen modernen Baustil?», «Über die Bedeutung der Philosophie»), las eigentümlich irrideszierende Gedichte und galt als ungewöhnlich scharfsinniger und mutiger Geist. In der Erinnerung Johannes R.Bechers fehlten van Hoddis alle liebenswürdigen Züge: «Er war zwerghaft, von verwahrlostem Äußern, grau, unrasiert, pickelig - von den Händen schon nicht zu sprechen -, mit einem mehr als reinigungsbedürftigen Wollschal zu jeder Tageszeit behaftet, scheu, verspielt und schon ein wenig irre ...» Ludwig Meidner, der ihn 1914 in einer ergreifenden Zeichnung porträtierte, schrieb später: «Hoddis war klein von Gestalt, mit kleinem, schwarzgelocktem Kopf und kleinen, sehr nervösen Händen. Sein Gesicht, an sich gar nicht schön, wurde erleuchtet durch feurige und schalkhafte Augen. Er war immer intensiv und ließ sich nicht gehen.» Loewenson schildert van Hoddis als einen Menschen von beherrschter geistiger Intensität: «In aller Gelassenheit blieb sein Ausdruck immer stoßkräftig, von geradezu unheimlich müheloser Wucht... Es schien wie eine außerordentliche Selbstzucht, war aber eine schwebend leichte Kraftauslösung.» Ein fast graziöser und zerebraler Zug trennte van Hoddis von Georg Heym, der zur selben Zeit der «Neopathetischen Gruppe» angehörte und der in seinem Tagebuch van Hoddis' «verhaltene» Art seiner eigenen «lauten» gegenüberstellt. 1910 lasen Heym und van Hoddis im «Cabaret» zum ersten Mal aus ihren Dichtungen. «Auf einmal flattert ein Rabe auf», schreibt Else Lasker-Schüler, «ein schwarzschillernder Kopf blickt über die Brüstung des Lesepults. Jakob van Hoddis. Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen. Vierreiher - Inschriften; rund herum müßten sie auf Talern geschrieben stehn in einem Sozialdichterstaat.» Auch Loewenson erinnert sich der eindringlichen Stimme: «Beim Vortrag seiner Gedichte konnte van Hoddis niemand ersetzen; seine Stimme dramatisierte sie so suggestiv, als entstünden sie jetzt erst, Wort für Wort, Zeile um Zeile. Seine Stimme, sonst samtartig dunkelweich, nahm beim Vortrag einen Glanz von Stahl an oder, je nach dem Inhalt, eine schadenfrohe Selbstironie, eine burleske Garstigkeit. Am unverblümten Schluß mancher Gedichte durchbrach sein ganzes Gesicht ein Lachen, das man nicht anders als von Jakob van Hoddis für uns in sich barg. Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wußten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirche, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Straße hinweg zu wie Losungen ...» Mehr noch als durch seine Gedichte bestimmte van Hoddis die «Neopathetische Gruppe» durch seine entschiedene Überzeugung von der erkenntnisschaffenden Funktion des Gesprächs und der Dichtung. Im Winter 1910/11 kam es zum Bruch zwischen ihm und Kurt Hiller, dessen (ästhetische) Weltanschauung mit den eher metaphysischen Überzeugungen des Kreises nicht vereinbar schien. Auf van Hoddis' Veranlassung wurde der «Neue Club» 1912 schließlich aufgelöst. Im« Sturm» und in der «Aktion» waren inzwischen einige seiner Gedichte erschienen, er hatte sein Studium aufgegeben, hielt sich 1911 und 1912 vorübergehend in München auf und schloß sich der Gestalterin makabrer Puppen, Lotte Pritzel, in einem ekstatisch-mystischen Liebesverhältnis an. Schon in dieser Zeit häuften sich die Indikationen seines pathologischen Zustandes: Im Anschluß an eine kurze Reise nach Paris unterzog sich van Hoddis einer freiwilligen Kur im Sanatorium Wolbeck bei Münster, wenige Wochen später wurde er auf Veranlassung seiner Mutter in die Heilanstalt Berlin-Nikolassee gebracht, aus der er im Dezember 1913 floh. Monatelang lebt er unruhig in Paris, München und schließlich wieder in Berlin, erscheint gelegentlich im «Neopathetischen Cabaret» und liest am 25. April 1914 zum letzten Mal bei einer Veranstaltung der «Aktion». Im Juli 1914 wird in der Jenaer Nervenheilanstalt der Ausbruch der Schizophrenie festgestellt; in den folgenden Jahren bleibt er bis 1922 in Privatpflege in Gräfenroda, dann bis 1933 in einer Anstalt in Eßlingen. Da seine Mutter am 1. April 1933 auswanderte, brachte ihn ein Onkel in dem einzigen jüdischen Irrenhaus Deutschlands unter. Neun Jahre später wurde dieses Institut aufgelöst. Die letzte Ermittlung über van Hoddis' Ende lautet: «Herr Hans Davidson, geb. 16.5.8 7 in Berlin, wurde am 30.4.1942 unter der Nr. 8 aus der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn deportiert. Von diesem Transport kam niemand mehr lebend zurück.» Die menschliche und dichterische Wirkung von van Hoddis wird vor allem durch die eigentümlich intensive Atmosphäre des Berliner geistigen Lebens während des Jahrzehnts unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bestimmt: Inmitten einer selbstbewußt bürgerlichen Gesellschaft kristallisieren sich, in kleinen, eher ästhetisch-literarisch als politisch aktiven Kreisen, vielfältige und heterogene Impulse geistiger Unruhe. Sie zielen auf eine grundsätzliche Kritik der. Wilhelminischen Gesellschaft und der zeitgenössischen Wertvorstellungen überhaupt und reichen von einer nationalistisch-klassizistischen Gesinnung (Moeller van den Brück, Paul Ernst) und dem fordernden Ethos Stefan Georges zu ausdrücklich sozialkritischen (Heinrich Mann, Gerhart Hauptmann) und individualpsychologisch-existentialistischen Tendenzen (Hesse, Musil, Rilke). Erst seit etwa 1910 entwickeln sich aus den gleichzeitig wirksamen Formen des Jugendstils, des Wiener Impressionismus, des Georgeschen Symbolismus und gewisser experimenteller Lyriker (Morgenstern, Else Lasker-Schüler, Trakl) radikalere dichterische Ausdrucksmittel, die auf der einen Seite die Bindungslosigkeit des individuellen Bewußtseins melancholisch oder analytisch darstellen, auf der anderen in satirisch-grotesken Metaphern die Fragwürdigkeit der tragenden Konventionen ironisieren wollten. Ehe diese zugleich ästhetischen und aktivistischen Impulse ihre charakteristische Gestalt im Werk der frühen Expressionisten (Werfel, Kaiser) fanden, wurden sie, vor allem in Berlin, zum Gegenstand der Auseinandersetzung in zahlreichen militanten Gruppen, kabarettistischen Lesungen und Zeitschriften. Zu diesem Artikulationsprozeß trug van Hoddis durch seine persönliche Wirkung und einige durchaus originelle Gedichte entscheidend bei. Seine Produktion erstreckt sich über kaum sieben Jahre und ist im ganzen von außerordentlich geringem Umfang: sie besteht aus etwa siebzig Gedichten und fünf Prosaskizzen, die 1911 bis 1914 in einer Reihe von Zeitschriften («Aktion», «Sturm», «Die Neue Kunst», «Revolution») erschienen. Unveröffentlichte Manuskripte in den Händen seiner Freunde sind verlorengegangen, darunter ein längeres mit dem Titel «Babylon oder die Träume eines wahnsinnigen Juden»; der in Tel Aviv befindliche Nachlaß scheint nichts zu enthalten, was unsere Vorstellung von seiner Leistung modifizieren könnte. In van Hoddis' frühester Lyrik verfügt ein frühreifes, aber noch im Dekorativ-Szenischen gebundenes Empfinden über die Formmittel der Zeit. Das Gedicht «Traumkönig» enthält exemplarisch alle Züge des neuromantischen Mythologisierens, der Ornamentik des Jugendstils und Georgescher Vers- und Bildgesten: Zum Wellenhaus der grünen Amphitrite Und tote Tiefen der Korallenwälder Kam er hinab - der fremden Sehnsucht Melder Und weil sein Volk ihn König hieß und kniete. Spät tauchte er empor im goldnen Kranze, Den Tang der See auf Schultern, Brust und Lenden, Der Schlachten Heil, die starke Drachenlanze Und Perlenschnüre in den groben Händen. II Und gelben Rosen gleichen Deine Glieder, Benthesikyme. Meerblüten duftend wallt Dein Haar hernieder Wie Wogenspiele. Kaum was Du sprachst und Deine Küsse weckten Korallenrote Gaben – Deine Augen heilen den erschreckten Zornigen Knaben. Dieses sensible, aber theatralische und leicht akademische Pathos schlägt fast unvermittelt in sein dialektisches Gegenteil um: In «Wunderlegende» wird zur gleichen Zeit die mythologische Romantik parodiert und als illusionär entwertet. Andere jugendliche Versuche («He!», «Der Oberlehrer») stellen die klassisch-humanistischen Bildungsvoraussetzungen seiner Umwelt in Frage; Thema und Form der fünf Gedichte des Zyklus «Italien» persiflieren die Klischees des bürgerlichen Italienerlebnisses. Erst im Kreise des «Neuen Clubs» und des «Neopathetischen Cabarets» gewann van Hoddis die Voraussetzungen für die charakteristischen Stilmittel, die so ungemein stark auf seine Zeitgenossen wirken sollten. Kurt Hiller führte ihn zu Nietzsche und Oscar Wilde und forderte Lyrik aus «sensualen, sentimentalen und mentalen» Elementen. Dazu kamen die kabarettistischen Zweckmittel einer herausfordernden Alltagssprache und überraschender Bildassoziationen. Vermutlich haben auch die Thesen des ersten futuristischen Manifests und die Futuristenausstellung des «Sturms» von 1912 auf die Entwicklung seiner großstädtischen Metaphern und Rhythmen eingewirkt. Vor allem durch seine abrupte Bilderfolge und die lakonische Evokation einer apokalyptischen Untergangsstimmung wird van Hoddis' Gedicht «Weltende» zu einem stilgeschichtlichen Ereignis. Das Bewußtsein der zivilisatorischen Krise beherrscht das Denken der Zeit; die Zeilen van Hoddis' bringen es auf eine balladeske und plakathafte Formel. Innerhalb des Gesamtwerkes stellen die Verse freilich «in jeder Beziehung eine Ausnahme dar» (Hansjörg Schneider 1967). Sie lassen sich weder thematisch noch formal mit der romantischen Sensibilität des Dichters in Verbindung bringen: die offene, fragmentarische Reihung entspricht seinem eher aphoristischen Denken. Gleichzeitige, aber unzusammenhängende, alltägliche und bedeutsame, banale und mythische Vorgänge werden hier unvermittelt und ohne Folge nebeneinandergestellt. Wind und Meer fegen die groteske bürgerliche Welt hinweg: nüchtern verfremdet, werden diese zwei Bereiche zu Gegenständen der unheimlichen, das heißt der bezuglosen und deshalb ohnmächtigen Reflexion. Im Gegensatz zu Heyms dämonischen Endvisionen («Der Gott der Stadt», «Die Dämonen der Städte») und Alfred Lichtensteins formal ähnlichem, aber durchaus impressionistischem Gedicht «Die Dämmerung» ist van Hoddis' «Weltuntergang» bei aller Auflehnung gegen das ungreifbare Unheil das Zeugnis einer völlig objektivierten Skepsis und einer indifferenten Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Trotz dieser inneren Widersprüche und seiner offensichtlichen kompositorischen Schwächen wurde das Gedicht als Aussage des kollektiven politischen Unbehagens empfunden. «Die Welt der Abgestumpftheit und Widerwärtigkeit», schrieb Johannes R.Becher, «schien plötzlich von uns - zu erobern, bezwingbar zu sein. Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren.Wir fühlten uns wie neue Menschen,... eine neue Welt sollte mit uns beginnen, und eine Unruhe, schworen wir uns, zu stiften, daß den Bürgern Hören und Sehen vergehen sollte und sie es geradezu als eine Gnade betrachten würden, von uns in den Orkus geschickt zu werden.» Van Hoddis' immer entschiedenere Lösung von den Bewußtseinsformen seiner Umwelt, sein radikaler Zweifel an jeder Möglichkeit des gemeinsamen begrifflichen Verstehens («Es gibt kein höheres Dasein als das Unbegreifliche») führt ihn gelegentlich zu einer dithyrambischen Verklärung der absoluten denkerischen Existenz: Der Denker Zu den breiten ungestalten Tiefen stieg er froh hernieder. Ströme aber lähmten seine Glieder. Ratlos kreisten eiserne Gewalten. Und er rang und immer wieder. Ihn hieß ein Traum in wilden Felsenspalten Gold und verderbter Götter Blut erbeuten Und ihre Leiber brenne Sinnlichkeiten ... Er bäumte auf, und alle Räume hallten. Aber das Wagnis des intellektuellen Traumes mußte ebenso wie der faustische Anspruch auf radikale Sinnlichkeit («Er aber wollte ungemeßne Pein / Der Lust vermählen») scheitern. Das große Thema der Einsamkeit wird in romantisierenden Selbstreflexionen variiert («Die Stadt») und in kabarettistischen Momentaufnahmen auf das kollektive Erleben bezogen: Die zehn Szenenbilder «Varieté» sind leicht hingeworfene realistisch-satirische Skizzen, witzig-sentimentale Äußerungen des Ekels gegenüber der Kommerzialisierung und Mechanisierung des Vergnügens. Die beobachtete Wirklichkeit zerfällt, verliert Zusammenhang und verständliche Struktur; die Realitäten der Stadt erweisen sich als zugleich sinnlose und verlockende Gegenwelt, die in einem Assoziationsgewebe von leuchtenden, subjektiven und abstrakten Metaphern beschworen und vernichtet werden soll. Der Träumende Blaugrüne Nacht, die stummen Farben glimmen. Ist er bedroht vom roten Strahl der Speere Und rohen Panzern? Ziehn hier Satans Heere? Die gelben Flecke, die im Schatten schwimmen, Sind Augen wesenloser großer Pferde. Sein Leib ist nackt und bleich und ohne Wehre. Ein fades Rosa eitert aus der Erde. Sich dieser Welt zu entziehen, den unbedingten «verfluchten Ort» zu bestimmen, die Welt aber in einem mystischen «Schrei» als beziehungslose Übermacht apostrophieren zu müssen, - dieser für van Hoddis unausweichliche Zwang wird immer wieder umschrieben, am eindrucksvollsten in den etwas späteren Versen: Und goldne Nacht enthülle mich als Traum. Es muß verruchte Märchengötzen geben, Die steinern drohen durch den großen Raum. Und jäh wie Leid, das mein Gehirn zerreißt, Entströmt die Lust der Nächte allen Bronnen. Nächte sind weißer von Gedankensonnen Als je der tiefe Tag im Süden weiß. Schwärzliche Mauern starren zu den Sternen Von müden Männern hastig aufgebaute. Hellgrüne Himmel bersten. Aus den fernen Vorstädten stößt zu dir das laute Geschrei der Sklaven, die die Fäuste heben. Grüße den Schrei! Denn du, weißt du denn jetzt ob dich Verzweiflung durch die Straßen hetzt Oder die Seligkeit zu leben? Wenn sich van Hoddis zeitweilig mit hektischer Hingabe dem Katholizismus zuwandte, so war das ein Versuch, seine immer stärker bedrohte geistige Existenz in einem überindividuellen Glaubensgefüge zu sichern. Er hat diese Wendung selbst als ein mißglücktes Abenteuer bezeichnet; einige schwer zu deutende Gedichte lassen jedenfalls die Ausweglosigkeit dieser religiösen Krise erkennen («Klage», «Morgentraum») sowie das Bewußtsein einer ungelösten, aber auch unlösbaren Spannung zwischen menschlichem Anspruch und einem so unergründlichen wie unerbittlichen Gott spüren. Das Dunkel rauscht, um Gottes Lob zu künden. Der Beter jauchzt, er wandert fern dem Licht. Der mich dem Starrenden düster verpflicht' Bald mit dem Haus, dem Tier und der Welle, Bald mit dem Antlitz, das jählings als helle Das Meer der schwankenden Träume zerbricht. Gott! Das Dunkel rauscht, um Gottes Lob zu künden. Der Beter weint. Er wandert fern dem Licht. Ich bete, während grauenvoll die Hände Ein Gott um meine nackte Seele flicht - Ich bete, daß der Gott sich von mir wende. Die letzten, oft bizarren, aber in momentan aufleuchtenden Bildern faszinierenden Gedichte nehmen Motive und Darstellungsmittel der frühen Lyrik noch einmal auf, lassen aber auch in Augenblicken offensichtlicher geistiger Störung ein erstaunlich helles Bewußtsein der eigenen Problematik erkennen. Hundert starke Arme langen Aus dem Sumpfe nach dir hin. Donner brummen. Goldne Schlangen Packen dich an Brust und Kinn. Und sieh, ein Greis mit weißen Flammenhaaren Schreit dich pathetisch dabei an: «Du sollst nun mal zur Hölle fahren! Da, sieh dir deine Wunder an! Sind es nicht Farben, die in Fieberjahren Dein traumbetörtes Auge sich ersehnt? Bewundre Blitze, die ins Fleisch dir fahren! Belausch den Tod, der schon im Hirn dir dröhnt!» Und wütend läufst du immer weiter, Das Ganze ist zwar zaubertoll, Doch ist es weiter gar nicht heiter, Wenn man am Wunder sterben soll. Die täuschenden Bilder der leeren Wirklichkeit werden zum Inhalt seiner < Langeweile >; als« Visionarr» wird er von der grotesken Erscheinung ergriffen, deren Übermacht ihn zu zerstören droht. Lampe blöck nicht. Aus der Wand fuhr ein dünner Frauenarm. Er war bleich und blau geädert. Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt. Als ich die Hand küßte, erschrak ich: Sie war lebendig und warm. Das Gesicht wurde mir zerkratzt. Ich nahm ein Küchenmesser und zerschnitt ein paar Adern. Eine große Katze leckte zierlich das Blut vom Boden auf. Ein Mann indes kroch mit gesträubten Haaren Einen schräg an die Wand gelegten Besenstiel hinauf. In seiner Form weist dieses Gedicht auf die phantastische Bilderwelt der Anfänge van Hoddis' zurück, zugleich aber schon vorwärts auf die tiefenpsychologischen Assoziationsgebilde des Surrealismus; andere späte Verse entlarven Traum und Vision als die «Zerstörer aller Dinge, die mir Feind sind» und werden in ihrer parodistischen und exklamatorischen Sprechweise zu Modellen für den Dadaismus. Daß in van Hoddis' Werk mit seiner seltsamen Mischung aus Böcklinscher Chromatik, Nietzschescher Gesellschaftskritik und rücksichtslosem, makabrem Sprachwitz ein eigenwilliges Talent neue Formen sucht, wurde schon früh von zahlreichen Kritikern empfunden. «Jakob van Hoddis führt einen neuen Ton in die Lyrik ein, den großen grausen Humor, etwas Teuflisches, Starkes, einfachste Gegenstände, alltägliche Vorgänge, aber in allem das Pathos eines Menschen, der Großes sieht. Man wird diese Gedichte stark anfeinden, weil man - wie gewöhnlich - über dem Brutalen des Inhalts die Freude der Lebenskraft vergessen wird, die dieses Brutalen lachend Herr werden konnte.» (Dr. E. T. 1910 im «Demokrat») Vierzig Jahre später leuchten die Verse des Abseitigen, Weltverlorenen noch einmal auf: «Eine Wetterfahne singt am Himmel von Berlin. Eine verzauberte Pumpe lacht unter dem Eis der Landschaft. Es ist ein kleiner Gedichtband, der nicht brennen will, der sich weigert, das Los der vielen anderen Werke zu teilen, deren Autodafé die Hitlerdiktatur organisiert hat in der Hoffnung, die permanente Revolution aufzuhalten ... Wir sind hier am äußersten Ende der deutschen Poesie, die Stimme von van Hoddis kommt vom höchsten und feinsten Ast des vom Blitz getroffenen Baumes ...Wir sind mit seinen Liedern im Land des schwarzen Humors, der erkennbar ist an seinen symbolischen Aspekten, geheimnisvoll, unveränderlich: Weiße Fliegenschwärme, Blumentapeten, grünende Katzen.» (Andre Breton, Anthologie de l'Humour Noir, 1950) Van Hoddis' Existenz und Rang stellen sich nur in wenigen vollendeten Gedichten dar: sie machen ihn jedenfalls zu einer der unverkennbaren Stimmen im verwirrenden Chor der frühexpressionistischen Generation. Sein persönliches Schicksal und sein exzentrisch gespannter Geist bestimmen den Reiz und die Grenzen seines Werkes. «Ein ohnmächtiges Genie» nannte ihn sein Freund Kurt Hiller. Hätte er das oft erwogene Projekt einer Odyssee des modernen Menschen ausgeführt, stünde er möglicherweise in der Nähe der großen Dichter unserer Zeit. Geboren am 16. Mai 1887 in Berlin. Ältestes von fünf Kindern aus einer spannungsvollen Ehe: der Vater, Arzt, entstammte einer armen jüdischen Handwerkerfamilie in Konitz, die sechzehn Jahre jüngere Mutter, Doris Kempner, kam aus einer hochkultivierten jüdischen Gutsbesitzerfamilie Schlesiens. Nahm den Idealismus der Mutter und den skeptischen Materialismus des Vaters gleicherweise auf, hat in seiner insgesamt glücklichen Jugend «beide Seiten parteilos in sich verarbeitet» (Loewenson). Wechselt als Untersekundaner im Einverständnis mit dem Vater vom Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasium zum liberaleren Städtischen Friedrichsgymnasium über. Schrieb seit 1901 Gedichte. Freundschaft mit Erwin Loewenson seit 1903. 1906 Abitur, danach in München Architekturstudent, anschließend ein halbes Jahr lang Bauarbeiter. 1907 sattelte er auf griechische Sprache und Philosophie um, erst in Jena, dann in Berlin immatrikuliert.Inder«FreienWissenschaftlichen Vereinigung», einem regen Debattierklub und Arbeitskreis Berliner Studenten, lernte er Kurt Hill er kennen. 1909 bis 1911 Mitbegründer und aktives Mitglied im «Neuen Club» und im «Neopathetischen Cabaret». Die ersten Gedichtveröffentlichungen im Sturm und in der Aktion 1912 fallen zeitlich mit dem Bruch mit Hiller zusammen. 1912 gab er das Studium auf und reiste nach München. Lotte Pritzel und Emmy Hennings-Ball gewannen Einfluß auf ihn, im gleichen Jahr Konversion zum Katholizismus. Einer psychotischen Erkrankung suchte er im Herbst 1912 durch eine freiwillige Kur im Sanatorium Wolbeck bei Münster Herr zu werden. Schwere Erbschaftsstreitigkeiten mit seinen Geschwistern, vor denen er eine panische Angst entwickelte. Im November 1912 mittels Gewaltanwendung aus seiner Wohnung zur Untersuchung in die Heilanstalt Berlin-Nikolassee verbracht; Protest Pfemferts in der Aktion gegen solche «Vogelfreiheit des deutschen Staatsbürgers». Anfang Dezember entfloh er von dort durch einen Sprung aus dem Fenster. Besuch bei David Baumgardt in Heidelberg. 1913 nacheinander in Paris, München, Berlin, wo er aufs neue im «Neopathetischen Cabaret» auftrat. Am 25. April 1914 las er zum letztenmal auf einem Autorenabend der Aktion, in deren Juninummer sein letztes Gedicht erschien. Der Ausbruch der Nervenkrankheit (wahrscheinlich Schizophrenie) wurde kurz vor Kriegsbeginn in der Heilanstalt Jena attestiert. Seit 1915 in Privatpflege, erst in der Nähe des thüringischen Gräfenroda, dann in Tübingen. 1918 erscheint, als einzige Buchveröffentlichung zu Lebzeiten, im Aktions-Verlag unter dem Titel Weitende ein schmales Heft mit sechzehn Gedichten aus der Aktion. In den zwanziger Jahren in der Irrenanstalt Eßlingen interniert, von dort kam er nach der < Machtergreifung) in die einzige jüdische Heilanstalt, Bendorf-Sayn bei Koblenz. Deportation als «Nr. 8» am 30. April 1942. Von diesem Transport kam niemand zurück. Der Todestag ist bisher nicht ermittelt. Werke: Weltende, Gedichte, 1918 («Der rote Hahn», 19); Weltende, Gesamtausgabe, hrsg. von Paul Pörtner, 1958. Sekundärliteratur: Erwin Loewenson, «Jakob van Hoddis», in: Weltende, 1958 (hier auch weitere Äußerungen von Freunden und Zeitgenossen); Hansjörg Schneider, Jakob van Hoddis, 1967 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 3 5). Bibliographie: Paul Pörtner, in: Weltende, 1958. In: Rothe, Wolfgang. Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern—München: Francke, 1969. S. 344-353.