Peter Huchel Späte Zeit Still das Laub am Baum verklagt. Einsam frieren Moos und Grund. Über allen Jägern jagt hoch im Wind ein fremder Hund. Überall im nassen Sand liegt des Waldes Pulverbrand, Eicheln wie Patronen. Herbst schoß seine Schüsse ab, leise Schüsse übers Grab. Horch, es rascheln Totenkronen, Nebel ziehen und Dämonen. (v 1941) V. 3: Jäger: in der christlichen Glaubenswelt häufig Symbol für den Teufel (vgl. auch die um spukende Jäger kreisenden Sagen); dabei Deutung des vom Jäger verfolgten Hirsches (mit seinem — auf die Krone verweisenden - Geweih) als Christusgestalt V. 4: Hund: als Leichen fressendes Tier (wie der Schakal und die Hyänen) eng mit der Sphäre des Todes verbunden (vgl. die Hundegestaltigkeit vieler Totengötter, u.a. des ägyptischen Gottes Anubis); von daher früher auch verbreiteter Glaube an eine Tod oder Unheil verkündende Bedeutung des Heulens von Hunden; daneben aber auch Begleiter der Seelen ins Jenseits und - als mit dem Tod vertrautes Wesen - mit apotropäischen (Unheil abwehrenden) Vorstellungen verbunden 1. Mit dem Gedicht hat Peter Huchel, der von 1940 bis 1945 selbst Soldat war und in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, an einem Lyrikwettbewerb der Modezeitschrift Die Dame teilgenommen, für den vor allem Kriegsgedichte erbeten worden waren. Huchel selbst hat die Entstehung des Gedichts später auf 1933 datiert. In einem Brief an den Herausgeber einer Anthologie, der das Gedicht aufnehmen wollte, bittet Huchel darum, die Jahreszahl mit zu erwähnen, "da es sich hier nicht nur um ein Landschaftsgedicht handelt".^43 Welche Unterschiede in der Deutung ergeben sich je nachdem, ob man hierfür Entstehungs - oder Erscheinungsjahr des Gedichts zu Grunde legt? Berücksichtigen Sie dabei auch den Titel des Gedichts. 2. Inwiefern fügt sich das Gedicht in die Reihe der 'bösen Idyllen' der naturmagischen Dichter ein (vgl. Kapitel 2.2)? 3. Gerhard Schumann hielt 1942 auf dem 'Großdeutschen und Europäischen Dichtertreffen' in Weimar einen Vortrag. -in er sich Gedanken über die Rolle der Dichtung im Krieg machte. Als Maßstab für diese sah er dabei einzig und allein die Frage (...)}: bedeutet das gestaltete Werk eine Stärkung der Kampfkraft der Nation in einem allerdings ganz umfassend verstandenen Sinn? Oder aber könnte von dem Werk eine Schwächung, eine Unsicherheit ausgehen? ^44 Aus Schumanns Äußerung lässt sich per Umkehrschluss auch ein Maßstab für gelungene Widerstandslyrik ableiten: Diese durfte eben nicht zu einer "Stärkung der Kampfkraft der Nation“ beitragen, sondern, musste den Soldaten nach Möglichkeit die Problematik ihres Tuns vor Augen fuhren. - Welchem Maßstab wird Huchels Gedicht Ihrer Ansicht nach eher gerecht? Peter Huchel Späte Zeit / Fritz Brügel Ahnung In beiden Gedichten wird im Medium einer Landschaftsbeschreibung ein Gefühl von Bedrohung zum Ausdruck gebracht. Bei Huchel geschieht dies dadurch, dass die beschriebene Herbststimmung metaphorisch mit auf Krieg hindeutenden Handlungen und Utensilien verbunden wird. In Brügels Gedicht - einem Sonett - wird in den beiden Quartetten zunächst der "Ahnung" des Krieges Ausdruck verliehen; die Terzette konfrontieren diese dann anschließend mit der "Landschaft", die noch nichts von dem heraufziehenden Krieg "spürt" (V. 9). Bei Brügel bezieht sich das Gefühl der Bedrohung somit eindeutig auf einen sich anbahnenden Krieg (der - angesichts der Datierung des Gedichts f mit dem Zweiten Weltkrieg identifiziert werden kann). Huchels Gedicht hingegen lässt sich zwar ebenfalls zeitbezogen deuten, doch könnte man die Anspielungen auf den Krieg andererseits auch - im Sinne der 'bösen Idyllen' der Naturmagiker (vgl. Kapitel 2.2) - als Ausdruck des Gefühls einer allgemeinen existenziellen Bedrohung bzw. Heimatlosigkeit verstehen. ('Herbst' ist auch in anderen Vorkriegsgedichten Huchels eine Chiffre für das existenzielle 'Unbehaustsein' des Menschen - vgl. u.a. das Gedicht Der Totenherbst). Darauf deutet auch der Titel des Gedichts hin, der sich nicht nur auf die in dem Gedicht thematisierte 'späte Jahreszeit' beziehen, sondern auch im Sinne von 'Spätzeit' verstehen lässt und so auf das Schicksal von 'Spätgeborenen' hindeuten würde, deren Dasein nicht mehr von der früheren Sicherheit klar umrissener, metaphysischer Deutungssysteme bestimmt ist. Darüber hinaus lässt sich der Titel freilich auch im Sinne eines 'Zu-Spät-Seins' verstehen. Dabei könnte man dann sowohl an die nationalsozialistische Machtergreifung als auch an einen bereits begonnenen - und nun seine Eigendynamik entfaltenden - Krieg denken. Das Präteritum in Strophe 3 sowie die Aufzählung bereits benutzten bzw. (aufgrund der Berührung mit dem "nassen Sand") nicht mehr benutzbaren Kriegsmaterials in Strophe 2 lässt darüber hinaus auch eine Deutung zu, die das 'Zu-Spät-Sein' auf einen schon beendeten Krieg beziehen würde. In jedem Fall ließe sich das Gedicht im Sinne einer indirekten Anspielung auf die Zeitsituation verstehen. Der mögliche Bezug zu dieser bedeutet allerdings nicht, dass in der metaphorischen Verknüpfung von Herbst und Krieg zwingend die Ahnung eines heraufziehenden Krieges gesehen werden muss. Vielmehr könnte sich hierin - wie auch Huchels Datierung der Entstehung des Gedichts zeigt - ebenso gut ein allgemeines (durch die nationalsozialistische Machtergreifung ausgelöstes) Gefühl von Bedrohung ausdrücken. Unabhängig davon, ob man das Gedicht nun als chiffrierte Zeitdiagnose oder existenzphilosophisch deutet, erscheint es als Ausdruck eines Daseinsgefühls, das von Verlassenheit und Todesahnungen geprägt ist. Hierauf deutet gleich im ersten Vers der Neologismus 'verklagt' hin, der die 'Verlassenheit', 'Verlorenheit' oder auch 'Vergeblichkeit' des Daseins mit der Klage hierüber zusammenbindet. Über den 'a'-Laut ist das Verb zudem mit den Reimwörtern in Strophe 3 verbunden, so dass es -über das Zwischenglied "Grab " (V. 9) - auch auf das 'Vergehen' des Daseins bzw. (vor dem Hintergrund der Jagdmetaphorik der folgenden Verse) das 'Verenden' von Tieren verweist. (Die Todesverfallenheit des Daseins kommt zudem auch darin zum Ausdruck, dass es von dem Laub heißt, es 'verklage' "am Baum", also noch während des Lebens.) Der Begriff gibt damit die Perspektive vor, aus der in dem Gedicht die gesamte Umgebung wahrgenommen wird: Die Wipfel der Bäume erscheinen als "Totenkronen" (V. 10), und "Moos und Grund" sind ebenso "einsam"'(V. 2) wie derjenige, aus dessen Sicht die Landschaft beschrieben wird. Auf Daseinsangst deutet in dem Gedicht auch die personifizierende Darstellung des Herbstes als eines Kriegers hin, der unterschiedslos alles irdische Leben mit Gewalt beendet (vgl. V. 8). Die sich dadurch einstellenden mythologischen Assoziationen bestätigt das Gedicht durch das Bild des 'fremden Hundes' (V. 4), der 'über allen Jägern jagt' (V. 3). Gerade durch die Umkehr der gewöhnlichen Proportionen - statt weniger Jäger und vieler Hunde gibt es viele Jäger und nur einen Hund (der zudem nicht vor, sondern "über" den Jägern "jagt'') - sowie durch die ausdrückliche Betonung der 'Fremdheit' des Hundes erhält das (real vielleicht auf den Herbstwind beziehbare) Bild eine mythologische Färbung und verweist so auf die in zahlreichen Mythen anzutreffende Bedeutung des Hundes als eines Todesboten oder als Inkarnation von Totengöttern. In ihrem dem 'fremden Hund' untergeordneten Dasein erscheinen die Jäger damit als 'jagend Gejagte', wodurch ihr Tun (als Bild für das menschliche Streben im Allgemeinen) in seiner Sinnlosigkeit vor Augen geführt wird. Das Bild der 'Jäger-Horde' erinnert in dem gegebenen Kontext allerdings auch an den Topos vom Tod (oder auch vom Teufel) als Jäger, wie er in der Mythologie häufiger anzutreffen ist. Diese Assoziation wird auch durch das Schlusswort des Gedichts gestützt, das das Gefühl der Bedrohung im Bild der im bzw. mit dem Nebel 'ziehenden' "Dämonen" (V. 11) kulminieren lässt. Die Evozierung eines zerfallenden bzw. haltlosen Lebens wird im Gedicht auch auf der Ebene der Form umgesetzt. So korrespondieren die durchweg dunklen Reimlaute mit dem - die Grundstimmung des Gedichts zusammenfassenden - 'Verklagen' des Laubs. Darüber hinaus ist zwar das Metrum regelmäßig (nämlich trochäisch - was vor dem Hintergrund der militärischen Metaphorik an den resignativ-gleichmäßigen Rhythmus eines Trauermarschs denken lässt), doch erwecken die sich immer weiter verkürzenden Strophen dennoch den Eindruck einer allmählichen Auflösung, die als Analogie zu dem auf der Inhaltsebene beschriebenen Verfall des Lebens erscheint. Huchels Gedicht steht damit in einem auffallenden Gegensatz zu Brügels Werk, in dem die dem lyrischen Ich entgleitende Realität der festen Ordnung der Sonett-Form gegenübergestellt wird. Dieser Trennung von Form und Inhalt entspricht inhaltlich die klare Scheidung in äußere Erscheinungen einerseits und Empfindungen des lyrischen Ichs andererseits. Zwar wird auch bei Brügel - analog zu Huchels Gedicht -mit Erscheinungen der Natur die Bedrohung durch den Krieg assoziiert (vgl. V. 12/14), doch ist vor dem Hintergrund der beiden Quartette klar, dass es sich hierbei um Auswirkungen der dort beschriebenen Visionen des lyrischen Ichs handelt. Die Spannung des Gedichts ergibt sich denn auch gerade aus der Konfrontation von diesen mit der Realität, in der "das Entsetzen" (V. 10) des Krieges (noch) nicht sichtbar ist. Dadurch wird der subjektive Charakter des Bedrohungsgefühls hervorgehoben, während bei Huchel - durch die untrennbare Vermischung von äußeren Erscheinungen und Empfindungen des Betrachters - gerade die Verbindung von subjektivem Gefühl und objektivem Geschehen betont wird. Dies verweist auf das immanente Enthaltensein der Bedrohung in der Realität - was man zum einen existenzphilosophisch (im Sinne der hieraus zu folgernden Notwendigkeit eines 'wachen' bzw. seines eigenen 'Zum-Tode-Seins' bewussten Lebens), zum anderen aber auch politisch (im Sinne der Notwendigkeit einer Wachsamkeit gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung des Lebens) deuten kann. Durch ihre allgemeine Färbung der Realität (hinter der das - in dem Gedicht nicht explizit in Erscheinung tretende - lyrische Ich zurücktritt) erscheint die Bedrohung bei Huchel auch offensichtlicher als in Brügels Gedicht, in dem für deren Wahrnehmung eine besondere Sensibilität - wie sie dem lyrischen Ich eignet - erforderlich zu sein scheint. Dadurch erweckt Brügels Sonett auch den Eindruck einer Zwangsläufigkeit bzw. Unabwendbarkeit des heraufziehenden Unheils (was durch die Umrahmung des Gedichts durch den Begriff "Blut" noch verstärkt wird). Huchels Gedicht dagegen lässt zumindest die Möglichkeit von Gegenwehr gegen die allgegenwärtige Bedrohung durchscheinen. Zwar werden daraus etwa entspringende Handlungsimpulse durch die resignative Grundstimmung des Gedichts tendenziell wieder zunichte gemacht, doch wirkt sich diese sicher auch nicht im Sinne der von Schumann geforderten "Stärkung der Kampfkraft der Nation" (siehe Aufgabenteil) aus. Bei Soldaten, die das Gedicht 1941 oder danach zu lesen bekamen, dürfte sie - zumal sie auf einem Rückblick auf das bereits zu Ende gegangene Vernichtungswerk eines Krieges zu beruhen scheint -vielmehr zu einer Infragestellung ihres Tuns geführt haben.