Bildnachweis: Die Berliner Moderne 1885-1914. Herausgegeben von Jürgen Schutte und Peter Sprengel. STUTTGART: RECLAM. S. 653. ALBRECHT WEBER: Else Lasker-Schüler • Zwei Gedichte Senna Hoy Seit du begraben liegst auf dem Hügel, Ist die Erde süß. Wo ich hingehe nun auf Zehen, Wandele ich über reine Wege. O deines Blutes Rosen Durchtränken sanft den Tod. Ich habe keine Furcht mehr Vor dem Sterben. Auf deinem Grabe blühe ich schon Mit den Blumen der Schlingpflanzen. Deine Lippen haben mich immer gerufen, Nun weiß mein Name nicht mehr zurück. Jede Schaufel Erde, die dich barg, Verschüttete auch mich. Darum ist immer Nacht an mir. Und Sterne schon in der Dämmerung. Und ich bin unbegreiflich unseren Freunden Und ganz fremd geworden. Aber du stehst am Tor der stillsten Stadt Und wartest auf mich, du Großengel. Gebet (Meinem teuren Halbbruder, dem blauen Reiter) Ich suche allerlanden eine Stadt, Die einen Engel vor der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel Gebrochen schwer am Schulterblatt Und in der Stirne seinen Stern als Siegel. Und wandle immer in die Nacht... Ich habe Liebe in die Welt gebracht, – Daß blau zu blühen jedes Herz vermag, Und hab ein Leben müde mich gewacht, In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag. O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest; Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest, Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.^1 Als diese Zeilen niedergeschrieben wurden, waren es fünfzig Jahre her, daß Kurt Pinthus die Sammlung Menschheitsdämmerung mit seinem Wort „Zuvor" (Berlin, Herbst 1919) zum Druck gab, die nach zwei Jahren das 20. Tausend erreichte (1922), „nach vierzig Jahren" (Vorwort, New York, Sommer 1959) neu herauskam und neuerdings bis Januar 1968 bis zum 70. Tausend stieg. Die Aktualität dieser Gedichte damals und heute wird an den Zahlen deutlich. Es ist der anknüpfende Rückgriff — Benn oder Becher konnten ihn noch als Lebende selbst leisten —, der seit den fünfziger Jahren Karl Kraus, Werfel, Stadler, Stramm, Heym und Trakl wieder heraufgeführt hat und, mit ihnen unzertrennlich verbunden, Else Lasker-Schüler. Durch die Ausgaben Friedhelm Kemps (Kösel-Verlag München) kehrte die Emigrantin, die am 18. Januar 1945 in Jerusalem starb und auf dem Ölberg begraben liegt, in ein breiteres Bewußtsein zurück. Else Lasker-Schülers Lyrik war nie ganz vergessen. Das verdankt sie wohl auch dem Anteil von 15 Gedichten in der Menschheitsdämmerung, einer relativ starken und angemessenen Position, an der gemessen allerdings Werfel (27!), auch Ehrenstein (20) überwertet, Trakl (10) und Benn (8) dagegen unterwertet scheinen. Hatte der Herausgeber noch 1919 „eine nach (lügnerischen) absoluten Maßstäben der Qualitätsbeurteilung zusammengestellte Auswahl der besten zeitgenössischen Gedichte"^la als nicht beabsichtigt abgelehnt — Auswahl bedeutet jedoch immer Wertung und Urteil, also Qualifikation — und Else Lasker-Schüler und Theodor Däubler trotz des möglichen Einwandes, „daß sie jenseits dieser Generation stehen"^2, in die Sammlung aufgenommen, so betonte er schon 1922 die nicht nur zeitgenössische Gültigkeit der Ausgewählten — darunter auch die Else Lasker-Schülers.3 Sie selbst hatte sich schon lange zuvor bei Kurt Wolff entschieden für die Annahme von Gedichten Gottfried Benns eingesetzt, wohl nicht nur wegen ihres engen persönlichen Verhältnisses zu diesem Dichter. „Sonst bin ich immer mißtrauisch dieser Art Arzt gegenüber, aber diese Gedichte hat ein wirklicher Tiger gedichtet... Herr Dr. Pinthus lernte ihn kennen und konnte nicht genug von ihm sagen — so entzückt war er"^4.Und sie begriff Kurt Wolffs Ablehnung nicht: „Ich fass Sie gar nicht mehr — daß Sie Menschen drucken, die Dilettanten sind und Dr. Benn ein Herculesdichter — eine wirkliche Kraft die Sachen wiederschicken. Ich fass das nicht"*. Seit 1912 war Franz Werfel Lektor im Wolff-Verlag, wo auch Kafka und Trakl erschienen, und arbeitete mit Hasenclever und Pinthus zusammen^6. Sollte Werfel — wie wir aus Pinthus' Lebensgang vermuten dürfen — das Urteil beeinflußt haben, etwa auch die Proportionen der Menschheitsdämmerung? Denn Menschheitspathos war beim jungen Benn wenig zu finden. Else Lasker-Schüler indes besaß ein sicheres Wertgefühl, wie ihre Stellung zu den Werken Trakls oder Marcs bezeugt. Damals, 1913, war sie entzückt von Franz WerfeR Aber schon 1927 fällte sie das Urteil: „Franz Werfeis Gedichte die ersten, sind sehr gut, ihn selbst mag ich gar nicht, er ist ein Falschspieler in der Dichtung, er ist nicht identisch mit der wohlmeinenden gütigen Gesinnung seiner Verse. Aber Georg Trakl war ein unvergleichlicher Dichter und feiner Mensch, auch Kafka, der so früh starb"^8. Sie fordert offenbar Identifikation, existentielle Wahrheit: volle Deckung der Aussage durch Leben. Schien eben dieses bei Werfel zu mangeln? Die Strenge dieses Maßstabes hat Else Lasker-Schüler zuerst an sich selbst angelegt, wie verschiedene veränderte Fassungen in aufeinander folgenden Ausgaben und Änderungswünsche, bis in den letzten Druckvorgang hinein, belegen. Sie war auch darin Georg Trakl nahe, der noch unerbittlicher um die Wahrheit der Endfassungen gerungen hat», ihre sämtlichen Gedichte überraschen und überzeugen durch das bei allem Wandel durchgehaltene Niveau, das die Auswahl einzelner davon schwer macht, und den durchgehenden eigenen Ton, der die Auswahl wiederum erleichtert, weil jedes dieser Gedichte aus dem Zentrum kommt und dorthin zurückweist. Von den in die Menschheitsdämmerung aufgenommenen 15 Gedichten hat Else Lasker-Schüler sieben in die Handschriftausgabe mit Lithographien Theben (1923)^10 aufgenommen („Gebet", „Meine Mutter", „Versöhnung", „Mein Volk", „Senna Hoy", „Ein alter Tibetteppich", „Ein Lied") und nur drei andere („Marie von Nazareth", „Joseph wird verkauft", „Gott hör") hinzugefügt. Diese eigene Auswahl bestätigte andererseits die von Kurt Pinthus, falls dessen Entscheidung nicht wiederum rückgewirkt haben sollte. Zweifellos stehen Gedichte wie „Ein Lied der Liebe", „Ein Lied", „Mein Liebeslied", vor allem „Abschied", nicht hinter den genannten zurück. Pinthus' Auswahl war auch genügend breit, um den eigenen Ton dieser Lyrik zu zeigen. Else Lasker-Schüler war damals (1919) fünfzig Jahre alt. Eine Hundertjährige wäre sie heute. Sie sich lebend unter uns vorzustellen, scheint indes leichter als bei ihren Freunden Heym und Trakl, die nunmehr 82 Jahre alt wären: deren Werk erscheint geschlossener, vielleicht weil 30 Jahre früher abgebrochen. Als 1869 (11.2.) Geborene gehörte Else Lasker-Schüler eher der Generation Hauptmanns, Holz', Georges, Hofmannsthals und Rilkes zu als den Lyrikern, die in der Menschheitsdämmerung versammelt sind. Nur Stramm (1874) und Däubler (1876) waren in den siebziger Jahren geboren — Else Lasker-Schüler gab sich jünger, nannte 1876 als Geburtsjahr und konnte ungehalten werden, wenn jemand diese Korrektur nicht respektierte^11 —: alle anderen Lyriker kamen aus den achtziger Jahren; Becher, Goll und Heynicke, 1891 geboren, waren die jüngsten. Brecht (1898), gleichaltrig mit Else Lasker-Schülers Sohn Paul, gehört schon in die nächste Generation. Eine relativ gleichaltrige und gleichartige Generation trug die expressionistische Lyrik vor, wenn man von der Altersspanne zu Däubler, Stramm und Lasker-Schüler absieht. Zwischen ihr, der Ältesten, und dem Jüngsten dieser Lyriker klaffen immerhin 22 Jahre. Zudem war sie die einzige Frau unter ihnen, die breite Anerkennung fand. Mit ihr begann die Reihe bedeutender Lyrikerinnen im 20. Jahrhundert. Beides begünstigt ihre Stellung als Wegbereiterin und Sammelpunkt: durch Vorbild, Freundschaft, Liebe. Mit Karl Kraus, Theodor Däubler, Richard Dehmel, Georg Trakl, Rene Schickele, Gottfried Benn, Franz Werfel, Franz Marc, Oskar Kokoschka, Paul Zech, Peter Altenberg, Max Brod, Albert Ehrenstein, Alfred Kerr, Martin Buber und anderen war sie befreundet oder in Briefkontakten, während Namen wie Rilke oder Hofmannsthal in ihren Briefen so gut wie nicht vorkommen. Viele Fäden innerhalb dieser „expressionistischen" Generation gehen von ihr aus und laufen zu ihr zurück. Auch wenn man ihre Lyrik als nicht expressionistisch definieren müßte, könnte man Else Lasker-Schüler doch nicht aus diesem Zusammenhang lösen: jener Genossenschaft der Zeit. Bei Erscheinen der Menschheitsdämmerung lagen bereits ihre Gesammelten Gedichte (1917) vor. Die Fünfzigjährige vermochte auf ein Werk zurückzublicken und wies bisweilen in ihren Briefen auch ausdrücklich darauf hin. Ihr Werk und ihre Person ermunterten die Jüngeren auf neuen Wegen. Hatte sie selbst — gegenüber Storm, Meyer, Liliencron^12, George, Rilke, Hofmannsthal, Holz — wirklich neue Wege der Lyrik betreten? Das Gedicht „Senna Hoy" steht in den Gesammelten Gedichten (1917) in dem Zyklus „Meinem so geliebten Spielgefährten Senna Hoy" an neunter und letzter Stelle dieser Liebesgedichte. Ein erstes Gedicht „Senna Hoy", an zweiter Stelle im Zyklus, wird auf 1914 datiert^13, während wir für das oben zitierte 1915 als Entstehungsjahr annehmen dürfen, was aus der Vorrede dazu sich erschließen läßt. In jenem ersten Gedicht „Senna Hoy" heißt es: Wenn du sprichst, Wacht mein buntes Herz auf. Alle Vögel üben sich Auf deinen Lippen. Immerblau streut deine Stimme Über den Weg; Wo du erzählst, wird Himmel. Deine Worte sind aus Lied geformt, Ich traure, wenn du schweigst. Singen hängt überall an dir — Wie du wohl träumen magst? Der Überschwang der Liebe, der nach Bildern und Träumen greift, steigert sich noch in den folgenden Liebesliedern. Auf deinen Wangen liegen Goldene Tauben... O, ich denke an dich– – Die Nacht frage nur. Niemand kann so schön Mit deinen Händen spielen, Schlösser bauen, wie ich Aus Goldfinger... („Mein Liebeslied") [...] Aber dein Antlitz wärmt meine Welt, Von dir geht alles Blühen aus. Wenn du mich ansiehst, Wird mein Herz süß... Dich hinzaubern und vergehen lassen, Immer spiele ich das eine Spiel. („Siehst du mich") [...] Ich weiß immer, Wann du an mich denkst — Dann wird mein Herz ein Kind Und schreit. An jedem Tor der Straße Verweile ich und träume... („Ein Lied der Liebe") Ich weiß, dein Herz ist still, Mein Name steht auf seinem Saum... („Ein Trauerlied") […] Daß wir uns im Leben Nie küssen sollten... Nun bist du der Engel, Der auf meinem Grab steht... Aber ich bin tot, Sascha, Und das Lächeln liegt abgepflückt Nur noch kurz auf meinem Gesicht. („Sascha") Wie die Beispiele zeigen, spiegeln die Gedichte des Zyklus eine innere Entwicklung: vom Glück des Habens zur Sehnsucht und zum Nicht-mehr-festhalten-können. Am Ende des Weges spricht die Trauer um den Verlust, in dem noch einmal alle Liebe verklärt aufblüht: Seit du begraben liegst auf dem Hügel, Ist die Erde süß. Dieses so einsetzende Gedicht krönt das Sagen von einer großen Liebesbegegnung und schließt es ab. Sie gewinnt in ihm Dauer. Darüber hinaus und dahinter gibt es kein Sagen mehr davon. Das Entschwinden des Geliebten entleert die Welt und macht sie fremd, zumal die Existenz sich in der Liebe erfüllt hat. Und ich bin unbegreiflich unseren Freunden Und ganz fremd geworden. Auf diesseitige Entfremdung hin ist das Gedicht angelegt. Man könnte über einen Bogen hinweg zusammenlesen: Seit du begraben liegst... (bin ich)... ganz fremd geworden. Der Weg zwischen diesen beiden Zeilen, obwohl 16 Verse lang, läuft indes nicht über die Brücke weitgespannter, gegliederter Syntax. Das lyrische Sprechen mündet in die Aussage irdischer Fremdheit aus, ein Akt geradezu von Gerechtigkeit^14, notwendig von der Stellung im Zyklus und vom einstimmenden Vers her, aber es scheint nicht beabsichtigt, gezielt und konstruiert, bleibt ohne rhetorischen Effekt. Ein Strömen, zieht es, wie von selbst an jenes andere Ufer, eine Welle löst darin die folgende aus. Die Metaphorik des Strömens wird hier für die Bewegung des Gedichtes nicht von ungefähr gebraucht. Sie deckt sich mit der zentralen metaphorischen Selbstdeutung. In den Briefen setzen die Wasser-Metaphern etwa zur Zeit der Entstehung des Gedichts „Senna Hoy" ein. In einem undatierten Brief an Hanns Hirt lesen wir: „Mein Herz schlug gestern meine Lippen hart, ich konnte kaum sprechen. Auch war ich gar kein Wasser mehr. Ich bin Wasser, darum bin ich keine Frau. Ein Stern fällt nur in den Schoß eines Wassers. Man kann im Wasser ertrinken oder bis auf den Grund schadlos tauchen, wo Rosen und Tang wachsen; Wasser sucht immer; manchmal nimmt Wasser Gestalt an und dann bin ich heimatlos — wohin".^15 Wenig später, diesmal auf Mai/Juni 1915 datierbar, heißt es, wieder an Hanns Hirt: „Gehe am 1. Juni ans Meer und wenn dort an den Stranden Granaten und Bomben fliegen. Ich muß ans Meer... Es hat mich sehnsüchtig gemacht; ich muß an das Wasser denken".^16 Und: „Bedenken Sie doch bitte immer, ich bin Wasser, traurig, verheerend, frisch und immer ertrinke ich in meinem Rauschen selbst".^17 Nur ganz selten, und dann im Zusammenhang mit ihren Gedichten, sprach Else Lasker-Schüler vom Fliegen. Dem Strömen des Wassers entspricht auch das Blumenhafte und Pflanzliche, das „Pflanzenleise", das sie einer Frau wünscht, nicht jenes „stampfende" Rechthaben von Suffragetten^18 Dieses Elementare gilt bis ins Religiöse hinein, wenn sie 1942 an Martin Buber schrieb: „Jesus von Nazareth war pflanzlicher. Er drang die Menschen nicht und wenn wir nur von seiner einfachen Lehre wüßten, gäbe es heute noch Judenchristen und das wäre eine Brücke zwischen Juden und Christen. Jesus ein Dichter... ich bin keine Zionistin, keine Jüdin, keine Christin; ich glaube aber ein Mensch, ein sehr tief trauriger Mensch".^19 Das Elementare, Bewegte, Strömende geht durch diese Existenz, und wo wir ihren Glauben erreichen, sind wir auch wieder bei ihrem Gedicht: „Jesus ein Dichter", Bruder der leidenden Dichterin, in der die Menschheit und die für die Menschheit leidet, stellvertretend.^20 Wasser dürfen wir auch als Metapher des Assoziativen verstehen, des Aufreihens von Molekülen, des nicht Konstruktiven, das sich nicht aus sich bewegt, sondern von anderswoher bewegt wird. Wir wären damit bei Else Lasker-Schülers Gottesverständnis, ihrem Sein schlechthin. Assoziativ entfaltet sich auch ihr Denken. An einer Briefstelle mag das besonders deutlich werden: Heute scheint warm die Sonne vom Himmel herunter. Sie gehen jetzt wieder in den Wald. Zuhause wohnten wir am Fuß des Waldes und ich pflückte immer Waldbeeren. Vom Wald sah man über die Stadt; die tausend Schornsteine rauchten alleine schon einen Himmel Wolken. Ich war schon lange nicht in Elberfeld. In unserem Hause wohnen nun einige Familien und unser Turm schwankt, soll abgerissen werden; nur im Gärtchen wachsen noch die alten Sträucher. Ich hätte alles am liebsten abbrennen lassen oder mir das Haus am liebsten wieder erneuern lassen. Eine seltsame Stadt, schwarz vor Romantik und Geschehnissen und Umhertreibern aller Art. Der Rhein ist viel langweiliger wie die Wupper. Nun fangen die Proben meiner Wupper bald an. Könnte ich mich doch freuen darüber. Das Stück gefällt mir nicht mehr. Man muß ja wie man soll...^21 Wald — Waldbeeren — Jugend an der Wupper — Drama Die Wupper: so strömt und fließt dieses Denken nach seinem Gesetz. Zugleich aber distanziert sich der Intellekt von jeglichem Verschwimmen. „Halten Sie mich bitte nicht für eine Schwärmerin mit romantisch verglotzten Augen und mit einer verschwimmenden Seele", schrieb sie 1903 an Richard Dehmel^22, die spätere Verfremdungsformel Bertolt Brechts „Glotzt nicht so romantisch!" fast wörtlich vorwegnehmend, und sie wies Sentimentalität^23 und Pathos^24 von sich. Das hängt zusammen mit dem antibürgerlichen Affekt^25 schon der Naturalisten, dann ihrer expressionistischen Generation, vor allem ihrer selbst, eine Komplementärerscheinung der Emanzipation von einer bestimmt geprägten und geordneten Gesellschaft, der bügerlichen, der Emanzipation der Frau — und Else Lasker-Schüler war eine der ersten Emanzipierten in diesem Jahrhundert — und der Emanzipation des modernen Künstlers, die in der Aufklärung einsetzte und im Sturm und Drang sich bekannte. Beides gipfelt hier in einem gesteigerten, ja vereinseitigten Künstlerbewußtsein, dem „der Mensch nur der Tunnel zu seiner Kunst"^26 erscheint, das sich mit Mozart^27 gleichsetzt und im Anschauen Venedigs^28 erfüllt. In Bildassoziationen durchströmt das Gedicht „Senna Hoy" das Feld der Trauer, in das es mit der ersten Zeile eintritt. Bild um Bild kommt wie Welle um Welle, je in eine doppelzeilige Strophe gefaßt, die immer zugleich eine Satzeinheit darstellt. Kein chaotisches, vielmehr ein wohl geordnetes Strömen, in dem syntaktische, rhythmische und metaphorische Einheiten jeweils in einer Welle zusammenfallen. Die Parataxe ist innerhalb der Doppelzeilen nur dreimal durchbrochen und aufgelockert, aber nur durch Nebensätze ersten Grades (Seit du begraben liegst... Wo ich hingehe... Erde, die dich barg...) Es ist ein elementares lyrisches Sprechen, das auf weitgespannte Syntax verzichtet, auf traditionelle oder gar artistische Strophen- und Reimformen, auf Pathos und Verführung durch schönen Klang. Es verzichtet eigentlich gar nicht, strömt nur sich selbst aus, will nur die Wahrheit und Unverstelltheit des aussagenden Bildes verwirklichen, ohne jenes Faszinans der Form, von dem Benn später sprach. Else Lasker-Schüler ist darin Georg Trakl nahe, den sie, wie ihre Briefe an Ludwig von Ficker ausweisen^29, sehr verehrte (sie war ihm im März 1914 in Berlin begegnet) und den sie in einem Gedicht mit Martin Luther verglich. Sie maß ihm darin offenbar nicht nur bohrende Glaubenskraft, sondern auch reformatorische Macht als Lyriker zu im Wiederentdecken der Elemente der Lyrik, des reinen lyrischen Wortes: „Seine Gedichte: Singende Thesen"^30. Während Rilke, trotz Einbrechens der Formen nach innen (z. B. Sonette an Orpheus), Hofmannsthal in einem sinnbetörenden Verfließen (z.B. „Ballade des äußeren Lebens"), Stadler trotz Überladung der Verse und Heym trotz monotoner Spröde an überkommenen Formen und Reimen festhielten und keine Experimente eingingen, traten Stramm, Becher, Werfel und andere aus dem Überkommenen heraus und wagten neue Formen, die der neuen Verkündigung entsprechen sollten. Die von Arno Holz (1899) als Revolution der Lyrik proklamierte „Befreiung des Gedichts aus den Fesseln des Metrums, des Reims und der Strophe"^31 hatte durchaus schon Vorläufer in Dehmel, Mombert, Dauthendey, ja Mörike (Peregrina-Zyklus), Hölderlin, Goethe, Klopstock. Nach Heselhaus „hat Trakl auch die vollendetsten Zeilenkompositionen geschaffen, die es in der deutschen Lyrik bisher gibt"^32. Trakl selbst durchlief einen Entwicklungsprozeß vom sogenannten Salzburger zum Innsbrucker Ton, vom impres-siven zum expressiven Sprechen, im Verzicht auf Reime, in der Reduktion der Strophen auf Drei- und Zweizeiler bis zur Aufgabe der Strophenformen. Auch Else Lasker-Schüler machte diesen Prozeß der Reduktion etwa gleichzeitig durch, der sich schon in ihrem ersten Gedichtband Styx (1902) abzeichnete. Er führte zu gereimten Zweizeilern etwa in dem berühmten Gedicht „Ein alter Tibetteppich" in dem Gedichtband Meine Wunder (1911) und dann zu der eigentümlichen Form meist reimloser Zweizeiler, die den Zyklus an Senna Hoy fast durchgehend bestimmen. Else Lasker-Schüler ging über diesen Grad der Reduktion nicht hinaus: kein Schreien, keine Sprachzertrümmerung, sondern Wandlung, immer zwischen Bindung und Ungebundenheit, sich beider bewußt, zu der Form, die die Metaphorik freilegt. Satzweise werden assoziativ Bilder gesagt. Die Metaphern überstürzen und hemmen, verketten und entleeren sich gegenseitig nicht: sie folgen sich wie Wellen der Dünung, rufen einander auf, aber gegenseitig und in sich doch begrenzt, nicht uferlos, innerhalb ihrer selbst von Klangassoziationen bisweilen abgestützt: Hügel — süß; Wo wandele — Wege; hingehe — Zehen — Wege; O — Rosen — Tod; mehr — Sterben; blühe — Blumen; Lippen — mich —immer; Freunden — fremd. Kein uferloses Bildstürzen: je einem Interwall dreier Bilder folgt Reflexion. A. (1) Das begrabene Du „süßt" die Erde, nicht mehr das Herz, wie vorher der Lebende („Wenn du mich ansiehst/Wird mein Herz süß"), schießt Reife ein, würzt sie, macht sie wert. (2) Das Ich geht nun „auf Zehen", will die wertvolle, geheiligte Erde nicht belasten oder verletzen, denn das tote Du reinigt alle Wege. Der Tod entsühnt das Irdische. (3) Über das in Du-Ich-Bezug gesetzte und sich setzende Ich steigt die Genitiv-Metapher von des „Blutes Rosen" auf, die „den Tod sanft durchtränken". Das Lebende (Blut) in seiner höchsten Blüte (Rosen) durchdringt gewaltlos das Ende. Zwei Zeilen, die wir bei Trakl finden könnten. (4) Auf das Du (deines Blutes) folgt wieder das Ich, das denkt, folgert und damit aus den Bildern heraustritt: Ich habe keine Furcht mehr Vor dem Sterben. B. Todsein und Todesbereitschaft haben sich eingeholt. Totes Du und lebendes, todbereites Ich umschlingen sich inniger: (5) als Blume der Schlingpflanzen auf dem Grabe — die Süße der Erde aufsaugend — C. Auf deinem Grabe blühe ich schon... (6) als vernommener und verwirklichter Ruf — Deine Lippen haben mich immer gerufen — (7) als Erde, die beide deckt, aber einmal bergend, das andere Mal verschüttend, ein Unterschied, der besagt, daß der Tote geborgen, der Lebende aber dem Leben entzogen ist. Jede Schaufel Erde, die dich barg, Verschüttete auch mich. Die innigere Verbindung von Du und Ich zieht jetzt die Benennung beider in eine Strophe, ja in eine Zeile. Die Spitzenstellung oder die vorangehende Nennung des Du rufen die Nennung des Ich als Antwort auf. Nach diesem zweiten Intervall dreier Bilder erneuen das Denken und der Begriff: (8 und 9) Einsicht in das Nächtige und in die Fremdheit auf Erden, die das Ich von der vollzogenen Todesnähe her überkommt. Man meint, das Sagen wäre angekommen als Entfremdung vom Irdischen und Gleichstimmung in den Tod; der Absprung von der Wirklichkeit sei geglückt durch Identität mit dem Toten im Tode. Das ist jedoch der Punkt des Innewerdens der eigentlichen Distanz, die Stelle des Absprungs von der Illusion, der Wendepunkt des Gedichts, der in jenem mächtigen Aber, mit dem die Schlußstrophe einsetzt, geschieht und die Spanne von Du und Ich durch das uneinholbare Voraussein des Toten gewaltig auftut (10): Aber du stehst... und wartest auf mich. Die erfahrene und gedachte Gewißheit birgt sich erneut ins Bild: des „Tores der stillsten Stadt" und des „Großengels". Der Blick der Liebenden und Trauernden hat eine vertikale Richtung angenommen. Das Liebesgedicht mündet in religiöse Dichtung, ins Gebet. Im Anruf des Engels (du Großengel) taucht das Sagen in die biblische Sphäre ein, wird von der Art der Lyrik der Psalmen. Von ihrer toten Mutter sprach Else Lasker-Schüler so — War sie der große Engel, Der neben mir ging?... Ich werde jetzt immer ganz allein sein Wie der große Engel, Der neben mir ging. („Meine Mutter", MD 103) oder von ihrem toten Sohn: „Ich suche immer meinen geliebten Paul. Denken Sie, mein Paul erschien mir so liebreich und so mächtig zugleich, ein unsäglicher Engel"^33. Indem sie den Abstand von Hier und Dort herstellt und bewußt macht, eben durch verfremdende Ernüchterung, erhebt Else Lasker-Schüler eigentlich das Gedicht. Liebe und Dichten wachsen zu religiösem Akt empor. Ein Absolutes kreuzt ein, es ist vielmehr schon in Liebe und Dichten enthalten, wie Liebe im Dichten und Dichten in Liebe. Wohl 1913 bekennt sie an Paul Zech: „Denn immer geht mir die Liebe vor Geld und Gold"^34. Von hier aus verstehen wir das Aufklingen des Liebesgedichts, wovon Fritz Martini sagt, Else Lasker-Schüler habe „das Liebesgedicht nochmals zu einer großen Schönheit geführt [...] ihm eine metaphysische Dimension gegeben"^35. [t]Senna Hoy ist die Umkehrung des Namens Johannes (Holzmann), dem auch der Kosenamen Sascha gegeben wird. Als Motto steht über dem Zyklus In Moskau der Prinz Sascha Saß sündlos gefangen sieben Jahr. Die einzelnen Gedichte sind alle Sascha gewidmet, das letzte, hier interpretierte Gedicht „Senna Hoy", wird in der Gesamtausgabe eingeführt mit folgendem Vorwort, das die Entstehungszeit auf 1915 zu datieren erlaubt: Senna Hoy† Senna Hoy ging vor zehn Jahren nach Rußland. Er war damals zwanzig Jahre alt. Während der Revolution [gemeint ist die von 1905] wurde er in einem Garten gefangen genommen, ganz grundlos, wie damals solche Verhaftungen nach Gutdünken der Polizei stattfanden. Auf dem Termin wurden Zeugen, die Senna Hoy angab, nicht zugelassen und er kam vom Rathaus in die Warschauer Festung. Aber bald wurde er in das entsetzliche Gefängnis (Katorga) nach Moskau gebracht, wo er, da er sich stets gegen die Mißhandlungen der Mitgefangenen einsetzte, selbst fast zu Tode gepeinigt wurde. Durch die Hilfe des Leibarztes des Zaren gelang es, Senna Hoy, nachdem er sieben Jahre im Kerker zu Moskau geschmachtet und zweimal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, in die Gefangenenabteilung des Krankenhauses nach Metscherskoje, fünf Stunden über die Ebene von Moskau entfernt, zu bringen, wo er, der schönste, blühendste Jüngling, der auszog, für die Befreiung gepeinigter Menschen zu kämpfen, selbst erlag, zwischen todkranken, irrsinnigen Gefangenen. .Wohl ein heiliger Feldherr', meinte selbst der Direktor der Anstalt"^36 Ein Vortext wie dieser würde vielleicht erwägen lassen, das Gedicht unter „Sturz und Schrei" in die Menschheitsdämmerung einzufügen, wie Pinthus tat. Das Gedicht selbst rechtfertigt dies eigentlich nicht. Aber es ist vom Herausgeber in die Umgebung von Georg Trakls „An den Knaben Elis", „Elis", Else Lasker-Schülers „Meine Mutter" gebracht, und so könnte man von Verklärung reden; doch schon Heyms „Morgue", das davor steht, und von Hoddis' „Der Todesengel", das folgt, geben auch diesem Text eine dunklere Tönung, als von ihm allein ausginge. Er büßt an Erhebung und Leuchtkraft ein. In den unterschwellig zitternden Jahren vor dem ersten Weltkrieg entdeckte man Hölderlin und Kierkegaard wieder, in ihnen das prophetisch-existentielle Wort, wie jede Epoche das ihr Angemessene findet und aufnimmt. Denken wir an Kafka oder Trakl, die beide Kierkegaards Schriften kannten, tritt die Angst als ein Grundphänomen hervor. Unruhe und Unstete folgen aus ihr, zuletzt Einsamkeit. Auch Else Lasker-Schülers Lebensgefühl kommuniziert aus diesem Zentrum. Aussagen ihrer Angst ziehen sich durch den ganzen Briefwechsel.^37 „Ich habe immer furchtbare Angst; ich bin gar nicht zu trösten —",^38 Grundangst, Todesangst ließ dieses Dasein unstet werden, immer auf der Flucht sein, „immer unterwegs"^39, auch materiell: nie Zuhause, immer in Hotels, Pensionen, Untermiete, möbliert, in Not^40, meist ohne Geld, verurteilt zu Bettelbriefen, wie die an Sylvain Guggenheim^41. Diesem elenden Dasein gegenüber genügte ihr eben nicht Anklage und Schrei: Else Lasker-Schüler setzte dagegen ihre eigene Welt: „Denn nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf"^42. Dort geschieht ständig die Verwandlung in Geist, in Ausdruck. „Vor meinem Fenster der Baum sieht jetzt aus wie eine hellgrüne Vogelschöne, hebt die Äste: Erlöse mich! Ich kenne den Baum besser als die Menschen. Wie soll ich ihn erhören. . ,"^43 Im Geist verwandelt sich die Welt oder: der Geist verwandelt die Welt. Solcher Geist ist das Spiel der Kunst, das Spiel schlechthin. 1927, nach dem Tode ihres Sohnes Paul, schrieb sie in einem Brief: „Keinen Hunger noch Not gleichen der Pein, die ich durchmachte. Vielleicht wird sich nun alles lindern. Manchmal, nein einmal, vor einigen Tagen nahm ich meinen herrlichen Indianerhut mit den schönen geschenkten Federn und der prachtvollen Helliotropfeder aus dem Schrank und setzte ihn auf — als ich mich vom Spiegel umdrehte, schrie das Zimmer laut vor Erregung."^44 „Ich weiß nun auch, wir werden uns begegnen, ein Zelt bauen wo an einem Strand — Muscheln sammeln und Inseln bauen aus Sand und Algen und allerlei Blumen des Meeres".^45 Indem sie die Realität nicht anerkannte, erhob sie sich darüber, erhob alles zum Spiel^46, zur Kunst als der eigentlichen Wirklichkeit, schuf sich in Wort und Zeichnung das Traumreich eines phantastischen Orients als Prinz Jussuf von Theben. Dieses Nehmen des Lebens als Spiel könnte leichtfertig, gar frivol aussehen oder es entspränge einem ausgeprägten Ästheti-zismus, wenn wir nicht die religiöse Basis dieser Existenz begreifen. Vergleichbar einem Novalis, wurde ihr alles Dasein zum Spiel vor Gott.^47 So prononziert Else Lasker-Schüler sich als Jüdin bekannte^48, Palästina als das letzte Ziel des Weges sah^49 und Jerusalem als die Mitte^50, so sehr sie sich kraft ihrer Hebräischen Balladen (1913) und der Schrift Das Hebräerland (1937) als „die Dichterin des Hebräerlandes"^51 wußte und schon der 1904 gestorbene Peter Hille sie „die jüdische Dichterin von großem Wurf" und den „schwarzen Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist"^52, genannt hatte, so geißelte sie voller Bitternis den Irrweg dieses ihres alten Volkes zur Geldverfallen-heit^53, hielt aber am Judentum fest: „Und ich möchte sagen, ich bin nicht mehr Herbräisch des Judentums wegen, aber Gottes willen, der mein Herz prüfen kann und meinen Schmerz".^54 In den Briefen scheint immer wieder die religiöse Existenz^55 durch, die noch Christus^56 einbeziehen konnte und nichts Missionarisches^57 kannte. So schrieb sie nach dem Tode Georg Trakls aus Anlaß eines Besuches bei dessen Schwester in Berlin, deren antisemitische Äußerungen sie schwer verletzten, an Ludwig von Ficker (27. 12. 1914): „Es gibt kein Mensch, Landvogt, der internationaler, ist wie ich, ich liebe alle Menschen, die den Tempel jeder Art Gotteshaus oder Gotteshauch auf den Gipfel tragen. Rühme sich nur niemand seiner kühlen Übersicht, seiner nüchternen Nichterkenntniß, dem fehlen die Augen zu Höherem".^58 Und am 23. 12. 1942 an Martin Buber: „Ich war ein einfacher Soldat Gottes; ich kann mich aber nicht mehr uniformieren. Ich ströme mit einem Tag nach dem anderen hin. Vielleicht glaubt Gott der Ewige an mich, ich weiß nicht in meiner Menschlichkeit, wie ich an den Ewigen denken kann glauben? Und liege doch vielleicht in Seiner unsichtbaren Hand"^59. Oder in der tödlichen Krankheit ihres Sohnes (an Paul Goldscheider am 3. 11. 1927): „Ich bete manchmal, Gott soll an ihm ein Wunder tun oder mich für ihn so strafen oder wenn es Ihm gefällt uns beide erretten. So ähnlich bete ich; ein Gebet ist ja Schaum, steigt auf, sollte es sein; oder ein Becken des Bittwillens, das des Gottes Hand berührt."^60 Gläubigkeit, Bekenntnis und Kunstwille schufen Gedichte wie „Und suche Gott" (MW), „O Gott" (GG III 1920 als Schlußgedicht), „Gebet" (Klavier 1943). Die Hebräischen Balladen (1913) schließen mit „An Gott", die Sammlung Das Konzert (1932) beginnt mit „Lied an Gott". „Gott hör" aus Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) findet sich als Schlußgedicht der zehn handschriftlichen Gedichte Theben (1923), die eröffnet werden mit dem lyrischen Text „Gebet". Dieses „Gebet" (zuerst in GG 1917) beschloß wiederum den Gedichtband Die Kuppel (1920). Die hervorgehobene Stellung dieser religiösen Gedichte läßt die Bedeutung erkennen, die sie für Else Lasker-Schüler hatten. Diesem „Gebet" kommt exemplarischer Charakter zu. Das Gedicht „Gebet" vollzieht mit seinen drei Strophen einen inneren Dreischritt nach: Situation des Gebrochenseins und der Suche — Rechenschaft des gelebten Lebens — Anruf Gottes zum Weltende. Die Strophen wiederum sind aus je fünf Versen aufgebaut, durch Reime aabab gebunden. Else Lasker-Schüler bindet sich mit dieser selteneren, komplizierteren Formgebung an die Tradition und zugleich an die Artistik eines genauen Kunstwillens. In diesem „Gebet" geschieht Rückbindung — was re-ligio wörtlich bedeutet — und solche letzte Rückbindung hat nicht mehr nötig, Tradition abzustreifen. Sie bettet sich darin ein, wie die weite Gläubigkeit in die Tradition des Judentums. Reduktion, Abbreviaturen, Traumstruktur, Schrei nach Befreiung hat dieses Gedicht hinter sich, der sich einem höheren Willen übergebenden Bindung erscheint die bis ins Formdetail waltende Bindung der Sprache angemessen. Hierin tritt Else Lasker-Schüler aus der expressionistischen Front heraus. Das Bild setzt dort ein, wo das Gedicht „Senna Hoy" auslief: mit dem Engel vor dem Tor jener Stadt, die dort die „allerstillste" hieß. Dort wußte sie Senna Hoy als jenen Engel, und mit der erhabenen Endgültigkeit des Todes war auch jene unüberschreit-bare Kluft zum Irdischen bewußt. Hier ist die Kluft keineswegs überwunden, aber die Überwindung erstrebt. Suche ist irdisches Schicksal, überall, „allerlanden", wie die Wortschöpfung souverän trifft. Daher die Unstete. Denn der Suchende ist von jenseits gezeichnet: ihm ist die Schwinge verliehen und der Stern des Engels siegelt seine Stirn. Die innere Bindung durch Alliteration wird hier besonders spürbar (schwer — SWhilterblatt; Stime — Stern — Siegel), wie schon in allerlanden — Stadt — und später in wandle — Nacht, habe — gebracht, hab — gewacht, blau — Wühen oder in letzte Mensch — Welt. Zweifellos verleihen die A-Klänge, gemeinsam mit der festen Fügung durch Rhythmus und Reim, der Aussage des Suchens einen Unterton der Gewißheit, der in der dritten Strophe dann zurückweicht: die Bitte für das Künftige entbehrt der Gewißheit. Der Flügel des Engels läßt sich hierzulande nur gebrochen tragen, das zur Verwirklichung aufgegebene Jenseitige scheitert an der bitteren Wirklichkeit, die Kluft ist ungeleugnet da. Aber das Stigma des Siegels auf der Stirne bleibt, fast wie jenes Unauslöschliche Siegel der konvertierten Jüdin Elisabeth Langgässer. Das Suchen des Menschen aus sich aber entbehrt der Helle. Von Dunkelheiten bestimmt, führt sein Weg ins Nächtige. Von Menschheitsglauben, gar -pathos ist nicht die Rede, auch nicht von intellektuellem Optimismus irgendeiner Aufklärung. Dieses Ich, das sich selbst immer wieder nennt, also nicht distanziert und objektiviert, dieses Ich, suchend, gebrochenen Flügels, doch gezeichnet, weiß von sich eine doch sehr stolze Rechenschaft zu geben: Liebe in die Welt gebracht, sie vermehrt zu haben, und ein Leben bis zur Erschöpfung wachsam gewesen zu sein, für andere: Daß blau zu blühen jedes Herz vermag. Und dies im Bewußtsein der Dunkelheiten als Hüllen Gottes. Die Bitte geht um die Festigung dieser Hülle zu einem angepaßten Kleide, den Mantel. Mit der Anrede (O Gott) tritt das Gedicht vor das Du hin, nicht hinüber, weil es sich nicht vom Ich-Bewußtsein löst (Ich weiß). Dieses Ich demütigt sich zum „Rest im Kugelglas", weil es weiß, daß am Ende aller Dinge den Suchenden und Verlorenen Gottes Allmacht umfängt und hält. Aus dieser Kristallisation bildet sich ein neuer Weltkörper (neuer Erdball um mich). Das Ich ist ins Kosmische hinausgetreten, aber nicht als Vorgang der Natur, sondern als geistlicher, in Neuschöpfung Gottes. Dieses Gedicht kennzeichnet die etwa fünfzigjährige Lyrikerin durch demütigen Stolz, aber auch hohes Werkbewußtsein des Künstlers, das noch nicht von sich absehen kann. Das Ich zeichnet die Hingabe des Willens noch allzustark vor. Es spricht zweifellos ichbewußter als jenes „Gebet" von Eduard Mörike (1832). I Herr, schicke, was du willt, Ein Liebes oder Leides! Ich bin vergnügt, daß beides Aus deinen Händen quillt. Das „Gebet" der Else Lasker-Schüler jedoch weitet sich ins Kosmische und beschränkt sich nicht ins Biedermeierliche, wie jener zweite Teil bei Mörike: II Wollest mit Freuden Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten! Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden. Der volle Abstand beider, Mörikes und der Else Lasker-Schüler, zu einer sentimentalen, wortreich-rhetorischen Frömmigkeitsimitation tut sich auf, wenn man Emanuel Geibels „Gebet" dagegenhält, das zeitlich dazwischenliegt. Herr, den ich tief im Herzen trage, sei du mit mir, du Gnadenhort in Glück und Plage, sei du mit mir!...« Bedenkt man, daß die Ausgaben Geibelscher Gedichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Jugendzeit Else Lasker-Schülers, das dritte Hunderttausend überschritten, begreift man, was an Sentiment und unverbindlichem Gerede — Wortgeräusch, wie Max Picard sagte — zu überwinden war, begreift man jenen antibürgerlichen Affekt. Aber auch die demutende Anmaßung des Rilkeschen Stundenbuches überschreitet dieses lyrische Sprechen hier, weil es uns echter und wahrhafter erscheinen mag. Das betonte Ich und die komplizierte Form allerdings lassen das Gedicht mehr als einen lyrischen denn einen religiösen Akt bestimmen. Die durchweg jambischen Verse halten sich recht genau, wenn auch in abwechselnder Variation, an das vorgezeichnete Schema. Reimfolge und männliche oder weibliche Endungen bleiben sich gleich, aber die Hebungen im Vers wechseln zwischen vier und fünf. Schematisch wären die drei Strophen etwa so darzustellen: I a m 5 a m 5 b w 4 a m 4 b w 5 II c m 4 c m 4 d w 5 c m 4 d w 5 III e m 5 e m 5 f w 4 e m 5 f w 5 Die Verslängen geben der dritten Strophe etwas mehr Gewicht. Die fünfzeilige Strophe betont durch ihren Bau als solche jeweils den Mittelvers. Die Aussagen dieser Verse rücken in eine durch die Form gegebene Mitte: die Mitgift des großen Flügels — die Blüte jedes Herzens — die Vergießung der Welt (übrigens wäre es der Mensch, wenn auch der letzte, der die Welt aufhebt, „vergießt"). Von der Formstruktur her liegt demnach in der Mitte der Mittelstrophe, in Vers 8, die zentrale Aussage. Daß blau zu blühen jedes Herz vermag. Zentral erscheint also jenes Bewußtsein, daß durch das Sprache gewordene Liebeswerk jeder Mensch in seiner Mitte zu vollkommener Entfaltung gelangen kann. Die Spitzenstellung im Konsekutivsatz gibt dem Adverb „blau" besonderes Gewicht. Und in ihm bildet sich das Weltbild dieses lyrischen Ichs ganz in das Gedicht ein. Else Lasker-Schüler hebt dieses Blau in Briefen und Gedichten immer wieder hervor^62. Sie nennt Blau und Schwarz ihre Lieblingsfarben«, unterschreibt Briefe mit „blauer Jaguar"«, spricht von „einer lieben, blauen Spur"«, die ein Brief hinterläßt, sieht im Blau das Glück magnetisch angezogen«^6, setzt in einem Gedicht das Paradies in die Farbe Blau („Blau vor Paradies"^67), will schließlich nicht mehr an das „blaue Wunder" — wie nahe wieder Novalis mit seiner „blauen Blume" — glauben^68 und nennt doch ihren letzten Gedichtband Mein blaues Klavier (1943). Der Farbklang Blau des Mittelverses verweist auf die Widmung — „Meinem teuren Halbbruder, dem blauen Reiter" — und umgekehrt weist die Widmung vor auf den Mittelvers. Durch die Nennung des „blauen Reiters" tritt die Farbmetapher in einen weiteren geistes-und kunstgeschichtlichen Bezug. Nicht nur, daß die Lyrik Georg Trakls, in der Blau die Herzfarbe ausmacht, berufen wird^6», mit dem „blauen Reiter" ist Franz Marc gemeint und mehr: die Gruppe des Blauen Reiters, die sich 1911 in München zusammenfand (Macke, Marc, Kandinsky, Jawlensky) und von der Farbe her „das neue Bild" wollte, eine Revolution der Malerei wie die gleichzeitige expressionistische Lyrik. Bekannt war nicht nur das berühmte Bild „Der Turm der blauen Pferde", Marc steuerte Zeichnungen zu einer Gedichtausgabe der Else Lasker-Schüler bei, er lobte die Arbeiten ihres Sohnes Paul; ihm galten die fingierten Briefe an den blauen Reiter in der Kaisergeschichte Der Malik (1919), die ihm gewidmet ist: „Meinem unvergeßlichen Franz Marc DEM BLAUEN REITER in Ewigkeit". Marc war 1916 vor Verdun gefallen. Auf ihn erschien ein Gedicht in den Gesammelten Gedichten (1917): FRANZ MARC, der blaue Reiter vom Ried, Stieg auf sein Kriegspferd. Ritt über Benediktbeuren herab nach Unterbayern, Neben ihm sein besonnener, treuer Nubier Hält ihm die Waffe. Aber um seinen Hals trägt er mein silbergeprägtes Bild Und den todverhütenden Stein seines teuren Weibes. Durch die Straßen von München hebt er sein biblisches Haupt Im hellen Rahmen des Himmels. Trost im stillenden Mandelauge, Donner sein Herz. Hinter ihm und zur Sdite viele, viele Soldaten. Das Gedicht selbst folgte wiederum wie bei „Senna Hoy" einem Vortext, der Franz Marc bekannte und tief deutete.^70 Die Farbauffassung Franz Marcs führt zur Gruppe des Blauen Reiters und zur Farbentheorie Wassily Kandinskys (1910), die über die Malerei hinaus in die Lyrik hineingewirkt hat. Else Lasker-Schüler hatte teil an beidem. Bei Kandinsky lesen wir: Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt die Sehnsucht nach dem Reinen und schließlich nach Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel. Blau ist die typische himmlische Farbe. Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauert. • •] Je heller also, desto klangloser, bis es zur schweigenden Ruhe übergeht — weiß wird. Musikalisch dargestellt ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend den wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer, feierlicher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.^71 Den Geist dieses Textes realisiert Else Lasker-Schüler in der Metapher ihres Gedichts. Daß blau zu blühen jedes Herz vermag: die eigentliche Blüte des Menschen aus seiner Mitte transzendiert, verklärt, heiligt. Die Farbraetapher Blau ist eine religiöse Gnind-metapher, die zentrale Metapher dieses „Gebets". Vielleicht darf man sagen: entgegen aller Betonung überkommener Formstruktur (Strophe, Reim, Rhythmus) und syntaktisch mehr strukturierter Rhetorik verwirklicht sich das Gedicht erst eigentlich in dieser Zeile durch die Metapher, die Rede und Formverstand übersteigt. Das Gedicht „Gott hör", erstmals in Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921), dann als Schlußgedicht in Theben gesetzt, deckt dasselbe Phänomen auf. In seinen vier vierzeiligen Reimstrophen, den 16 Versen, lauten die Verse 9 und 10 —sie stehen also wiederum in der Mitte: Gott hör... In deiner blauen Lieblingsfarbe Sang ich das Lied von deines Himmels Dach —^72 Das zentrale Anliegen wird in der genauen Mitte in der Farbmetapher Blau ausgesprochen. In dieser Mitte öffnet sich das Gedicht wie ein Auge. Das „Gebet" der Else Lasker-Schüler steht in der Menschheitsdämmerung fast am Ende unter dem Kapitel „Liebe den Menschen" zwischen Hasenclevers „Auf den Tod einer Frau" und Werfeis „Veni creator spiritus", nicht ferne von Zechs „Das ist die Stunde", Klemms „Einheit" und Trakls „Gesang des Abgeschiedenen". ___________________________________________________________________^1 ^1Menschheitsdämmerung, S. 102 und S. 318. (Die Menschheitsdämmerung druckt in „Senna Hoy", Zeile 13, fälschlich „Jede Schaufel Erde, die ich barg".) Bei Hinweisen auf die Werke Else Lasker-Schülers werden folgende Siglen benutzt: MW Meine Wunder. Gedichte.— Karlsruhe Leipzig: 1911; HB Hebräische Balladen. — Berlin: 1913; GG Die Gesammelten Gedichte. — Leipzig: 1917; 2. Ausgabe: Leipzig: 1920; 6.—10. Ts.: München: 1920; K Die Kuppel. Der Gedichte zweiter Teil. — Berlin: 1920; WRB Der Wunderrabbiner von Barcelona. Erzählung. — Berlin: 1921; Th Theben. [10] Gedichte [in Faksimile] und [10] Lithographien. — Frankfurt Berlin: 1923 [250 Exemplare, davon 50 handkoloriert und signiert]; KO Konzert. — Berlin: 1932; Klavier Mein blaues Klavier. Neue Gedichte. — Jerusalem: 1943; 2. Ausgabe: Jerusalem: 1957. Die Gedichte der vorstehenden Ausgaben werden zitiert nach der Ausgabe „Sämtliche Gedichte" — SG. BKK Briefe an Karl Kraus. Hrsg. v. Astrid Gehlhoff-Claes. — Köln Berlin: 1959; DD Dichtung und Dokumente. Gedichte, Prosa, Schauspiele, Briefe, Zeugnis und Erinnerung. Hrsg. v. Ernst Ginsberg. — München: 1951; GW Gesammelte Werke I Gedichte 1902—1943. Hrsg. v. Friedhelm Kemp. — München: 1959, 1961, II Prosa und Schauspiele. Hrsg. v. Friedhelm Kemp. — München: 1962, III Verse und Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Werner Kraft. — München: 1962; SG Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Friedhelm Kemp. — München: 1966; Briefe I Lieber gestreifter Tiger. Briefe von Else Lasker-Schüler. Bd 1. Hrsg. v. Margarete Kupper. — München: 1969; Briefe II Wo ist unser buntes Theben. Briefe von Else Lasker-Schüler. Bd. 2. Hrsg. v. Margarete Kupper. — München: 1969. 1^a Menschheitsdämmerung, S. 23. ^2 Ebd., S. 25. ^3 Ebd., S. 35. ^4 Briefe I, S. 87 (etwa 1912/13). ^5 Ebd., S. 101 (5. 8. 1913). Dazu auch Briefe II, S. 70. ^6 Menschheitsdämmerung, S. 365. ^7 Briefe I, S. 87: „Bitte wollen Sie von mir unseren Franz Schuljungen entzückenden, feinen Dichter grüssen und den fidelen Dr. Pinthus." ^8 Briefe I, S. 171: an Paul Goldscheider, Zürich (3. 7. 1927). ^9 Vgl. z. B. die Entwicklung des Gedichts „Untergang" durch neun Fassungen in der neuen kritischen Ausgabe. Hrsg. v. Walther Killy. — Salzburg: 1969. ^10 Vgl. den schönen Faksimile-Druck in SG 263—288. " Z.B. Briefe I, S. 157: an Felix und Else Pinkus (11.2. 1938): „Ich fürchte, Sie schreiben mir Schädliches z. B. Angaben meiner Zeiten, die ebenso taktlos (da niemand mein Geburtsjahr weiß), für mich wären [...]" Briefe I, S. 158: „Wenn irgend von Zeiten meiner Person in Kritiken in Genf erscheint, mache ich Aufruhr." ^12 Briefe I, S. 38: an Jethro Bithell (9. 10. 1909): „Was kann mir Falke, Dehmel, Liliencron und alle die eitlen, im Pathos lebenden Schulmeister sein! Zwar war Liliencron kein Schulmeister, ein lieber Edelmann, aber ein Dilettant mit grünen Gedanken [...) Petrus Hille Gestirn, selbstverständliches Wetterleuchten. Und Mombert, er würde Ihnen auch als Mensch gefallen. Wie schade, daß mir Dehmel nicht auch als Mensch gefällt [...] Sie denken: sie kann den Künstler von dem Menschen nicht trennen! .Nein'. Das Gesicht ist die letzte Haut des Kunstwerks." ^13SG, S. 108—115; dazu SG, Anmerkungen S. 327. ^14 Vgl. dazu eine Briefbemerkung an Jethro Bithell (1910), Briefe I, S. 51: „[...] aber man muß so gerecht sein, sich, wenn notwendig, vertreiben zu können". ^15 Briefe I, S. 137. ^16 Briefe I, S. 142. ^17 Briefe I, S. 143. Zwischen 1927 und 1934 wiederholt sich die Wasser-Metapher in den Briefen. I, S. 161: an Paul Goldscheider (28. 4. 1927): „Aber ich bin darum nicht gehemmt zu fließen wie ich es will. Wenn ich auch sehr oft, zu oft, ja meist immer den Strom zurückfließen gegen den Strom muß, darum, das ist ja eben, ist mein Leben so schwer zu leben." Weiter I, S. 189, S. 199 („Zwar manchmal lese ich meine Bücher mich zu erinnern. Alles ist ja aus mir weggeschwemmt"). I, S. 208: an Paul Goldscheider (12. 3. 1928): „Manchmal fließ ich über Korallen und lustigen Muscheln und drolligen Fischen, dann bin ich plötzlich wie die Flut, so schnell sie kommt, froh, aber meine Gedanken sind sehr traurig und können nicht fassen, wenn plötzlich mein Herz braust." I, S. 215: an Paul Goldscheider (30. 9. 1930): „Man kennt es [das Meer] nur, wenn man inmitten ist und mit ihm rauscht". I, S. 223: an Klaus und Erika Mann (17. 6. 1934): „Die Sonne hat den See geküßt. Es glitzert alles um mich her — wenn ich nur eine Welle war!" Auch Briefe II, S. 85, 128. ^18 Briefe I, S. 206, S. 226; S. 37: an Jethro Bithell (9. 10. 1909): „Ich will entweder Eigenart oder eine Frau muß blumenhaft sein, pflanzenleise". S. 52: an Jethro Bithell: „[...] aber ich bin immer wie ein Vogel frei- nicht frei im Sinne der Frauenrechtlerinnen mit breitem Fußstampfen". ^19 Briefe I, S. 127/8: an Martin Buber (23. 12. 1942). ^20 Vgl. ähnliche Aussagen bei Georg Trakl und Franz Marc (siehe Albrecht Weber: Georg Trakl. Gedichte. Ausgewählt und interpretiert. München: 1958, 1970^3). « Briefe I, S. 180 f.: an Paul Goldscheider (4. 9. 1927). ^22 Briefe I, S. 11 (19.2. 1903). ^23 Briefe I, S. 151: an Felix und Else Pinkus (27. 1. 1926): „Ich bin nicht sentimental". ^24 Briefe I, S. 251: an Jakob Job (8. 2. 1934): „Ich bin immer im Trance beim Vortragen meiner Dichtungen. .. ich selbst habe es früher nie gemerkt. — Wahrscheinlich — in Trance — als Beweis der Güte der Dinge und Vortrags. Daß ich pathetisch spreche, was mir gerade bei sogen. Deklamatorinnen auf die Nerven geht — war von Ihnen sicher nur eine Wortverwechslung. — Denn stark sprechen und pathetisch verunglimpfen Dichtungen im Vortrag ist gerade das Gegenteil. Gerade im Radio mußte ich immerfort sprechen, da ich nicht pathetisch sprechen kann [...] Tönung meines Gedichts ist das Gegenteil von Pathetik [...]" ^25 Vgl. dazu Briefstellen in I, S. 134, 140, 149, 202. ^26 Briefe I, S. 142: an Hanns Hirt (1915); weiter in I, S. 118, 136, 182, 190, 189, 263. ^27 Briefe I, S. 191: an Paul Goldscheider (21. 12. 1927): „[...] ja der Amadeus bin ich, wäre ich wenn ich nicht ELSch wäre [...] Ich arbeite doch nicht, ich pflücke mein Können ab und werfe es für die in die Welt, die es verstehen und verdauen können". ^28 Briefe I, S. 192; oder der Zyklustitel „Meine schöne Mutter blickte immer auf Venedig". ^29 Briefe I, S. 103—115; an Ludwig von Ficker; auch Briefe II, S. 39. 3» SG, S. 151: Georg Trakl Seine Augen standen ganz fern. Er war als Knabe einmal schon im Himmel. Darum kamen seine Worte hervor Auf blauen und auf weißen Wolken. Wir stritten über Religion, Aber immer wie zwei Spielgefährten, Und bereiteten Gott von Mund zu Mund. Im Anfang war das Wort. Des Dichters Herz, eine feste Burg, Seine Gedichte: Singende Thesen. Er war wohl Martin Luther. ^31 Clemens Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Ivan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. — Düsseldorf: 1962. S. 146. ^32 Ebd., S. 228. ^33 Briefe I, S. 236: an Klaus und Erika Mann (11. 3. 1934). ^34 Briefe I, S. 181. ^35 Fritz Martini: Else Lasker-Schüler. Dichtung und Glaube. In: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. Hrsg. v. Hans Steffen. — Göttingen: 1965. S. 23. ^36 SG, S. 327. Dazu auch Briefe II. S. 60, 105, 111. ^37Briefe I, S. 46, 59, 60, 63, 75, 137, 173. ^38 Briefe I, S. 131. ^39Briefe I, S. 39; auch S. 34, 191, 215, 217. ^40Briefe I, S. 21, 61, 91, 185, 262ff. Briefe II, S. 11, 56, 63, 105, 112, 212. ^41 Briefe I, S. 262—279: an Sylvain Guggenheim. ^42 Briefe I, S. 72: an Jethro Bithell (12. 8. 1910). ^43Briefe I, S. 183: an Paul Goldscheider (8. 9. 1927). ^44Briefe I, S. 185: an Paul Goldscheider (24. 9. 1927). ^36 SG, S. 327. Dazu auch Briefe II. S. 60, 105, 111. ^37Briefe I, S. 46, 59, 60, 63, 75, 137, 173. ^38 Briefe I, S. 131. ^39Briefe I, S. 39; auch S. 34, 191, 215, 217. ^40Briefe I, S. 21, 61, 91, 185, 262ff. Briefe II, S. 11, 56, 63, 105, 112, 212. ^41 Briefe I, S. 262—279: an Sylvain Guggenheim. ^42 Briefe I, S. 72: an Jethro Bithell (12. 8. 1910). ^43Briefe I, S. 183: an Paul Goldscheider (8. 9. 1927). ^44Briefe I, S. 185: an Paul Goldscheider (24. 9. 1927). ^45Briefe I, S. 186: an Paul Goldscheider (1. 11. 1927). ^46Briefe I, S. 14, 16, 57. ^47Briefe I, S. 172: an Paul Goldscheider (3. 7. 1927): „Und doch liegt in Wirklichkeit mein Theben in meinem Herzen unterm Bluthorizont und ich auf Thebens schimmernder Spielwiese und unter seiner Ringelrangelpalme". ^48Briefe I, S. 40, 45, 112 („Ich bin Jude. Gott sei Dank!"). ^49Briefe I, S. 242. ^50 Briefe I, S. 278. ^51 Briefe I, S. 274. ^52 SG, S. 331. ^53 Briefe I, S. 150: an Felix und Else Pinkus (27. 1. 1926): „Diese Juden, die nie die Prüfung des Geldes bestehen — in seltensten Fällen nur — ließen ja stets ihre wahren Kronen verstauben; — ich will nicht damit behaupten, daß es die Christen besser machen. Aber ich verlange die Einsicht von einem alten Volke, denn es hat die größten Vorbilder gehabt und darum verwerfe ich den Aussatz der Juden und diesmal auf Tod und Leben!" I, S. 263: an Sylvain Guggenheim, 29. 1. 1934: „[...] aber, daß ich meine Geschichte noch nicht schreiben konnte über Palästina. Das die Palästineser beglücken würde, ich eine dichterische Tat täte, sondergleichen, liegt wohl an meiner maßlosen Erbitterung, wie man handelt gegen mich, die ich die Dichterin der Juden doch bei guten Zeiten stets hoch verehrt wurde und nun zum gemeinsten Bettler herab gezwungen werde. Ich kann nicht mehr die Einstellung finden, wie früher — zu der Größe der Juden." ^54Briefe I, S. 263. ^55 Z. B.: Briefe I, S. 151, 155, 159, 174, 177, 187, 188, 194, 269, 302. ^56Briefe I, S. 127. ^57 Briefe I, S. 135. ^58 Briefe I, S. 113. » Briefe I, S. 128. «o Briefe I, S. 188. ^61 Wolf: Kunst und Kitsch im deutschen Gedicht. 2. Aufl. — Frankfurt am Main: 1965. S. 15 f. Emanuel Geibel • Gebet Herr, den ich tief im Herzen trage, sei du mit mir, du Gnadenhort in Glück und Plage, sei du mit mir! Im Brand des Sommers, der dem Manne die Wange bräunt, wie in der Jugend Rosenlage sei du mit mir! Behüte mich am Born der Freude vor Übermut, und wenn ich an mir selbst verzage, sei du mit mir! Gib deinen Geist zu meinem Liede, daß rein es sei, und daß kein Wort mich je verklage, sei du mit mir! Dein Segen ist wie Tau den Reben, nichts kann ich selbst, doch daß ich kühn das Höchste wage, sei du mit mir! O du mein Trost, du meine Stärke, mein Sonnenlicht, bis an das Ende meiner Tage sei du mit mir! ^62 Briefe I, S. 131, 134, 219, 234, 308; SG, S. 87, 103, 106 u. a. ^63 Briefe I, S. 159: an Paul Goldsehneider (31. 3. 1927): „[...] guck ich auf, seh ich blau, guck ich herunter in mein Inneres, seh ich schwarz; — beides meine Lieblingsfarben". " Briefe I, S. 163 ff. ^65 Briefe I, S. 194. ^66 Briefe I, S. 199. ^67 SG, S. 103. ^6S Briefe I, S. 216: an Paul Goldscheider (12. 11. 1930): „[...] aber ich bm immerzu traurig und dunkel und an das blaue Wunder glaube ich nicht mehr." ^69 Vgl. Albrecht Weber: Georg Trakl. A.a.O.; und ders.: Klang und f-arbe bei Trakl. In: Wirkendes Wort 4 (1954). ^70 SG, S. 332. Franz Marc Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten. Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen. Immer erinnerte mich der blaue Reiter aus dem Kriege daran: es genügt nicht alleine, zu den Menschen gütig zu sein, und was du namentlich den Pferden, da sie unbeschreiblich auf dem Schlachtfeld leiden müssen, Gutes tust, tust du mir. Er ist gefallen. Seinen Riesenkörper tragen große Engel zu Gott, der hält seine blaue Seele, eine leuchtende Fahne, in seiner Hand. Ich denke an eine Geschichte im Talmud, die mir ein Priester erzählte: wie Gott mit den Menschen vor dem zerstörten Tempel stand und weinte. Denn wo der blaue Reiter ging, schenkte er Himmel. So viele Vögel fliegen durch die Nacht, sie können noch Wind und Atem spielen, aber wir wissen nichts mehr hier unten davon, wir können uns nur noch zerhacken oder gleichgültig aneinander vorbei gehen. In dieser Nüchternheit erhebt sich drohend eine unermeßliche Blutmühle, und wir Völker alle werden bald zermahlen sein. Schreiten immerfort über wartende Erde. Der blaue Reiter ist angelangt; er war noch zu jung zu sterben. Nie sah ich irgendeinen Maler gotternster und sanfter malen wie ihn. .Zitronenochsen' und .Feuerbüffel' nannte er seine Tiere, und auf seiner Schläfe ging ein Stern auf. Aber auch die Tiere der Wildnis begannen pflanzlich zu werden in seiner tropischen Hand. Tigerinnen verzauberte er zu Anemonen, Leoparden legte er das Geschmeide der Levkoje um; er sprach von reinen Totschlag, wenn auf seinem Bild der Panther die Gazell vom Fels holte. Er fühlte wie der junge Erzvater in der Bibelzeit, ein herrlicher Jakob er, der Fürst von Kana. Um seine Schultern schlug er wild das Dickicht; sein schönes Angesicht spiegelte es im Quell und sein Wunderherz trug er oftmals in Fels gehüllt, wie ein schlafendes Knäblein heim, über die Wiesen, wenn es müde war. Das war alles vor dem Krieg. (In Briefe II, S. 111 [21. 2. 1927] betet sie zu Franz Marc.) ^71 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei. — München: 1910; 2. Aufl. 1912. S. 64f. ^72 SG, S. 145. Verfaßt von Arbeitskreis: Interpretationen expressionistischer Lyrik Die Menschheitsdämmerung. München: Oldenbourg, 1979^3. ISBN: 3-486-06973-X. S. 9-35.